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Die Ur-Weihnachtsgeschichte Die Legende vom vierten König

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<strong>Die</strong> <strong>Ur</strong>-<strong>Weihnachtsgeschichte</strong><br />

In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus den Befehl, alle Bewohner des Reiches in Steuerlisten<br />

einzutragen. <strong>Die</strong>s geschah zum erstenmal; damals war Quirinius Statthalter von Syrien.<br />

Da ging jeder in seine Stadt, um sich eintragen zu lassen. So zog auch Josef von der Stadt Nazaret<br />

in Galiläa hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, die Betlehem heißt; denn er war aus dem<br />

Haus und Geschlecht Davids. Er wollte sich eintragen lassen mit Maria, seiner Verlobten, die ein<br />

Kind erwartete.<br />

Als sie dort waren, kam für Maria die Zeit ihrer Niederkunft, und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen.<br />

Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz<br />

für sie war.<br />

In jener Gegend lagerten Hirten auf freiem Feld und hielten Nachtwache bei ihrer Herde. Da trat<br />

der Engel des Herrn zu ihnen, und der Glanz des Herrn umstrahlte sie. Sie fürchteten sich sehr,<br />

der Engel aber sagte zu ihnen: Fürchtet euch nicht, denn ich verkünde euch eine große Freude,<br />

die dem ganzen Volk zuteil werden soll:<br />

Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr. Und das soll<br />

euch als Zeichen dienen: Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe<br />

liegt.<br />

Und plötzlich war bei dem Engel ein großes himmlisches Heer, das Gott lobte und sprach:<br />

Verherrlicht ist Gott in der Höhe, und auf Erden ist Friede bei den Menschen seiner Gnade.<br />

Als die Engel sie verlassen hatten und in den Himmel zurückgekehrt waren, sagten die Hirten zueinander:<br />

Kommt, wir gehen nach Betlehem, um das Ereignis zu sehen, das uns der Herr verkünden<br />

ließ.<br />

So eilten sie hin und fanden Maria und Josef und das Kind, das in der Krippe lag. Als sie es sahen,<br />

erzählten sie, was ihnen über dieses Kind gesagt worden war. Und alle, die es hörten, staunten<br />

über die Worte der Hirten. Maria aber bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen<br />

und dachte darüber nach.<br />

<strong>Die</strong> Hirten kehrten zurück, rühmten Gott und priesen ihn für das, was sie gehört und gesehen<br />

hatten; denn alles war so gewesen, wie es ihnen gesagt worden war.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Legende</strong> <strong>vom</strong> <strong>vierten</strong> <strong>König</strong><br />

Außer den drei weisen Männern, die das Kind in der Krippe anbeten wollten, hatte sich auch noch<br />

ein vierter <strong>König</strong> auf den Weg gemacht. Drei wertvolle Edelsteine wollte er schenken. Aber weil<br />

sein Reittier lahmte, kam er nicht rechtzeitig zum vereinbarten Treffpunkt. Trotzdem machte er<br />

sich auf. Doch er kam zu spät. Eine arme Mutter, die sich nicht trösten ließ, erzählte ihm von den<br />

furchtbaren Kindermord in in Bethlehem, dem auch ihr Söhnchen zum Opfer gefallen war. Voller<br />

Mitleid schenkte er ihr einen leuchtend roten Edelstein, den er eigentlich dem <strong>König</strong>skinde schenken<br />

wollte. Nach langen Monaten erreichte er Ägypten, aber er fand heraus, dass das Jesuskind<br />

und mit seinen Eltern wieder in die Heimat gezogen war. <strong>Die</strong>smal war er Jahre unterwegs. Überall<br />

fragte und suchte er. Am Rande einer großen Stadt traf er auf einen Aussätzigen, der schon fast<br />

verhungert war. Ihm schenkte er den zweiten Edelstein, damit er sich in Zukunft helfen könne.<br />

Trotz der schließlich dreißig Jahre seines Suchens hatte seine Sehnsucht, den <strong>König</strong> der Welt zu<br />

finden, eher noch zugenommen. Aber er fühlte auch, wie sein altes Herz die anstrengende Reise<br />

um die halbe Welt nicht mehr lange aushalten würde. Einem nackten und frierenden Kind<br />

schenkte er noch den letzten Edelstein, damit es sich kleiden und satt essen könne.<br />

Plötzlich wurde es dunkel, dabei war es erst kurz nach Mittag. <strong>Die</strong> Erde begann zu zittern. In<br />

Todesangst dachte er: »Ist denn mein ganzes Suchen umsonst gewesen?« Aber da strahlte ihm<br />

<strong>vom</strong> Kreuz ein himmlisches Licht entgegen, und er hörte eine Stimme, die sprach: »Du hast mich<br />

getröstet, als ich jammerte; gerettet, als ich in Lebensgefahr war, und mich gekleidet, als ich nackt<br />

war!« »Herr, ich? Wo?« »Was du den Menschen, die in Not waren, getan hast, das hast du mir


getan!« Da gab der vierte <strong>König</strong> gerne dem Weltenkönig am Kreuz sein Leben zurück; denn nun<br />

hatte er ihn doch noch gefunden!<br />

Der störrische Esel und die süße Distel der Heil'gen Nacht<br />

Als der heilige Josef im Traum erfuhr, dass er mit seiner Familie vor der Bosheit des Herodes fliehen<br />

müsse, weckte der Engel in dieser bösen Stunde auch den Esel im Stall.<br />

"Steh auf!" sagte er von oben herab, "du darfst die Jungfrau Maria mit dem Herrn nach Ägypten<br />

tragen." Dem Esel gefiel das gar nicht. Er war kein sehr frommer Esel, sondern eher ein wenig<br />

störrisch von Gemüt. "Kannst du das nicht selber besorgen?" fragte er verdrossen. "Du hast doch<br />

Flügel, und ich muss alles auf dem Buckel schleppen! Warum denn gleich nach Ägypten, so<br />

himmelweit!"<br />

"Sicher ist sicher!" sagte der Engel; und das war einer von den Sprüchen, die selbst einem Esel<br />

einleuchten müssen.<br />

Als er nun aus dem Stall trottete und zu sehen bekam, welch eine Fracht der heilige Josef für ihn<br />

zusammengetragen hatte, das Bettzeug für die Wöchnerin und einen Pack Windeln für das Kind,<br />

das Kistchen mit dem Gold der <strong>König</strong>e und zwei Säcke mit Weihrauch und Myrrhe, einen Laib<br />

Käse und eine Stange Rauchfleisch von den Hirten, den Wasserschlauch, und schließlich Maria<br />

selbst mit dem Knaben, auch beide wohlgenährt, da fing er gleich wieder an, vor sich hinzumaulen.<br />

Es verstand ihn ja niemand außer dem Jesuskind.<br />

"Immer dasselbe", sagte er, "bei solchen Bettelleuten! Mit nichts sind sie hergekommen, und<br />

schon haben sie eine Fuhre für zwei Paar Ochsen beisammen. Ich bin doch kein Heuwagen", sagte<br />

der Esel, und so sah er auch wirklich aus, als ihn Joseph am Halfter nahm; es waren kaum<br />

noch die Hufe zu sehen.<br />

Der Esel wölbte den Rücken, um die Last zurechtzuschieben, und dann wagte er einen Schritt,<br />

vorsichtig, weil er dachte, dass der Turm über ihm zusammenbrechen müsse, sobald er einen Fuß<br />

voransetze. Aber seltsam, plötzlich fühlte er sich wunderbar leicht auf den Beinen, als ob er selber<br />

getragen würde; er tänzelte geradezu über Stock und Stein in der Finsternis.<br />

Nicht lange, und es ärgerte ihn auch das wieder. "Will man mir einen Spott antun?" brummte er.<br />

"Bin ich etwa nicht der einzige Esel in Bethlehem, der vier Gerstensäcke auf einmal tragen kann?"<br />

In seinem Zorn stemmte er plötzlich die Beine in den Sand und ging keinen Schritt mehr von der<br />

Stelle.<br />

Wenn er mich auch noch schlägt, dachte der Esel erbittert, dann hat er seinen ganzen Kram im<br />

Graben liegen!<br />

Allein Joseph schlug ihn nicht. Er griff unter das Bettzeug und suchte nach den Ohren des Esels,<br />

um ihn dazwischen zu kraulen. "Lauf noch ein wenig", sagte der heilige Joseph sanft, "wir rasten<br />

bald!"<br />

Daraufhin seufzte der Esel und setzte sich wieder in Trab. So einer ist nun ein großer Heilger,<br />

dachte er, und weiß nicht einmal, wie man einen Esel antreibt!<br />

Mittlerweile war es Tag geworden, und die Sonne brannte heiß. Joseph fand ein Gesträuch, das<br />

dünn und dornig in der Wüste stand, in seinem dürftigen Schatten wollte er Maria ruhen lassen. Er<br />

lud ab und schlug Feuer, um eine Suppe zu kochen; der Esel sah es voll Misstrauen. Er wartete<br />

auf sein eigenes Futter, aber nur, damit er es verschmähen konnte. "Eher fresse ich meinen<br />

Schwanz", murmelte er, "als euer staubiges Heu!"<br />

Es gab jedoch gar kein Heu, nicht einmal ein Maul voll Stroh; der heilige Joseph, in seiner Sorge<br />

um Weib und Kind, hatte es rein vergessen. Sofort fiel den Esel ein unbändiger Hunger an. Er ließ<br />

seine Eingeweide so laut knurren, dass Joseph entsetzt um sich blickte, weil er meinte, ein Löwe<br />

säße im Busch.<br />

Inzwischen war auch die Suppe gar geworden, und alle aßen davon. Maria aß, und Joseph löffelte<br />

den Rest hinterher, und auch das Kind trank an der Brust seiner Mutter; nur der Esel stand da und<br />

hatte kein einziges Hälmchen zu kauen. Es wuchs da überhaupt nichts, nur etliche Disteln im Ge-


öll. "Gnädiger Herr!" sagte der Esel erbost und richtete eine lange Rede an das Jesuskind; eine<br />

Eselsrede zwar, aber ausgekocht scharfsinnig und ungemein deutlich in allem, worüber die<br />

leidende Kreatur vor Gott zu klagen hat. "I-a! " schrie er am Schluss, das heißt: "So wahr ich ein<br />

Esel bin!"<br />

Das Kind hörte alles aufmerksam an. Als der Esel fertig war, beugte er sich herab und brach einen<br />

Distelstängel; den bot es ihm an.<br />

"Gut!" sagte er, bis ins Innerste beleidigt. "So fresse ich eben eine Distel! Aber in deiner Weisheit<br />

wirst du voraussehen, was dann geschieht. <strong>Die</strong> Stacheln werden mir den Bauch zerstechen, so<br />

dass ich sterben muss, und dann seht zu, wie ihr nach Ägypten kommt!"<br />

Wütend biss er in das harte Kraut, und sogleich blieb ihm das Maul offen stehen; denn die Distel<br />

schmeckte durchaus nicht, wie er es erwartet hatte, sondern nach süßestem Honigklee, nach würzigstem<br />

Gemüse. Niemand kann sich etwas derart Köstliches vorstellen, er wäre denn ein Esel.<br />

Für diesmal vergaß der Graue seinen ganzen Groll. Er legte seine langen Ohren andächtig über<br />

sich zusammen, was bei einem Esel soviel bedeutet, wie wenn unsereins die Hände faltet.<br />

Karl Heinrich Waggerl<br />

Ich bin gerettet - Eine Wintergeschichte<br />

Es war einmal ein Mann. Er besaß ein Haus, einen Ochsen, einen Kuh, einen Esel und eine<br />

Schafherde. Der Junge, der seine Schafherde hütete, besaß einen kleinen Hund.<br />

Auf der Erde lag Schnee. Es war kalt und der Junge fror. "Kann ich mich in deinem Haus<br />

wärmen?" bat der Junge den Mann.<br />

"Ich kann die Wärme nicht teilen. Das Holz ist zu teuer", sagte der Mann und ließ den Jungen in<br />

der Kälte stehen.<br />

Da sah der Junge einen großen Stern am Himmel. "Was ist das für ein Stern?" dachte er. Er<br />

nahm seinen Hirtenstab und seine Hirtenlampe und machte sich auf den Weg.<br />

"Ohne den Jungen bleibe ich nicht hier", sagte der kleine Hund und folgte seinen Spuren.<br />

"Ohne den Hund bleiben wir nicht hier", sagten die Schafe und folgten seinen Spuren.<br />

"Ohne die Schafe bleibe ich nicht hier, sagte der Esel und folgte seinen Spuren.<br />

"Ohne den Esel bleibe ich nicht hier", sagte die Kuh und folgte seinen Spuren.<br />

"Ohne die Kuh bleibe ich nicht hier", sagte der Ochse und folgte seinen Spuren.<br />

"Es ist auf einmal so still", dachte der Mann, der hinter seinem Ofen saß. Er rief nach den Jungen,<br />

aber er bekam keine Antwort. Er ging in den Stall, aber der Stall war leer. Er schaute in den Hof<br />

hinaus, aber die Schafe waren nicht mehr da.<br />

"Der Junge ist geflohen und hat alle meine Tiere gestohlen", schrie der Mann, als er die Spuren im<br />

Schnee entdeckte.<br />

Doch kaum hatte der Mann die Verfolgung aufgenommen, fing es an zu schneien. Es schneite dicke<br />

Flocken. Sie deckten die Spuren zu. Dann erhob sich ein Sturm, kroch dem Mann unter die<br />

Kleider und biss ihn in die Haut. Bald wusste er nicht mehr, wohin er sich wenden sollte. Der Mann<br />

versank immer tiefer im Schnee.<br />

"Ich kann nicht mehr!" stöhnte er und rief um Hilfe.<br />

Da legte sich der Sturm. Es hörte auf zu schneien und der Mann sah einen großen Stern am<br />

Himmel. "Was ist das für ein Stern?" dachte er. Der Stern stand über einem Stall, mitten auf dem<br />

Feld. Durch ein kleines Fenster drang das Licht der Hirtenlampe.<br />

Der Mann ging darauf zu. Als er die Tür öffnete, fand er alle, die er gesucht hatte, die Schafe, den<br />

Esel, den Ochsen, die Kuh, den kleinen Hund und den Jungen.<br />

Sie waren um eine Krippe versammelt. In der Krippe lag ein Kind. Es lächelte ihm entgegen, als<br />

ob es ihn erwartet hätte.<br />

"Ich bin gerettet", sagte der Mann und kniete neben dem Jungen vor der Krippe nieder.<br />

Am anderen Morgen kehrte der Mann, der Junge, die Schafe, der Esel, die Kuh, der Ochse und<br />

der kleine Hund wieder nach Hause zurück. Auf der Erde lag Schnee, es war kalt. "Komm ins<br />

Haus", sagte der Mann zu dem Jungen, "ich hab genug Holz. Wir wollen die Wärme teilen."


von Max Bollinger<br />

Nur ein Strohhalm<br />

<strong>Die</strong> Hirten sind gekommen und dann wieder gegangen. Vielleicht haben sie damals Geschenke<br />

mitgebracht, aber gegangen sind sie mit leeren Händen.<br />

Ich kann mir aber vorstellen, dass vielleicht ein Hirte, ein ganz junger, doch etwas mitgenommen<br />

hat von der Krippe. Ganz fest in der Hand hat er es gehalten<br />

<strong>Die</strong> anderen haben es erst gar nicht bemerkt. Bis auf einmal einer sagte: "Was hast du denn da in<br />

der Hand?" - "Einen Strohhalm." sagte er, "einen Strohhalm aus der Krippe, in der das Kind gelegen<br />

hat.<br />

"Einen Strohhalm!", lachten die anderen, "das ist ja Abfall! Wirf das Zeug weg." Aber er schüttelte<br />

nur den Kopf. "Nein", sagte er ",den behalte ich, für mich ist er ein Zeichen, ein Zeichen für das<br />

Kind. Jedes mal, wenn ich diesen Strohhalm in der Hand halten werde, dann werde ich mich an<br />

das Kinde erinnern und daran, was die Engel von ihm gesagt haben."<br />

Und wie ist das mit dem kleinen Hirten weitergegangen?<br />

Am nächsten Tag, da fragten die anderen Hirten ihn. "Und, hast du den Strohhalm immer noch?<br />

Ja? Mensch, wirf ihn weg, das ist doch wertloses Zeug!" Er antwortete: "Nein, das ist nicht wertlos.<br />

Das Kind Gottes hat darauf gelegen." - "Ja und?" lachten die anderen, " das Kind ist wertvoll, aber<br />

nicht das Stroh."<br />

Ihr habt Unrecht", sagte der kleine Hirte, "das Stroh ist schon wertvoll. Worauf hätte das Kind<br />

denn sonst liegen sollen, arm wie es ist? Nein, mir zeigt es, dass Gott das Kleine braucht, das<br />

Wertlose. Ja, Gott bracht die Kleinen. <strong>Die</strong>, die nicht viel können, die nichts wert sind." Ja, der<br />

Strohhalm aus der Krippe war dem kleinen Hirten wichtig. Wieder und wieder nahm er ihn in die<br />

Hand, dachte an die Worte der Engel, freute sich darüber, dass Gott die Menschen so lieb hat,<br />

das er klein wurde wie sie. Eines Tages aber nahm ihm einer der anderen den den Strohhalm weg<br />

und sagte wütend. "Du mit deinem Stroh. Du machst mich noch ganz verrückt!" Und er zerknickte<br />

den Halm wieder und wieder und warf ihn zur Erde.<br />

Der kleine Hirte stand ganz ruhig auf, strich ihn wieder glatt und sagte zu den anderen: "Sieh<br />

doch, er ist geblieben, was er war. Ein Strohhalm. Deine ganze Wut hat daran nichts ändern<br />

können. Sicher, es ist leicht, einen Strohhalm zu knicken, und du denkst 'Was ist schon ein Kind,<br />

wo wir einen starken Helfer brauchen'. Aber ich sage dir: Aus diesem Kind wird ein Mann und der<br />

wird nicht totzukriegen sein. Er wird die Wut der Menschen aushalten, ertragen und bleiben, was<br />

er ist - Gottes Retter für uns. Denn Gottes Liebe ist nicht klein zu kriegen."<br />

frei wiedergegeben nach einer Erzählung aus Mexiko<br />

<strong>Die</strong> goldene Kette<br />

Hallo! Ich hoffe, ihr habt ein wenig Zeit, denn ich möchte Euch eine Geschichte erzählen, die ich<br />

selber erlebt habe. Das ist zwar jetzt einige Jahre her, aber dafür ist alles wirklich passiert.<br />

Es fing damit an, dass ich eine Einladung bekommen habe. Eine ganz, ganz entfernte Verwandte,<br />

die schon seit langem in einem anderen Land lebte, erwartete ein Kind. Und zum Fest der Geburt<br />

war ich eingeladen! Zwei meiner Freunde waren auch eingeladen, und weil wir noch nie in dem<br />

fremden Land waren und noch überhaupt keine so weite Reise gemacht haben, beschlossen wir<br />

voller Abenteuerlust, uns auf den Weg zu machen.<br />

Damals, das müsst Ihr wissen, gab es noch keine Flugzeuge oder Schnellbahnen, und so mussten<br />

wir viel Zeit für unsere Reise einplanen. Aber das war nicht das Problem, wir freuten uns<br />

schon darauf, unterwegs neue Länder kennen zu lernen. Wir machten uns vielmehr Gedanken<br />

darüber, was wir wohl als Geschenk mitnehmen könnten. Meine beiden Freunde hatten sofort eine<br />

gute Idee, aber ich überlegte lange, was ich wohl mitnehmen kann. Zu groß und zu schwer darf<br />

ein Geschenk nicht sein, das man auf eine solange Reise mit sich tragen will.<br />

Da fiel mir nach einigem Überlegen die goldene Kette ein, die schon seit Jahren in unserer Familie


immer dem ältesten Sohn gehörte. Eine ganz wertvolle goldene Kette aus kostbaren, großen<br />

Kettengliedern mit einem seltsamen Schmuckstück dran. Das Schmuckstück sah aus wie zwei gekreuzte<br />

Stäbe und war auch aus Gold. Ein Kreuz, sozusagen. Keiner aus unserer Familie konnte<br />

sich erklären, was das zu bedeuten hatte, denn in unserem Land sah der Schmuck eigentlich<br />

ganz anders aus: Wir hatten Herzen, Sterne, in einander verschlungene Kreise und kleine Tiere<br />

aus Gold. Besonders die Tiere fand ich damals besonders schön. Aber ein einfaches Kreuz? Ich<br />

wusste nicht, ob das Kind sich darüber freuen würde. Aber immerhin war es aus Gold, und das<br />

war schon ein richtiger Schatz.<br />

Ich hing mir die Kette aus Sicherheitsgründen um den Hals und wir machten uns auf den Weg.<br />

Durch viele fremde Länder kamen wir, manchmal haben wir auf freiem Feld übernachtet; und einmal<br />

sind wir sogar zwei Tage in einer Höhle gewesen, weil es in Strömen regnete und wir über<br />

den aufgeweichten Boden nicht weitergehen konnten. Viele kleine und große Abenteuer haben wir<br />

erlebt, aber davon möchte ich euch ein anderes Mal erzählen.<br />

Eines Tages geschah etwas Merkwürdiges. Ein kleines Kind stand plötzlich mitten im Weg und bat<br />

mich um eine Gabe. Es war ganz abgemagert und hatte sicher schon seit Wochen nicht mehr<br />

richtig gegessen. Leider haben wir solch arme Menschen oft getroffen, denn es gab zu der Zeit<br />

viel Not und Elend bei den Menschen. Doch diesmal merkte ich, wie sich die Kette um meinem<br />

Hals auf einmal löste. Mit der einen Hand konnte ich sie noch gerade fassen, und mit der anderen<br />

Hand fing ich ein einzelnes Kettenglied auf. Ihr könnt euch vorstellen, was für große Augen das<br />

Kind bekam, als es in meiner Hand den goldenen Ring sah. Weil es dachte, dass ich ihn verschenken<br />

wollte, strahlte es über das ganze Gesicht, begann vor Freude zu hüpfen und umarmte<br />

mich.<br />

Als ich den kleinen, ausgemergelten Körper in meinen Armen spürte, konnte ich nicht mehr<br />

anders. Ich habe dem Kind wirklich das Kettenglied geschenkt und zugesehen, dass ich schnell<br />

weiterkam.<br />

Natürlich war die Kette jetzt zu klein, um sie weiter um den Hals zu tragen. Aber so ein neugeborenes<br />

Kind hat ja nicht so einen dicken Hals wie ich, nicht wahr? <strong>Die</strong> Kette würde wohl schon<br />

passen.<br />

Aber ein paar Tage später sah ich auf unserem Weg ein Gruppe Waldarbeiter, die Bäume fällten<br />

und zu Brennholz machten. Als wir vorbeizogen, fiel einer der Holzfäller vor Erschöpfung zu<br />

Boden. Sofort kam der Vorarbeiter mit einer Peitsche in der Hand und schlug auf den armen Mann<br />

am Boden ein. Ich hatte meine Hand, in der ich die goldene Kette jetzt trug, in meiner Manteltasche.<br />

Da spürte ich, wie sich diesmal zwei Glieder der Kette löste. Ohne zu zögern gab ich das<br />

eine Kettenglied dem Vorarbeiter und kaufte den armen, erschöpften Mann frei. Das andere<br />

drückte ich dem ausgepeitschten Mann, der mich fassungslos anstarrte, in seine schwieligen<br />

Hände. «Wenn er das goldene Glied verkauft», dachte ich, «hat er sicher genug Geld, um ein Jahr<br />

gut zu leben. Vielleicht kann er sogar noch eine Familie ernähren, wenn er eine hat.» Aber ich<br />

habe nicht gefragt - ich bin weitergezogen, noch bevor jemand unangenehme Fragen stellen<br />

konnte.<br />

<strong>Die</strong> Kette war jetzt eigentlich keine Halskette mehr. Aber vielleicht konnte das Kind, dem ich sie<br />

schenke wollte, die Kette wie ein Armband um das Handgelenk tragen?<br />

Aber noch einmal kam mir etwas in die Quere. Eine heruntergekommene Räuberbande lauerte<br />

uns auf und umstellte uns von einen auf den anderen Augenblick. Meine beiden Freunde wollten<br />

schon zu ihren Waffen tragen und sich zur Wehr setzen, als sich die restlichen Kettenglieder alle<br />

auf einmal lösten und mir in meine offene Hand kullerten. «Was!?» dachte ich, «Ich soll damit Verbrecher<br />

und Lumpenpack unterstützen?» Aber die Kette hatte wohl ihren eigenen Willen, und so<br />

bot ich den Räubern an, dass ich jedem von ihnen ein Stück Gold geben würde, wenn sie uns in<br />

Frieden ziehen lassen würden. Nun, offensichtlich hatte keiner von ihnen Lust zu kämpfen, und so<br />

stimmten sie schnell zu und ließen uns in Frieden ziehen, jetzt um eine beträchtliche Summe reicher<br />

als zuvor.<br />

Aber mir war gar nicht wohl zu Mute. <strong>Die</strong> wertvolle Kette war verloren, mir blieb als Geschenk nur<br />

noch dieses seltsame Kreuz. Ohne Kette sah es einfach nach gar nichts aus, und ich fragte mich,<br />

ob ich es überhaupt verschenken soll. Alle würden vermutlich lachen, denn wer hat schon jemals<br />

ein so langweiliges Schmuckstück gesehen?<br />

So kamen wir schließlich an unser Ziel. Durch unsere Abenteuer waren wir nicht rechtzeitig zur


Geburt gekommen, aber das war nicht schlimm; es war schön, überhaupt angekommen zu sein.<br />

Als ich aber die ärmliche Unterkunft sah, in der der Vater, die Mutter und das Kind untergekommen<br />

waren, tat es mir nochmal so leid um die wertvolle Kette. <strong>Die</strong> drei konnten Geld wirklich gebrauchen:<br />

In einem Stall war das Kind zur Welt gekommen, ganz in der Nähe von Bethlehem.<br />

Schon viele andere Menschen - hauptsächlich arme Leute, Hirten und Bauern - waren der Einladung<br />

gefolgt und hatten das Kind begrüßt. Meine beiden Freunde knieten ebenfalls vor dem<br />

Kind nieder, der eine schenkte eine große Kiste mit Weihrauch, ein ganz seltener und kostbarer<br />

Schatz; und mein zweiter Reisegefährte gab seine wertvollsten Salben und Düfte her: Myrrhe,<br />

Aloë und Kassia.<br />

Nur ich stand etwas verlegen vor dem Kind. Meine Kette war ja verloren. Sollte ich nun wirklich<br />

das unscheinbare Kreuz hergeben? Immerhin war es aus reinem Gold, und wenn es auch zusammen<br />

mit der Kette mehr wert war als alle anderen Geschenke, so war es auch alleine eine hilfreiche<br />

Sache für die armen Leute. So beugte auch ich meine Knie und gab dem Kind das goldene<br />

Kreuz.<br />

Ihr glaubt gar nicht, was da geschah: Plötzlich sah ich die Welt voller Licht, Musik erfüllte den Stall<br />

von so wunderbarer Reinheit, wie ich sie nie wieder vernommen hatte. Und dann hörte ich das<br />

Kind sprechen. Ja, der kleine, frischgeborene Sohn sprach zu mir! Ich hörte seine Stimme in<br />

meinen Ohren, auch wenn der Kleine seinen Mund nicht bewegte.<br />

"Danke!" sagte er zu mir und strahlte mich an.<br />

"Och, nicht dafür!" gab ich leise zurück, und wurde ein wenig verlegen: "Eigentlich gehört noch<br />

eine Kette dazu, aber die habe ich auf der Reise verloren."<br />

"Nein," sagte das Kind und lächelte, "nichts hast Du verloren. Du hast Deine Kette aus Gold nur<br />

eingetauscht in eine unendlich wertvollere Kette." und schaute an mir vorbei. Da wendete ich mich<br />

um und mir kamen die Tränen: Ich sah, dass alle, denen ich ein Glied der Kette geschenkt hatte,<br />

mir heimlich gefolgt waren und nun ebenfalls das Kind anbeteten. Das abgemagerte Kind war mit<br />

seiner Familie und seinen Freunden dort und schaute im Gebet versunken auf die Krippe. Der gemeine<br />

Vorarbeiter sah gar nicht mehr so gemein aus und betete genauso wie der arme Holzfäller.<br />

Sogar die Räuberbande kniete hinter mir und blickte andächtig auf das Kind. Frieden erfüllte ihre<br />

Gesichter.<br />

"Mit den Menschen, die Du mir geschenkt hast, werde ich eine Kette durch alle Zeiten bauen",<br />

meinte das kleine Kind. "Und hiermit" fuhr das Kind ernst fort und hielt mit beiden Händen das<br />

goldene Kreuz fest, "hiermit werde ich dafür sorgen, dass diese Kette bis in den Himmel reicht."<br />

A. Tobias<br />

Der Engel Heinrich<br />

Als ich dieses Jahr meine Pyramide und die Krippe und die zweiunddreißig Weihnachtsengel<br />

wieder einpackte, behielt ich den letzten in der Hand.<br />

"Du bleibst", sagte ich. "Du kommst auf meinen Schreibtisch. Ich brauche ein bisschen Weihnachtsfreude<br />

für das ganze Jahr."<br />

"Da hast du aber ein Glück gehabt", sagte er.<br />

"Wieso?" fragte ich ihn.<br />

"Na, ich bin doch der einzige Engel, der reden kann."<br />

Stimmt! Jetzt erst fiel es mir auf. Ein Engel, der reden kann? Das gibt es ja gar nicht! In meiner<br />

ganzen Verwandtschaft und Bekanntschaft ist das noch nicht vorgekommen. Da hatte ich wirklich<br />

Glück gehabt.<br />

"Wieso kannst du eigentlich reden? Das gibt es doch gar nicht. Du bist doch aus Holz!"<br />

"Das ist so. Nur wenn jemand einmal nach Weihnachten einen Engel zurückbehält, nicht aus<br />

Versehen oder weil er sich nichts dabei gedacht hat, sondern wegen der Weihnachtsfreude, wie<br />

bei dir, dann können wir reden. Aber es kommt ziemlich selten vor. Übrigens heiße ich Heinrich."<br />

"Heinrich? Bist du denn ein Junge? Du hast doch ein Kleid an!" - Heinrich trägt nämlich ein langes,<br />

rotes Gewand.<br />

"Das ist eine reine Modefrage. Hast du schon einmal einen Engel in Hosen gesehen? Na also."


Seitdem steht Heinrich auf meinem Schreibtisch. In seinen Händen trägt er einen goldenen Papierkorb,<br />

oder vielmehr: Einen Müllkorb. Ich dachte erst, er sei nur ein Kerzenhalter, aber da hatte<br />

ich mich geirrt, wie ihr gleich sehen werdet. Heinrich stand gewöhnlich still an seinem Platz, hinter<br />

der rechten hinteren Ecke meiner grünen Schreibunterlage (grün und rot passt so gut zusammen!)<br />

und direkt vor ein paar Büchern, zwei Bibeln, einem Gesangbuch und einem Bändchen mit Gebeten.<br />

Und wenn ich mich über irgendetwas ärgere, hält er mir seinen Müllkorb hin und sagt: "Wirf<br />

rein!" Ich werfe meinen Ärger hinein - und weg ist er!<br />

Manchmal ist es ein kleiner Ärger, zum Beispiel wenn ich wieder meinen Kugelschreiber verlegt<br />

habe oder eine fremde Katze in unserer Gartenlaube vier Junge geworfen hat. Es kann aber auch<br />

ein großer Ärger sein oder eine große Not oder ein großer Schmerz, mit dem ich nicht fertig<br />

werde, zum Beispiel, als kürzlich ein Vater und eine Mutter erfahren mussten, dass ihr fünfjähriges<br />

Mädchen an einer Krankheit leidet, die nicht mehr zu heilen ist. Wie soll man da helfen! Wie soll<br />

man da trösten! Ich wusste es nicht. "Wirf rein!" sagte Heinrich, und ich warf meinen Kummer in<br />

seinen Müllkorb.<br />

Eines Tages fiel mir auf, dass Heinrichs Müllkorb immer gleich wieder leer war.<br />

"Wohin bringst du das alles?"<br />

"In die Krippe", sagte er.<br />

"Ist denn so viel Platz in der kleinen Krippe?"<br />

Heinrich lachte. "Pass auf! In der Krippe liegt ein Kind, das ist noch kleiner als die Krippe. Und<br />

sein Herz ist noch viel, viel kleiner."<br />

Er nahm seinen Kerzenhalter unter den linken Arm und zeigte mit Daumen und Zeigefinger der<br />

rechten Hand, wie klein.<br />

"Denn deinen Kummer lege ich in Wahrheit gar nicht in die Krippe, sondern in das Herz dieses<br />

Kindes. Verstehst du das?"<br />

Ich dachte lange nach. "Das ist schwer zu verstehen. Und trotzdem freue ich mich. Komisch,<br />

was?"<br />

Heinrich runzelte die Stirn. "Das ist gar nicht komisch, sondern die Weihnachtsfreude,<br />

verstanden?"<br />

Auf einmal wollte ich Heinrich noch vieles fragen, aber er legte den Finger auf den Mund. "Psst!"<br />

sagte er. "Nicht reden! Nur sich freuen!"<br />

<strong>Die</strong>trich Mendt<br />

Gibt es einen Weihnachtsmann?<br />

<strong>Die</strong> achtjährige Virginia O´Hanlon aus New York wollte es ganz genau wissen. Darum schrieb sie<br />

an die Tageszeitung „Sun“ einen Brief:<br />

"Ich bin acht Jahre alt. Einige von meinen Freunden sagen, es gibt keinen Weihnachtsmann. Papa<br />

sagt, was in der „Sun“ steht, ist immer wahr. Bitte, sagen Sie mir: Gibt es einen Weihnachtsmann?<br />

- Virginia O´Hanlon."<br />

<strong>Die</strong> Sache war dem Chefredakteur so wichtig, daß er seinen erfahrensten Kolumnisten, Francis P.<br />

Church, beauftragte, eine Antwort zu entwerfen – für die Titelseite der "Sun".<br />

"Virginia, Deine kleinen Freunde haben nicht recht. Sie glauben nur, was sie sehen; sie glauben,<br />

daß es nicht geben kann, was sie mit ihrem kleinen Geist nicht erfassen können.<br />

Aller Menschengeist ist klein, ob er nun einem Erwachsenen oder einem Kind gehört. Im Weltall<br />

verliert er sich wie ein winziges Insekt. Solcher Ameisenverstand reicht nicht aus, die ganze Wahrheit<br />

zu erfassen und zu begreifen.<br />

Ja, Virginia, es gibt einen Weihnachtsmann. Es gibt ihn so gewiß wie die Liebe und Großherzigkeit<br />

und Treue. Weil es all das gibt, kann unser Leben schön und heiter sein. Wie dunkel wäre die<br />

Welt, wenn es keinen Weihnachtsmann gäbe! Es gäbe dann auch keine Virginia, keinen Glauben,<br />

keine Poesie – gar nichts, was das Leben erst erträglich machte. Ein Flackerrest an sichtbarem<br />

Schönen bliebe übrig. Aber das Licht der Kindheit, das die Welt ausstrahlt, müßte verlöschen.<br />

Es gibt einen Weihnachtsmann, sonst könntest Du auch den Märchen nicht glauben. Gewiß, Du<br />

könntest Deinen Papa bitten, er solle am Heiligen Abend Leute ausschicken, den Weihnachtsmann<br />

zu fangen. Und keiner von ihnen bekäme den Weihnachtsmann zu Gesicht - was würde das


eweisen? Kein Mensch sieht ihn einfach so. Das beweist gar nichts. <strong>Die</strong> wichtigsten Dinge<br />

bleiben meistens unsichtbar. <strong>Die</strong> Elfen zum Beispiel, wenn sie auf Mondwiesen tanzen. Trotzdem<br />

gibt es sie.<br />

All die Wunder zu denken – geschweige denn sie zu sehen - das vermag nicht der Klügste auf der<br />

Welt. Was Du auch siehst, Du siehst nie alles. Du kannst ein Kaleidoskop aufbrechen und nach<br />

den schönen Farbfiguren suchen. Du wirst einige bunte Scherben finden, nichts weiter. Warum?<br />

Weil es einen Schleier gibt, der die wahre Welt verhüllt, einen Schleier, den nicht einmal die Gewalt<br />

auf der Welt zerreißen kann. Nur Glaube und Poesie und Liebe können ihn lüften. Dann<br />

werden die Schönheit und Herrlichkeit dahinter auf einmal zu erkennen sein.<br />

"Ist das denn auch wahr?" kannst Du fragen. Virginia, nichts auf der ganzen Welt ist wahrer und<br />

nichts beständiger. Der Weihnachtsmann lebt, und ewig wird er leben. Sogar in zehnmal zehntausend<br />

Jahren wird er da sein, um Kinder wie Dich und jedes offene Herz mit Freude zu erfüllen.<br />

Frohe Weihnacht, Virginia. Dein Francis Church."<br />

P.S.: Der Briefwechsel zwischen Virginia O´Hanlon und Francis P. Church stammt aus dem Jahr<br />

1897. Er wurde über ein halbes Jahrhundert – bis zur Einstellung der „Sun“ 1950 – alle Jahre<br />

wieder zur Weihnachtszeit auf der Titelseite der Zeitung abgedruckt<br />

Das Lied des Hirten<br />

Auf einen Stock gestützt, den Blick zu den Sternen erhoben, stand der alte Hirte auf dem Felde.<br />

"Er wird kommen", sagte er.<br />

"Wann wird Er kommen?" fragte der Enkel.<br />

"Bald!"<br />

<strong>Die</strong> andern Hirten lachten.<br />

"Bald!" höhnten sie. "Das sagst du nun seit Jahren!"<br />

Der Alte kümmerte sich nicht um ihren Spott. Nur der Zweifel, der in den Augen des Enkels aufflackerte,<br />

betrübte ihn. Wer sollte, wenn er starb, die Weissagungen der Propheten weitertragen?<br />

Wenn er doch bald käme. Sein Herz war voller Erwartung. "Wird Er eine goldenen Krone tragen?"<br />

unterbrach der Enkel seine Gedanken. "Ja!" "Und einen purpurnen Mantel?" "Ja! Ja!"<br />

Der Enkel war zufrieden.<br />

Ach, warum versprach er ihm, was er selbst nicht glaubte! Wie würde er denn kommen? Auf<br />

Wolken aus dem Himmel? Aus der Ewigkeit? Als Kind? Arm oder reich? Bestimmt ohne Krone,<br />

ohne Schwert, ohne Purpurmantel - und doch mächtiger als alle andern <strong>König</strong>e.<br />

Wie sollte er es dem Enkel begreiflich machen?<br />

Der Junge saß auf einem Stein und spielte auf seiner Flöte. Der Alte lauschte. Er spielte von Mal<br />

zu Mal schöner, reiner. Der Junge übte am Morgen und am Abend, Tag für Tag. Wenn es stimmte,<br />

was der Großvater sagte, so musste er bereit sein, wenn der <strong>König</strong> kam. Keiner spielte so wie<br />

er. Der <strong>König</strong> würde sein Lied nicht überhören. Der <strong>König</strong> würde ihn dafür beschenken. Mit Gold,<br />

mit Silber!<br />

Er würde ihn reich machen, und die andern würden staunen.<br />

Eines Nachts standen die Sterne am Himmel, nach denen der Großvater Ausschau gehalten<br />

hatte. <strong>Die</strong> Sterne leuchteten heller als sonst. Über der Stadt Betlehem stand ein grosser Stern.<br />

Und dann erschienen Engel und sagten: "Fürchtet euch nicht! Euch ist heute der Heiland<br />

geboren!" Der Junge lief voraus, dem Licht entgegen. Unter dem Fell auf seiner Brust spürte er<br />

die Flöte. Er lief so schnell er konnte.<br />

Da stand er als erster und starrte auf das Kind. Es lag in Windeln gewickelt in einer Krippe. Ein<br />

Mann und eine Frau betrachteten es froh. <strong>Die</strong> andern Hirten, die ihn eingeholt hatten, fielen vor<br />

ihm auf die Knie. Der Großvater betete es an. War das nun der <strong>König</strong>, den er ihm versprochen<br />

hatte? Nein, das musste ein Irrtum sein.. Nie würde er hier sein Lied spielen. Er drehte sich um,<br />

enttäuscht, von Trotz erfüllt. Er trat in die Nacht hinaus. Er sah weder den offenen Himmel noch<br />

die Engel, die über dem Stall schwebten. Aber dann hörte er das Kind weinen. Er wollte es nicht<br />

hören. Er hielt sich die Ohren zu, lief weiter. Doch das Weinen verfolgte ihn, ging ihm zu Herzen,<br />

zog ihn zurück zur Krippe.<br />

Da stand er zum zweitenmal. Er sah, sie Maria und Josef und auch die Hirten erschrocken das<br />

weinende Kind zu trösten versuchten. Vergeblich! Was hatte es nur? Da konnte er nicht anders.


Er zog die Flöte aus dem Fell und spielte sein Lied. Das Kind wurde still. Es schaute ihn an und lächelte.<br />

Da wurde er froh und spürte, ,wie das Lächeln ihn reicher machte als Gold und Silber.<br />

Von Max Bollinger

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