nachtkritik.de - Wolfram Ette
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"philosophische Dignität <strong>de</strong>r Tragödie" mit <strong>de</strong>r "Preisgabe <strong>de</strong>r Geschichte an die Natur"<br />
erkauft. Natur ist jedoch immer unkritisierbar – man kann einem Baum nicht vorwerfen,<br />
dass er Blätter treibt. Und in<strong>de</strong>m "das Tragische" bei Aristoteles auf Seiten <strong>de</strong>r Natur<br />
geschlagen wird, macht er es zum Unverfügbaren, zum Schicksal, zum<br />
Unabän<strong>de</strong>rlichen. <strong>Ette</strong> zeigt, dass man damit gleichsam das Wesen <strong>de</strong>r Tragödie verfehlt.<br />
Ihr Wesen ist Kritik an solchen (mythischen) Vorstellungen eines Unverän<strong>de</strong>rlichen, ist<br />
Kritik <strong>de</strong>s Schicksalsbegriffes selbst. Heißt: Als Theorie <strong>de</strong>r Tragödie ist Aristoteles'<br />
"Poetik" schlicht "unhaltbar".<br />
Der große Knall<br />
Fragt sich allerdings zweitens, warum eben diese Theorie so erfolgreich war und bis<br />
heute ist. <strong>Ette</strong>s Antwort: "Man entlastet sich namens <strong>de</strong>r Tragödie von <strong>de</strong>r<br />
Verantwortung, über Chancen, die gegebene Wirklichkeit zu verän<strong>de</strong>rn, auch nur<br />
nachzu<strong>de</strong>nken." Denn wo ein Schicksal waltet, bleibt nichts mehr zu tun – die<br />
Unausweichlichkeit wird als Befreiung von Verantwortung und Verbindlichkeit<br />
erfahren. Das Schicksal wird damit zur "Maske unserer eigenen<br />
Katastrophensehnsucht". Das bürgerliche Zeitalter kokettiere mit <strong>de</strong>m "großen Knall",<br />
schreibt <strong>Ette</strong>, "<strong>de</strong>n gibt es im Theater verkleinert und für wenig Geld. Danach kann man<br />
wie<strong>de</strong>r zu seinen Alltagsgeschäften zurückkehren."<br />
Mit <strong>de</strong>n Texten <strong>de</strong>r Tragödien hat das freilich kaum etwas zu tun; vielmehr äußert sich<br />
für <strong>Ette</strong> in dieser Katastrophensehnsucht ein "metaphysisches Bedürfnis", gera<strong>de</strong> auch in<br />
unserer vermeintlich nachmetaphysischen Gegenwart. Es gehört ja zum Konsens, fast<br />
schon zum Selbstverständnis <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne, dass sie die Tragödie abgeschafft,<br />
überwun<strong>de</strong>n hat. Was einst Überlebenskampf war, sei heute allenfalls Konflikt und<br />
Kontingenz; <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne seien Tragödien wesensfremd, so die berühmte, verheerend<br />
einflussreiche These in George Steiners Essay "Der Tod <strong>de</strong>r Tragödie" von 1961.<br />
Das könne man allerdings nur glauben, argumentiert <strong>Ette</strong>, wenn man – in <strong>de</strong>r Nachfolge<br />
Nietzsches – <strong>de</strong>n "geschichtlichen Sinn" <strong>de</strong>r Tragödie unterschlägt. Und es gibt wenige,<br />
die in diesem Sinne keine Nietzscheaner sind; zu diesen Wenigen gehört Höl<strong>de</strong>rlin, für<br />
<strong>Ette</strong> <strong>de</strong>r wichtigste Gewährsmann, weil er, zum Beispiel in seinen "Anmerkungen zur<br />
Antigone", auf <strong>de</strong>n Prozess und Geschichtscharakter <strong>de</strong>r Tragödie verweist.<br />
Die Geschichte <strong>de</strong>r Götter<br />
Diesen geschichtlichen Sinn <strong>de</strong>r Tragödie herausgeabeitet zu haben, ist, drittens, <strong>Ette</strong>s<br />
eigentliche Großtat. Und er tut dies nicht aufgrund irgendwelcher philosophisch<br />
nebulöser, frei schweben<strong>de</strong>r Vermutungen, son<strong>de</strong>rn anhand genauester Lektüren<br />
(mitunter hängt alles an einer Partizipialkonstruktion), die <strong>de</strong>n gesun<strong>de</strong>n<br />
Menschenverstand statt schicker Theorieversatzstücke benutzen. <strong>Ette</strong> liest die Tragödien<br />
Vers für Vers, immer auch mit Blick auf das "gegentragische Moment" in je<strong>de</strong>r Tragödie,<br />
das sich im "Modus <strong>de</strong>r Verzögerung" kundtue. Das umfangreichste und für mich auch<br />
überzeugendste Kapitel ist dabei jenes zur "Orestie".<br />
Deshalb sei viertens aus diesem ein Beispiel herausgegriffen, das ver<strong>de</strong>utlichen soll, wie<br />
weit sich <strong>Ette</strong>s neue Lesart <strong>de</strong>r Tragödie von <strong>de</strong>n hergebrachten Vorstellungen entfernt.