Wolfram Ette
Wolfram Ette
Wolfram Ette
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
lichen), und auf der andern Seite Brecht, der uns anmutet, durch die kritische Analyse<br />
des tragischen Geschehens dahin gebracht zu werden, etwas daraus zu lernen<br />
und nicht dieselben Fehler wie die dramatischen Helden zu begehen. 4<br />
Ich möchte in diesem Text versuchen, für den »Wallenstein« in dieser Frage zu<br />
einer Entscheidung zu finden. Dabei will ich mich so weit wie möglich an den Text<br />
des Dramas halten. Externe Zeugnisse – vor allem die Briefe und theoretischen<br />
Schriften – können angesichts der Auseinandersetzung mit dem dramatischen Gebilde<br />
nur Hilfsmittel zweiten Ranges sein. Es ist ja nicht gesagt, dass Schillers Verhältnis<br />
zur Geschichte, seinem großen und, wie es nicht anders sein kann, hochproblematischen<br />
Lebensthema, in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre ganz konsistent<br />
war. Und es gibt Grund zu der Annahme, dass kein anderes Zeugnis es an<br />
Komplexität und Tiefe der Einsicht es mit dem dramatischen Hauptwerk dieser Zeit<br />
aufnehmen kann.<br />
II<br />
Was ist eine Handlung? Eine Handlung besteht aus einem Subjekt, aus dem Zweck,<br />
den dieses Subjekt sich setzt und aus den Mitteln, die es Verwirklichung seines<br />
Zwecks bemüht. Idealtypisch ist dieses Subjekt eine Person, und Prozess der Verwirklichung<br />
des Zwecks läuft störungsfrei ab.<br />
Diesem Schema folgt im Großen und Ganzen auch die antike Tragödie – zumindest<br />
ist dies das Bild, das Aristoteles vom tragischen mythos entwirft. Auch<br />
wenn Religion in der »Poetik« keine Rolle spielt: Der mythos ist gedacht in Analogie<br />
zum menschlichen Zweckhandeln, mithin teleologisch. Blumenberg hat gezeigt,<br />
dass die Antike jegliches Tun als Reproduktion einer vorgeordneten Prozesses begreift.<br />
Wer handelt, ist mimetisch tätig, er ahmt ein quasi naturhaft vorgegebenen<br />
Urbild nach. Tragödien entstehen dann, wenn diese mimesis fehlschlägt, wenn also<br />
der Mensch sich eigene, scheinhafte Zwecke vornimmt, die mit dem primordialen<br />
Naturzweck nicht übereinstimmen. 5<br />
In seiner Reinform trifft dieses Schema sicherliche nur auf wenige attische Tragödien<br />
zu. 6 Dennoch ist es (und der damit verbundene Schicksalsbegriff, der das<br />
tragische Geschehen einem transzendenten Handlungssubjekt unterstellt) hilfreich,<br />
um den point du départ zu bezeichnen, von dem sich Schiller abstößt. Das Drama<br />
nämlich, dem es um die Darstellung von Geschichte geht, hat es nicht mehr mit einer<br />
Handlung in dem oben genannten Sinn zu tun, sondern mit mehreren gegeneinander<br />
wirkenden und sich überkreuzenden Handlungen. Wenn hier also etwas<br />
»handelt«, dann ist es kein Subjekt, sondern ein System. 7<br />
Das Prozessdenken der Moderne (also seit ca. 1800) bewegt sich aber genau<br />
um diese Frage, nach welcher Logik ein System prozessiert. Weder die Teleologie<br />
2