Einfach mal Probelesen - amicus-Verlag
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Collegium Jenense Anno 1661<br />
3
Anderthalbtausend Jahre Thüringen – ein stolzes Landesjubiläum,<br />
zu dem sich auch dieses kleine Buch der ungewöhnlichen<br />
Art und Weise gesellen will. Es handelt von<br />
einem Manne aus dem späten, seinerzeit eigentlich schon<br />
verflossenenMittelalter–Uriangeheißen.Diesereinfache<br />
Thüringer, der aber auch ein Besonderling war, lädt zu<br />
ungewohntem Lese stoff ein, zu einem Besuch in der Frühen<br />
Neuzeit.<br />
Geboren am 10. 10. 1582 in Jena an der Saale, verlieren<br />
sich seine Spuren ein Menschenalter später im thüringischen<br />
Land. Hinterlassen hat er schriftlich Erinnerungen<br />
an sein Leben und an den Alltag in seiner Zeit. Nach mehreren<br />
hunderten von Jahren sind diese tagebuchähnlichen<br />
Aufzeichnungen wieder aufgetaucht und erscheinen nun<br />
leicht bearbeitet erst<strong>mal</strong>s gedruckt. Schon 1691 hatte,<br />
wie überliefert, der Stadtschreiber Oswin Huber eine Veröffentlichung<br />
über „Urians leutlich Erlebtes“ geplant,was<br />
offenbar nicht zustande kam. Doch Hubers Bearbeitung<br />
des Urianschen Werkes blieb erhalten und bildetdie<br />
Grundlage für dieses Buch. Wörter, Wendungen und<br />
Schreibweisen wurden nur gering dem heutigen Verständnis<br />
angepasst. Tatsachen und geschichtlichen Ereignissen<br />
galt es nachzuforschen. Vieles ist bekannt und verbürgt.<br />
Somanchesaberwarbishernichtgeläufig,dieserungewöhnlicheAlltagsberichtwirdverblüffen.AlsUriangeboren<br />
wurde, war das Mittelalter dabei, sich davonzuschleichenundhinterließunsNachfahrenvieleFragenundGeheimnisse.<br />
Dieses Buch öffnet ein Fenster, dahinter lebt<br />
der Mittelaltermann Urian – Ende des 16. Jahrhundertsgeboren,<br />
Mitte des siebzehnten verschollen. Im Guckloch<br />
der Geschichte liegen seine Tagebuchblätter und eine<br />
Bettler trommel …<br />
NunkommtUriansfabulierterNachlassheraus–Schilderungen<br />
über einen einfachen Mann mit einigen Besonderheiten,<br />
der mancherlei ungewöhnliches „leutlich“ erlebte.Wasdavonwahrwar,wasgesponnenist–werweiß,werweiß?Dochvieleskannmannachvollziehenundsich<br />
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vor Ort heute noch anschauen, denn es wird ein touristischer<br />
Anhang geboten, der erlaubt, ziemlich genau die<br />
meisten Spuren des Mittelaltermannes in Thüringen und<br />
darüber hinaus selbst zu verfolgen. Anfangs liest sich<br />
dieser Mischling aus Bericht und Aufsatz in seiner ungewohnten<br />
historischen, teils historisierenden Sprache recht<br />
mühsam. Man schrieb, so man es überhaupt konnte, wie<br />
man sprach und jeder so, wie er wollte und es verstand.<br />
Es gab keine rechtschreiberischen Besserwisser. Hat man<br />
sich nun erst ein<strong>mal</strong> in Urians reichen Volksmund eingelesen,<br />
wird man durch eine schöne und lockere, auch<br />
frivole Erzählung voller Wissenwertem, Weisheit, Gutem<br />
wie Bösem, Spannung, Erotik und Witz gefesselt. Findet<br />
man für sich den richtigen Blick auf die Geschichte und<br />
die Geschichten um diesen Mittelaltermann und freundet<br />
sich mit dem kleinen, nachgelassenen Werk eines begabtenFabulierersvoneinstan,dannhatmanSpaßandieser<br />
literarischen Eulenspiegelei .<br />
8
Erzählt wird also von einem Manne des Mittelalters,<br />
dergeheißenwardURIAN.Doch,obwohlsichdieserNamevom<br />
Teufel herschreibt, ist unser Bursche ein Gutmensch<br />
gewesen, dessen erstaunlicher Lebenslauf voller Derbdrolligem<br />
nun allhiero ausgebreitet wird. Manches ist verwirrend,ohnglaublichundauch<strong>mal</strong>unbegreiflichundkaumstimmig,aber,eswarwohlsogewesen.Undesistvonmir,der<br />
auch nicht alles verstanden hat, so in gefälliger Form<br />
wiedergegebenworden,wieesUrianamEndeseinesHierseins<br />
eigenhändig ursprünglich aufgeschrieben hatt.<br />
NiemandseinesUmfeldeswußteinjenerZeitvonUrianen<br />
alles. Die Leute behausten gemarkig ihre Schollen im<br />
Saale-Tal oder Häuser in den verwinkelten Gassen, jeder<br />
kümmerte sich meistens um sich und die Seinen. Genaueskanntseltenwer,geschweigeahnteman,wasderUrianalles<br />
sehen, hören, schmecken, riechen und fühlen hat gemußt.Underselbstwußtjaauchnicht,waskommenundihm<br />
widerfahren würde.<br />
Ab- und aufgeschrieben werden soll das also nune gleich,<br />
abschöpfend Urians ureigenster schriftlichen Aussagen,die<br />
enthüllen, welch wohlgelittener Bürger, Fami lienmensch,<br />
item auch Einsambold, er einst gewesen – seinerzeit<br />
im alten Doringen = heutigentags freies Thüringen!<br />
Die Mär kündet von einem, der vieles war und sein<br />
Lebtag Erlebnisse anhäufelte, die wohl kaum einem anderen<br />
Manne vor und nach ihm begegneten. Nichts menschliches,<br />
auch nichts unmenschliches, blieb ihm fremd. Alles<br />
wurzelt hierzulande im Dasein. Was ihn umgab und lenkte,<br />
waren die Wohllust und -last – meistens der anderen.<br />
Umher verdampften auf den Wirtshaus-Tischen PfützenvonBier,WeinundSchnappiß,geschwängertvonBraten-<br />
GlutundPfeifen-Qualm.AusdenunterenGefildenstieg<br />
Stank auf, vermischt mit Lenden-Dämpfen. Es war halt<br />
der Leibs-Dunst des Mittelalters, der noch viel mehr in seinen<br />
Falten und Runzeln hatte. Das Geschnäuf seiner Zeit<br />
waberteumUrahnUrian.InalldiesenLäufftenmußteersichallweilzurechtefinden.<br />
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Als er schon weit über ein menschliches Mitt-Lebensalter<br />
hinaus gediehen war und fünf Jahrzehnt in sich zurückschaute,<br />
ward er sich seines von Gott und dessen<br />
Teufelsgeschöpf wohl gemeinsam ausgehecktem Stande<br />
in dieser Zeit bewußt. Ausgerechnet er kurvte zwischenguten<br />
und bösen Menschen aller Geschlechter durchs Leben.Ermußtsovielerleben,wieessogeballtwohlkaumjemandem<br />
noch<strong>mal</strong> begegnet ist und werden wird!<br />
Am Ende seiner Jahre hockte URIAN im Städtchen<br />
JENA zwischen all den Wegen des Lebens und<br />
schrieb sich erinnernd seine Erlebnisse mit (vermutlich)<br />
saurem Weine auf Zettel. Er versteckte sie, wie es scheint,<br />
im Gebälk seiner Bohlen-Stube über einer kneipigen HerbergeinderobrenLauen-Gaß,dieihmUnterschlupfgab.DerGast-Hofwardschlicht„Nolle“genannt.Zurückbliebauch<br />
merkwürdigerweise eine BETTLER-TROMMEL, die<br />
später neben den Zetteln gefunden ward. Gehörte diese<br />
einstunsremMITTELALTER-MANN?<br />
AneinerStellederFabulierereienseitensUriansklingtder<br />
Gedanke durch: Später wollte er ein Buch aus seinen<br />
Erlebnis-Schilderungen machen, was just neu und sicher<br />
gefragt gewesen wäre. Doch, er verzettelte sich und sein<br />
Werk,vergaßsogar,seinenLebens&Geistes-Ergußmitindie<br />
Gruft zu nehmen. Zum Glücke für uns neugierige Bolde<br />
von heute!<br />
Jedenfalls: Ein Halbschock Jahre später war von jemandenjenerPapier-StapelausUriansHandimGebälkder<br />
Wirtschaft gefunden worden. Für den Entdecker bot<br />
das aber nichts Weises weiter dar als Krixel und Krakel<br />
auf gilblichen Blättern. Nun in eine Truhe geworfen, moderte<br />
Urians Lebens-Beichte vor sich hin und verblaßte,bis<br />
man den papierenen Haufen erneut entdeckte. Drei<br />
Paar an Jahren waren indes vergangen.<br />
DieneuerlicheFinderin–Brünnegeheißen–freutesichgar<br />
sehr, denn breitärschig und oft manch Unflat untersich<br />
gehen lassend, brauchte die Kränkliche viel Papiere<br />
fürihreziemlicheNothdurft.EinesTagesmußteBrünne<strong>mal</strong><br />
dringend und nahm von dem in einer Ecke seit eh und<br />
je rumliegenden Stapel ein halbes Dutzend Blätter mit auf<br />
denAbtritt.EinGlückfürdieNachneugierigen,daßdas<br />
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WeibjustnureinenSeechrauslaufenlassenmußteundfür<br />
das Abwischen ihrer Brunschel Stücker drei Seiten<br />
vonUriansfürsieunsichtbarenBuchstaben-Ergußausreichten.<br />
Erleichtert knarrte Brünne danach die Stiege wieder<br />
rauf. Ihre Bohlen-Stube lag gleich über der Redirate der<br />
Herberge. Brünne hub an, oben wieder was in die Gurgel<br />
zu schütten, damit Schlund und Blase nit zu leer und trocken<br />
würden.<br />
Heut becherte sie roten Wein rein. An ungeraden Tagen<br />
floßnämlichWeißweininsie.Itzewareingerader.Zum<br />
GlückefürUrianenundallunsLeutbisheut!DennBrünnekipptedenHumpenumunddieroteLachefloßüberdie<br />
Hand-Schrift.<br />
Justamentebene kommen Buchstaben und Sätze zum<br />
Vorschein!<br />
Wie eine mit geheimer Tinte gepinselte Schrift entpuppt<br />
sich der Salm. Brünne wundert sich ob dieser für sie völlig<br />
neuen Art von Besoffenheit, doch ist sie nüchtern genug,<br />
um zu erkennen, welch geistvoller Schatz da plötzlich auf<br />
ihrer Kommode liegt. Als spannender Haufen entblätterten<br />
sich Blatt für Blatt die Papiere. Wurden sie beträufelt,<br />
konnt man alles fein gut ablesen. Als der Krug leer,<br />
aber der Stapel noch nit, entkorkte Brünne eine von einem<br />
Freier hiergelassne Flasche Franken-Wein. Doch dadermit<br />
wirkte der Zauber nimmer! Saale-Wein von den Hängen<br />
derJenschenBergemußtessein.Roterdazu,dannklappte<br />
die Enthüllung wieder, wie Brünne schnell herausfand.<br />
Als alle Flaschen leer getrunken, was schnell ging, da ja<br />
auchdieBlätterbeträufeltwerdenmußten,hatteBrünneaußer<br />
Rebensaft auch Urians halben Lebens-Lauf verinnerlicht.Undpennteein.ImTraumeerschiendieserUrahn<br />
in ihrem Nüschel und bat um ihre Hülfe. Dergestalt<br />
sie ihm diene, seine Lebens-Beichte öffentlich zu machen<br />
und die noch vorhandenen Seiten in eine Gutenzwergsche<br />
Druckereyzubringen,aufdaßeinschriftgesetztesBuchgemacht<br />
werde! Hülfe Brünne, zürne er auch nit länger<br />
darob,daßsiesichmiteinigenseinerBlätterihresSchoßesSchlundundieUrsch-Riefeabgewischthatte.<br />
Frau Brünne wachte wieder auf. Hülfsbereit und weiter<br />
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durstig torkelte sie die Stiege nunter in den Gast-Raum<br />
und erzählte dem Zapf-Wirte die wahre Mär von Urians<br />
Hinterlassenschaft hinterm Gebälk und von ihrem ernüchternden<br />
Traume.<br />
Ein Herr hockte am Stamm-Tische und kriegte alles<br />
mit. Er entsann sich des Haufens gilblichen Papieres, den<br />
nämlich er einst zuerst oben hinter den Bohlen gefunden,<br />
abernitbeachtethatte.Erwarsoforterbötig,UriansVermächtnis<br />
zu erfüllen und die Schriebse nune für die Nachwelt<br />
zu retten.<br />
Schließlichkam(glücklicherweise)dergewichtigeStadt-<br />
Advokat und besondre Rathaus-Schreiberling Oswin Huber<br />
aufeinenhölzernBecherWeißbierreinundwardindasin<br />
der Bohlen-Stube entdeckte Geheimnis eingeweiht. Der<br />
Amtliche blühte sofort auf.<br />
„IchebinderbesteMannfüreuch“,hubHuberanzulallen,<br />
„diene seit alters unsrer schönen deutschen Sprache.<br />
Verstehe mich vorzüglichst aufs Hand- wie Mund-<br />
Werk, um solch Schreibseleien artig in leserliche Formen<br />
zubringenundgedrucktzubewahren.“<br />
Man ward sich einig, Hubers Hülfe, Rat und Tat wie<br />
dessen Verbindungen nach oben müssen beansprucht<br />
werden, weil die Entdecker mit Brünnen an der Spitze nit<br />
sofirmsin.AlsoerweitertesichderBundumdenGriffel-<br />
Bändiger Huber. Außerdem gehörten dem Unternehmenan:<br />
der Herr Urfinder und stammgastliche Nichtsnutz,dessen<br />
Name nit überliefert ist, der Wirtsmann Häringer<br />
nebst einem arglosen taubstummen, halbblinden Kellner<br />
und die bezopfte Brünne als Leiterin der Tat-Sache. Zum<br />
Glücke lungerten keine weitren Gestalten in der Kneipe,<br />
sodaß Urians wiedergefundener Tagebuch-Schatz erschte<strong>mal</strong><br />
geheim bleiben konnte.<br />
Brünne übernahm allsogleich die Führung über den<br />
Bundundschmißgleiche<strong>mal</strong>eineRundeBiereszurBestallung<br />
des neuen Fähnleins – auf Wirts-Kosten. Oswin<br />
sagten alle zu, daß er als Urians Lebens-Forscher sowie<br />
Memoarius handeln solle, folglich als Schriftmächtiger das<br />
Buch unter seinem eigenen Bürgers-Namen herausbringen<br />
dürfte! Das gab der ganzen Sach nämlich ein amtlichguts<br />
Gesichte. Auch würd geplant, als Druckerey samt<br />
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<strong>Verlag</strong>s-Anstalt was und wen Angesehenes und Lettern-<br />
Erfahrenes aus der Stadt einzubinden. Das solle allso der<br />
Huber erledigen.<br />
SchließlichmüßtdasBuchjafüralleaucheinGeld-<br />
Geschäftundgutmarketendertwerden.Undsollteauchin<br />
naher wie ferner Zukunft ein rundwahrlich Bild vom<br />
hinterda<strong>mal</strong>igenLebenUriansundseinerNachbarnrundum<br />
Jena bezeugen.<br />
Huber hub hervor, wie sehr wichtig seine fähige Gestalt<br />
sei und urkundete alles auf einen Bier-Filz, was alle Verbandelten<br />
abhakten, kreuzten wie unterschrieben als Einverständniß.<br />
Merschtenteels waren sie des ABC-Griffels gar nit mächtig,<br />
die neugebackenen Buchverleger.<br />
✴<br />
Dem gewitzten Leser bis hierher – ob pfiffig-geneigt<br />
oder neugierig-unbedarft – sei nune gesteckt: alles,<br />
was auf den folgenden Seiten gesetzt steht, stammt nur in<br />
zwoter Hand von Oswin, dem Huber. Nimmer ward etwas<br />
erfunden. Alles ist wahr und haftig so aufgekritzelt und<br />
mit Feder-Kiel nebst Tinten-Faß abgeschrieben worden,wieesderHerrURIANschriftlichhinterlassenhatt.Weiles<br />
ihm so widersprüchlich wirklichwahr wiederfahren ist,<br />
das spürt man. So etwas kann man sich nie<strong>mal</strong>snit ausdenken,<br />
geliebte und gelobte Leserschaft!<br />
EuerAugen-BlickaufUriansLebenbeginnenun!<br />
WARNUNG: Haltet das Folgende den Augen und Ohren<br />
eurer unschuldigen Kinder bis hinauf zu den Halbwüchsigen<br />
bitte fern!<br />
Wohlbekomm’s ansonsten!<br />
Oswin Huber<br />
13
„Zufrüheistauchunpünktlich“,wardieersteLehredes<br />
Lebens, die der kleine Menschen-Wurm seinen Ältern gab,<br />
noch bevor seine Erden-Laufbahn gar begonnen. Er wollt<br />
erst rausschlüpfen, wenn sein Geburten-Tag gekommen.<br />
Wohlig warm schwamm er noch im Frucht-Wasser seiner<br />
schönenMeuderumher,soffungenoßdiesüßeLebens-<br />
Brühe,dieihnvorallemUnschlittaufderWeltschützte.<br />
Die Geburt könnt noch warten.<br />
Indes lauerte der werdende Vater dringlich auf den<br />
Sproß seines Saftes un ward arg ungeduldig, weil manja<br />
nit wußte, ob da nune ein Säckchen oder ein Spältelein<br />
angerutscht kommt. Auch die niederkünftige Meuder<br />
wollt nit mehr länger den hochschwangrigen Kugel-Bauch<br />
rumschleppenunwünschte,daßsiedasBälgleinbaldausdemSchoßeindieArmenehmenkönnt.<br />
Nur das unbekannte Weselein selbst schien zu wissen,<br />
wann es erscheint, denn noch dehnte es der Meuder<br />
Wanst,kugelteunpurzelteinderenLeibumher,daßdie<br />
UrselegeheißenejungeFraukaumeineRuhefand.<br />
Doch dann waren offenbar die 267 Tage un Nächte<br />
vorbei, die des Menschen Natur-Werk zum leibsinneren<br />
Kinds-Wuchse anberaumt hat. Die Frucht einer Liebe begab<br />
sich nunmehr endlich auf den guten Rutsch gen erdiges<br />
Leben.<br />
AmzehntenOktobertage1582öffnetsichendlichUrseles<br />
Schlund un der von ihrem vor neun Monden beiwohnenden<br />
Gesponst per Spritz-Blitz als Stern in die Sichel<br />
gepflanzteBankertflutschtohnegroßGemähreraus.Die<br />
Hebe-Amme nimmt das glitschige Bälglein hoch, klatscht<br />
ihm einen Klaps. Es krähte auch gleich los, spuckte oben<br />
un unten un fror jämmerlich auf dieser Welt. Ritschratsch<br />
schnitt die Matrone mit scharfen Scheren-Schenkeln den<br />
bisherigen Lebens-Strick durch. Zum Glücke war sie so<br />
erfahren,daßsieauchwirklichdieNabel-Schnurabsäbelte<br />
un nit etwa den winzigen Schnips, der den Kinds-Vater<br />
am meisten zu interessieren schien. Reineweg glücklich<br />
ließderMannsichvonseinemSohnemitfrischemStrahl<br />
16
Ja, man richtete sogar eine Bier-Straße ein, an die sich<br />
noch andre Brauereien mit un ohne Gast-Stätten und<br />
Bier-Gärtenanschlossen.DaswardeinsüffigerWeg,dendie<br />
Wander-Burschen un andre Dürstlinge nune getrost<br />
nehmen konnten: er schlängelte sich an Burgen vorbei<br />
übern Renn-Steig rüber ins Fränkische. In der Perle des<br />
Franken-Waldes, nämlich in Kronach, kann man sich innerlich<br />
auffüllen, bis die Gurgel schlappmacht. Um daszu<br />
erleben, muß man ein oder zwei (höchstens drei bisfünf)<br />
Kunigunden stemmen. Dies verführerische Mädel is<br />
dasMaßallerMaße.Der„Kunigunde“geheißneKrugfaßt<br />
1 ⅛LiterBier.EinÜbermaß,dasfürwenigeGroschenimwirtlichen<br />
Scharfes Eck aufgetischt wird. Seit 1514 läuft<br />
hier der Kraft-Saft aus dem Fasse in die Kunigunden un<br />
schmeckt zur sich drumrum kringelnden Brate-Wurst. Nit<br />
anders in Kulm-Bach. Kommt der Wandrer nach reichlicher<br />
Entleerung hier dürstend an, kehrt er erst<strong>mal</strong> in<br />
MönchsHof-BräuhauseinunfaßtausdemFaßeinÖrtlichesnach,heißt„Kommunen-Bräu“.Urianhatdasallesleider<br />
nie gekostet, kam nit bis hierher zum Tanken ins<br />
schöne Bier-Franken. Also weiter dies<strong>mal</strong> ohne den Mittelalter-Mann<br />
durch die Oberpfalz auf der bierhaften Burgen-Straße.ImmerdemSchlauchevorderBlasenach!<br />
Vom rastlichen Kulm-Bache ging der Bier-Probier bis<br />
nach Passau runter. War man am Donau-Flusse angeschwemmt,<br />
mußt der Durst gelöscht sein. Ansonstenhießesnur:abunzurückedurchdieMitte–dieBier-un<br />
Burgen-Straße erneut unter die Renn-Semmeln nehmenun<br />
die wohltuenden Humpen besuchen un leeren. Hauptsach,<br />
man kanns berappen, sonst hängt de Zunge.<br />
NeuesteZeitungis,daßmandaobenimSand-Landsogar<br />
für drei Tage einen Gesöff-Jahrmarkt veranstaltet. Das<br />
nennt sich Bier-MeileunfindetinderDoppelstadtCölln-<br />
Bärlin statt. Zwischen dem Post-Wege nach Frankfurt an<br />
der Oder un den Palisaden der Stadt-Mauer bauen Brauereien<br />
Stände mit Fässern auf un schenken jedem soviel<br />
aus, wie er sich in seinen Ranzen schütten kann.<br />
Der Pruhn, den die Schluck-Spechte dann abpinkeln un<br />
ausbullern,mußübrigensinFässergestrieztwerden,weilausdemUrineeinHarn-Saftgefiltertwird,dendieGerber<br />
65
fürs beste weiche Leder brauchen. Für jeden Halb liter seines<br />
Seechs kriegt der Pischer nen Hohl-Pfennig als Pfand<br />
zurück, den er wieder in Frischbier anlegen soll. Übrigens<br />
müssenFrauennichaufsFaßuninsSpund-Lochstreuseln,<br />
weil ihre so lieblich gülden strahlende, damenhaft<br />
duftende Pische zuviele Eiweiße un Dottergelbe (manch<strong>mal</strong>s<br />
auch Monats-Blut) enthält, was die Loh-Meier nit haben<br />
wollen.<br />
Zur Bärliner Bier-Meile kommen inzwischen immer<br />
mehr Brau-Meister angereist, die hier ihre hölzernen Hähne<br />
in die Spund-Löcher schlagen un Gersten-Säfte zapfen.<br />
Mittlerweile treffen die Bier-Wagen schon aus Baiern, Böhmien,<br />
Meckels-Burg, Feuchtland un dem Anhaltschen ein,<br />
um Verkosten zu lassen. Alles geschah unterm Schilde vom<br />
Bier-König Gambrinus, der ja das Brauen hat erdacht, der<br />
Gute.„MeinlieberScholly,wirdankendir“,rauntesjedes<br />
Jahr durch die brandenburgsche Doppelstadt von PreußensGnaden.Manunktsogar,derBier-KönigspukeoftpersönlichzwischenFässernunHumpenrum.Werweiß,was<br />
das wieder fürne Eulenspiegelei is.<br />
Mit leergesoffnen Fässern un prallgefüllten Geld-Katzen<br />
reisen die Bierologen dann wieder heeme un setzen neuen<br />
Sud an. Wie gut!<br />
Bier war ja auch ein Ernähr-Mittel fürs Volk. Da drinne<br />
steckten die Kräfte von Malz un Hopfen, die samt Quell-<br />
WasserdenKöpergesunddurchflossenunauchvonMagen<br />
un Nieren aus beste Gesundheits-Stoffe im Leibe verteilten.<br />
Manch Haus-Brauerei machte aus dem Bier reeneweg<br />
ein Überlebens-Mittel. So erfand man durch Zugabe<br />
vonZuckerunandremKulördassüßeSchwarz-Bier.Als<br />
Doppel-Karamell benamst, galt es auch als Mutter-Bier un<br />
Kinderdurst-Löscher. Es ward verdünnt un mit der Nuckel-FlaschedenWänsterneingeflößt,daschliefendieseschnell<br />
ein un noche<strong>mal</strong> so feste. Manch helle Pusche, die<br />
bierig daherkam, wird im Glase mit Zucker verrührt – das<br />
schlürfen Alte un Junge gern gegen Magen-Knurren un<br />
zumErfrisch.UrianaberliebtenurdiereinenGersten-Säfte,<br />
seit er <strong>mal</strong>, später allerdings, leibhaftig die bierige Meile<br />
in der Hauptstadt Berlinien besucht hatt. Dort bekam er<br />
dasMaulnitmehrzu.VorlauterStaunen.UnSchlucken.<br />
66
Wo,wieervonseinenGeheimenwußte,immerzuvielGoldgewaschen<br />
ward. Das lockte mehr als ne Jungfer.<br />
Schließlich landete der ausländische Durchreiser beieinem<br />
Ritter Kunigunderich hochdroben auf der Greiffen-<br />
Veste nahe Blancken-Burg, wo er gern abrasten wollte. Es<br />
gefielihmauchdeshalbhierofein,weildienahegelegne<br />
Brauerei zu Watzens-Dorff täglich durch eine aus vielen<br />
zusammengenähten Därmlingen bestehende Leitung ein<br />
köstlich Bier hinaufpumpte.<br />
Das gefiel dem Kö! Er labte sich am Trunkeunwardsodicke,daßerdieletzteLustaufeines<br />
Fräuleins Pusch-Musch verlor, sei sie item<br />
auch noch gewaschner als alle Goldes-Kiesel im<br />
schwarzenBacheallhier.Unsoblondewiedas<br />
Bier konnt keen Scham-Hüchel locken. Außerdem<br />
lernte der Herrschling etwas für ihn völlig<br />
neues kennen: die Männer-unter-sich-Liebe!<br />
Während eines zünftgen Gezechs im Remter<br />
verlor sich nämlich Ritter Kunigunderich in einen Anfall<br />
von Schmusen, Kuscheln un Küssen. Er begrapschte,<br />
züngelte un streichelte den säcksschen Gast un betatschtedessenHose,fingertegarkeckreinunhodeltedrinrum.<br />
Der hohe Herre von der Elbe war überrascht un zürnte<br />
den neuen Freund von der Schwarza darob erschte<strong>mal</strong><br />
vondannen. Doch allsoforte begann Ritter Kuni eine Minne<br />
der besundren Art un Weis. Zu Tische klampfte schon den<br />
ganzen Abend der sonstige Gespiele un Knecht des Burg-<br />
Herrn un sang feinschmutzige, gar dreckige Lieder un WeisenzurUnterhaltung.Auch,damitmandasSchmatzen,<br />
Schlürfen, Rülpsen un Popo-Pumpern nit so hörte. Dieser<br />
Barde Diethelm war vor einiger Zeit saaleaufwärts schiffend<br />
bis hierher gerudert un hatte als fahrender Sänger un<br />
Quatsch-Macher hierdroben Herberge, Brot un Biere gefunden.<br />
Er durfte die Burg-Leute mit seinem Gesange un<br />
Gezupfeerfreuen.MeistenssaßermitseinemKleb-Arschauf<br />
über Fässer gelegten Bohlen un Brettern; durft sich<br />
abernitwegrühren,sondernmußtmöglichstandauerndröhren<br />
un auch schmeichlerische Verse zur Laute hauchen<br />
oder gröhlen. Jenachdem. Dieser fesche Jünger jeglicher<br />
Künste war ein begabter Meister der Saiten un Wor-<br />
118
te, säuselte, brummte, krächzte, kratzte atemberaubend<br />
die Teufels-Geige, sang un schrie viele gute Melodeien wie<br />
VerseohnUnterlaßdurchdieKemenaten.Dervollmähnige<br />
Schönling war wirklich ein Stern unter<br />
seinsgleichen un stümperte auch an diesem Abende<br />
lauthals, bis sich Bretter, Balken un Bohlen bogen.<br />
Später hub er dann mit Einschmeichel-Musici an,<br />
zu der er endlich <strong>mal</strong> nit in seinen volksbeliebten<br />
aber auch fürchterlich gefürchteten Singsang verfiel.VonderMelodeydesLiedesohneWorteangestachelt,ward<br />
dem warmen Burg-Herrn noch wärmer un aufein<strong>mal</strong><br />
begann der Ritter sich im Takte verführerisch auszuziehen,<br />
warf Rüstung, Harnisch, Wams un Bein-Kleider ab,<br />
wedeltedannmitseinemSack-Tucheunließauchdiese<br />
Hülle schließlich fallen! Unter Musikuß Diethelm bogensich<br />
die Bohlen ob seines wilden Geklampfes. Ihm taten<br />
schon die Finger weh un er verzupfte sich andauernd, weil<br />
der Herre davorne ihn angeilte. Diethi hielt nich inne un<br />
steigerte sein Spiel ins Schlüpfrige, was er besunders gut<br />
konnte.Uneswirkte–auchbeimGasteausElbien!<br />
Der König war längst aufgesprungen, hatte seine Krone<br />
abgeworfen, wedelte seinen Hermelinmarder-Mantel<br />
durchs Gemäuer, sprang auf den Tisch un zog sich ebenfalls<br />
im Takte aus. Erstaunt sah der Ritterling, daß der<br />
Ausländer einen Schlüpfer aus Spitzen-Geweb trug, den<br />
er stolz rufend davonwarf: „Von meinen Unterthanen imfeuchtländschenStädtschenBlauenfürmichmaßgerechtgewirkterSchlübber!“LeidernlandetedasguteStückimKamin-Feuer.„Hahahahaha“,lachtederKönignur,„mußähmt<br />
mei arzgebirgscher Nuß-Gnacker naggsch bleim,gelle“.<br />
Als er die neidschen Blicke des Barden Diethelm auf<br />
seine im Raume verstreuten Kleider bemerkte, rief er dem<br />
Schönling zu: „Mei Gunge, isch schengke dir mei Gack<br />
aus Läder. Aber schbiel nur fei weider. Gannste niche ma<br />
e bissel ziddern? Da danze isch am liebsden derzu. Ja,wenns<br />
Roocher-Mannel nabelt, wird’s schie gemietlich<br />
in der Hüdde, nowahr.“ Die Anwesenden verstanden nitalles,<br />
was der Herrscher aus fernen Landen da von sich<br />
gab, lachten aber brave. Kunigunderich nutzte die Erre-<br />
119
126<br />
unlassensichvomUngeldmitFest-Essenbekochen,<br />
wobei manch Faß jenschen<br />
Weines geleert wird. Dankbar prangen<br />
im Stadt-Wappen Raute nebst<br />
Traube.<br />
In der Zeise müssen alle Verdiener<br />
blechen: Fischer, Böttger, Gerber<br />
mit 15 stinkenden Loh-Häusern,<br />
Tuch-Macher un Färber samt<br />
Rähmen, Eisen-Schmiede, Kandel-<br />
Gießer, Nadel-Macher, Kessel-Flicker,<br />
Schlosser, Kupfer-Schmied, Schneider,<br />
Zimmerer, Tischler, Kärner, Hut-Macher, Töpfer, Maurer,<br />
Kürschner, Schleifer, Bader mit un ohne Stuben, Seiler,<br />
Wagner, Leine-Weber, Seifen-Sieder, Kerzen-Zieher, Hecker<br />
un Land-Arbeiter, Seiden-Sticker, Glaser, Gar-Kocher,<br />
Stein-Metze, Ziegel-Decker, Pflaster-Setzer, Ziegler,<br />
Schreiner, Hölzernkandel-Macher, Riemer, Beutler,<br />
Sattler, Buch-Drucker, Eichner un Prüfer fürs amtliche<br />
Faß-Messen, Kamm-Macher, Leisten-Schneider, Büchsenschaft-Macher,<br />
Korb-Flechter, Fiedler, Instrumenten-<br />
Bauer, Näherin, Apotheker, Gewand-Schneider, Hucker,<br />
Krämer un ein Todten-Gräber sowie drei Hübschlerinnen<br />
als Dirnen. Also Arbeit genug un Kundschaft genügend<br />
gibt’s heutigentags. Wobei mancher Macher, Werker oder<br />
Händler mehr un der andre weniger zu tuen hat. Jeder<br />
is erpicht auf Käufer, die ihm was abnehmen oder sich<br />
Diensteleistenlassen.ManmußhaltfürseinZeugsoder<br />
Hülfs-Angebot werben – ne alte Sache, gelle! Das trifft<br />
auch auf die Weibsen zu, die ihre nackchen Brüste anbieten<br />
un sogar die Schenkel spreizen für Taler-Zahler, die<br />
<strong>mal</strong> rin in de Rinne ständern wolln. Manch Mann will nur<br />
glotzen oder e<strong>mal</strong> anfassen. Auch kommen Schlecker un<br />
Schnuppriche.<br />
Die immer bereiten Fraun buhlen arg um jeden Freier<br />
unhabenallerleyEinfälle,dieKerleaufsichunihrGeils-<br />
Geschäfte aufmerksam zu machen, wie dichterisch überliefert:
Etliche uzen mit Pfiffen<br />
un andern quiken sy mit Griffen<br />
dem Dritten winkt eym Taschen-Tuch<br />
dem negsten zeigen sy ihr Busen-Buch.<br />
Mit weysse Schuhe un rothe Strümpfe<br />
locken se Kerls in dunkle Sümpfe!<br />
Obwohl das Liebes-Geschäft nit sehr öffentlich getan<br />
werden kann, weil ohnanständig un nit ganz gottgetreu,<br />
wird es doch von den Kirchlingen un Obrigkeiten als notwendiges<br />
Übel geduldet, um solcherweis die andern Mädgen<br />
vor Jungfern-Schändung un Vergewaltigung zu schützen,<br />
die Männer ehrsamer Familien-Frauen wiederum vom<br />
Ehe-Bruche abzuhalten. Denn Wegsteck eines Gliedes in<br />
einkäuflichLochohneSchmuseunKüssereygiltunausgesprochen<br />
nit als Sträflichkeit, sondern als Delikateß-<br />
DelikteinesunbefriedigtenHerrnzwecksPflegeunErhaltseiner<br />
Schöpfungsakt-Naturalanlage. Jenachdem, wo un<br />
wie in Jena die armen<br />
Weiber ihre Leiber<br />
anbieten – ob auf<br />
Straßen, in Gassen,hinter<br />
oder in Häusern,<br />
gern in abgelegnen<br />
Mühlen oder im<br />
Bade – werden sie benamst.<br />
Es gibt da die<br />
gemeinen Fraun un<br />
Weibsen, die freien<br />
Töchter, fahrenden<br />
Dirnen, Huren, läufigen<br />
Rinnen, Venster-<br />
Hennen un die mehr<br />
aufs Pussieren, Quatschen<br />
un Betatschen<br />
ausgerichteten Hübschlerinnen.<br />
Damit<br />
ein Jedermann die<br />
leichtfertigen von den<br />
frommen Scheiden<br />
Hans Baldung, gen. Grien, Allegorie auf<br />
die erkaufte Liebe, um 1510<br />
127
ObeseenkleenerKönigodernePrinzeßwird?Amnächsten<br />
Andreas-Fest wirds Wänstlein jedenfalls in der Stube<br />
schon schön rumkrabbeln. In seinem Glücke beschließtdas<br />
Paar auf der Stelle, nune alsbalde zu heuraten! „Lassen<br />
wir das kommende Jahr gut anfangen un uns gleich<br />
imJanuarezumHohenNeujahrs-Tagetrauen“,beschließendiewerdendenÄltern.„DochbisdahinmußdieMörderey<br />
im Paradiese beendet sin. Wer is nur der Mords-<br />
Bube?OdersinesmehrereUnholde,gareinSatans-Weib,dasdenarmenSchluckerndenGarausmacht?Mirahntwas“,faseltsichUrianineinenunruhigenSchlafrein.<br />
Alles könnt so schön un gemütlich sein in dieser vorweihnachtlichen<br />
Zeit. Wurden die Jenenser die letzten MonatedocheinigermaßenvonNatur-Unheiligkeiten,pestilenten<br />
Krankheits-Gebilden, Feuers-Brünsten, Hochwässern,PlagenunKriegereienverschont.„Nur“dasgrausige<br />
Mords-Geschehen wabert immer noch rum. Zwar waren<br />
esbishernurMänner,diedranglaubenmußten,waszuallerlei<br />
Vermutungen führte. Doch die Frauen wollten nit<br />
weiter mit ansehen, wie ihre Kerle einer nach dem andern<br />
im Paradiese tot rumlag un dann gen Himmel schwebte<br />
oder gar in die Hölle fuhr. Irgendwelche Schuld hatten die<br />
Opfer sicherlich selbigst auch an ihrem unvermuteten Abnippeln.<br />
Aber wieso un warum nur? Es herrschen Aufregung,<br />
Wut un Trauer insbesunders auch dessertwegen,<br />
weil die frischste Leiche ein nit unbekannter, sehr wichtiglicher<br />
Mann in un um die Stadt gewesen is.<br />
WährendUriansAbwesenheithattesnämlichohnlängstdenörtlichenLebzelterBringefriedStrohscheynerwischt!<br />
Dieser Hochangesehne war der einzige Hand-Werker allhiero,<br />
der sich auf das Lebkuchen-Backen verstand, was<br />
ihn sehr beliebt bei den süßen Guschen machte. Einstaus<br />
Pulßnitzen in Sacksen hergereist,buk er die besten<br />
Pfeffer-Nüsse un Honig-Kuchen, wie man sie nit mundiger<br />
jeh geschmecket hatte. Das konnt kaum jemand so<br />
fein nachmachen, weil den meisten Haus-Frauen Übung<br />
unErfahrungfehlen.UnMännersinsowiesozublödefürsowas.AußerebenderbegabteHerrFredieStrohscheyn.<br />
Ein richtger Lebzelter vereint in sich mehrere Berufe: den<br />
Met-Sieder, den Honigwein-Macher, den Wachs-Zieher. Zu<br />
226
allererscht is er aber Bäcker nebst Konditorius. Manch<strong>mal</strong><br />
auch noch Künstler, schnitzt er sich die Holz-Modeln<br />
selbst zu rechte. Meist nimmt man für solche Förmchen<br />
Birnbaum-Holz.SchließlichkommtesbeimLebzeltenaufdie<br />
beste Mischung des Teigs an: Mehl, Zucker, Ei, een<br />
linschenHirschhorn-Salz,ewengAniß–dasallesschönedurchgemerschelt<br />
un aufs Back-Blech geformt, ergibt die<br />
beliebten Plätzchen, die manche Ausländer auch Springerlenennen.MehrUmständunAufwandsinnitvonnöten<br />
für die Lebens-Kuchen, die der jänsche Lebzelter am<br />
besten buk.<br />
Fast hätts der Schreiberling vergessen zu erwähnen,<br />
aber das is ja klar: wichtig is auch der Bienen-Honig<br />
vomZeidler,derdasklebrigeSüßfeinimkert.DiesenwillnuneUrianmorgengleichaufsuchen,vielleichtweißderwas<br />
über den letzten Weg seines ermordeten Kunden un<br />
Freundes.<br />
Urian wandert in der Früh durchs Ritze-Tal, bis er<br />
weit oben auf der Höh von Lutzdorf den Honig-Mann zwischenseinenBeutenamBergefindet.Esstelltsichraus,der<br />
dicke Zeidler Ludewich ward wirklich der Letzte, der<br />
den nune mausetodten Lebzelter lebendiglich vorje Woche<br />
gesehn hatt. Un er weiß, der Lebkuchen-Mann hattjust<br />
an diesem Mittwoche die Schnauze voll gehabt von<br />
alldemSüßkramunZucker-Gelumpe,daßer<strong>mal</strong>wiedernach<br />
was Deftiglichem gierte. Er wollt runter in de Stadt<br />
zu ner Wirtschaft machen un sich een Rostbrätchen mit<br />
Majoranzweibel-Geschmoreinverleiben.Undann,hatterdemZeidlergeflüstert,würderdiegemächtigeHildezumnachtischlichen<br />
Wegsteck besuchen wollen. Auch seinem<br />
Genieß-Wurtzwär<strong>mal</strong>wiederefettesFleisches-Mahlzugönnen.UrianerstarrtbeidieserZeitungausdemMundedes<br />
Bienen-Bändigers. Es rieselt durch seinen Nüschel die<br />
Erhellung, wer gemeint war, wo die Spur hinführt. Daßer<br />
da nit eher drauf gekommen is! Sollt es sich etwa um<br />
Harmonika-Veronika aus der Neuen Gasse handeln, die<br />
eigentlich Mechthilde von Öftermanch<strong>mal</strong> oder so ähnlich<br />
hieß?DasParadiesjedenfallswargleichumdieEcke.Urian<br />
un Vroni kannten sich gut. Die Dame war ein liebevolles,<br />
rundliches Weib. Man traf sie in Wirts-Stuben, die<br />
227
einen guten Leumund hatten: Adler, Bären, Engel, Hirsch,<br />
Hecht, Halb-Mond, Noll, Sonne, Tanne, Rose, Zeise.<br />
Seit ihr Mann Anton, mit dem sie einst musikalische<br />
Kunst-Stücke un Konzertchen darbot, die Posaune mit<br />
ins Grab genommen hatte, trat Mechthilde in diesen Gast-<br />
Häusern un bei Festen alleine auf. Sie spielte gut Zerrwanst<br />
un sang für ein paar Klimper-Groschen lustge Lieder.<br />
Kaum jemand kannt ihren bürgerlichen, angeadelten<br />
Namen. Sie nannte sich nun schlicht „VroniohneToni“.<br />
Doch in den bekannten Kneipen war sie schon mehrere<br />
Abende nirgends drinne gewesen, wie Urian schnellbeidenWirtenerfrug.Daerüberallfreudigbegrüßtunzueinem<br />
Biere eingeladen ward, was seine Blase prallte un in<br />
die Beine sank, schlurfte er beim Einbruche der Dunkelheit<br />
erschte<strong>mal</strong> heeme un legte sich halbbesoffen in sein<br />
Nest. So schlief er ruhig durch un bescherte Mechthilden<br />
eine letzte Nacht in Freiheit.<br />
Die arme, bisher gütige Frau, is schon länger nit zur<br />
Ruh gekommen, weil sie wußte, früher oder später wirdnuneLichtinihrschattigesUnlebenfallen.AlleMissetaten<br />
würden rauskommen, wenn nur jemand ihr erschte<strong>mal</strong><br />
auf die Schliche kommt un folgert. So is sie nit überrascht,<br />
als am nägsten Morgen in der Früh der bekannte<br />
HerrUrianansHauskloppt.SieläßtdasamtlicheSelbstwillig<br />
rein un fängt auch gleich eine Beichterey an. Was<br />
Uriannuneerfährt,isunheimlich,schlimmuntraurigzugleich.<br />
Sie gesteht bereitwillig alles!<br />
Als Mechthilde geendet hat, gehn die Beiden ins nahgelegne<br />
Paradies un auf die Saale-Wiesen, damit M. Ö. dem<br />
städtschenUntersucherU.dieOrteihrerUntatenzeigenkann.SieliefertjedenBeweis,daßsiedieGeleichteneinsthierabgelegthatt.Esisalsowahr!Unsiehateszugegeben:<br />
die rätselhaften Tötungen sin von Frau Öftermanch<strong>mal</strong><br />
begangen worden! Sie erzählt Urianen alles, warumunwie„das“vonstattenging.<br />
Urian nimmt die geständige Täterin mit in die Stube des<br />
Hof-Gerichts im Rat-Hause. Der Raum liegt über der Zeise-Kneipe,<br />
wo Mechthilde übrigens ihr letztes Opfer kennengelernthatt.InAnwesenheitUrians,desPolizei-Mannes<br />
un eines Gerichts-Dieners schreibt die gewesne Dame<br />
228
Öftermanch<strong>mal</strong> nun ihre persönliche Beicht-Zeitung mit<br />
allen Einzelheitlichkeiten auf einen Bogen wertvollen gebütteten<br />
Papieres aus dem Volks-Eigentume.<br />
Als Euro Chroniste Ossi H. hab ich mir erlaubigt, diesenvonUrianenhinterlassnenTÄTER-BRIEF<br />
in eine kurze<br />
Fassung zu bringen un hier einzufügen in meine Buch-<br />
Herausgabe. Es is aber der echte Wortlaut, wie ihn die M.<br />
Ö. eigenhändig in Anwesenheit der Gerechtigkeits-Diener<br />
von Jena aufschrieb.<br />
Leset Ihr Nachgefahrnen nune eigenäugig also folgende<br />
Zeitung:<br />
ICH<br />
– Veronika Mechthilde Liebgardt von Oefermanches<strong>mal</strong><br />
– wie iche wirklich un seit meiner Heurath mit<br />
Herrn Gatte Harthmann Freier von Oeftermanches<strong>mal</strong><br />
heiße, tue Kunde:<br />
Ich habe Strafe verdient un bitte um eine gehörige<br />
solche!<br />
Mein Geständniß:<br />
Ich habe nach dem himmelhöllischen Fortfluge meines geliebten<br />
Ehe-Gesponstes nit nur Musiken kneipenwärts dargeboten,<br />
sondern mich von den Freunden meiner Kunst un Fertigkeiten<br />
auch trösten lassen. Doch fast alle diese Witwen-Tröster,<br />
die kamen, anfangs gar von mir bezahlt wurden un dann<br />
mehr un mehr selber an mich blechen mußten, waren ungezogne<br />
RÜPEL! Dabei waren Lust-Molche un Rüpel wie Hänflinge<br />
und Schlapp-Schwänze, die mir unterkamen. Un dran<br />
glauben mußten. Manches<strong>mal</strong> protzte einer aus dem Hosen-<br />
Latze mit seinem Ruterich raus, der dann alsobalde zu einem<br />
Wurme schrumpelte un auf meine Bonne harnte. Das muß sich<br />
das Hoch-Gericht e<strong>mal</strong> bildlich vorstellen! Welch Entwürdigung<br />
einer Dame! Gelegentlich wuchs solch ein Pieps vor mir<br />
nach guter Behandlung zu einem mächtgen Zumphe – wie das<br />
Leben eben über den Männer-Säcken so spielt. Oder nit. Auch<br />
waren sie durchweg unmusikalische Banausen – schlimme<br />
Dööflinge! Weil sie alle zu mir kamen un nur die Meinige un<br />
nit mich ganz wollten, ergab sich für sie leidern der Geils-Todt.<br />
Ich konnt in Erinnrung an meinen Wit-Mann nit anders, als<br />
229
des Schreiberlings, Bücher-Machers un Retters der Urianschen<br />
Hand-Schrift OSWIN HUBER vom 29. Februar 1688:<br />
DamitendigtUriansKladde,derichstrengstfolgte.Wiedergegeben<br />
ehrlich allso, wie dieser besondre Mensch es fabuliert<br />
hat. Mehr ist nicht überliefert und war kaum über ihn rauszubekommen<br />
und zu deuteln. Hab mich viele Jahre lang gemüht,<br />
Urianen zu erforschen und dessen schriftliche Hinterlassenschaft<br />
feintintig zugänglich zu machen.<br />
Einige Bemerkungen und Auffälligkeiten wie Ungereimtheiten:<br />
Es ist schier unbekannt bis heut, wieso dieser Mittelalter-<br />
Mann unerklärlicherweise offenbar einsam und verarmt in der<br />
Noll-Herberge zu Jena hauste, wann er dadort unterm Schindel-<br />
DacheseinwundersamesLebenaufgeschriebenhat.Unddiesepapiernen<br />
Blätter dann im Gebälk, hinter Bohlen, teils unterm<br />
Treppen-Absatze,versteckte.Oder:werhatdasgetan?Wann?<br />
Warum? Weshalb? Wieso? Für wen? Wollte er überhaupt, eswürdgefunden?<br />
Dann:woistderRestseinerFamilie?Ebensohinweggerafft?<br />
Es waren doch viele Verwandte, die Urian gehabt hatte: seine<br />
ElternGodsschalkmitUrsele,derFischerWenzelFischerundseineFrau,derenTochterJohanne,alsoUriansEhe-Weib,mitihrer<br />
beider Zwillings-Kinder Max und Marike. Nun gut, von seinen<br />
beiden anderen Söhnen, die bei der klösterlichen Nonnen-<br />
Prüfungungeschicktgezeugtwordenwaren,wußteerjaselbstnichts:<br />
Knabe Uri-Ebenso, den Fräulein X. im Orte Wald-Eckaufzog.Leser,erinnerteuch:daswarderPfiffikus,derdortimHolz-LandeangeblichdenZahn-Stochererfand.Underhatmitden<br />
sieben flüggen Töchtern des benachbarten Wald-Manns<br />
Vogt Försterei gespielt. Wir sind auch recht ausführlich der ÄbtinWildegardKratzertbegegnet,mitderUrianSohn(oderwareseineTochter)„Wittich“zeugte.DiespätereLieder-Macherinlebtedann<br />
im Nachbar-Orte Lobeda. Ob es heute noch Spuren dort<br />
gibt?UnsernFreundkönnenwirnichtmehrfragen–woistergeblieben?Könnteirgendwohiernochleben.<br />
Nur eines is dank meiner ohnermüdlichen Forschungen über<br />
dasmöglicheSchicksaldesURIAN(denichübrigenswahrhaftiglich<br />
liebgewonnen habe – Ihr auch?) inzwischen vage be-<br />
245
kannt:EinangesehenerBürgerUrianistinJenaanderSaale<strong>mal</strong><br />
sonntags, am Sechzehnten im Monate 6 des Jahres 1661,<br />
gestorben. Un alsbald alldort begraben worden. Eigentlich istdas<br />
noch gar nich so lange her …<br />
Das könnte der Mittelalter-Mann gewesen sein, dessen spannendes<br />
wundervolles Leben von ihm ehrlich selbst hier ausgebreitet<br />
wurde. Nur das Ende fehlt! Aber, niemand kann ja seinen<br />
Abgang noch beschreiben, ist er das erste, einzige wie letzte Mal<br />
in die Grube gefahren.<br />
Ichhabegetan,wasichkonnte,umohnejedwedeUmdichtung<br />
oder meinseitigen Hinzu-Spinn für die gnädigen Leserinnen<br />
und Leser bis zum letzten Frage-Zeichen, I-Tüpfelchen und<br />
Ende-Punkt samt seiner eignen Unterschrift, Urians Werk geflissentlich<br />
offen, ehrlich und uneigennützig zu hinterlassen;was<br />
zum Nachlesen und Angucken hiermit zu treuen Händen<br />
und Augen gegeben wird.<br />
Aber:obdasstimmt,weißmanschonheutnichtmehr.<br />
AlleSpurensindmitdenJahrenverwischt.Nurgut,daßwirdieses<br />
Buch haben, das nach mehr<strong>mal</strong>igem Verbummeln und<br />
WiederauffindennunzumEndedes17.Jahrhundertsendlicherscheinen<br />
wird. Wir wagen es zum Gewinne für die Kindeskinder.<br />
Viel Vergnügen mit diesem Buche!<br />
EsgrüßtnunabschließendderSchreiberlingOswinHuber,<br />
Jena, der der geschätzten Nachwelt noch<strong>mal</strong>igst versichert: alles<br />
steht hier so, wie es der gute Mensch Urian erlebt hat imschönen,<br />
alten Thüringen unter unsren Sonnen, Sternen un<br />
Monden!<br />
Vergesst den Mittelalter-Mann nimmer!<br />
246
Seltener Blick ins mitteldeutsche Mittelalter<br />
In Thüringen wurde eine bisher unbekannte Schilderung<br />
des Alltags um 1600 gefunden und nun nach 340 Jahren<br />
erst<strong>mal</strong>s veröffentlicht<br />
DERMITTELALTERMANN–eineliterarischeEulenspiegelei?<br />
Es war ein Stapel engbeschriebener Blätter, der gut verschnürtunlängstbeimUmbaueinesaltenHausesinJenagefunden<br />
worden ist. Schätzungsweise über 300 Jahre lang lag<br />
der persönliche und recht offene Bericht eines Bürgers über<br />
sein Leben und das Treiben in der Saalestadt hinter Bohlen gut<br />
verwahrt.Versteckt?Odereinfachnurvergessen?Diese,wieesheißt,„ohnglaublichenZeitungenvomDaseineinesJenensersnebst<br />
dessen Schilderungen seiner derbdrolligen wie ernsthaften<br />
Erlebnisse mit Witz und in jeglicher Drastigkeit und von<br />
gradezu umwerfender Ehrlichkeit“ werden hiermit der Öffentlichkeit<br />
vorgestellt.<br />
So manches über die da<strong>mal</strong>ige Zeit ist überliefert und erforscht,<br />
aus unzähligen Aufsätzen, Büchern und Filmen bekannt.<br />
Doch vieles von dem, was nun in dieser Handschrift<br />
steht, ist neu und teilweise unglaublich; es ergänzt das heutige<br />
Wissen über das Leben in Mitteldeutschland im 16. und 17. Jahrhundert.<br />
Man staunt, wenn man die fast 200 Seiten dieses „wirklichwahren<br />
Sittenbildes vom Tun und Lassen, von Freud und<br />
Leid in mittelalter Zeit“ liest. Eine ungeahnte Fundgrube hatsich<br />
aufgetan – auch für allgemein am Alltag der Vorfahren und<br />
an deren Sprache interessierte Leser. Eine ein<strong>mal</strong>ige Sammlung<br />
vonWörtern,WendungenundBegriffenistdaaufgetaucht.Undman<br />
versteht diesen Volksmund auch heute noch! In solcher<br />
Offenheit ist wohl kaum eine schriftliche Überlieferung bekannt.<br />
Ausführlich geht es in den Alltagsschilderungen oft um die zwischenmenschlichen<br />
Beziehungen von Mann, Weib und Kindern.<br />
Dieshatauchda<strong>mal</strong>soffenbardieLeutebeschäftigt.Undmanhatte<br />
nichts zu verbergen, lebte einfach und schämte sich wenig.<br />
So staunt man beispielsweise, was der Mittelaltermann seinerzeitallesüberdie„untrenGefilde“aufschrieb,wieerdieheutesogenannten„Feuchtgebiete“bezeichnete.HaterunsalsZeit-<br />
247
zeuge mit seinem offenen Bericht auch eine der ersten bekanntgewordenenpornografischenSittenschilderungenhinterlassen?<br />
Das Buch ist also kein Lesestoff für alle. Trotz der enthaltenen<br />
Heimatkunde sollte es vor Kindern verborgen werden!<br />
NachheutigerSichtwarzuUriansLebenszeitdasMittelalterschonGeschichte.Umsoverblüffenderist,dasssowohlderUrautor<br />
wie der Bewahrer und Bearbeiter der Texte ihre Gegenwart<br />
als„mittalte“ZeitoderebenMittelalterbezeichnen.HeutenennenHistorikerdieseEpoche„FrüheNeuzeit“.<br />
Die teilweise recht drastisch und oft witzig geschilderten Erlebnisse<br />
und Beobachtungen von Sitten und Gebräuchen stammen<br />
angeblich von einem 1582GeborenennamensURIAN,überdessen<br />
Verbleib und Lebensende allerdings nicht viel bekannt<br />
ist. Seine Spuren verlieren sich im Saaletal um 1661 herum.<br />
Vermutlich 1655 wurde der handgeschriebene Bericht beendet<br />
und verschwand für rund drei Jahrzehnte in einem Versteck,<br />
bis er zufällig gefunden wurde. Das ist in einigen Vorbemerkungen<br />
erwähnt. Überliefert ist auch, dass Urians Hinterlassenschaft<br />
1691 als Buch erscheinen sollte. Offenbar scheiterte<br />
das Vorhaben eines da<strong>mal</strong>igen Jenaer Stadtschreibers. Das<br />
durch diesen Oswin Huber aufbereitete Manuskript geriet wohl<br />
wiederum in Vergessenheit und schlummerte erneut über 300<br />
JahreunterDielenbrettern.BeimUmbaueinesmittelalterlichen<br />
Hauses in der heutigen Jenaer Oberlauengasse zu einem Hotel<br />
Anfang dieses Jahrzehnts wurden die „ehrlichen Schreibereien<br />
überUriansleutlichErlebtes“wiedergefunden.Nunsinddiese<br />
Schilderungen endlich als Buch DER MITTELALTERMANN<br />
erschienen.<br />
Für erwachsene Leser mit Verstand und Witz sind hier Tatsachen,<br />
Ereignisse und Lebensläufe verwoben mit liebenswert<br />
Fabuliertem: verblüffend bis gediegen, gemütlich bis aufregend,<br />
wahrhaftig bis gesponnen und mit Augenzwinkern dargeboten –<br />
eine kleine literarische Eulenspiegelei!<br />
248<br />
K. F.
Jena. Östlich der Saale unterm Jenzig-Berg liegt<br />
derGeburtsortdesMittelaltermannesUrian.<br />
Der Markt mit Stadtspeicher (1384) und Rathaus (1377).<br />
254<br />
Hinter solch einer Bohlenwand<br />
wurde das Tagebuch<br />
gefunden. Einritzungen<br />
aus dem Jahr 1619 –<br />
vomMittelaltermann?
Collegium Jenense. Gründungsstätte und über 300 Jahre Hauptort<br />
derUniversität,vorherDominikanerkloster(seit1286).<br />
Anatomieturm. Hier bestaunte<br />
UriandieLeichenöffnungenvon<br />
Ermordeten aus dem Paradies.<br />
Später entdeckte Goethe daselbst<br />
den Zwischenkieferknochen des<br />
Menschen.<br />
260<br />
Die Teufelslöcher unterhalb der<br />
Kernberge. In dieser Höhle hatte<br />
UriansVatereineunheimliche<br />
Begegnung mit einer Hexe.
OberschlossKranichfeld.UntermErkerfensterzeigteinRittersichundseinentblößtesHinterteilsamtGemächte.<br />
Mittelalterkunst: Leckarsch-<br />
Darstellung. In Stein gemeißeltprangtderverrenkte<br />
Ritter Wolfer un uzt damit<br />
seinen Bruder Lutger,<br />
genannt„Lutscher“.<br />
263