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Einfach mal Probelesen - amicus-Verlag

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Collegium Jenense Anno 1661<br />

3


Anderthalbtausend Jahre Thüringen – ein stolzes Landesjubiläum,<br />

zu dem sich auch dieses kleine Buch der ungewöhnlichen<br />

Art und Weise gesellen will. Es handelt von<br />

einem Manne aus dem späten, seinerzeit eigentlich schon<br />

verflossenen­Mittelalter­–­Urian­geheißen.­Dieser­einfache­<br />

Thüringer, der aber auch ein Besonderling war, lädt zu<br />

ungewohntem Lese stoff ein, zu einem Besuch in der Frühen<br />

Neuzeit.<br />

Geboren am 10. 10. 1582 in Jena an der Saale, verlieren<br />

sich seine Spuren ein Menschenalter später im thüringischen<br />

Land. Hinterlassen hat er schriftlich Erinnerungen<br />

an sein Leben und an den Alltag in seiner Zeit. Nach mehreren<br />

hunderten von Jahren sind diese tagebuchähnlichen<br />

Aufzeichnungen wieder aufgetaucht und erscheinen nun<br />

leicht bearbeitet erst<strong>mal</strong>s gedruckt. Schon 1691 hatte,<br />

wie überliefert, der Stadtschreiber Oswin Huber eine Veröffentlichung­<br />

über­ ­„Urians­ leutlich­ Erlebtes“­ geplant,was<br />

offenbar nicht zustande kam. Doch Hubers Bearbeitung­<br />

des­ Urianschen­ Werkes­ blieb­ erhalten­ und­ bildetdie<br />

Grundlage für dieses Buch. Wörter, Wendungen und<br />

Schreibweisen wurden nur gering dem heutigen Verständnis<br />

angepasst. Tatsachen und geschichtlichen Ereignissen<br />

galt es nachzuforschen. Vieles ist bekannt und verbürgt.<br />

So­manches­aber­war­bisher­nicht­geläufig,­dieser­ungewöhnliche­Alltagsbericht­wird­verblüffen.­Als­Urian­geboren<br />

wurde, war das Mittelalter dabei, sich davonzuschleichen­und­hinterließ­uns­Nachfahren­viele­Fragen­und­Geheimnisse.<br />

Dieses Buch öffnet ein Fenster, dahinter lebt<br />

der­ Mittelaltermann­ Urian­ –­ Ende­ des­ 16. ­Jahr­hundertsgeboren,<br />

Mitte des siebzehnten verschollen. Im Guckloch<br />

der Geschichte liegen seine Tagebuchblätter und eine<br />

Bettler trommel …<br />

Nun­kommt­Urians­fabulierter­Nachlass­heraus­–­Schilderungen<br />

über einen einfachen Mann mit einigen Besonderheiten,­<br />

der­ mancherlei­ ungewöhnliches­ „leutlich“­ erlebte.­Was­davon­wahr­war,­was­gesponnen­ist­–­wer­weiß,wer­weiß?­Doch­vieles­kann­man­nachvollziehen­und­sich­<br />

7


vor Ort heute noch anschauen, denn es wird ein touristischer<br />

Anhang geboten, der erlaubt, ziemlich genau die<br />

meisten Spuren des Mittelaltermannes in Thüringen und<br />

darüber hinaus selbst zu verfolgen. Anfangs liest sich<br />

dieser Mischling aus Bericht und Aufsatz in seiner ungewohnten<br />

historischen, teils historisierenden Sprache recht<br />

mühsam. Man schrieb, so man es überhaupt konnte, wie<br />

man sprach und jeder so, wie er wollte und es verstand.<br />

Es gab keine rechtschreiberischen Besserwisser. Hat man<br />

sich­ nun­ erst­ ein<strong>mal</strong>­ in­ Urians­ reichen­ Volksmund­ eingelesen,<br />

wird man durch eine schöne und lockere, auch<br />

frivole Erzählung voller Wissenwertem, Weisheit, Gutem<br />

wie Bösem, Spannung, Erotik und Witz gefesselt. Findet<br />

man für sich den richtigen Blick auf die Geschichte und<br />

die Geschichten um diesen Mittelaltermann und freundet<br />

sich mit dem kleinen, nachgelassenen Werk eines begabten­Fabulierers­von­einst­an,­dann­hat­man­Spaß­an­dieser<br />

literarischen Eulenspiegelei .<br />

8


Erzählt wird also von einem Manne des Mittelalters,<br />

der­geheißen­ward­URIAN.­Doch,­obwohl­sich­dieser­Namevom<br />

Teufel herschreibt, ist unser Bursche ein Gutmensch<br />

gewesen, dessen erstaunlicher Lebenslauf voller Derbdrolligem<br />

nun allhiero ausgebreitet wird. Manches ist verwirrend,­ohnglaublich­und­auch­<strong>mal</strong>­unbegreiflich­und­kaumstimmig,­aber,­es­war­wohl­so­gewesen.­Und­es­ist­von­mir,der<br />

auch nicht alles verstanden hat, so in gefälliger Form<br />

wiedergegeben­worden,­wie­es­Urian­am­Ende­seines­Hierseins<br />

eigenhändig ursprünglich aufgeschrieben hatt.<br />

Niemand­seines­Umfeldes­wußte­in­jener­Zeit­von­Urianen<br />

alles. Die Leute behausten gemarkig ihre Schollen im<br />

Saale-Tal oder Häuser in den verwinkelten Gassen, jeder<br />

kümmerte sich meistens um sich und die Seinen. Genaues­kannt­selten­wer,­geschweige­ahnte­man,­was­der­Urianalles<br />

sehen, hören, schmecken, riechen und fühlen hat gemußt.­Und­er­selbst­wußt­ja­auch­nicht,­was­kommen­undihm<br />

widerfahren würde.<br />

Ab- und aufgeschrieben werden soll das also nune gleich,<br />

abschöpfend­ Urians­ ureigenster­ schriftlichen­ Aussagen,die<br />

enthüllen, welch wohlgelittener Bürger, Fami lienmensch,<br />

item auch Einsambold, er einst gewesen – seinerzeit<br />

im alten Doringen = heutigentags freies Thüringen!<br />

Die Mär kündet von einem, der vieles war und sein<br />

Lebtag Erlebnisse anhäufelte, die wohl kaum einem anderen<br />

Manne vor und nach ihm begegneten. Nichts menschliches,<br />

auch nichts unmenschliches, blieb ihm fremd. Alles<br />

wurzelt hierzulande im Dasein. Was ihn umgab und lenkte,<br />

waren die Wohllust und -last – meistens der anderen.<br />

Umher­ verdampften­ auf­ den­ Wirtshaus-Tischen­ Pfützenvon­Bier,­Wein­und­Schnappiß,­geschwängert­von­Braten-<br />

Glut­und­Pfeifen-Qualm.­Aus­den­unteren­Gefilden­stieg­<br />

Stank auf, vermischt mit Lenden-Dämpfen. Es war halt<br />

der Leibs-Dunst des Mittelalters, der noch viel mehr in seinen<br />

Falten und Runzeln hatte. Das Geschnäuf seiner Zeit<br />

waberte­um­Urahn­Urian.­In­all­diesen­Läufften­mußte­ersich­allweil­zurechte­finden.<br />

9


Als er schon weit über ein menschliches Mitt-Lebensalter<br />

hinaus gediehen war und fünf Jahrzehnt in sich zurückschaute,<br />

ward er sich seines von Gott und dessen<br />

Teufelsgeschöpf wohl gemeinsam ausgehecktem Stande<br />

in­ dieser­ Zeit­ bewußt.­ Ausgerechnet­ er­ kurvte­ zwischenguten<br />

und bösen Menschen aller Geschlechter durchs Leben.­Er­mußt­soviel­erleben,­wie­es­so­geballt­wohl­kaumjemandem<br />

noch<strong>mal</strong> begegnet ist und werden wird!<br />

Am Ende seiner Jahre­ hockte­ URIAN­ im­ Städtchen<br />

JENA zwischen all den Wegen des Lebens und<br />

schrieb sich erinnernd seine Erlebnisse mit (vermutlich)<br />

saurem Weine auf Zettel. Er versteckte sie, wie es scheint,<br />

im Gebälk seiner Bohlen-Stube über einer kneipigen Herberge­in­der­obren­Lauen-Gaß,­die­ihm­Unterschlupf­gab.­Der­Gast-Hof­ward­schlicht­„Nolle“­genannt.­Zurück­bliebauch<br />

merkwürdigerweise eine BETTLER-TROMMEL, die<br />

später neben den Zetteln gefunden ward. Gehörte diese<br />

einst­unsrem­MITTELALTER-MANN?­<br />

An­einer­Stelle­der­Fabulierereien­seitens­Urians­klingtder<br />

Gedanke durch: Später wollte er ein Buch aus seinen<br />

Erlebnis-Schilderungen machen, was just neu und sicher<br />

gefragt gewesen wäre. Doch, er verzettelte sich und sein<br />

Werk,­vergaß­sogar,­seinen­Lebens&Geistes-Erguß­mit­indie<br />

Gruft zu nehmen. Zum Glücke für uns neugierige Bolde<br />

von heute!<br />

Jedenfalls: Ein Halbschock Jahre später war von jemanden­jener­Papier-Stapel­aus­Urians­Hand­im­Gebälkder<br />

Wirtschaft gefunden worden. Für den Entdecker bot<br />

das aber nichts Weises weiter dar als Krixel und Krakel<br />

auf gilblichen Blättern. Nun in eine Truhe geworfen, moderte­<br />

Urians­ Lebens-Beichte­ vor­ sich­ hin­ und­ verblaßte,bis<br />

man den papierenen Haufen erneut entdeckte. Drei<br />

Paar an Jahren waren indes vergangen.<br />

Die­neuerliche­Finderin­–­Brünne­geheißen­–­freute­sichgar­<br />

sehr,­ denn­ breitärschig­ und­ oft­ manch­ Unflat­ untersich<br />

gehen lassend, brauchte die Kränkliche viel Papiere<br />

für­ihre­ziemliche­Nothdurft.­Eines­Tages­mußte­Brünne<strong>mal</strong><br />

dringend und nahm von dem in einer Ecke seit eh und<br />

je rumliegenden Stapel ein halbes Dutzend Blätter mit auf<br />

den­Abtritt.­Ein­Glück­für­die­Nachneugierigen,­daß­das­<br />

10


Weib­just­nur­einen­Seech­rauslaufen­lassen­mußte­undfür<br />

das Abwischen ihrer Brunschel Stücker drei Seiten<br />

von­Urians­für­sie­unsichtbaren­Buchstaben-Erguß­ausreichten.<br />

Erleichtert knarrte Brünne danach die Stiege wieder<br />

rauf. Ihre Bohlen-Stube lag gleich über der Redirate der<br />

Herberge. Brünne hub an, oben wieder was in die Gurgel<br />

zu schütten, damit Schlund und Blase nit zu leer und trocken<br />

würden.<br />

Heut becherte sie roten Wein rein. An ungeraden Tagen<br />

floß­nämlich­Weißwein­in­sie.­Itze­war­ein­gerader.­Zum­<br />

Glücke­für­Urianen­und­all­uns­Leut­bis­heut!­Denn­Brünne­kippte­den­Humpen­um­und­die­rote­Lache­floß­überdie<br />

Hand-Schrift.<br />

Justamentebene kommen Buchstaben und Sätze zum<br />

Vorschein!<br />

Wie eine mit geheimer Tinte gepinselte Schrift entpuppt<br />

sich der Salm. Brünne wundert sich ob dieser für sie völlig<br />

neuen Art von Besoffenheit, doch ist sie nüchtern genug,<br />

um zu erkennen, welch geistvoller Schatz da plötzlich auf<br />

ihrer Kommode liegt. Als spannender Haufen entblätterten<br />

sich Blatt für Blatt die Papiere. Wurden sie beträufelt,<br />

konnt man alles fein gut ablesen. Als der Krug leer,<br />

aber der Stapel noch nit, entkorkte Brünne eine von einem<br />

Freier hiergelassne Flasche Franken-Wein. Doch dadermit<br />

wirkte der Zauber nimmer! Saale-Wein von den Hängen<br />

der­Jenschen­Berge­mußt­es­sein.­Roter­dazu,­dann­klappte<br />

die Enthüllung wieder, wie Brünne schnell herausfand.<br />

Als alle Flaschen leer getrunken, was schnell ging, da ja<br />

auch­die­Blätter­beträufelt­werden­mußten,­hatte­Brünneaußer­<br />

Rebensaft­ auch­ Urians­ halben­ Lebens-Lauf­ verinnerlicht.­Und­pennte­ein.­Im­Traume­erschien­dieser­Urahn<br />

in ihrem Nüschel und bat um ihre Hülfe. Dergestalt<br />

sie ihm diene, seine Lebens-Beichte öffentlich zu machen<br />

und die noch vorhandenen Seiten in eine Gutenzwergsche<br />

Druckerey­zu­bringen,­auf­daß­ein­schriftgesetztes­Buchgemacht<br />

werde! Hülfe Brünne, zürne er auch nit länger<br />

darob,­daß­sie­sich­mit­einigen­seiner­Blätter­ihres­Schoßes­Schlund­un­die­Ursch-Riefe­abgewischt­hatte.­<br />

Frau Brünne wachte wieder auf. Hülfsbereit und weiter<br />

11


durstig torkelte sie die Stiege nunter in den Gast-Raum<br />

und­ erzählte­ dem­ Zapf-Wirte­ die­ wahre­ Mär­ von­ Urians­<br />

Hinterlassenschaft hinterm Gebälk und von ihrem ernüchternden<br />

Traume.<br />

Ein Herr hockte am Stamm-Tische und kriegte alles<br />

mit. Er entsann sich des Haufens gilblichen Papieres, den<br />

nämlich er einst zuerst oben hinter den Bohlen gefunden,<br />

aber­nit­beachtet­hatte.­Er­war­sofort­erbötig,­Urians­Vermächtnis<br />

zu erfüllen und die Schriebse nune für die Nachwelt<br />

zu retten.<br />

Schließlich­kam­(glücklicherweise)­der­gewichtige­Stadt-<br />

Advokat und besondre Rathaus-Schreiberling Oswin Huber<br />

auf­einen­hölzern­Becher­Weißbier­rein­und­ward­in­dasin<br />

der Bohlen-Stube entdeckte Geheimnis eingeweiht. Der<br />

Amtliche blühte sofort auf.<br />

„Iche­bin­der­beste­Mann­für­euch“,­hub­Huber­an­zulallen,<br />

„diene seit alters unsrer schönen deutschen Sprache.<br />

Verstehe mich vorzüglichst aufs Hand- wie Mund-<br />

Werk, um solch Schreibseleien artig in leserliche Formen<br />

zu­bringen­und­gedruckt­zu­bewahren.“<br />

Man ward sich einig, Hubers Hülfe, Rat und Tat wie<br />

dessen Verbindungen nach oben müssen beansprucht<br />

werden, weil die Entdecker mit Brünnen an der Spitze nit<br />

so­firm­sin.­Also­erweiterte­sich­der­Bund­um­den­Griffel-<br />

Bändiger­ Huber.­ Außerdem­ gehörten­ dem­ Unternehmenan:­<br />

der­ Herr­ Urfinder­ und­ stammgastliche­ Nichtsnutz,dessen<br />

Name nit überliefert ist, der Wirtsmann Häringer<br />

nebst einem arglosen taubstummen, halbblinden Kellner<br />

und die bezopfte Brünne als Leiterin der Tat-Sache. Zum<br />

Glücke lungerten keine weitren Gestalten in der Kneipe,<br />

sodaß­ Urians­ wiedergefundener­ Tagebuch-Schatz­ erschte<strong>mal</strong><br />

geheim bleiben konnte.<br />

Brünne übernahm allsogleich die Führung über den<br />

Bund­und­schmiß­gleiche<strong>mal</strong>­eine­Runde­Bieres­zur­Bestallung<br />

des neuen Fähnleins – auf Wirts-Kosten. Oswin<br />

sagten­ alle­ zu,­ daß­ er­ als­ Urians­ Lebens-Forscher­ sowie­<br />

Memoarius handeln solle, folglich als Schriftmächtiger das<br />

Buch unter seinem eigenen Bürgers-Namen herausbringen<br />

dürfte! Das gab der ganzen Sach nämlich ein amtlichguts­<br />

Gesichte.­ Auch­ würd­ geplant,­ als­ Druckerey­ samt­<br />

12


<strong>Verlag</strong>s-Anstalt was und wen Angesehenes und Lettern-<br />

Erfahrenes aus der Stadt einzubinden. Das solle allso der<br />

Huber erledigen.<br />

Schließlich­müßt­das­Buch­ja­für­alle­auch­ein­Geld-<br />

Geschäft­und­gut­marketendert­werden.­Und­sollte­auchin<br />

naher wie ferner Zukunft ein rundwahrlich Bild vom<br />

hinterda<strong>mal</strong>igen­Leben­Urians­und­seiner­Nachbarn­rundum<br />

Jena bezeugen.<br />

Huber hub hervor, wie sehr wichtig seine fähige Gestalt<br />

sei und urkundete alles auf einen Bier-Filz, was alle Verbandelten<br />

abhakten, kreuzten wie unterschrieben als Einverständniß.<br />

Merschtenteels waren sie des ABC-Griffels gar nit mächtig,<br />

die neugebackenen Buchverleger.<br />

✴<br />

Dem gewitzten Leser­ bis­ hierher­ –­ ob­ pfiffig-geneigt<br />

oder neugierig-unbedarft – sei nune gesteckt: alles,<br />

was auf den folgenden Seiten gesetzt steht, stammt nur in<br />

zwoter Hand von Oswin, dem Huber. Nimmer ward etwas<br />

erfunden. Alles ist wahr und haftig so aufgekritzelt und<br />

mit­ Feder-Kiel­ nebst­ Tinten-Faß­ abgeschrieben­ worden,wie­es­der­Herr­URIAN­schriftlich­hinterlassen­hatt.­Weiles<br />

ihm so widersprüchlich wirklichwahr wiederfahren ist,<br />

das spürt man. So etwas kann man sich nie<strong>mal</strong>snit ausdenken,<br />

geliebte und gelobte Leserschaft!<br />

Euer­Augen-Blick­auf­Urians­Leben­beginne­nun!<br />

WARNUNG: Haltet das Folgende den Augen und Ohren<br />

eurer unschuldigen Kinder bis hinauf zu den Halbwüchsigen<br />

bitte fern!<br />

Wohlbekomm’s ansonsten!<br />

Oswin Huber<br />

13


„Zu­frühe­ist­auch­unpünktlich“,­war­die­erste­Lehre­des­<br />

Lebens, die der kleine Menschen-Wurm seinen Ältern gab,<br />

noch bevor seine Erden-Laufbahn gar begonnen. Er wollt<br />

erst rausschlüpfen, wenn sein Geburten-Tag gekommen.<br />

Wohlig warm schwamm er noch im Frucht-Wasser seiner<br />

schönen­Meuder­umher,­soff­un­genoß­die­süße­Lebens-<br />

Brühe,­die­ihn­vor­allem­Unschlitt­auf­der­Welt­schützte.­<br />

Die Geburt könnt noch warten.<br />

Indes lauerte der werdende Vater dringlich auf den<br />

Sproß­ seines­ Saftes­ un­ ward­ arg­ ungeduldig,­ weil­ manja­<br />

nit­ wußte,­ ob­ da­ nune­ ein­ Säckchen­ oder­ ein­ Spältelein<br />

angerutscht kommt. Auch die niederkünftige Meuder<br />

wollt nit mehr länger den hochschwangrigen Kugel-Bauch<br />

rumschleppen­un­wünschte,­daß­sie­das­Bälglein­bald­ausdem­Schoße­in­die­Arme­nehmen­könnt.­<br />

Nur das unbekannte Weselein selbst schien zu wissen,<br />

wann es erscheint, denn noch dehnte es der Meuder<br />

Wanst,­kugelte­un­purzelte­in­deren­Leib­umher,­daß­die­<br />

Ursele­geheißene­junge­Frau­kaum­eine­Ruhe­fand.<br />

Doch dann waren offenbar die 267 Tage un Nächte<br />

vorbei, die des Menschen Natur-Werk zum leibsinneren<br />

Kinds-Wuchse anberaumt hat. Die Frucht einer Liebe begab<br />

sich nunmehr endlich auf den guten Rutsch gen erdiges<br />

Leben.<br />

Am­zehnten­Oktobertage­1582­öffnet­sich­endlich­Urseles<br />

Schlund un der von ihrem vor neun Monden beiwohnenden<br />

Gesponst per Spritz-Blitz als Stern in die Sichel<br />

gepflanzte­Bankert­flutscht­ohne­groß­Gemähre­raus.­Die­<br />

Hebe-Amme nimmt das glitschige Bälglein hoch, klatscht<br />

ihm einen Klaps. Es krähte auch gleich los, spuckte oben<br />

un unten un fror jämmerlich auf dieser Welt. Ritschratsch<br />

schnitt die Matrone mit scharfen Scheren-Schenkeln den<br />

bisherigen Lebens-Strick durch. Zum Glücke war sie so<br />

erfahren,­daß­sie­auch­wirklich­die­Nabel-Schnur­absäbelte<br />

un nit etwa den winzigen Schnips, der den Kinds-Vater<br />

am meisten zu interessieren schien. Reineweg glücklich<br />

ließ­der­Mann­sich­von­seinem­Sohne­mit­frischem­Strahl­<br />

16


Ja, man richtete sogar eine Bier-Straße ein, an die sich<br />

noch andre Brauereien mit un ohne Gast-Stätten und<br />

Bier-Gärten­anschlossen.­Das­ward­ein­süffiger­Weg,­dendie<br />

Wander-Burschen un andre Dürstlinge nune getrost<br />

nehmen konnten: er schlängelte sich an Burgen vorbei<br />

übern Renn-Steig rüber ins Fränkische. In der Perle des<br />

Franken-Waldes, nämlich in Kronach, kann man sich innerlich­<br />

auffüllen,­ bis­ die­ Gurgel­ schlappmacht.­ Um­ daszu­<br />

erleben,­ muß­ man­ ein­ oder­ zwei­ (höchstens­ drei­ bisfünf)<br />

Kunigunden stemmen. Dies verführerische Mädel is<br />

das­Maß­aller­Maße.­Der­„Kunigunde“­geheißne­Krug­faßt­<br />

1 ⅛­Liter­Bier.­Ein­Übermaß,­das­für­wenige­Groschen­imwirtlichen<br />

Scharfes Eck aufgetischt wird. Seit 1514 läuft<br />

hier der Kraft-Saft aus dem Fasse in die Kunigunden un<br />

schmeckt zur sich drumrum kringelnden Brate-Wurst. Nit<br />

anders in Kulm-Bach. Kommt der Wandrer nach reichlicher<br />

Entleerung hier dürstend an, kehrt er erst<strong>mal</strong> in<br />

Mönchs­Hof-Bräuhaus­ein­un­faßt­aus­dem­Faß­ein­Örtliches­nach,­heißt­„Kommunen-Bräu“.­Urian­hat­das­allesleider<br />

nie gekostet, kam nit bis hierher zum Tanken ins<br />

schöne Bier-Franken. Also weiter dies<strong>mal</strong> ohne den Mittelalter-Mann<br />

durch die Oberpfalz auf der bierhaften Burgen-Straße.­Immer­dem­Schlauche­vor­der­Blase­nach!<br />

Vom rastlichen Kulm-Bache ging der Bier-Probier bis<br />

nach Passau runter. War man am Donau-Flusse angeschwemmt,­<br />

mußt­ der­ Durst­ gelöscht­ sein.­ Ansonstenhieß­es­nur:­ab­un­zurücke­durch­die­Mitte­–­die­Bier-­un­<br />

Burgen-Straße­ erneut­ unter­ die­ Renn-Semmeln­ nehmenun<br />

die wohltuenden Humpen besuchen un leeren. Hauptsach,<br />

man kanns berappen, sonst hängt de Zunge.<br />

Neueste­Zeitung­is,­daß­man­da­oben­im­Sand-Land­sogar<br />

für drei Tage einen Gesöff-Jahrmarkt veranstaltet. Das<br />

nennt sich Bier-Meile­un­findet­in­der­Doppelstadt­Cölln-<br />

Bärlin statt. Zwischen dem Post-Wege nach Frankfurt an<br />

der Oder un den Palisaden der Stadt-Mauer bauen Brauereien<br />

Stände mit Fässern auf un schenken jedem soviel<br />

aus, wie er sich in seinen Ranzen schütten kann.<br />

Der Pruhn, den die Schluck-Spechte dann abpinkeln un<br />

ausbullern,­muß­übrigens­in­Fässer­gestriezt­werden,­weilaus­dem­Urine­ein­Harn-Saft­gefiltert­wird,­den­die­Gerber­<br />

65


fürs beste weiche Leder brauchen. Für jeden Halb liter seines<br />

Seechs kriegt der Pischer nen Hohl-Pfennig als Pfand<br />

zurück, den er wieder in Frischbier anlegen soll. Übrigens<br />

müssen­Frauen­nich­aufs­Faß­un­ins­Spund-Loch­streuseln,<br />

weil ihre so lieblich gülden strahlende, damenhaft<br />

duftende­ Pische­ zuviele­ Eiweiße­ un­ Dottergelbe­ (manch<strong>mal</strong>s<br />

auch Monats-Blut) enthält, was die Loh-Meier nit haben<br />

wollen.<br />

Zur Bärliner Bier-Meile kommen inzwischen immer<br />

mehr Brau-Meister angereist, die hier ihre hölzernen Hähne<br />

in die Spund-Löcher schlagen un Gersten-Säfte zapfen.<br />

Mittlerweile treffen die Bier-Wagen schon aus Baiern, Böhmien,<br />

Meckels-Burg, Feuchtland un dem Anhaltschen ein,<br />

um Verkosten zu lassen. Alles geschah unterm Schilde vom<br />

Bier-König Gambrinus, der ja das Brauen hat erdacht, der<br />

Gute.­„Mein­lieber­Scholly,­wir­danken­dir“,­raunt­es­jedes­<br />

Jahr durch die brandenburgsche Doppelstadt von Preußens­Gnaden.­Man­unkt­sogar,­der­Bier-König­spuke­oftpersönlich­zwischen­Fässern­un­Humpen­rum.­Wer­weiß,was<br />

das wieder fürne Eulenspiegelei is.<br />

Mit leergesoffnen Fässern un prallgefüllten Geld-Katzen<br />

reisen die Bierologen dann wieder heeme un setzen neuen<br />

Sud an. Wie gut!<br />

Bier war ja auch ein Ernähr-Mittel fürs Volk. Da drinne<br />

steckten die Kräfte von Malz un Hopfen, die samt Quell-<br />

Wasser­den­Köper­gesund­durchflossen­un­auch­von­Magen<br />

un Nieren aus beste Gesundheits-Stoffe im Leibe verteilten.<br />

Manch Haus-Brauerei machte aus dem Bier reeneweg<br />

ein Überlebens-Mittel. So erfand man durch Zugabe<br />

von­Zucker­un­andrem­Kulör­das­süße­Schwarz-Bier.­Als­<br />

Doppel-Karamell benamst, galt es auch als Mutter-Bier un<br />

Kinderdurst-Löscher. Es ward verdünnt un mit der Nuckel-Flasche­den­Wänstern­eingeflößt,­da­schliefen­dieseschnell<br />

ein un noche<strong>mal</strong> so feste. Manch helle Pusche, die<br />

bierig daherkam, wird im Glase mit Zucker verrührt – das<br />

schlürfen Alte un Junge gern gegen Magen-Knurren un<br />

zum­Erfrisch.­Urian­aber­liebte­nur­die­reinen­Gersten-Säfte,<br />

seit er <strong>mal</strong>, später allerdings, leibhaftig die bierige Meile<br />

in der Hauptstadt Berlinien besucht hatt. Dort bekam er<br />

das­Maul­nit­mehr­zu.­Vor­lauter­Staunen.­Un­Schlucken.­<br />

66


Wo,­wie­er­von­seinen­Geheimen­wußte,­immerzu­viel­Goldgewaschen<br />

ward. Das lockte mehr als ne Jungfer.<br />

Schließlich­ landete­ der­ ausländische­ Durchreiser­ beieinem<br />

Ritter Kunigunderich hochdroben auf der Greiffen-<br />

Veste nahe Blancken-Burg, wo er gern abrasten wollte. Es<br />

gefiel­ihm­auch­deshalb­hiero­fein,­weil­die­nahe­gelegne­<br />

Brauerei zu Watzens-Dorff täglich durch eine aus vielen<br />

zusammengenähten Därmlingen bestehende Leitung ein<br />

köstlich Bier hinaufpumpte.<br />

Das­ gefiel­ dem­ Kö!­ Er­ labte­ sich­ am­ Trunkeun­ward­so­dicke,­daß­er­die­letzte­Lust­auf­eines<br />

Fräuleins Pusch-Musch verlor, sei sie item<br />

auch noch gewaschner als alle Goldes-Kiesel im<br />

schwarzen­Bache­allhier.­Un­so­blonde­wie­das­<br />

Bier­ konnt­ keen­ Scham-Hüchel­ locken.­ Außerdem<br />

lernte der Herrschling etwas für ihn völlig<br />

neues kennen: die Männer-unter-sich-Liebe!<br />

Während eines zünftgen Gezechs im Remter<br />

verlor sich nämlich Ritter Kunigunderich in einen Anfall<br />

von Schmusen, Kuscheln un Küssen. Er begrapschte,<br />

züngelte un streichelte den säcksschen Gast un betatschte­dessen­Hose,­fingerte­gar­keck­rein­un­hodelte­drinrum.­<br />

Der hohe Herre von der Elbe war überrascht un zürnte<br />

den neuen Freund von der Schwarza darob erschte<strong>mal</strong><br />

vondannen. Doch allsoforte begann Ritter Kuni eine Minne<br />

der besundren Art un Weis. Zu Tische klampfte schon den<br />

ganzen Abend der sonstige Gespiele un Knecht des Burg-<br />

Herrn un sang feinschmutzige, gar dreckige Lieder un Weisen­zur­Unterhaltung.­Auch,­damit­man­das­Schmatzen,­<br />

Schlürfen, Rülpsen un Popo-Pumpern nit so hörte. Dieser<br />

Barde Diethelm war vor einiger Zeit saaleaufwärts schiffend<br />

bis hierher gerudert un hatte als fahrender Sänger un<br />

Quatsch-Macher hierdroben Herberge, Brot un Biere gefunden.<br />

Er durfte die Burg-Leute mit seinem Gesange un<br />

Gezupfe­erfreuen.­Meistens­saß­er­mit­seinem­Kleb-Arschauf<br />

über Fässer gelegten Bohlen un Brettern; durft sich<br />

aber­nit­wegrühren,­sondern­mußt­möglichst­andauerndröhren<br />

un auch schmeichlerische Verse zur Laute hauchen<br />

oder gröhlen. Jenachdem. Dieser fesche Jünger jeglicher<br />

Künste war ein begabter Meister der Saiten un Wor-<br />

118


te, säuselte, brummte, krächzte, kratzte atemberaubend<br />

die Teufels-Geige, sang un schrie viele gute Melodeien wie<br />

Verse­ohn­Unterlaß­durch­die­Kemenaten.­Der­vollmähnige<br />

Schönling war wirklich ein Stern unter<br />

seinsgleichen un stümperte auch an diesem Abende<br />

lauthals, bis sich Bretter, Balken un Bohlen bogen.<br />

Später hub er dann mit Einschmeichel-Musici an,<br />

zu der er endlich <strong>mal</strong> nit in seinen volksbeliebten<br />

aber auch fürchterlich gefürchteten Singsang verfiel.­Von­der­Melodey­des­Liedes­ohne­Worte­angestachelt,ward<br />

dem warmen Burg-Herrn noch wärmer un aufein<strong>mal</strong><br />

begann der Ritter sich im Takte verführerisch auszuziehen,<br />

warf Rüstung, Harnisch, Wams un Bein-Kleider ab,<br />

wedelte­dann­mit­seinem­Sack-Tuche­un­ließ­auch­diese­<br />

Hülle­ schließlich­ fallen!­ Unter­ Musikuß­ Diethelm­ bogensich<br />

die Bohlen ob seines wilden Geklampfes. Ihm taten<br />

schon die Finger weh un er verzupfte sich andauernd, weil<br />

der Herre davorne ihn angeilte. Diethi hielt nich inne un<br />

steigerte sein Spiel ins Schlüpfrige, was er besunders gut<br />

konnte.­Un­es­wirkte­–­auch­beim­Gaste­aus­Elbien!<br />

Der König war längst aufgesprungen, hatte seine Krone<br />

abgeworfen, wedelte seinen Hermelinmarder-Mantel<br />

durchs Gemäuer, sprang auf den Tisch un zog sich ebenfalls­<br />

im­ Takte­ aus.­ Erstaunt­ sah­ der­ Ritterling,­ daß­ der­<br />

Ausländer einen Schlüpfer aus Spitzen-Geweb trug, den<br />

er­ stolz­ rufend­ davonwarf:­ „Von­ meinen­ Unterthanen­ imfeuchtländschen­Städtschen­Blauen­für­mich­maßgerechtgewirkter­Schlübber!“­Leidern­landete­das­gute­Stück­im­Kamin-Feuer.­„Hahahahaha“,­lachte­der­König­nur,­„mußähmt­<br />

mei­ arzgebirgscher­ Nuß-Gnacker­ naggsch­ bleim,gelle“.<br />

Als er die neidschen Blicke des Barden Diethelm auf<br />

seine im Raume verstreuten Kleider bemerkte, rief er dem<br />

Schönling zu: „Mei Gunge, isch schengke dir mei Gack<br />

aus Läder. Aber schbiel nur fei weider. Gannste niche ma<br />

e­ bissel­ ziddern?­ Da­ danze­ isch­ am­ liebsden­ derzu.­ Ja,wenns<br />

Roocher-Mannel nabelt, wird’s schie gemietlich<br />

in­ der­ Hüdde,­ nowahr.“­ Die­ Anwesenden­ verstanden­ nitalles,<br />

was der Herrscher aus fernen Landen da von sich<br />

gab, lachten aber brave. Kunigunderich nutzte die Erre-<br />

119


126<br />

un­lassen­sich­vom­Ungeld­mit­Fest-Essenbekochen,­<br />

wobei­ manch­ Faß­ jenschen­<br />

Weines geleert wird. Dankbar prangen<br />

im Stadt-Wappen Raute nebst<br />

Traube.<br />

In der Zeise müssen alle Verdiener<br />

blechen: Fischer, Böttger, Gerber<br />

mit 15 stinkenden Loh-Häusern,<br />

Tuch-Macher un Färber samt<br />

Rähmen, Eisen-Schmiede, Kandel-<br />

Gießer,­ Nadel-Macher,­ Kessel-Flicker,­<br />

Schlosser, Kupfer-Schmied, Schneider,<br />

Zimmerer, Tischler, Kärner, Hut-Macher, Töpfer, Maurer,<br />

Kürschner, Schleifer, Bader mit un ohne Stuben, Seiler,<br />

Wagner, Leine-Weber, Seifen-Sieder, Kerzen-Zieher, Hecker<br />

un Land-Arbeiter, Seiden-Sticker, Glaser, Gar-Kocher,­<br />

Stein-Metze,­ Ziegel-Decker,­ Pflaster-Setzer,­ Ziegler,<br />

Schreiner, Hölzernkandel-Macher, Riemer, Beutler,<br />

Sattler, Buch-Drucker, Eichner un Prüfer fürs amtliche<br />

Faß-Messen,­ Kamm-Macher,­ Leisten-Schneider,­ Büchsenschaft-Macher,<br />

Korb-Flechter, Fiedler, Instrumenten-<br />

Bauer, Näherin, Apotheker, Gewand-Schneider, Hucker,<br />

Krämer un ein Todten-Gräber sowie drei Hübschlerinnen<br />

als Dirnen. Also Arbeit genug un Kundschaft genügend<br />

gibt’s heutigentags. Wobei mancher Macher, Werker oder<br />

Händler mehr un der andre weniger zu tuen hat. Jeder<br />

is erpicht auf Käufer, die ihm was abnehmen oder sich<br />

Dienste­leisten­lassen.­Man­muß­halt­für­sein­Zeugs­oder­<br />

Hülfs-Angebot werben – ne alte Sache, gelle! Das trifft<br />

auch auf die Weibsen zu, die ihre nackchen Brüste anbieten<br />

un sogar die Schenkel spreizen für Taler-Zahler, die<br />

<strong>mal</strong> rin in de Rinne ständern wolln. Manch Mann will nur<br />

glotzen oder e<strong>mal</strong> anfassen. Auch kommen Schlecker un<br />

Schnuppriche.<br />

Die immer bereiten Fraun buhlen arg um jeden Freier<br />

un­haben­allerley­Einfälle,­die­Kerle­auf­sich­un­ihr­Geils-<br />

Geschäfte aufmerksam zu machen, wie dichterisch überliefert:


Etliche uzen mit Pfiffen<br />

un andern quiken sy mit Griffen<br />

dem Dritten winkt eym Taschen-Tuch<br />

dem negsten zeigen sy ihr Busen-Buch.<br />

Mit weysse Schuhe un rothe Strümpfe<br />

locken se Kerls in dunkle Sümpfe!<br />

Obwohl das Liebes-Geschäft nit sehr öffentlich getan<br />

werden kann, weil ohnanständig un nit ganz gottgetreu,<br />

wird es doch von den Kirchlingen un Obrigkeiten als notwendiges<br />

Übel geduldet, um solcherweis die andern Mädgen<br />

vor Jungfern-Schändung un Vergewaltigung zu schützen,<br />

die Männer ehrsamer Familien-Frauen wiederum vom<br />

Ehe-Bruche abzuhalten. Denn Wegsteck eines Gliedes in<br />

ein­käuflich­Loch­ohne­Schmuse­un­Küsserey­gilt­unausgesprochen­<br />

nit­ als­ Sträflichkeit,­ sondern­ als­ Delikateß-<br />

Delikt­eines­unbefriedigten­Herrn­zwecks­Pflege­un­Erhaltseiner<br />

Schöpfungsakt-Naturalanlage. Jenachdem, wo un<br />

wie in Jena die armen<br />

Weiber ihre Leiber<br />

anbieten – ob auf<br />

Straßen,­ in­ Gassen,hinter<br />

oder in Häusern,<br />

gern in abgelegnen<br />

Mühlen oder im<br />

Bade – werden sie benamst.<br />

Es gibt da die<br />

gemeinen Fraun un<br />

Weibsen, die freien<br />

Töchter, fahrenden<br />

Dirnen,­ Huren,­ läufigen<br />

Rinnen, Venster-<br />

Hennen un die mehr<br />

aufs Pussieren, Quatschen<br />

un Betatschen<br />

ausgerichteten Hübschlerinnen.<br />

Damit<br />

ein Jedermann die<br />

leichtfertigen von den<br />

frommen Scheiden<br />

Hans Baldung, gen. Grien, Allegorie auf<br />

die erkaufte Liebe, um 1510<br />

127


Ob­es­een­kleener­König­oder­ne­Prinzeß­wird?­Am­nächsten<br />

Andreas-Fest wirds Wänstlein jedenfalls in der Stube<br />

schon­ schön­ rumkrabbeln.­ In­ seinem­ Glücke­ beschließtdas<br />

Paar auf der Stelle, nune alsbalde zu heuraten! „Lassen<br />

wir das kommende Jahr gut anfangen un uns gleich<br />

im­Januare­zum­Hohen­Neujahrs-Tage­trauen“,­beschließen­die­werdenden­Ältern.­„Doch­bis­dahin­muß­die­Mörderey­<br />

im­ Paradiese­ beendet­ sin.­ Wer­ is­ nur­ der­ Mords-<br />

Bube?­Oder­sin­es­mehrere­Unholde,­gar­ein­Satans-Weib,das­den­armen­Schluckern­den­Garaus­macht?­Mir­ahntwas“,­faselt­sich­Urian­in­einen­unruhigen­Schlaf­rein.­<br />

Alles könnt so schön un gemütlich sein in dieser vorweihnachtlichen<br />

Zeit. Wurden die Jenenser die letzten Monate­doch­einigermaßen­von­Natur-Unheiligkeiten,­pestilenten<br />

Krankheits-Gebilden, Feuers-Brünsten, Hochwässern,­Plagen­un­Kriegereien­verschont.­„Nur“­das­grausige­<br />

Mords-Geschehen wabert immer noch rum. Zwar waren<br />

es­bisher­nur­Männer,­die­dran­glauben­mußten,­was­zuallerlei<br />

Vermutungen führte. Doch die Frauen wollten nit<br />

weiter mit ansehen, wie ihre Kerle einer nach dem andern<br />

im Paradiese tot rumlag un dann gen Himmel schwebte<br />

oder gar in die Hölle fuhr. Irgendwelche Schuld hatten die<br />

Opfer sicherlich selbigst auch an ihrem unvermuteten Abnippeln.­<br />

Aber­ wieso­ un­ warum­ nur?­ Es­ herrschen­ Aufregung,<br />

Wut un Trauer insbesunders auch dessertwegen,<br />

weil die frischste Leiche ein nit unbekannter, sehr wichtiglicher<br />

Mann in un um die Stadt gewesen is.<br />

Während­Urians­Abwesenheit­hatt­es­nämlich­ohnlängstden­örtlichen­Lebzelter­Bringefried­Strohscheyn­erwischt!­<br />

Dieser Hochangesehne war der einzige Hand-Werker allhiero,<br />

der sich auf das Lebkuchen-Backen verstand, was<br />

ihn­ sehr­ beliebt­ bei­ den­ süßen­ Guschen­ machte.­ Einstaus­<br />

Pulßnitzen­ in­ Sacksen­ hergereist,­buk­ er­ die­ besten­<br />

Pfeffer-Nüsse un Honig-Kuchen, wie man sie nit mundiger<br />

jeh geschmecket hatte. Das konnt kaum jemand so<br />

fein nachmachen, weil den meisten Haus-Frauen Übung<br />

un­Erfahrung­fehlen.­Un­Männer­sin­sowieso­zu­blöde­fürso­was.­Außer­eben­der­begabte­Herr­Fredie­Strohscheyn.­<br />

Ein richtger Lebzelter vereint in sich mehrere Berufe: den<br />

Met-Sieder, den Honigwein-Macher, den Wachs-Zieher. Zu<br />

226


allererscht is er aber Bäcker nebst Konditorius. Manch<strong>mal</strong><br />

auch noch Künstler, schnitzt er sich die Holz-Modeln<br />

selbst zu rechte. Meist nimmt man für solche Förmchen<br />

Birnbaum-Holz.­Schließlich­kommt­es­beim­Lebzelten­aufdie<br />

beste Mischung des Teigs an: Mehl, Zucker, Ei, een<br />

linschen­Hirschhorn-Salz,­eweng­Aniß­–­das­alles­schönedurchgemerschelt<br />

un aufs Back-Blech geformt, ergibt die<br />

beliebten Plätzchen, die manche Ausländer auch Springerle­nennen.­Mehr­Umständ­un­Aufwand­sin­nit­vonnöten<br />

für die Lebens-Kuchen, die der jänsche Lebzelter am<br />

besten buk.<br />

Fast hätts der Schreiberling vergessen zu erwähnen,<br />

aber das is ja klar: wichtig is auch der Bienen-Honig<br />

vom­Zeidler,­der­das­klebrige­Süß­fein­imkert.­Diesen­willnune­Urian­morgen­gleich­aufsuchen,­vielleicht­weiß­derwas<br />

über den letzten Weg seines ermordeten Kunden un<br />

Freundes.<br />

Urian wandert in der Früh durchs Ritze-Tal, bis er<br />

weit oben auf der Höh von Lutzdorf den Honig-Mann zwischen­seinen­Beuten­am­Berge­findet.­Es­stellt­sich­raus,der<br />

dicke Zeidler Ludewich ward wirklich der Letzte, der<br />

den nune mausetodten Lebzelter lebendiglich vorje Woche­<br />

gesehn­ hatt.­ Un­ er­ weiß,­ der­ Lebkuchen-Mann­ hattjust<br />

an diesem Mittwoche die Schnauze voll gehabt von<br />

all­dem­Süßkram­un­Zucker-Gelumpe,­daß­er­<strong>mal</strong>­wiedernach<br />

was Deftiglichem gierte. Er wollt runter in de Stadt<br />

zu ner Wirtschaft machen un sich een Rostbrätchen mit<br />

Majoranzweibel-Geschmor­einverleiben.­Un­dann,­hatt­erdem­Zeidler­geflüstert,­würd­er­die­gemächtige­Hilde­zumnachtischlichen<br />

Wegsteck besuchen wollen. Auch seinem<br />

Genieß-Wurtz­wär­<strong>mal</strong>­wieder­e­fettes­Fleisches-Mahl­zugönnen.­Urian­erstarrt­bei­dieser­Zeitung­aus­dem­Mundedes<br />

Bienen-Bändigers. Es rieselt durch seinen Nüschel die<br />

Erhellung,­ wer­ gemeint­ war,­ wo­ die­ Spur­ hinführt.­ Daßer<br />

da nit eher drauf gekommen is! Sollt es sich etwa um<br />

Harmonika-Veronika aus der Neuen Gasse handeln, die<br />

eigentlich Mechthilde von Öftermanch<strong>mal</strong> oder so ähnlich<br />

hieß?­Das­Paradies­jedenfalls­war­gleich­um­die­Ecke.­Urian<br />

un Vroni kannten sich gut. Die Dame war ein liebevolles,<br />

rundliches Weib. Man traf sie in Wirts-Stuben, die<br />

227


einen guten Leumund hatten: Adler, Bären, Engel, Hirsch,<br />

Hecht, Halb-Mond, Noll, Sonne, Tanne, Rose, Zeise.<br />

Seit ihr Mann Anton, mit dem sie einst musikalische<br />

Kunst-Stücke un Konzertchen darbot, die Posaune mit<br />

ins Grab genommen hatte, trat Mechthilde in diesen Gast-<br />

Häusern un bei Festen alleine auf. Sie spielte gut Zerrwanst<br />

un sang für ein paar Klimper-Groschen lustge Lieder.<br />

Kaum jemand kannt ihren bürgerlichen, angeadelten<br />

Namen. Sie nannte sich nun schlicht „Vroni­ohne­Toni“.<br />

Doch in den bekannten Kneipen war sie schon mehrere­<br />

Abende­ nirgends­ drinne­ gewesen,­ wie­ Urian­ schnellbei­den­Wirten­erfrug.­Da­er­überall­freudig­begrüßt­un­zueinem<br />

Biere eingeladen ward, was seine Blase prallte un in<br />

die Beine sank, schlurfte er beim Einbruche der Dunkelheit<br />

erschte<strong>mal</strong> heeme un legte sich halbbesoffen in sein<br />

Nest. So schlief er ruhig durch un bescherte Mechthilden<br />

eine letzte Nacht in Freiheit.<br />

Die arme, bisher gütige Frau, is schon länger nit zur<br />

Ruh­ gekommen,­ weil­ sie­ wußte,­ früher­ oder­ später­ wirdnune­Licht­in­ihr­schattiges­Unleben­fallen.­Alle­Missetaten<br />

würden rauskommen, wenn nur jemand ihr erschte<strong>mal</strong><br />

auf die Schliche kommt un folgert. So is sie nit überrascht,<br />

als am nägsten Morgen in der Früh der bekannte<br />

Herr­Urian­ans­Haus­kloppt.­Sie­läßt­das­amtliche­Selbstwillig­<br />

rein­ un­ fängt­ auch­ gleich­ eine­ Beichterey­ an.­ Was­<br />

Urian­nune­erfährt,­is­unheimlich,­schlimm­un­traurig­zugleich.<br />

Sie gesteht bereitwillig alles!<br />

Als Mechthilde geendet hat, gehn die Beiden ins nahgelegne<br />

Paradies un auf die Saale-Wiesen, damit M. Ö. dem<br />

städtschen­Untersucher­U.­die­Orte­ihrer­Untaten­zeigenkann.­Sie­liefert­jeden­Beweis,­daß­sie­die­Geleichten­einsthier­abgelegt­hatt.­Es­is­also­wahr!­Un­sie­hat­es­zugegeben:<br />

die rätselhaften Tötungen sin von Frau Öftermanch<strong>mal</strong>­<br />

begangen­ worden!­ Sie­ erzählt­ Urianen­ alles,­ warumun­wie­„das“­vonstatten­ging.<br />

Urian nimmt die geständige Täterin mit in die Stube des<br />

Hof-Gerichts im Rat-Hause. Der Raum liegt über der Zeise-Kneipe,<br />

wo Mechthilde übrigens ihr letztes Opfer kennengelernt­hatt.­In­Anwesenheit­Urians,­des­Polizei-Mannes<br />

un eines Gerichts-Dieners schreibt die gewesne Dame<br />

228


Öftermanch<strong>mal</strong> nun ihre persönliche Beicht-Zeitung mit<br />

allen Einzelheitlichkeiten auf einen Bogen wertvollen gebütteten<br />

Papieres aus dem Volks-Eigentume.<br />

Als Euro Chroniste Ossi H. hab ich mir erlaubigt, diesen­von­Urianen­hinterlassnen­TÄTER-BRIEF<br />

in eine kurze<br />

Fassung zu bringen un hier einzufügen in meine Buch-<br />

Herausgabe. Es is aber der echte Wortlaut, wie ihn die M.<br />

Ö. eigenhändig in Anwesenheit der Gerechtigkeits-Diener<br />

von Jena aufschrieb.<br />

Leset Ihr Nachgefahrnen nune eigenäugig also folgende<br />

Zeitung:<br />

ICH<br />

– Veronika Mechthilde Liebgardt von Oefermanches<strong>mal</strong><br />

– wie iche wirklich un seit meiner Heurath mit<br />

Herrn Gatte Harthmann Freier von Oeftermanches<strong>mal</strong><br />

heiße, tue Kunde:<br />

Ich habe Strafe verdient un bitte um eine gehörige<br />

solche!<br />

Mein Geständniß:<br />

Ich habe nach dem himmelhöllischen Fortfluge meines geliebten<br />

Ehe-Gesponstes nit nur Musiken kneipenwärts dargeboten,<br />

sondern mich von den Freunden meiner Kunst un Fertigkeiten<br />

auch trösten lassen. Doch fast alle diese Witwen-Tröster,<br />

die kamen, anfangs gar von mir bezahlt wurden un dann<br />

mehr un mehr selber an mich blechen mußten, waren ungezogne<br />

RÜPEL! Dabei waren Lust-Molche un Rüpel wie Hänflinge<br />

und Schlapp-Schwänze, die mir unterkamen. Un dran<br />

glauben mußten. Manches<strong>mal</strong> protzte einer aus dem Hosen-<br />

Latze mit seinem Ruterich raus, der dann alsobalde zu einem<br />

Wurme schrumpelte un auf meine Bonne harnte. Das muß sich<br />

das Hoch-Gericht e<strong>mal</strong> bildlich vorstellen! Welch Entwürdigung<br />

einer Dame! Gelegentlich wuchs solch ein Pieps vor mir<br />

nach guter Behandlung zu einem mächtgen Zumphe – wie das<br />

Leben eben über den Männer-Säcken so spielt. Oder nit. Auch<br />

waren sie durchweg unmusikalische Banausen – schlimme<br />

Dööflinge! Weil sie alle zu mir kamen un nur die Meinige un<br />

nit mich ganz wollten, ergab sich für sie leidern der Geils-Todt.<br />

Ich konnt in Erinnrung an meinen Wit-Mann nit anders, als<br />

229


des Schreiberlings, Bücher-Machers un Retters der Urianschen<br />

Hand-Schrift OSWIN HUBER vom 29. Februar 1688:<br />

Damit­endigt­Urians­Kladde,­der­ich­strengst­folgte.­Wiedergegeben<br />

ehrlich allso, wie dieser besondre Mensch es fabuliert<br />

hat. Mehr ist nicht überliefert und war kaum über ihn rauszubekommen<br />

und zu deuteln. Hab mich viele Jahre lang gemüht,<br />

Urianen­ zu­ erforschen­ und­ dessen­ schriftliche­ Hinterlassenschaft<br />

feintintig zugänglich zu machen.<br />

Einige­ Bemerkungen­ und­ Auffälligkeiten­ wie­ Ungereimtheiten:<br />

Es ist schier unbekannt bis heut, wieso dieser Mittelalter-<br />

Mann unerklärlicherweise offenbar einsam und verarmt in der<br />

Noll-Herberge zu Jena hauste, wann er dadort unterm Schindel-<br />

Dache­sein­wundersames­Leben­aufgeschrieben­hat.­Und­diesepapiernen<br />

Blätter dann im Gebälk, hinter Bohlen, teils unterm<br />

Treppen-Absatze,­versteckte.­Oder:­wer­hat­das­getan?­Wann?­<br />

Warum?­ Weshalb?­ Wieso?­ Für­ wen?­ Wollte­ er­ überhaupt,­ eswürd­gefunden?<br />

Dann:­wo­ist­der­Rest­seiner­Familie?­Ebenso­hinweggerafft?­<br />

Es­ waren­ doch­ viele­ Verwandte,­ die­ Urian­ gehabt­ hatte:­ seine­<br />

Eltern­Godsschalk­mit­Ursele,­der­Fischer­Wenzel­Fischer­undseine­Frau,­deren­Tochter­Johanne,­also­Urians­Ehe-Weib,­mitihrer<br />

beider Zwillings-Kinder Max und Marike. Nun gut, von seinen<br />

beiden anderen Söhnen, die bei der klösterlichen Nonnen-<br />

Prüfung­ungeschickt­gezeugt­worden­waren,­wußte­er­ja­selbstnichts:­<br />

Knabe­ Uri-Ebenso,­ den­ Fräulein­ X.­ im­ Orte­ Wald-Eckaufzog.­Leser,­erinnert­euch:­das­war­der­Pfiffikus,­der­dort­im­Holz-Lande­angeblich­den­Zahn-Stocher­erfand.­Und­er­hat­mitden­<br />

sieben­ flüggen­ Töchtern­ des­ benachbarten­ Wald-Manns­<br />

Vogt Försterei gespielt. Wir sind auch recht ausführlich der Äbtin­Wildegard­Kratzert­begegnet,­mit­der­Urian­Sohn­(oder­war­eseine­Tochter)­„Wittich“­zeugte.­Die­spätere­Lieder-Macherin­lebtedann<br />

im Nachbar-Orte Lobeda. Ob es heute noch Spuren dort<br />

gibt?­Unsern­Freund­können­wir­nicht­mehr­fragen­–­wo­ist­ergeblieben?­Könnte­irgendwo­hier­noch­leben.<br />

Nur eines is dank meiner ohnermüdlichen Forschungen über<br />

das­mögliche­Schicksal­des­URIAN­(den­ich­übrigens­wahrhaftiglich­<br />

liebgewonnen­ habe­ –­ Ihr­ auch?)­ inzwischen­ vage­ be-<br />

245


kannt:­Ein­angesehener­Bürger­Urian­ist­in­Jena­an­der­Saale<strong>mal</strong><br />

sonntags, am Sechzehnten im Monate 6 des Jahres 1661,<br />

gestorben.­ Un­ alsbald­ alldort­ begraben­ worden.­ Eigentlich­ istdas<br />

noch gar nich so lange her …<br />

Das könnte der Mittelalter-Mann gewesen sein, dessen spannendes<br />

wundervolles Leben von ihm ehrlich selbst hier ausgebreitet<br />

wurde. Nur das Ende fehlt! Aber, niemand kann ja seinen<br />

Abgang noch beschreiben, ist er das erste, einzige wie letzte Mal<br />

in die Grube gefahren.<br />

Ich­habe­getan,­was­ich­konnte,­um­ohne­jedwede­Umdichtung<br />

oder meinseitigen Hinzu-Spinn für die gnädigen Leserinnen<br />

und Leser bis zum letzten Frage-Zeichen, I-Tüpfelchen und<br />

Ende-Punkt­ samt­ seiner­ eignen­ Unterschrift,­ Urians­ Werk­ geflissentlich­<br />

offen,­ ehrlich­ und­ uneigennützig­ zu­ hinterlassen;was<br />

zum Nachlesen und Angucken hiermit zu treuen Händen<br />

und Augen gegeben wird.<br />

Aber:­ob­das­stimmt,­weiß­man­schon­heut­nicht­mehr.­<br />

Alle­Spuren­sind­mit­den­Jahren­verwischt.­Nur­gut,­daß­wirdieses<br />

Buch haben, das nach mehr<strong>mal</strong>igem Verbummeln und<br />

Wiederauffinden­nun­zum­Ende­des­17.­Jahrhunderts­endlicherscheinen<br />

wird. Wir wagen es zum Gewinne für die Kindeskinder.<br />

Viel Vergnügen mit diesem Buche!<br />

Es­grüßt­nun­abschließend­der­Schreiberling­Oswin­Huber,­<br />

Jena, der der geschätzten Nachwelt noch<strong>mal</strong>igst versichert: alles­<br />

steht­ hier­ so,­ wie­ es­ der­ gute­ Mensch­ Urian­ erlebt­ hat­ imschönen,<br />

alten Thüringen unter unsren Sonnen, Sternen un<br />

Monden!<br />

Vergesst den Mittelalter-Mann nimmer!<br />

246


Seltener Blick ins mitteldeutsche Mittelalter<br />

In Thüringen wurde eine bisher unbekannte Schilderung<br />

des Alltags um 1600 gefunden und nun nach 340 Jahren<br />

erst<strong>mal</strong>s veröffentlicht<br />

DER­MITTELALTERMANN­–­eine­literarische­Eulenspiegelei?<br />

Es war ein Stapel engbeschriebener Blätter, der gut verschnürt­unlängst­beim­Umbau­eines­alten­Hauses­in­Jena­gefunden<br />

worden ist. Schätzungsweise über 300 Jahre lang lag<br />

der persönliche und recht offene Bericht eines Bürgers über<br />

sein Leben und das Treiben in der Saalestadt hinter Bohlen gut<br />

verwahrt.­Versteckt?­Oder­einfach­nur­vergessen?­Diese,­wie­esheißt,­„ohnglaublichen­Zeitungen­vom­Dasein­eines­Jenensersnebst<br />

dessen Schilderungen seiner derbdrolligen wie ernsthaften<br />

Erlebnisse mit Witz und in jeglicher Drastigkeit und von<br />

gradezu­ umwerfender­ Ehrlichkeit“­ werden­ hiermit­ der­ Öffentlichkeit<br />

vorgestellt.<br />

So manches über die da<strong>mal</strong>ige Zeit ist überliefert und erforscht,<br />

aus unzähligen Aufsätzen, Büchern und Filmen bekannt.<br />

Doch vieles von dem, was nun in dieser Handschrift<br />

steht, ist neu und teilweise unglaublich; es ergänzt das heutige<br />

Wissen über das Leben in Mitteldeutschland im 16. und 17. Jahrhundert.<br />

Man staunt, wenn man die fast 200 Seiten dieses „wirklichwahren<br />

Sittenbildes vom Tun und Lassen, von Freud und<br />

Leid­ in­ mittelalter­ Zeit“­ liest.­ Eine­ ungeahnte­ Fundgrube­ hatsich<br />

aufgetan – auch für allgemein am Alltag der Vorfahren und<br />

an deren Sprache interessierte Leser. Eine ein<strong>mal</strong>ige Sammlung<br />

von­Wörtern,­Wendungen­und­Begriffen­ist­da­aufgetaucht.­Undman<br />

versteht diesen Volksmund auch heute noch! In solcher<br />

Offenheit ist wohl kaum eine schriftliche Überlieferung bekannt.<br />

Ausführlich geht es in den Alltagsschilderungen oft um die zwischenmenschlichen<br />

Beziehungen von Mann, Weib und Kindern.<br />

Dies­hat­auch­da<strong>mal</strong>s­offenbar­die­Leute­beschäftigt.­Und­manhatte<br />

nichts zu verbergen, lebte einfach und schämte sich wenig.<br />

So staunt man beispielsweise, was der Mittelaltermann seinerzeit­alles­über­die­„untren­Gefilde“­aufschrieb,­wie­er­die­heutesogenannten­„Feuchtgebiete“­bezeichnete.­Hat­er­uns­als­Zeit-<br />

247


zeuge mit seinem offenen Bericht auch eine der ersten bekanntgewordenen­pornografischen­Sittenschilderungen­hinterlassen?<br />

Das Buch ist also kein Lesestoff für alle. Trotz der enthaltenen<br />

Heimatkunde sollte es vor Kindern verborgen werden!<br />

Nach­heutiger­Sicht­war­zu­Urians­Lebenszeit­das­Mittelalterschon­Geschichte.­Umso­verblüffender­ist,­dass­sowohl­der­Urautor<br />

wie der Bewahrer und Bearbeiter der Texte ihre Gegenwart<br />

als­„mittalte“­Zeit­oder­eben­Mittelalter­bezeichnen.­Heute­nennen­Historiker­diese­Epoche­„Frühe­Neuzeit“.<br />

Die teilweise recht drastisch und oft witzig geschilderten Erlebnisse<br />

und Beobachtungen von Sitten und Gebräuchen stammen<br />

angeblich von einem 1582­Geborenen­namens­URIAN,­überdessen<br />

Verbleib und Lebensende allerdings nicht viel bekannt<br />

ist. Seine Spuren verlieren sich im Saaletal um 1661 herum.<br />

Vermutlich 1655 wurde der handgeschriebene Bericht beendet<br />

und verschwand für rund drei Jahrzehnte in einem Versteck,<br />

bis er zufällig gefunden wurde. Das ist in einigen Vorbemerkungen­<br />

erwähnt.­ Überliefert­ ist­ auch,­ dass­ Urians­ Hinterlassenschaft<br />

1691 als Buch erscheinen sollte. Offenbar scheiterte<br />

das Vorhaben eines da<strong>mal</strong>igen Jenaer Stadtschreibers. Das<br />

durch diesen Oswin Huber aufbereitete Manuskript geriet wohl<br />

wiederum in Vergessenheit und schlummerte erneut über 300<br />

Jahre­unter­Dielenbrettern.­Beim­Umbau­eines­mittelalterlichen­<br />

Hauses in der heutigen Jenaer Oberlauengasse zu einem Hotel<br />

Anfang dieses Jahrzehnts wurden die „ehrlichen Schreibereien<br />

über­Urians­leutlich­Erlebtes“­wiedergefunden.­Nun­sind­diese­<br />

Schilderungen endlich als Buch DER MITTELALTERMANN<br />

erschienen.<br />

Für erwachsene Leser mit Verstand und Witz sind hier Tatsachen,<br />

Ereignisse und Lebensläufe verwoben mit liebenswert<br />

Fabuliertem: verblüffend bis gediegen, gemütlich bis aufregend,<br />

wahrhaftig bis gesponnen und mit Augenzwinkern dargeboten –<br />

eine kleine literarische Eulenspiegelei!<br />

248<br />

K. F.


Jena. Östlich der Saale unterm Jenzig-Berg liegt<br />

der­Geburtsort­des­Mittelaltermannes­Urian.<br />

Der Markt mit Stadtspeicher (1384) und Rathaus (1377).<br />

254<br />

Hinter solch einer Bohlenwand<br />

wurde das Tagebuch<br />

gefunden. Einritzungen<br />

aus dem Jahr 1619 –<br />

vom­Mittelaltermann?


Collegium Jenense. Gründungsstätte und über 300 Jahre Hauptort<br />

der­Universität,­vorher­Dominikanerkloster­(seit­1286).<br />

Anatomieturm. Hier bestaunte<br />

Urian­die­Leichenöffnungen­von­<br />

Ermordeten aus dem Paradies.<br />

Später entdeckte Goethe daselbst<br />

den Zwischenkieferknochen des<br />

Menschen.<br />

260<br />

Die Teufelslöcher unterhalb der<br />

Kernberge. In dieser Höhle hatte<br />

Urians­Vater­eine­unheimliche­<br />

Begegnung mit einer Hexe.


Oberschloss­Kranichfeld.­Unterm­Erkerfenster­zeigt­ein­Ritter­sich­undsein­entblößtes­Hinterteil­samt­Gemächte.<br />

Mittelalterkunst: Leckarsch-<br />

Darstellung. In Stein gemeißelt­prangt­der­verrenkte­<br />

Ritter Wolfer un uzt damit<br />

seinen Bruder Lutger,<br />

genannt­„Lutscher“.<br />

263

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