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<strong>Wolfram</strong> <strong>Ette</strong><br />

»Wallenstein« – das Drama der Geschichte<br />

I<br />

In den letzten Jahren hat sich in Bezug auf den »Wallenstein« so etwas wie eine<br />

communis opinio herauskristallisiert. Ihr zufolge werde in dieser dramatischen Darstellung<br />

eines historischen Entscheidungsaugenblicks, in dem alles auf Messers<br />

Schneide steht, so etwas wie eine immanente Logik der Geschichte sinnfällig gemacht.<br />

Darin bestehe zugleich der Realismus und die Modernität des »Wallenstein«.<br />

Das Werk leiste Verzicht auf jede ›große Erzählung‹, die das Geschehen in<br />

einen übergeordneten Zusammenhang einbette, sonderen nähere sich ihm, indem es<br />

das Vergangene dramatisch vergegenwärtige, mit dem nüchternen Blick des Phänomenologen,<br />

der sich jedes Blicks auf ein ›Wozu‹ entschlagen hat und sich damit<br />

begnügt, die Verkettung der Motive zu rekonstruieren. 1<br />

Innerhalb dieser basalen Annahme haben sich nun wiederum zwei Positionen<br />

abgezeichnet, eine skeptische und eine analytische. Die skeptische gelangt zu einem<br />

ganz negativen, pessimistischen Bild der Geschichte – sie ist kontingent, sinnlos; jeder<br />

Versuch, sie zu erkennen und wissend in ihr Getriebe zu greifen (wie es Wallenstein<br />

mihilfe der Astrologie versucht), muss scheitern. Der einzige Ausweg angesichts<br />

dieser chaotischen Massen von Begebenheit, dieses Trümmerfeldes menschlicher<br />

Interessen und Taten führt aus der Geschichte heraus. Allein das Schöne in<br />

Form der Kunst oder der selbstlosen Liebe, die sich um die Folgen ihrer Taten nicht<br />

bekümmert, vermag dem Dasein den Sinn wiederzugeben, den es im Versuch, geschichtlich<br />

zu wirken, rettungslos verloren hatte. Was Schiller angesichts des erhabenen<br />

Anblicks, den die Geschichte biete, empfehle, sei letztlich, ihn auszuhalten<br />

und sich so wenig wie möglich davon anfechten zu lassen – letztendlich plädiere er<br />

damit für eine stoische Lösung des Problems der Weltgeschichte. 2<br />

Die analytische Position behauptet nun aber, dass es Schiller um mehr gegangen<br />

sei als um die bloß Denunziation der Geschichte und dass er immer noch Historiker<br />

genug gewesen sei, um sich für die Frage nach der Analyse und Beschreibung<br />

des Funktionsmechanismus der Geschichte leidenschaftlich zu interessieren. Letztendlich<br />

verbindet sich das mit der Frage nach dem Nutzen solcher Erkenntnis: ob es<br />

also, mit anderen Worten, möglich sei, aus der Geschichte etwas zu lernen. 3<br />

Diese zwei Positionen könnten gegensätzlicher nicht sein. Wollte man den Gegensatz<br />

plakativ personalisieren, so könnte man sagen, dass hier auf der einen Seite<br />

Seneca steht, für den die Tragödie der emotionalen Abhärtung der Zuschauer dient<br />

(daher der typisch senecanische Akzent auf der Unausweichlichkeit eines Unerträg-


lichen), und auf der andern Seite Brecht, der uns anmutet, durch die kritische Analyse<br />

des tragischen Geschehens dahin gebracht zu werden, etwas daraus zu lernen<br />

und nicht dieselben Fehler wie die dramatischen Helden zu begehen. 4<br />

Ich möchte in diesem Text versuchen, für den »Wallenstein« in dieser Frage zu<br />

einer Entscheidung zu finden. Dabei will ich mich so weit wie möglich an den Text<br />

des Dramas halten. Externe Zeugnisse – vor allem die Briefe und theoretischen<br />

Schriften – können angesichts der Auseinandersetzung mit dem dramatischen Gebilde<br />

nur Hilfsmittel zweiten Ranges sein. Es ist ja nicht gesagt, dass Schillers Verhältnis<br />

zur Geschichte, seinem großen und, wie es nicht anders sein kann, hochproblematischen<br />

Lebensthema, in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre ganz konsistent<br />

war. Und es gibt Grund zu der Annahme, dass kein anderes Zeugnis es an<br />

Komplexität und Tiefe der Einsicht es mit dem dramatischen Hauptwerk dieser Zeit<br />

aufnehmen kann.<br />

II<br />

Was ist eine Handlung? Eine Handlung besteht aus einem Subjekt, aus dem Zweck,<br />

den dieses Subjekt sich setzt und aus den Mitteln, die es Verwirklichung seines<br />

Zwecks bemüht. Idealtypisch ist dieses Subjekt eine Person, und Prozess der Verwirklichung<br />

des Zwecks läuft störungsfrei ab.<br />

Diesem Schema folgt im Großen und Ganzen auch die antike Tragödie – zumindest<br />

ist dies das Bild, das Aristoteles vom tragischen mythos entwirft. Auch<br />

wenn Religion in der »Poetik« keine Rolle spielt: Der mythos ist gedacht in Analogie<br />

zum menschlichen Zweckhandeln, mithin teleologisch. Blumenberg hat gezeigt,<br />

dass die Antike jegliches Tun als Reproduktion einer vorgeordneten Prozesses begreift.<br />

Wer handelt, ist mimetisch tätig, er ahmt ein quasi naturhaft vorgegebenen<br />

Urbild nach. Tragödien entstehen dann, wenn diese mimesis fehlschlägt, wenn also<br />

der Mensch sich eigene, scheinhafte Zwecke vornimmt, die mit dem primordialen<br />

Naturzweck nicht übereinstimmen. 5<br />

In seiner Reinform trifft dieses Schema sicherliche nur auf wenige attische Tragödien<br />

zu. 6 Dennoch ist es (und der damit verbundene Schicksalsbegriff, der das<br />

tragische Geschehen einem transzendenten Handlungssubjekt unterstellt) hilfreich,<br />

um den point du départ zu bezeichnen, von dem sich Schiller abstößt. Das Drama<br />

nämlich, dem es um die Darstellung von Geschichte geht, hat es nicht mehr mit einer<br />

Handlung in dem oben genannten Sinn zu tun, sondern mit mehreren gegeneinander<br />

wirkenden und sich überkreuzenden Handlungen. Wenn hier also etwas<br />

»handelt«, dann ist es kein Subjekt, sondern ein System. 7<br />

Das Prozessdenken der Moderne (also seit ca. 1800) bewegt sich aber genau<br />

um diese Frage, nach welcher Logik ein System prozessiert. Weder die Teleologie<br />

2


der Antike noch die mechanische Kausalität der frühen Neuzeit reichen hin, um zu<br />

beschreiben, was im Prozess eines Systems vorgeht. Dieses Denken beginnt mit Hegel,<br />

setzt sich fort über Marx/Engels, über die biologische Systemtheorie (von Üexküll<br />

über Maturana und Varela bis zur Chaostheorie), die Kybernetik und Luhmanns<br />

Systemtheorie, und hat sein vorläufiges Ende in mitunter etwas esoterischen<br />

Theorien eines systemischen globalen Zusammenhangs gefunden. Es ist ein Leitmotiv<br />

des philosophischen Diskurses der Moderne.<br />

Schillers »Wallenstein« gehört in die Frühgeschichte dieses Prozessdenkens, er<br />

stellt, soweit ich weiß, die erste verbindliche und dramatisch bis jetzt unübertroffene<br />

Formulierung einer systemischen Prozesslogik dar. Hegels Entsetzen über das<br />

Stück markiert den neuralgischen Punkt seiner Dialektik, die mit der im »Wallenstein«<br />

entwickelten Systemlogik des geschichtlichen Prozesses in vielen Punkten<br />

koinzidiert: dass man daraus nicht mit erleichterter Brust springen kann 8 , macht in<br />

aller Unschuld klar, dass er den dialektischen Prozess nicht bis zu dem Punkt öffnen<br />

will, an dem sein spekulatives happy end in Frage steht. 9 Nichts anderes aber geschieht<br />

in Schillers Drama.<br />

III<br />

Um diese These zu erläutern, muss man sich freilich zunächst darüber verständigen,<br />

was diese systemische Prozesslogik eigentlich ist. Es sind drei Voraussetzungen<br />

notwendig, damit etwas weder teleologisch, noch kausalmechanisch, sondern systemisch<br />

prozessiert.<br />

(1) Die Pluralität der Akteure. Ein System besteht, wie erwähnt, aus einer Mehrzahl<br />

von Handelnden, deren Handlungen – zu denen auch kommunikative Akte<br />

zählen – sich gegenseitig beeinflussen.<br />

(2) Was ein einzelnen Handlungselement ist, bestimmt sich allein immanent, also<br />

durch seine Position im gesamten System. Etwas weniger abstrakt formuliert:<br />

Was zählt, ist nicht allein das, was man beabsichtigte, sondern auch das, was<br />

die anderen darüber denken.<br />

(3) Jedes einzelne Handlungs ist Teil des Systems, wirkt also auf seine Gesamtverfassung<br />

zurück, die ihm seine Position anweist.<br />

Charakteristisch für ein System sind also Binnendifferenz, Immenenz und Selbstbezüglichkeit.<br />

In einem Aufsatz abseits der systemtheoretischen Hauptwerke hat<br />

Luhmann das fast lehrbuchhaft zusammengefasst:<br />

Es gibt … keine nicht weiter auflösbaren Letztelemente, aus denen Systeme<br />

»zusammengesetzt« sind, und Ordnung kann nicht einfach als Netz von Beziehungen<br />

zwischen Elementen begriffen werden. Man muß … zu Theorien über-<br />

3


gehen, die alles, was im System als Einheit fungiert, als Eigenleistungn des Systems<br />

auffassen. Auch die (für das System nicht weiter auflösbaren) Elementareinheiten<br />

haben ihre Einheit durch das System selbst und nur im Funktionszusammenhang<br />

des Systems. Jedes Element ist im Funktionszusammenhang des<br />

Systems immer schon Reduktion einer zu Grunde liegenden Komplexität, die<br />

im System als Einheit behandelt wird und dadurch anschlußfähig wird. Die Systeme<br />

produzieren die Elemente, aus denen sie bestehen, durch die Elemente,<br />

aus denen sie bestehen. 10<br />

Das System ist, als Träger von Handlungen, durch diese Handlungen in ständiger<br />

Veränderung begriffen. Die antike Teleologie wird verflüssigt; auf dem Weg, der<br />

der Verwirklichung des Zieles dienen soll, verändert sich mit dem Subjekt des Prozesses<br />

auch das Ziel. Es ist wie eine Maschine, die, während sie läuft, umgebaut<br />

wird. Der Prozess selbst ist das Subjekt, der in jedem Augenblick seine eigene Zukunft<br />

und Vergangenheit, auf die er sich orientiert, aus sich entfaltet.<br />

Schillers These geht nun dahin, dass dies eben die Logik ist, der der geschichtliche<br />

Prozess im Ganzen unterworfen ist. Was zählt, sind nicht die Akteure, sondern<br />

das Verhältnis zwischen ihnen. Das ist die positive Kehrseite der geschichtsphilosophischen<br />

Desillusionierung der neunziger Jahre, während derer die große Erzählung<br />

der »Universalgeschichte« Zug um Zug in sich zusammenfiel. Und es ist die Frucht<br />

des jahrelangen Kampfes um »Wallenstein«, in dem diese Logik des ›Systems Geschichte‹<br />

an einem repräsentativen Augenblick vorgeführt wird. 11<br />

IV<br />

Ich möchte nun einige Stellen etwas genauer betrachten, in denen diese Logik exponiert<br />

wird. Ihr Reservoir sind in der Hauptsache »Die Piccolomini« und der erste<br />

Akt von »Wallensteins Tod« –: also die Phase des dramatischen Prozesses, in der<br />

noch nichts entschieden ist. In diesen Leerraum bricht gleichsam die Geschichte als<br />

autonomer Prozess ein.<br />

Die ersten zwei auskunftsfähigen Partien finden sich zu Beginn des dritten Akts<br />

der »Piccolomini«. Illo und Terzky beratschlagen über den Plan, den anderen Wallensteinischen<br />

Offiziere mithilfe einer gefälschten Treueerklärung jeden Rückweg<br />

zurück an den kaiserlichen Hof zu verbauen. Natürlich ist ein solches Dokument,<br />

dessen entscheidender Passus ohne Kenntnis seines Inhalts unterzeichnet wurde,<br />

juristisch wertlos und in keiner Weise bindend. Aber darauf hat es Illo gar nicht abgesehen:<br />

Gefangen haben wir sie immer – Laßt sie<br />

4


dann über Arglist schrein, so viel sie mögen.<br />

Am Hofe glaubt man ihrer Unterschrift<br />

Doch mehr, als ihrem heiligsten Beteuern.<br />

Verräter sind sie einmal, müssen’s sein,<br />

So machen sie aus ihrer Not wohl eine Tugend. 12<br />

Erst das System, so hatte es bei Luhmann geheißen, bestimmt den Stellenwert des<br />

einzelnen Elements: Das ›System‹ basiert hier auf der Unterscheidung zwischen dem<br />

geschriebenen und dem gesprochenen Wort – eine Unterscheidung, die sich mit der<br />

konventionalisierten Annahme verbindet, dass das Geschriebene verbindlicher sei<br />

als das Gesprochen. Das System basiert ferner auf einer Situation, in der die scharfe<br />

Trennung von Freund und Feind ein politisches Erfordernis ist. In ihr ist der Verräter<br />

zehn Mal so gefährlich wie der erklärte Feind und der vermeintliche Überläufer<br />

erscheint als eine ganz unvertrauenswürdige Figur. Und schließlich gehören Figuren<br />

wie Illo und Terzky zum System, die um diese Dinge wissen und sie ihn ihre Pläne<br />

einkalkulieren. Alle diese keineswegs selbstverständlichen Voraussetzungen treffen<br />

zusammen und haben zur Folge, dass sich etwas ins Gegenteil verkehrt und so, in<br />

dieser Form historisch wirksam wird.<br />

Im weiteren Verlauf des Gesprächs zwischen Illo und Terzky setzt sich das fort.<br />

Die bloße Annahme nämlich, dass die Offiziere sich zu einer unbedingten Treueverpflichtung<br />

gegenüber Wallenstein erklärt hätten, sei geeignet, Wallensein zu eben<br />

den Entschlüssen zu bewegen, durch der Verrat faktisch aktenkundig würde. Diese<br />

Entschlüsse wiederum würden das Lager zu den militärischen Taten mitreißen, die<br />

jede Frage nach der formalen Gültigkeit der Treueerklärung sowieso niederschlagen<br />

würde. Wiederum Illo:<br />

Und dann, liegt auch so viel nicht dran, wie weit<br />

wir damit langen bei den Generalen,<br />

Genug, wenn wir’s dem Herrn nur überreden,<br />

Sie seien sein – denn handelt er nur erst<br />

mit seinem Ernst, als ob er sie schon hätte,<br />

So hat er sie, und reißt sie mit sich fort.<br />

(...)<br />

Ich denk’ es schon zu karten, daß der Fürst<br />

Sie willig finden – willig glauben soll<br />

Zu jedem Wag’stück. Die Gelegenheit<br />

Soll ihn verführen. Ist der große Schritt<br />

Nur erst getan, den sie zu Wien ihm nicht verzeihn,<br />

So wird der Notzwang der Begebenheiten<br />

Ihn weiter schon und weiter führen 13 .<br />

5


Dass diese Sicht auf den Verlauf des Geschehens nicht der Spleen eines Intriganten<br />

ist, sondern ein wesentliches Moment der historischen Logik trifft, wird auch dadurch<br />

nahegelegt, dass der historische Gewinner der Episode aus dem dreißigjährigen<br />

Krieg, von der das Drama berichtet, sie sich zu eigen gemacht hat und sein politisches<br />

Handeln nach ihr ausrichtet. Octavio beschwört seinen Sohn am Ende der<br />

»Piccolomini«, als dieser im naiven Bedürfnis, reinen Tisch zu machen, und Wallenstein<br />

zu einem erlösenden Wort zu zwingen, dem Feldherrn von der Verschwörung<br />

der Kaisertreuen berichten will:<br />

Befrag’ ihn! Geh! Sei unbesonnen genug,<br />

Ihm deines Vaters, deines Kaisers<br />

Geheimnis preis zu geben. Nöt’ge mich<br />

Zu einem lauten Bruche vor der Zeit!<br />

Und jetzt, nachdem ein Wunderwerk des Himmels<br />

Bis heute mein Geheimnis hat beschützt,<br />

Des Argwohns helle Blicke eingeschläfert,<br />

Laß mich’s erleben, daß mein eigner Sohn<br />

Mit unbedachtsamen rasenden Beginnen<br />

Der Staatskunst mühevolles Werk vernichtet. 14<br />

Max kommt mit knapper Not davon. Denn Octavio hat Recht. Wäre sein Sohn zu<br />

Wallenstein vorgedrungen, bevor dieser dem Druck der von ihm unwillentlich herbeigeführten<br />

Verhältnisse nachgab, so wäre eingetreten, was Octavio hier prophezeit:<br />

Max wäre an Wallensteins Abfall, den er um jeden Preis verhindern will, mitschuldig<br />

geworden. Aber er hat Glück und kommt zu spät. So beschenkt Schiller<br />

diese zur Historie hinzuerfundene Figur mit der Gnade sauberer Hände und eines<br />

frühvollendeten Todes. Zugleich aber macht er klar, dass seine Unschuld – anders<br />

als diejenige Theklas – ganz kontingent ist, ein Zufall, durch den der gute Wille und<br />

die gute Tat zusammenfinden. Max tritt im Verlauf des Dramas aus der Geschichte<br />

und ihrer dialektischen Logik heraus, aber er steht grundsätzlich keineswegs außerhalb<br />

der Prozesse, die einen schuldlos schuldig machen können.<br />

Graf Terzky legt einen anderen Akzent auf die Logik des geschichtlichen Fortgangs.<br />

Er betrachtet ihn weniger wie Illo aus dem Blickwinkel des Analytikers, sondern<br />

aus dem dem Handelnden: synthetisch und intuitiv. Deswegen verbindet sich<br />

mit seiner Figur vor allem die Idee des kairós, des rechten Moments, der im politischen<br />

Handeln ergriffen sein will. Das berühmte Wort In deiner Brust sind deines<br />

Schicksals Sterne 15 , das sich gegen Wallensteins Bemühungen richtet, den richtigen<br />

Zeitpunkt zum Handeln zu berechnen (Bemühungen, hinter denen Terzky mit<br />

Recht eine Handlungshemmung vermutet), will ja nichts anderes besagen als: Folge<br />

6


Deiner Intuition! – Sie ist vielleicht das einzige, was der Komplexität des System Geschichte<br />

gerecht wird, das sich analytisch niemals vollständig wird erfassen lassen.<br />

Zwar versäumt er es nicht, Wallenstein auch durch Argumente zum Handeln zu<br />

bewegen:<br />

Sieh! Wie entscheidend, wie verhängnisvoll<br />

Sich’s jetzt um dich zusammen zieht! – Die Häupter<br />

Des Heers, die besten, trefflichsten, um dich,<br />

Den königlichen Führer, her versammelt,<br />

Nur deinen Wink erwarten sie – O! laß<br />

Sie so nicht wieder aus einander gehen!<br />

So einig führst du sie im ganzen Lauf<br />

Des Krieges nicht zum zweitenmal zusammen. (...)<br />

Jetzt hast Du sie, jetzt noch! Bald sprengt der Krieg<br />

Sie wieder auseinander, dahin, dorthin –<br />

In eignen kleinen Sorgen und Intressen<br />

Zerstreut sich der gemeine Geist. 16<br />

– Grundlage solcher Erkenntnis sind aber: Vertrauen zu dir selbst, Entschlossenheit<br />

17 . Sie würden Wallenstein dazu befähigen, die unübersehbaren historischen<br />

Kausalketten in einem Punkt zusammenzuführen und zu einer Tat von maximaler<br />

Durchschlagskraft zu bündeln:<br />

O! nimm der Stunde wahr, eh’ sie entschlüpft.<br />

So selten kommt der Augenblick im Leben,<br />

Der wahrhaft wichtig ist und groß. Wo eine<br />

Entscheidung soll geschehen, da muß Vieles<br />

Sich glücklich treffen und zusammenfinden, –<br />

Und einzeln nur, zerstreuet zeigen sich<br />

Des Glückes Fäden, die Gelegenheiten,<br />

Die nur in Einen Lebendpunkt zusammen<br />

Gedrängt, den schweren Früchteknoten bilden. 18<br />

Auch hier spräche das Herz, und nicht bloß in denjenigen, die sich aus der Geschichte<br />

verabschieden. Sicherlich ist der Dualismus von »erhabener« Geschichte<br />

und dem »Schönen«, das in der Kunst und im Handeln der Liebenden Wirklichkeit<br />

wird, der entscheidende und vordringliche Eindruck, den dieses Drama hinterlassen<br />

will. Dennoch ist die Grenze zwischen den Sphären untertunnelt. Nicht nur, dass zu<br />

Maxens historischer Schuld nur wenig fehlt; der Liebende selbst verblüfft uns,<br />

nachdem er sich endlich entschlossen hat, der Stimme seines Herzens zu folgen, da-<br />

7


durch, dass er Freund und Feind mit einer Sicherheit auseinanderkennt, die auch<br />

nur anzuerkennen Wallenstein das Leben gerettet hätte. Er sagt über Wallenstein:<br />

Des Kaisers Acht hängt über ihm, und gibt<br />

Sein fürstlich Haupt jedwedem Mordknecht preis,<br />

Der sich den Lohn der Bluttat will verdienen;<br />

Jetzt tät ihm eines Freundes fromme Sorge,<br />

Der Liebe treues Auge not – und die<br />

Ich scheidend um ihn seh –<br />

(Zweideutige Blicke auf Illo und Buttler richtend) 19<br />

Zu reden ist schließlich gar nicht von Thekla, in der sich trotz der klösterlichen Abgeschiedenheit,<br />

in die sie ihr Dasein verbrachte, die Liebe zu Max mit der wacheste<br />

politischen Auffassungsgabe zu einer in jeder Hinsicht imponierenden Figur verbunden<br />

haben.<br />

Zur handlungsentscheidenden Anwältin der Geschichts-Logik macht sich freilich<br />

die Gräfin Terzky. Denn es ist ihr Hinzutreten, das in der unmäßig ausgedehnten<br />

Szenenfolge des ersten Aktes von »Wallensteins Tod«, in der Zug um Zug etwas<br />

sich entscheidet, ohne dass jemand entscheidet, den Ausschlag gibt. Sie lässt<br />

noch einmal Revue passieren, auf welche Weise das System Geschichte prozessiert:<br />

Ist’s möglich? Da du so weit bist gegangen,<br />

Da man das Schlimmste weiß, da dir die Tat<br />

Schon als begangen zugerechnet wird,<br />

Willst du zurückziehn und die Frucht verlieren? 20<br />

Das System, das entscheidend durch Kommunikation zusammengehalten wird, die<br />

allem, was geschieht, seinen Stellenwert zuweist, hat die Vergangenheit so arrangiert,<br />

dass sie zur Gegenwart passt. Dieser Logik zufolge ist die Tat geschehen: nicht<br />

als ein »Sein« von quasi dinglicher Härte, sondern als diskursiver Effekt. Um historisch<br />

zu wirken, braucht etwas nicht zu sein; der kommunikativ erzeugte Schein der<br />

Faktizität reicht aus. In dieser Sphäre gibt es letztendlich keine Möglichkeit, scharf<br />

zwischen Sein und Schein zu unterscheiden. Deswegen hat die Gräfin Recht, wenn<br />

sie Wallensteins notwendige Reaktion auf das, was seine Entscheidung, die nie eine<br />

war, sondern die erst nachträglich dazu wurde, als Notwehr bezeichnet:<br />

Du bist verloren, wenn du dich nicht schnell der Macht<br />

Bedienst, die du besitzest – Ei! wo lebt denn<br />

Das friedsame Geschöpf, das seines Lebens<br />

sich nicht mit allen Lebenskräften wehrt?<br />

8


Was ist so kühn, das Notwehr nicht entschuldigt? 21<br />

Was nach der einen Seite wie Notwehr aussieht, wie der Widerstand gegen eine<br />

Gewalt, die man nicht auslösen wollte und der man deshlab unschuldig ausgesetzt<br />

ist, ratifiziert nach der anderen Seite bloß die Entscheidung, die Wallenstein unterstellt<br />

wird und erscheint als ihre zwingende Konsequenz. Ein Kriterium aber, das<br />

erlauben würde, nach der einen oder der anderen Seite definitiv zu entscheiden, gibt<br />

das System nicht her.<br />

V<br />

Von hier aus löst sich auch die Frage nach der Funktion von Wallensteins Zögern.<br />

Sein Temporisieren, wie Schiller es genannt hat, spielt ja in der »Geschichte des<br />

dreißigjährigen Krieges« keine besondere Rolle. Hier liegt die entscheidene Differenz<br />

der Schillerschen Geschichtsschreibung zum Drama; das veränderte Elementarinteresse,<br />

das Schiller zur poetischen Umformung des Stoffes bewog, muss exakt<br />

an dieser Stelle zu suchen sein.<br />

An der Stelle des Charakterbildes, das Schiller in der »Geschichte des dreißigjährigen<br />

Krieges« von Wallenstein zeichnet – es ist widerspruchsvoll und irisierend,<br />

aber im Ganzen das nachvollziehbare Porträt eines ehrgeizigen politischen Hasardeurs<br />

–, findet sich im Drama ein Leerraum, der lediglich von Wallensteins Zögern<br />

ausgefüllt, oder besser: nicht-ausgefüllt wird. Wallenstein handelt nicht, seine einzige<br />

Aktivität besteht darin, die Entscheidung über das, was zu tun ist, bis zu einem<br />

Moment hinauszuzögern, in dem sie ihm aus der Hand gerissen wird und die Geschichte<br />

sozusagen selbst entscheidet. Das heißt, Wallenstein ist im strengen Sinn<br />

keine Person, kein dramatischer Charakter, sondern Medium. Er öffnet den dramatischen<br />

Raum für die Erkenntnis »der« Geschichte. Er ist gesellschaftliches Individuum,<br />

wie Heiner Müller das einmal genannt hat 22 : Projektionsfläche der gesellschaftlichen<br />

Kräfte, die sich durch ihn bewegen, die individuell geprägte Form,<br />

durch die das System prozessiert. 23<br />

Zur Poetisierung des Stoffs zählen solche Korrekturen, die Schiller an den historischen<br />

Fakten vornahm. Zu ihr zählt aber auch und eigentlich zuallererst die<br />

dramatische Form selbst. Sie hat an der Darstellung der historischen Logik den gewichtigsten<br />

Anteil. Das kann man sich zunächst umgekehrt an den narratologischen<br />

Voraussetzung der Geschichtsschreibung klar machen. Die erzählende Form, auf<br />

die der Historiograph sich fast zwangsläufig verwiesen sieht, verpflichtet auf eine<br />

zentrale Instanz, die das Geschehene organisisiert. Bei dieser Transformation des<br />

Systems in die (zumeist) auktoriale Erzählform liegt die teleologische Verlockung<br />

nahe. Ich bin es, der erzählt, es wird mir schwer fallen, das, wovon ich erzähle,<br />

9


nicht auf mich zu beziehen. Damit ist aber schon der Keim des »Wozu« gelegt, das<br />

die Geschichte auf den Erzähler orientiert, ohne dass es im geringsten mit der fast<br />

entwaffnenden Offenheit ausgesprochen werden müsste, die Schiller in der »Idee<br />

der Universalgeschichte« an den Tag legt. In jedem Fall aber bedeutet es, der Geschichte<br />

eine ihr unangemessene dramatische Form überzustülpen. Das Drama soll<br />

ein Ganzes sein, hatte Aristoteles dekretiert: ein Ganzes mit Anfang, Mitte und Ende,<br />

die so aufeinander verweisen, dass der Anfang das noch nicht verwirklichte Ende,<br />

der Ende der verwirklichte Anfang, und die Mitte eben der Weg ist, der natürlicherweise<br />

vom einen zum anderen führt und die teleologische Gleichung realisiert. 24<br />

Ein göttlicher Erzähler hält den Mythos zusammen, und es ist dieser – bei Aristoteles<br />

ungenannt Bleibende –, der im Geschichtsschreiber wiederkehrt und die Ereignisse<br />

im Drama der Geschichte versammelt.<br />

Schiller freilich war zu aufrichtig, zu hellhörig dem Material gegenüber, um es<br />

dabei bewenden zu lassen. So kommt es zum Geschichts-Drama: offen, ambivalent,<br />

und vor allem: multiperspektivisch. Die Personen dieses Dramas reden durcheinander<br />

wie die Quellen, die einander widersprechen, ohne dass eine Lösung in Aussicht<br />

wäre. Schillers fundamentale Einsicht, die ihn von der »Idee der Universalgeschichte«<br />

über die »Geschichte des dreißigjährigen Krieges« zu »Wallenstein« führte, besteht<br />

in der Zerschlagung der Illusion, es ließe sich sagen, was wirklich gewesen. 25<br />

Selbst das Faktum, das Ereignis, ist mehrdeutig, diffus, uneigentlich. Was das einzelne<br />

ist, ist nicht zu sagen, sondern allein, wie das einzelne miteinander zusammenhängt.<br />

Deswegen ist es im letzten nicht erheblich, herauszufinden, was Wallenstein<br />

wirklich wollte, ob Octavio Piccolomini – er ist ja mindestens so umstritten<br />

wie Wallenstein – ein Ehrenmann ist oder ein Karrierist. Es ist nicht möglich, und<br />

auch nicht die Aufgabe des Historikers, verfasse er nun eine Abhandlung oder ein<br />

Drama, zu klären, ob Wallenstein ein politischer Visionär von europäischem Format<br />

war oder ein machtbesessener, von der Gunst der Umstände aufgeblähter<br />

Duodezfürst; das interessiert ebensowenig wie die Frage, ob der Brief, mithilfe dessen<br />

Octavio Buttler zur tödlichen Spitze der Verschwörung gegen Wallenstein umschmiedet,<br />

echt ist oder gefälscht. 26 Das Drama, das keine organisierende Zentralinstanz<br />

kennt, sondern lediglich dezentral aufeinander wirkende Kommunikationsakte,<br />

kann diese Dinge in ihrer Unentschiedenheit (und Unentscheidbarkeit) stehen<br />

lassen. Damit verhilft sie der Geschichte zu ihrem Recht. Das Drama – dieses maßlos<br />

über seine Ränder bordende dramatische Gedicht – ist die wahre Geschichtsschreibung.<br />

Sein Lager nur erkläret sein Verbrechen. 27 Es geht nicht um Wallenstein. Es<br />

geht noch nicht einmal um die Rechtfertigung von etwas, was allein der auf seinen<br />

Standtort fixierte Historiker Verbrechen zu nennen sich anmaßen kann. Nein, es ist<br />

Schiller im Wortsinn um Erklärung zu tun: um die Analyse der Maschinerie, die das<br />

»Verbrechen« herbeiführte und als Verbrechen erscheinen ließ. Schiller entdeckt die<br />

10


Kriegsmaschine, deren Eigenbewegung der Griff des Feldherrn nicht mehr in die<br />

Kontrolle zwingt, schreibt Heiner Müller. 28 Um das zu zeigen, wurde Wallenstein,<br />

die Zentralfigur, der vermeintliche Träger der geschichtlichen Aktion, umgeschaffen<br />

in das Behältnis seines Lagers. 29<br />

VI<br />

In diesen Zusammenhang gehört auch das astrologische Motiv. Auch wenn die<br />

astrologischen Neigungen des historischen Wallenstein verbürgt sind 30 , hat seine<br />

Einführung ins Drama, zu der sich Schiller nicht ganz leicht zu entschließen vermochte,<br />

lediglich heuristischen Wert. Astrologie und Geschichte sind unvereinbare<br />

Gegensätze. Am Gegensatz aber lässt sich die Logik des historischen Prozesses mit<br />

um so größerer Prägnanz ausmachen. Das astrologische Weltbild ist deterministisch:<br />

was passieren wird, steht von jeher fest. Der geschichtliche Prozess ist demgegenüber<br />

»chaotisch« in der strikten terminologischen Bedeutung, die sich in den<br />

letzten Jahren durch die Chaostheorie entwickelt hat. 31 Der Kosmos, auf den die<br />

Astrologie referiert, ist geschlossen; jedes Ding hat in der »chain of being« seine<br />

Stelle 32 und die Prozesse zwischen dem,<br />

was geheimnisvoll bedeutend webt<br />

Und bildet in den Tiefen der Natur, –<br />

Die Geisterleiter, die aus dieser Welt des Staubes<br />

Bis in die Sternenwelt, mit tausend Sprossen,<br />

hinauf sich baut, an der die himmlischen<br />

Gewalten auf und nieder wandeln, 33<br />

– verlaufen mit naturwüchsiger Regelmäßigkeit:<br />

Die himmlischen Gestirne machen nicht<br />

Bloß Tag und Nacht, Frühling und Sommer – nicht<br />

Dem Sä’mann bloß bezeichnen sie die Zeiten<br />

Der Aussaat und der Ernte. Auch des Menschen Tun<br />

Ist eine Aussaat von Verhängnissen,<br />

Gestreuet in der Zukunft dunkles Land,<br />

Den Schicksalsmächten hoffend übergeben. 34<br />

Die Astrologie ist die mythische Erscheinungsform des naturwissenschaftlichen<br />

Weltbildes und seines Glaubens an die mathematische Vorhersagbarkeit aller Prozesse;<br />

daher rührt ihre ungeheure Konjunktur in der frühen Neuzeit 35 . Gegenüber<br />

11


dem universalen Determinismus, den sie mitschleppt, ist die historische Logik nicht<br />

einfach ungenau, sondern anders verfasst. Denn in ihr verändern die Elemente des<br />

Systems im Verlauf des Prozesses ihre Bedeutung. Dass Wallenstein das nicht versteht,<br />

macht seine Tragik aus, wenn man angesichts dieser Kunstfigur, die im Dienst<br />

historiographischer Grundlagenforschung geschaffen wurde, überhaupt noch von<br />

Tragik reden will.<br />

VII<br />

Und doch fragt man sich am Ende dieses ungeheuren Geschichtsdramas, ob Schiller<br />

uns mit alledem nicht doch zum Besten haben will. Man kennt Schiller nicht als<br />

Ironiker; weniges ist seinem Duktus so fremd wie Ironie. Aber wie anders lässt sich<br />

die Rehabilitierung der Astrologie verstehen, die Schiller gleichzeitig mit ihrer Demontage<br />

anstrengt? Sie beschränkt sich keineswegs auf die für den Gang der<br />

Handlung ganz entbehrliche Szene kurz vor Wallensteins Tod, in der Seni hereinstürmt,<br />

um seinen Herrn – ein letztes Mal und vollkommen vergeblich: Wallenstein<br />

hat mit der Astrologie innerlich abgeschlossen – zu warnen. Er hat ja Recht und die<br />

Sterne haben ihm die bevorstehende Gefahr richtig angezeigt. Noch viel gravierender<br />

erscheint nämlich der Umstand, dass die astrologische Konstellation ganz<br />

grundsätzlich und im Ganzen für den, der sie richtig zu lesen verstanden hätte, die<br />

entscheidende Auskunft über die Geschehenisse bereitgehalten hätte. Die große<br />

Sternenstunde, die glückverheißende Planetenstellung, mit der »Wallensteins Tod«<br />

einsetzt – es hat mit alledem seine Richtigkeit: Nur dass sich nicht auf Wallenstein<br />

bezieht, der süchtig und gehemmt nach ihr fahndet, sondern auf denjenigen, der im<br />

selben Zeichen wie Wallenstein geboren ist, der durch dieses Wunderwerk des<br />

Himmels 36 sein unbegreifliches Vertrauen genießt und sich selbst um die Sterne keinen<br />

Deut schert – Octavio Piccolomini!<br />

WALLENSTEIN. Zudem – ich hab’ sein Horoskop gestellt,<br />

Wir sind geboren unter gleichen Sternen –<br />

Und kurz – (geheimnisvoll)<br />

Es hat damit sein eigenes Bewenden. 37<br />

Octavio ist der Günstling der Stunde, die Konjunktion von Jupiter, Mars und Venus,<br />

von der sich der Feldherr so viel verspricht, bildet den dramatischen Konflikt<br />

der drei Hauptprotagonisten Wallenstein, Max und Octavio genau ab. Wallenstein<br />

irrt bloß in dem Punkt, dass er den Jupiter, das Symbol der Herrschaft, auf sich bezieht.<br />

Wie also? Sollte der astrologische Hokus-Pokus, den Schiller selbst als barock<br />

12


empfand, doch Recht behalten? Ist die chaotische Systemlogik des geschichtlichen<br />

Prozesses letztlich ein Schein, der sich bloß der unzureichenden Erkenntnisfähigkeit<br />

der Menschen verdankt? Folgt Schillers Sicht auf die Geschichte dann doch der Hypothese<br />

der klassischen Physik, dass der Lauf der Welt sich bis zum Ende der Zeiten<br />

vorhersagen ließe, wenn sich Ort und Impuls jedes einzelnen Materieteilchens zu<br />

einem beliebigen Zeitpunkt eindeutig feststellen lassen könnten? Wollte Schiller am<br />

Ende doch auf eine Re-Antikisierung seines modernen Geschichtsdramas hinaus,<br />

worin astrologischer und Orakeltrug diffus zu einer Phantasmagorie tragischen<br />

Sinns zusammenfallen?<br />

Schiller hat an dieser Stelle einen letzten Vorbehalt eingebaut. Er will nach dem<br />

Zusammenbruch der Groß-Illusion der Universalgeschichte zumindest nicht ausgeschlossen<br />

wissen, dass es im Einzelnen wie im Ganzen doch noch so etwas wie eine<br />

Vorsehung geben könnte, auch wenn sie sich in der wirklichen Geschichte, meint<br />

man es ernst mit ihr, niemals nachweisen lassen würde. Erlaubt ist dieser letzte<br />

Vorbehalt aber allein der Kunst:<br />

Denn jedes Äußerste führt sie, die alles<br />

Begrenzt und bindet, zur Natur zurück,<br />

Sie sieht den Menschen in des Lebens Drang<br />

Und wälzt die größere Hälfte seiner Schuld<br />

Den unglückseligen Gestirnen zu. 38<br />

Gleichzeitig will Schiller vorbeugen, dass diese Kunst mit dem Leben verwechselt<br />

werde. Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst, heißt es am Ende des Prologs 39 .<br />

Schiller mutet seinem Publikum die Erkenntnis zu, dass Kunst nicht die Wahrheit<br />

sagt, dass sie, mit anderen Worten, gar nichts anderes kann als einen Sinn vozuspiegeln,<br />

auch wenn die Wirklichkeit diesen nicht hergibt und sich ihr spezifischer<br />

Sinn – hier: die Systemlogik des geschichtlichen Prozesses – den Darstellungsmöglichkeiten<br />

der Kunst partiell entzieht. Das grenzt an Publikumsbeschimpfung, zumindest<br />

in einer Epoche, die dahin neigte, das Leben in der Kunst zu verklären, wie<br />

es Goethes brutale Konjektur des Prologschlusses in heiter sei die Kunst überdeutlich<br />

macht. 40 Bei Schiller stellt Kunst sich moderner dar: als befreit von der Lüge,<br />

Wahrheit zu sein 41 , als spielerische Darstellung eines Sinnes, dessen reale Nichtigkeit<br />

sie allenthalben beweist. Denn das, zweifellos, ist die dramatisch fruchtbare Seite<br />

der Verkoppelung des artistischen Sinn-Anspruchs mit dem Gedanken einer sternenhaften<br />

Vorherbestimmung des Geschehens. Wallenstein, der sich den Sternen<br />

ergibt, vertauscht verblendet Kunst und Leben, Drama und Geschichte. Darin liegt<br />

seine Tragödie, die noch einmal bitterer und frag-würdiger sich darstellt, weil ihm<br />

ironisch sogar recht gegeben wird, ohne dass er irgend etwas davon hätte.<br />

Schiller lässt offen, ob die Vorsehung, auf die seine Kunst das historische Ge-<br />

13


schehen hintergründig projiziert, tieferer Sinn ist oder sich der Komplexitätsreduktion<br />

verdankt, zu der sich jede dramatische Darstellung gezwungen sieht. Auch<br />

darin erscheint die Kunst – in einem transzendentalen, also durchaus schwerwiegendem<br />

Sinn – »heiter«. Sie weigert sich schlicht der Auskunft darüber, ob sie mehr<br />

oder weniger sein will als das Leben und changiert merkwürdig zwischen Oberflächlichkeit<br />

und Tiefe. Das Drama kritisiert den Schein seiner Form und hofft,<br />

durch seine Selbstkritik der Wahrheit näher zu kommen.<br />

Anmerkungen<br />

1 Der erste Autor, der »Wallenstein« als geschichtswissenschaftliche Leistung würdigt, ist<br />

Heinrich Sbrik gewesen (Wallensteins Ende, 1920). Er geht allerdings ein wenig erkenntnistheoretisch<br />

naiv davon aus, dass es Schiller darum zu tun gewesen sein, im Drama das<br />

nachzuliefern, woran er in der »Geschichte des dreißigjährigen Krieges« gescheitert war,<br />

nämlich die Erkenntnis darüber, ›wie es wirklich gewesen war‹. Kritik daran übt Theodor<br />

Schieders »Schiller als Historiker« (1959). Oskar Seidlins »Wallenstein: Sein und Zeit«<br />

(1963) ist der herausragende Text einer Epoche, in der geltend gemacht wurde, dass es in<br />

Schillers Drama nicht bloß darum gehe, eine bestimmte, klar umgrenzte Episode der deutschen<br />

Geschichte zu explizieren, sondern an ihr ein Grundsätzliches über die Geschichte zu<br />

verlautbaren. Ein wichtiger Text, der Schillers theoretische Interessen während der »Wallenstein«-Zeit<br />

berücksichtigt und hierbau vor allem auf den Text »Über das Erhabene«<br />

aufmerksam macht, ist Wolfgang Riedels »Weltgeschichte ein erhabenes Object. Zur Modernität<br />

von Schillers Geschichtsdenken« (2002) dar, das die positiven Aspekte des Geschichtsdenkens<br />

der späten neunziger Jahre andeutet. Vgl außerdem Hofmann (1999), Janz<br />

(2006) und Feger (2006). Aber schon einige Jahre vorher wurde durch den Oldenbourg-<br />

Band von Michael Hofmann und Thomas Edelmann (1989) eine Auffassung quasi schulverbindlich,<br />

die die Modernität der Geschichtskonzeption des »Wallenstein« hervorhebt.<br />

2 Die skeptische Position wird etwa von der Mehrheit der genannten Autoren vertreten. Beispielhaft<br />

für sie ist etwa Hofmann (1999), 242: Als erste Voraussetzung eines angemessenen<br />

Zugangs zu dem Drama ... erweist sich somit die Tatsache, daß dieses einen durchaus<br />

modernen, und das heißt desillusionierten Blick auf den geschichtlichen Prozess bietet.<br />

Schillers Stück zeigt mit auch heute noch bestürzender Eindringlichkeit, daß das historischpolitische<br />

Handeln nicht in der Lage ist, abstrakte Ideen von Fortschritt, Frieden und menschenwürde<br />

zu verwirklichen, daß es vielmehr von strategischem Denken, Machtgier und<br />

Eigennutz beherrscht ist. Später dann wird der Geschichtsprozess einfach als vernunftwidrig<br />

bezeichnet (ebd., 248). Die Geschichtsskepsis stützt sich nicht allein auf den Vers Das<br />

ist das Los des Schönen auf der Erde (Wallensteins Tod, 3180), der dem Tod der Liebenden<br />

einen Resonanzraum in der gesamten Kunst eröffnet, sondern auch auf das dezidiert<br />

geschichts-feindliche Gedicht »Der Antritt des neuen Jahrhunderts«, dessen letzte Strophe<br />

lautet: In des Herzens heilig stille Räume | Mußt du fliehen aus des Lebens Drang, | Freiheit<br />

ist nur in dem Reich der Träume, | Und das Schöne blüht nur im Gesang (Schiller<br />

1966, II 823). Auch Marquard folgt dieser Annahme einer Schillerschen Geschichtsskepsis,<br />

die aus den Erfahrungen der französischen Revolution in Kunst und Natur als einziger<br />

Chance für das Menschliche flüchtete (Marquard 2000, 85). – Zum stoischen Hintergrund<br />

14


von Schillers Tragödientheorie vgl. Kommerell (1941), 386; Riedel (2002), 206; Zelle<br />

(2005), 377. Eine Gewalt dem Begriffe nach zu vernichten, heißt aber nicht anderes als<br />

sich derselben freiwillig zu unterwerfen, heißt es in »Über das Erhabene« (Schiller 1992,<br />

823). Das ist das essential des Stoizismus.<br />

3 Vgl. vor allem Christiaan L. Haart-Nibbrigs herausragende Studie »Die Weltgeschichte ist<br />

das Weltgericht«. Zur Aktualität von Schillers ästhetischer Geschichtsdeutung (1976), bes.<br />

274 ff.<br />

4 Seneca wird von Schiller selbst an einer Stelle (1992, 440), wo es um das schiere Ertragen<br />

des Leidens geht, angeführt. Zu den Beziehungen zwischen Schiller und Brecht vgl. Heise<br />

(1988), 150; vgl. außerdem Haart-Nibbrig (1976), 276.<br />

5 Vgl. des näheren Blumenberg (1957); <strong>Ette</strong> (2003).<br />

6 An erster Stelle sicherlich auf das Paradestück des Aristoteles: den »König Ödipus«. Aber<br />

auch »Iphigenie in Tauris« empfiehlt sich seiner Wertschätzung durch ihre Geschlossenheit.<br />

Schon, wo zwei gleichberechtigte (oder zumindest gleich starke) Protagonisten gegeneinander<br />

stehen, wie in der »Antigone«, verschiebt sich das Bild, und ein Gebilde wie die »Orestie«,<br />

in der mehrere Handlungssysteme durcheinander wirken, lässt sich mit dem teleologischen<br />

Modell der »Poetik« gar nicht mehr übereinbringen. Nicht umsonst findet Aischylos<br />

lediglich als Erfinder des zweiten Schauspielers Erwähnung. Die griechische Tragödie ist<br />

moderner als das, was die »Poetik« aus ihr gemacht hat. Für Schiller ist aber gerade während<br />

der Arbeit am »Wallenstein« Aristoteles eine Autorität gewesen, auf die er immer<br />

wieder zurückkam. Vgl. hierzu Reinhardt (1976).<br />

7 Die frühen Rezensionen des Stücks bemerken vor allen Dingen den Bruch mit der Aristotelischen<br />

Einheitsdoktrin. So etwa Merkel (1801), 916: Wallensteins Sturz hatte man ja versprochen,<br />

uns in einem Drama, das heißt in einer anziehenden Handlung darzustellen,<br />

warum hält man uns dann bei diesen ganz fremdartigen Dingen ... auf, heißt es in einer der<br />

ersten Rezensionen des Stücks mit deutlichem Bezug auf die Aristotelische Einheitsdoktrin.<br />

Hinzu komme die schiere Länge des Stücks, die es verwehre, es als Einheit zu rezipieren<br />

(Brandes 1800, 905; vgl. Aristoteles, Poetik 1451 a 3 ff.). Auch Tieck (1823, 961, 972) findet<br />

die Handlung zu komplex und ›episch‹, was Goethe wiederum zu der Bemerkung veranlaßt,<br />

die Tatsache, dass das Stück bei aller Vollkommenheit doch in sich ungleich sei und<br />

deshalb dem Kritiker hie und da nicht genug thut mit dem Hinweise auf Schillers langsam<br />

tödtende Krankheit zu entschuldigen (Goethe 1826, 977 f.).<br />

8 Hegel (1800/01), 912.<br />

9 Nichts anderes ist der Kern von Adornos Hegelkritik. Angesichts mag man es einmal mehr<br />

bedauern, dass der Autor von »Ist die Kunst heiter?« (Adorno 1967), sich gegenüber Schiller,<br />

mit dem ihm in aestheticis außerordentlich viel verbindet, in aller Regel grob verständnislos,<br />

ja ungerecht verhält. Vgl dazu des näheren Welsch (1989), Pillau (2004), 528 ff..<br />

10 Luhmann (1984), 310 f., unter Berufung auf Maturana (1982).<br />

11 Den einzigen, wenn auch kursorischen, Hinweis auf die systemtheoretische Diskussion habe<br />

ich bei Haart-Nibbrig gefunden (1976, 256).<br />

12 Schiller, Die Piccolomini, 1321–26.<br />

13 Ebd., 1329–34, 1362–68.<br />

14 Ebd., 2621–31.<br />

15 Ebd., 962.<br />

16 Ebd., 937–48.<br />

17 Ebd., 963.<br />

18 Ebd., 928–934.<br />

19 Wallensteins Tod, 2404–9.<br />

15


20 Ebd., 466–69.<br />

21 Ebd., 544–48.<br />

22 Ein Ausdruck, der in Diskussionen über Bessons »Ödipus«-Inszenierung von 1967 mehrfach<br />

verwendet wurde: Müller (1969), 146.<br />

23 Da der Hauptcharakter eigentlich retardierend ist, so tun die Umstände eigentlich alles zur<br />

Krise, schrieb Schiller am 2.10.1797 an Goethe. Das Zögern erzeugt ein charakterliches<br />

Vakuum, Wallenstein erscheint als Mann ohne Eigenschaften.<br />

24 Aristoteles, Poetik, Kap. 7. Das natürlicherweise ist Fuhrmanns Übersetzung der Verbalkonstruktion<br />

pephyken einai (Vgl. Aristoteles 1982, 24 f.; 1450 b 28 f.). Das Wort selbst<br />

weist also bereits auf die Prozesse hin, die kata physin ablaufen, und die in der »Physik«<br />

analysiert werden (dazu <strong>Ette</strong> 2003, 13–27).<br />

25 Der Ansatz von Diltheys Wallenstein-Essay geht in diese Richtung, wenn es heißt: Gäbe es<br />

eine Abbildung der historischen Wirklichkeit in sicheren historischen Erkenntnissen, so wäre<br />

für die historische Dichtung kein Platz ... Hieraus ergibt sich daß die Persönlichkeiten<br />

und ihre Beziehungen zueinander immer nur in subjektiver Beleuchtung gesehen werden<br />

können(Dilthey 1895, 74). Später heißt es: Das Drama ist nicht nur philosophischer als die<br />

Philosophie, sondern auch historischer als die Geschichte (ebd., 102). In der Interpretation<br />

des Schillerschen Dramas fällt er allerdings dahinter zurück und betreibt, der Maxime der<br />

Einfühlung getreu, eine Verwesentlichung historischer Erkenntnis durch die Kunst. Das<br />

Drama, und allein das Drama, vermag zu sagen, wie es wirklich war.<br />

26 Vgl. Silz (1963).<br />

27 Prolog zum »Wallenstein«, 118.<br />

28 Müller (1985), 105.<br />

29 Wallensteins Charakter hat sich in der Armee objektiviert, heißt es bei Dilthey (1895, 95).<br />

30 Am umfassendsten berichtet darüber Borchmeyer (1988).<br />

31 Vgl. Briggs / Peat (1990)<br />

32 Dazu Lovejoy (1936).<br />

33 Schiller, Die Piccolomini, 976–81.<br />

34 Ebd., 986–92.<br />

35 Vgl. hierzu Garin (1983).<br />

36 Schiller, Die Piccolomini, 2626.<br />

37 Ebd., 888-90.<br />

38 Schiller, Wallenstein: Prolog, 106–110.<br />

39 Ebd., 138.<br />

40 in: Schiller (2005), 298. So muss man, meine ich, Heiner Müllers Diktum erklären: Der<br />

Prolog ist eine Publikumsbeschimpfung (Müller 1985, 103).<br />

41 Adorno (1951), 253<br />

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