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POLEN und wir - April 2015

Zeitschrift für deutsch-polnische verständigung

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Nr. 2/<strong>2015</strong> (111) - K 6045 - 3 EURO<br />

ZEITSCHRIFT FÜR DEUTSCH-POLNISCHE VERSTÄNDIGUNG<br />

70 Zwischen Jahre Befreiung Angst <strong>und</strong> Auschwitz Größenwahn S. S. 3<br />

Zum Ein irrwitziges Wahljahr in Strohfeuer Polen S.11<br />

5<br />

<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />

1


EDITORIAL<br />

Liebe Leserinnen <strong>und</strong> Leser,<br />

Das Jahr der Gedenktage hatten <strong>wir</strong> schon im Januar eingeläutet. Einer dieser Termine<br />

betrifft uns selbst unmittelbar. In diesem Jahr <strong>wir</strong>d unsere Deutsch-Polnische Gesellschaft<br />

65 Jahre alt. Eigentlich lag der Anfang noch zwei weitere Jahre zurück, aber die 1948<br />

in Berlin gegründete Hellmut-von-Gerlach-Gesellschaft wurde mit der Gründung zweier<br />

deutscher Staaten 1949 konfrontiert <strong>und</strong> so wurde 1950 in Düsseldorf die Gesellschaft<br />

für die neue B<strong>und</strong>esrepublik neu ins Leben gerufen. Die erste Gründung, jetzt in der<br />

DDR beheimatet, existierte nur bis 1953, aber ihre Mitglieder blieben dem Gedanken der<br />

Verständigung mit Polen in anderen Organisationen treu. Die westdeutsche Organisation<br />

existierte weiter, bekam in den 90er Jahren Zuwachs im Osten. Jetzt können <strong>wir</strong> auf viele<br />

aktive Jahre zurückblicken. Aber zur Ruhe setzen wollen <strong>wir</strong> uns trotz des „Rentenalters“<br />

nicht. Denn unsere Aufgaben sind so vielfältig wie jeher. Das Jubiläum jedenfalls wollen<br />

<strong>wir</strong> mit unserer Hauptveranstaltung feiern. Zu der Matineeveranstaltung am 5. Juli (siehe<br />

letzte Seite) können Sie gerne Gäste einladen. Auch sie sollen uns <strong>und</strong> unsere Arbeit<br />

kennenlernen.<br />

Ihre Redaktion<br />

In dieser Ausgabe lesen Sie:<br />

Seite 3 Nach der Wahl ist vor der Wahl<br />

Eine Analyse der Kommunalwahl von Holger Politt<br />

Seite 4 „Wir jungen Menschen können uns<br />

ein Schweigen nicht leisten“<br />

Seite 5 „Eure Generation muss ihre Strecke<br />

der Staffel selbst durchlaufen“<br />

Seite 6 „Ich lernte die Geschichte kennen,<br />

um sie weiter zu tragen.“<br />

Seite 7 Die Seele der Dinge - Éva Fahidi<br />

Seite 8 Ein Sieg der Würde des Menschen<br />

Seite 10 Der Tod hat nicht das letzte Wort<br />

Seite 11 Eigentlich herrscht Ruhe - Zum Wahljahr in Polen<br />

Seite 12 Erfolge <strong>und</strong> Probleme - KZ Sonnenburg/Słonsk<br />

Seite 15 Gern leben <strong>und</strong> eine Aufgabe haben - Feliks Tych †<br />

Seite 16 8. Mai - Tag der Befreiung<br />

Seite 19 Wir Unsichtbaren - Geschichte der Polen in Deutschland<br />

Seite 20 Basiswissen über den II. Weltkrieg<br />

Seite 21 Ukraine am Rande des Abgr<strong>und</strong>s<br />

Seite 24 Leben im deutschen Speckgürtel von Stettin<br />

Seite 25 Europäische Geschichte aus neuen Blickwinkeln<br />

Unser Titelbild zeigt die Rampe in Auschwitz-Birkenau. Siehe hierzu unsere<br />

Berichterstattung von Seite 3 bis 8.<br />

Bescheinigung für das Finanzamt bei Zuwendungen bis 200,00 Euro:<br />

Diese Bescheinigung gilt in Verbindung mit einem Kontoauszug oder einem Bareinzahlungsbeleg<br />

der Bank für Ihre Zuwendungen (Spenden <strong>und</strong> Mitgliedsbeiträge).<br />

Wir sind wegen der Förderung internationaler Gesinnung, der Toleranz auf allen Gebieten der<br />

Kultur <strong>und</strong> des Völkerverständigungsgedankens nach dem letzten uns zugegangenen Freistellungsbescheid<br />

für 2012 zur Körperschaftsteuer vom 23.5.2014 vom Finanzamt Düsseldorf-Mitte<br />

St-Nr. 133/5906/0194 gemäß $5 Absatz 1 Nr. 9 KStG von der Körperschaftsteuer befreit.<br />

Es <strong>wir</strong>d bestätigt, dass die Zuwendung nur zur Förderung internationaler Gesinnung, der Toleranz<br />

auf allen Gebieten der Kultur <strong>und</strong> des Völkerverständigungsgedankens gemäß §52 Absatz 2 Satz<br />

1 Nr. 13 AO verwendet <strong>wir</strong>d.<br />

Deutsch-Polnische Gesellschaft der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland e.V., c/o Manfred Feustel, Im Freihof 3, 46569 Hünxe<br />

DEUTSCH-POLNISCHE GESELLSCHAFT DER<br />

BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND E.V.<br />

1. Vorsitzender: Prof. Dr. Christoph Koch,<br />

Sprachwissenschaftler, Berlin<br />

Stellv. Vorsitzender: Dr. Friedrich Leidinger,<br />

Psychiater, Hürth<br />

Vorstand: Henryk Dechnik, Lehrer, Düsseldorf<br />

- Manfred Feustel, Steuerberater, Hünxe - Karl<br />

Forster, Journalist, Berlin - Dr. Klaus-Ulrich<br />

Goettner, Berlin - Dr. Egon Knapp, Arzt, Schwetzingen<br />

- Dr. Holger Politt, Gesellschaftswissenschaftler,<br />

Warschau - Wulf Schade, Slawist, Bochum<br />

- Horst Teubert, Journalist, London.<br />

Beirat: Armin Clauss - Horst Eisel † - Prof. Dr.<br />

sc. Heinrich Fink - Prof. Dr. Gerhard Fischer † -<br />

Dr. Franz von Hammerstein † - Christoph Heubner<br />

- Witold Kaminski - Dr. Piotr Łysakowski -<br />

Hans-Richard Nevermann - Eckart Spoo.<br />

Anschrift: Deutsch-Polnische Gesellschaft der<br />

B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland e.V., c/o Manfred<br />

Feustel, Im Freihof 3, 46569 Hünxe, Tel.:<br />

02858-7137, Fax: 02858-7945<br />

IMPRESSUM:<br />

Zeitschrift für deutsch-polnische Verständigung<br />

ISSN 0930-4584 - K 6045<br />

Heft 2/<strong>2015</strong>, 32. Jahrgang (Nr. 111)<br />

Verlag u. Herausgeber: Deutsch-Polnische Gesellschaft<br />

der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland e.V.<br />

Redaktion <strong>und</strong> Layout: Karl Forster<br />

Redaktionelle Mitarbeit: Ulrike Höck, Susanne<br />

Kramer-Drużycka, Wulf Schade.<br />

Redaktionsbüro: <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong><br />

Karl Forster, Neue Grottkauer Str. 38,<br />

12619 Berlin, Tel.: 030-89370650<br />

e-Mail: redaktion.puw@polen-news.de<br />

Druck: SPPrint Consult, Berlin<br />

Aboverwaltung: Manfred Feustel, Im Freihof 3,<br />

46569 Hünxe, Fax: 02858-7945<br />

Bezugspreis: Einzelheft 3,00 €, Jahres-Abonnement<br />

12,00 € inkl. Versand, Ausland: 10,00 €<br />

zuzügl. Versandkosten, Mitglieder der Deutsch-<br />

Polnischen Gesellschaft der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland e.V. erhalten <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> im<br />

Rahmen ihrer Mitgliedschaft.<br />

Kontoverbindung: Konto Postbank Essen<br />

IBAN: DE88360100430034256430<br />

BIC: PBNKDEFF<br />

Namentlich gekennzeichnete Beiträge stimmen<br />

nicht immer mit der Meinung der Redaktion<br />

oder der Herausgeberin überein. Für unverlangt<br />

eingesandte Manuskripte oder Fotos <strong>wir</strong>d keine<br />

Haftung übernommen.<br />

Erscheinungstermin: 1. <strong>April</strong> <strong>2015</strong><br />

Erscheinungstag der nächsten Ausgabe:<br />

Mittwoch, 1. Juli <strong>2015</strong><br />

Redaktionsschluss: 15. Mai 2014<br />

2 <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong>


GEDENKEN<br />

Feierliche Gedenkveranstaltung in Auschwitz, erstmals in einem großen Zelt über dem Eingangstor zum Vernichtungslager Birkenau. R<strong>und</strong> 300 Überlebende<br />

<strong>und</strong> Gäste aus zahlreichen Ländern.<br />

Foto; privat<br />

Gedenkfeier in Auschwitz-Birkenau<br />

70 Jahre nach der Befreiung<br />

Der Vertreter des Landes der Befreier fehlte<br />

Von Christoph Heubner<br />

Mehr als 300 Überlebende waren am 27.<br />

Januar anlässlich des 70. Jahrestages ihrer<br />

Befreiung noch einmal in Auschwitz zusammengekommen:<br />

Ihre Erinnerungen <strong>und</strong> ihr<br />

Beitrag zum Aufbau einer Welt der Vielfalt<br />

<strong>und</strong> der Toleranz sollten im Mittelpunkt der<br />

Gedenkveranstaltung stehen.<br />

Halina Birenbaum aus Israel, Kazimierz<br />

Albin aus Polen <strong>und</strong> der Präsident des Internationalen<br />

Auschwitz Komitees Roman<br />

Kent aus New York beschrieben in ihren<br />

Reden teils emotional aufrührend, teils<br />

sachlich verstörend, was mit ihnen <strong>und</strong> um<br />

sie herum in Auschwitz <strong>und</strong> in Birkenau geschehen<br />

war <strong>und</strong> wofür sie ihr Leben lang<br />

Zeugen bleiben werden.<br />

Sie beschrieben aber auch die Verstörungen<br />

<strong>und</strong> die Bitternis der Überlebenden<br />

angesichts heutiger Wellen von Antisemitismus,<br />

Ablehnung von Flüchtlingen, Hass<br />

gegen Roma <strong>und</strong> Sinti <strong>und</strong> f<strong>und</strong>amentalistischem<br />

Terror.<br />

Und dennoch bewegte gerade an diesem<br />

Tag nicht nur die Rednerin <strong>und</strong> die Redner<br />

die Präsenz der zahlreichen jungen<br />

Menschen, die als Gäste der Gedenkstätte<br />

<strong>und</strong> der Internationalen Jugendbegegnungsstätte<br />

an der Gedenkzeremonie teilnahmen.<br />

So hatten am Tag zuvor in Berlin<br />

Jugendliche aus Polen, Israel <strong>und</strong> Deutschland<br />

bei der Gedenkveranstaltung des Internationalen<br />

Auschwitz Komitees in Anwesenheit<br />

der B<strong>und</strong>eskanzlerin über ihre<br />

Begegnungen mit Überlebenden <strong>und</strong> ihre<br />

Erfahrungen bei Aufenthalten in der Ge-<br />

Wo blieb Putin?<br />

Ein Kommentar von Karl Forster<br />

Dass ausgerechnet B<strong>und</strong>espräsident<br />

Gauck die Ansprache im Deutschen B<strong>und</strong>estag<br />

zum 70. Jahrestag der Befreiung halten<br />

sollte, sorgte schon im Vorfeld für Kritik.<br />

Doch Gauck sprach einen bedeutungsvollen<br />

Satz: „Die Vernichtungslager im Osten wurden<br />

von den Sowjetsoldaten befreit. Vor ihnen,<br />

die allein bei der Befreiung von Auschwitz<br />

231 Kameraden verloren, verneigen <strong>wir</strong><br />

uns auch heute in Respekt <strong>und</strong> Dankbarkeit“.<br />

Aus allen Fraktionen gab es für dieses<br />

Signal Applaus. Ein Signal das nach Russland<br />

ging. Nicht nur dort war mit Befremden<br />

festgestellt worden, dass der Präsident des<br />

Landes der Befreier nicht an den Befreiungsfeierlichkeiten<br />

teilnehmen würde. Zehn<br />

Jahre zuvor hatte Putin in Auschwitz nicht<br />

nur teilgenommen <strong>und</strong> sogar gesprochen.<br />

Am Rande wurden auch eifrig Kontakte der<br />

Politiker geknüpft.<br />

Die Gerüchteküche brodelte. Aus Moskau<br />

hieß es, Putin käme nicht, weil er bewusst<br />

nicht eingeladen worden sei. Christoph<br />

Heubner, IAK-Vizepräsident <strong>und</strong> Mitglied<br />

des Internationalen Auschwitz Rates stellte<br />

klar: „Kein Staats- oder Regierungschef wurde<br />

eingeladen. Wir haben schon vor Monadenkstätte<br />

Auschwitz berichtet (Siehe unsere<br />

Berichterstattung auf den Seiten 4-7).<br />

Im Anschluss an die Berliner Veranstaltung<br />

war Marian Turski als Auschwitz-Überlebender<br />

vom Präsidenten des Deutschen<br />

B<strong>und</strong>estages eingeladen worden mit ihm<br />

<strong>und</strong> dem B<strong>und</strong>espräsidenten mit Jugendlichen<br />

im Reichstag zu diskutieren: „Wir<br />

übergeben Euch unsere Erinnerungen <strong>und</strong><br />

unsere Erfahrungen, betonte Turski gegenüber<br />

den Jugendlichen aus Deutschland,<br />

Polen <strong>und</strong> Frankreich, „ihr müsst jetzt den<br />

Staffelstab übernehmen.“ <br />

ten beschlossen, dass die Überlebenden im<br />

Mittelpunkt stehen sollen, nicht Politiker.“<br />

Dies war, so Beobachter, auch eine Reaktion<br />

auf die Kritik in früheren Jahren, Polen<br />

würde die Veranstaltung politisch instrumentalisieren.<br />

Die Gedenkstätte Auschwitz<br />

habe auf Empfehlung des Auschwitz-Rates<br />

hin „bei allen Botschaften in Warschau angefragt,<br />

ob das entsprechende Land teilnehmen<br />

möchte <strong>und</strong> wenn ja, auf welcher<br />

Ebene“, sagte Heubner. Die polnische Regierung<br />

habe die Anfragen fre<strong>und</strong>licherweise<br />

an die Botschaften übermittelt, „mehr<br />

nicht“.<br />

Putins Sprecher bestätigte, dass keine<br />

persönliche Einladung an den Präsidenten<br />

eingegangen sei, betonte aber: Dies sei allerdings<br />

offenbar in diesem Zusammenhang<br />

ohnehin nicht üblich.<br />

Dass polnische Politiker ein Erscheinen<br />

Putins nicht wünschten, ist unumstritten.<br />

Dass sich der polnische Außenminister gar<br />

in Erklärungen verstieg, nicht russische Soldaten,<br />

sondern ukrainische Kämpfer hätten<br />

Auschwitz befreit, ist nicht nur falsch, sondern<br />

gefährlich dumm. Dennoch muss man<br />

sich fragen, warum Putin nicht gerade deshalb<br />

nach Auschwitz gekommen ist. Er hätte<br />

damit die ehemaligen Häftlinge wie die<br />

sowjetischen Soldaten ehren können <strong>und</strong><br />

müssen.<br />

<br />

<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />

3


GEDENKEN<br />

70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz<br />

„Wir jungen Menschen können uns<br />

ein Schweigen nicht leisten“<br />

Am Vortag der Veranstaltung in Polen<br />

gedachten in einer feierlichen Gedenkveranstaltung<br />

am 26. Januar <strong>2015</strong> in<br />

der Berliner Urania Marian Turski <strong>und</strong><br />

Éva Fahidi, Überlebende des Vernichtungslagers<br />

Auschwitz, Jugendliche,<br />

die in Auschwitz zum Erhalt der Gedenkstätte<br />

gearbeitet hatten, <strong>und</strong> B<strong>und</strong>eskanzlerin<br />

Angela Merkel sowie etwa<br />

800 Gäste den Opfern der NS-Vernichtungsmaschinerie.<br />

„Aus Erinnerung erwächst also ein Auftrag“,<br />

sagte B<strong>und</strong>eskanzlerin Angela Merkel<br />

in ihrer Rede. Sie fuhr fort: „Verbrechen<br />

an der Menschheit verjähren nicht. Wir<br />

haben die immerwährende Verantwortung,<br />

das Wissen über die Gräueltaten von<br />

damals weiterzugeben <strong>und</strong> das Erinnern<br />

wachzuhalten.“<br />

Zuvor hatte die Auschwitz-Überlebende<br />

Éva Fahidi gesagt: „Im Namen fast aller<br />

Zeitzeugen kann ich sagen: Heute hassen<br />

<strong>wir</strong> niemanden mehr! Wir wissen, wie der<br />

Hass die menschliche Seele zerstört. Wir<br />

wollen nicht mehr hassen, <strong>wir</strong> lassen uns<br />

nicht demoralisieren, <strong>wir</strong> stehen weit darüber.<br />

Das ist unser trauriger Trost. […] In<br />

unseren Herzen dominiert der Schmerz,<br />

auch nach 70 Jahren. Uns selbst ist der<br />

Tod schon nahe <strong>und</strong> <strong>wir</strong> können immer<br />

noch den unwürdigen Tod unserer Vorgänger<br />

nicht vergessen. Die unnatürliche <strong>und</strong><br />

unmenschliche Weise, wie es geschah.“<br />

Und weiter: „Weil ich eine Zeugin bin, weil<br />

ich mir alles, was geschah, gut gemerkt<br />

habe, weil ich die Erinnerung an meine Erlebnisse<br />

der ganzen Welt übergeben muss.<br />

Nach einem Schweigen von fast sechzig<br />

Jahren ist es mein Lebensziel geworden,<br />

die Erinnerung an Auschwitz-Birkenau<br />

nicht auslöschen zu lassen. Für die Zeit,<br />

die noch übrig bleibt, ist es eine würdige<br />

Aufgabe.“<br />

Éva Fahidi schloss mit den Worten: „All<br />

denen, die im Sumpf von Auschwitz-Birkenau<br />

ruhen, den Juden, den Sinti <strong>und</strong><br />

Roma, den Polen, den Russen, den Frauen<br />

<strong>und</strong> Männern des Widerstandes aus allen<br />

Ländern Europas, allen, die kein würdiges<br />

Begräbnis hatten, die nicht von weinenden<br />

Familienmitgliedern zum Grab begleitet<br />

wurden, weil es kein Grab gibt, ihnen sei<br />

hier das letzte Wort gesprochen: Heute,<br />

nach siebzig Jahren, wendet sich die ganze<br />

Welt mit Scham <strong>und</strong> Mitleid zu Euch!“<br />

Alexandra Waluch, Schülerin der Technischen<br />

Berufsschule „Franciszek Kepka“ in<br />

Bielsko-Biala, Polen, hatte letztes Jahr im<br />

Rahmen eines Projekts des IAK mit polnischen<br />

<strong>und</strong> deutschen Auszubildenden in<br />

der Gedenkstätte Auschwitz gearbeitet.<br />

Sie sagte: „Ich lernte die Geschichte kennen,<br />

um sie weiter zu tragen. Um die Tragödie<br />

der Juden, der Roma, der Polen, der sowjetischen<br />

Kriegsgefangenen <strong>und</strong> anderer<br />

Nationen zu zeigen, deren Schicksale sich<br />

an dieser Stelle getroffen haben. Um aus<br />

den Fehlern der Vergangenheit zu lernen.<br />

Zahlreiche Ehrengäste, darunter B<strong>und</strong>eskanzlerin Angela Merkel <strong>und</strong> Brandenburgs Ministerpräsident<br />

Woidke kamen zu Ehren der Häftlinge von Auschwitz in die Berliner Urania. Fotos: Boris Buchholz/IAK<br />

Christoph Heubner, Vize-Präsident des Internationalen<br />

Auschwitz-Komitees <strong>und</strong> Mitglied im<br />

Auschwitz-Rat führte durch die Veranstaltung.<br />

Um die Geschichte vor der Vergessenheit<br />

zu bewahren <strong>und</strong> die Menschen darauf<br />

aufmerksam zu machen, dass auch heute<br />

an verschiedenen Orten in der Welt Orte<br />

des Entsetzens entstehen. Über viele dieser<br />

Orte <strong>wir</strong>d viel zu leise <strong>und</strong> viel zu wenig<br />

gesprochen. Wir, die jungen Menschen, <strong>wir</strong><br />

können uns ein Schweigen nicht leisten.“<br />

„Ich versuche mich daran zu erinnern,<br />

was mein Großvater mir über das Menschsein<br />

erzählt hat“, berichtete der israelische<br />

Pädagoge Joshua Weiner. „Ich denke, dass<br />

er <strong>und</strong> seine Geschwister von mir erwartet<br />

hätten, aufzustehen, <strong>und</strong> ein stolzer Jude<br />

zu sein, ein stolzer Israeli, aber vor allem<br />

ein Mensch zu sein, der die Verantwortung<br />

der Erinnerung an die Vergangenheit trägt,<br />

<strong>und</strong> ganz in der Gegenwart lebt.“<br />

Auch die VW-Auszubildenden Sarah Nonnenmacher<br />

war in Auschwitz gewesen <strong>und</strong><br />

hatte mit Alexandra Waluch für den Erhalt<br />

der Gedenkstätte gearbeitet. Sie sagte in<br />

ihrer Rede in der Berliner Urania: „Einige<br />

von uns haben den Stacheldraht in Birkenau<br />

erneuert, der erhalten <strong>wir</strong>d, damit die<br />

Menschen aus vielen Ländern verstehen,<br />

um was für einen Ort es sich handelt: Hier<br />

waren Menschen eingesperrt, hier wurde<br />

gequält <strong>und</strong> gemordet, hier wurde geweint<br />

<strong>und</strong> geschrien, hier war der dunkelste Ort,<br />

den ich bisher in meinem Leben gesehen<br />

habe.“<br />

<br />

4 <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong>


GEDENKEN<br />

70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz<br />

„Eure Generation muss ihre Strecke<br />

der Staffel selbst durchlaufen“<br />

Von Marian Turski<br />

Marian Turski, polnischer Journalist jüdischer Abstammung ist Vorsitzender des<br />

Jüdischen Historischen Instituts in Warschau, Mitglied im Internationalen Auschwitz-Rat<br />

<strong>und</strong> des Rates des Hauses der Wannseekonferenz <strong>und</strong> Vorsitzender des<br />

Rates des neuen Warschauer Museums der Geschichte der polnischen Juden. Bei<br />

der Gedenkfeier in der Berliner Urania hielt er eine bemerkenswerte Rede die <strong>wir</strong><br />

nach der Filmaufzeichnung dokumentieren.<br />

Ich möchte Ihnen von einer Begegnung<br />

erzählen, die ich vor sechs Jahren in Dachau<br />

hatte.<br />

Es wurde damals eine neue Ausstellung<br />

in der Gedenkstätte Dachau eröffnet. Auch<br />

ich wurde eingeladen. Ich kam also dort<br />

an, ließ mein Köfferchen in der Garderobe,<br />

die von jungen freiwilligen Praktikanten betreut<br />

wurde. Als die Feierlichkeiten vorüber<br />

waren, ging ich zur Garderobe, mein Köfferchen<br />

abzuholen. Ich fragte eine Praktikantin,<br />

welche Verkehrsmittel ich nach<br />

München nehmen kann, weil dort meine<br />

Fre<strong>und</strong>e wohnen. Sie hat mir gesagt, – die<br />

Praktikantin war etwa 25 Jahre alt – dass<br />

sie dort wohne <strong>und</strong> mich gerne vorbeifahre.<br />

Natürlich, ich sagte ja. Ich nehme meinen<br />

Koffer. Sie sagte, - sie sieht einen älteren<br />

Herren - dass sie meinen Koffer gerne<br />

zum Wagen tragen würde. Da sage ich zu<br />

ihr: omnia mea mecum porto. Was heißt<br />

das? Alles was mir gehört, trage ich bei<br />

mir. („All meinen Besitz trage ich bei mir“<br />

ist ein von Cicero dem griechischen Philosophen<br />

Bias von Priene zugeschriebener<br />

Ausspruch. Anm. d. Redaktion)<br />

Der Weg von Dachau nach München ist<br />

etwa 50 Minuten. Nach fünf Minuten Fahrzeit<br />

sagt die junge Frau – später erfuhr ich,<br />

dass sie Heidi heißt – man hat Sie hier in<br />

Dachau wie eine wichtige Person behandelt.<br />

Könnte ich erfahren, weshalb? Ich<br />

antwortete: Wohl aus dem Gr<strong>und</strong>, dass ich<br />

zwei Universitäten abgeschlossen habe,<br />

erst Auschwitz, dann Buchenwald. Sie<br />

verstummte, dachte nach, <strong>und</strong> sagte nach<br />

einer Weile zu mir: Würden Sie mir etwas<br />

über den Alltag in Auschwitz erzählen? Ich<br />

muss zugeben, dass ich dies nicht gerne<br />

tue. Aber die junge Frau ist so nett, so höflich,<br />

so fre<strong>und</strong>lich. Also versuche ich, einige<br />

Szenen aus Auschwitz zu erzählen. Über<br />

das Grauen, die Erniedrigung, <strong>und</strong> Szenen<br />

über die Größe des menschlichen Geistes,<br />

Aufopferung <strong>und</strong> Solidarität zwischen den<br />

Menschen, was auch mich betroffen hat.<br />

Wir halten am Haus, wo meine Fre<strong>und</strong>e<br />

wohnen. Sie zu mir: darf ich Sie küssen?<br />

Welcher ältere Mann entsagt schon dem<br />

Kuss eines jungen Mädchens. Und sie:<br />

Ich habe dank Ihnen viel über diese Zeit<br />

erfahren. Und ich sagte damals zu ihr -ja,<br />

ich denke, das war ein bisschen brutal: Sagen<br />

Sie mir, haben Sie jemals ihre Eltern<br />

nach der damaligen Zeit gefragt? Und sie:<br />

Nein, niemals, mir fehlte der Mut dazu. Wir<br />

verabschiedeten uns, ich ging ins Haus, sie<br />

fuhr weiter.<br />

Nach einigen Tagen erhalte ich einen<br />

Brief von ihr. Ich weiß schon, dass sie Heidi<br />

heißt. Erlauben Sie mir, dass ich ihren<br />

Nachnamen nicht erwähne, da ich nicht<br />

weiß, ob sie damit einverstanden wäre.<br />

Meinen Nachnamen hat sie ergoogelt, <strong>und</strong><br />

die Warschauer Adresse gef<strong>und</strong>en.<br />

Der Brief ist lang, ich habe ihn dabei, ich<br />

werde nur die Quintessenz wiedergeben.<br />

Sie entschuldigt sich bei mir, dass sie – wie<br />

sie schreibt – so unverschämt war, einem<br />

wildfremden Menschen Fragen gestellt zu<br />

haben, die sie sich in ihrer engsten Familie<br />

nie getraut hatte zu stellen. Dass sie mir<br />

unendlich dankbar für meine Bekenntnisse<br />

sei. Dass sie sich immer für diese grausamen<br />

Zeiten interessiert, sie viel darüber<br />

gelesen hatte.<br />

Aber – entschuldigen Sie wenn ich mich<br />

hier ein wenig selbst lobe, aber ich zitiere<br />

nur den Brief – aber zum ersten Mal<br />

erschien ihr das, was bisher nur Schwarz-<br />

Weiß war, <strong>und</strong> jetzt, dank meinen Bekenntnissen,<br />

sieht sie es in vielen Facetten <strong>und</strong><br />

Farben.<br />

Dass dieser Tag – ich zitiere – einen<br />

Durchbruch für ihre Überlegungen bedeutete.<br />

Und dass sie die Worte behalten hat,<br />

die ich gewählt hatte, als <strong>wir</strong> die Garderobe<br />

verließen. „Omnia mea mecum porto“. Seit<br />

diesem Tag, verehrter Herr Turski, möchte<br />

ich, dass Sie wissen, dass ich auch Ihre<br />

Last auf meinen Schultern trage.<br />

Ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass mir<br />

Marian Tuski schilderte eine bewegende Begegnung<br />

mit Jugendlichen.<br />

diese ihre Worte einen Kloß im Hals bereiteten.<br />

Sie hat mich sehr berührt. Und wie<br />

Sie sehen, sie berühren mich auch jetzt. An<br />

diesem Ort <strong>und</strong> in diesem Moment. Danke<br />

Heidi. Und ich bedanke mich bei allen<br />

jungen Deutschen, die ähnlich denken <strong>und</strong><br />

fühlen. Es ist doch ein Wunsch, ein Traum<br />

jedes Menschen, <strong>und</strong> auch mein Wunsch<br />

<strong>und</strong> Traum, dass unsere Ziele <strong>und</strong> Ideale<br />

die nächsten Generationen weitertragen.<br />

Zum Schluss möchte ich mit Ihnen manche<br />

Überlegungen teilen. Als Historiker<br />

könnte ich die Menschheitsgeschichte mit<br />

einem Staffellauf vergleichen. Jede Generation<br />

übernimmt den Staffelstab von ihren<br />

Vorgängern.<br />

Das, was ich nun sagen werde, ist besonders<br />

an die jungen Leute, die hier versammelt<br />

sind, gerichtet. Was bedeutet es, den<br />

Staffelstab zu übernehmen. Es bedeutet,<br />

dass <strong>wir</strong> Überlebende Euch unser Erbe, unseren<br />

Schatz an Erfahrungen übergeben.<br />

Gute <strong>und</strong> Schlechte. Ihr bekommt also den<br />

Stab. Aber Eure Generation muss ihre Strecke<br />

der Staffel selbst durchlaufen. Daher<br />

berücksichtigt unsere Erfahrungen <strong>und</strong> erspart<br />

Euch somit Leid <strong>und</strong> Schande.<br />

Wir haben uns anlässlich des Jahrestages<br />

der Befreiung von Auschwitz versammelt.<br />

Auschwitz begann mit Demütigung des<br />

Menschen. Diese Demütigung war das<br />

F<strong>und</strong>ament von Auschwitz.<br />

Ohne diese Demütigung hätte es nicht<br />

funktionieren können. Deshalb möchte<br />

ich heute mit vollem Nachdruck sagen:<br />

Wenn jemand heute einen Rom, einen Juden,<br />

Bosnier, Türken, Israeli, Palästinenser,<br />

Christen, Moslem oder Ungläubigen demütigt,<br />

so ist es, als beginne Auschwitz von<br />

neuem.<br />

Ich möchte allen denjenigen die sich heute<br />

gegen eine solche Demütigung, einem<br />

solchen Säen von Hass, entgegenstellen,<br />

meine Hochachtung aussprechen. Ebenso<br />

wie der Befreiung von Auschwitz vor 70<br />

Jahren.<br />

<br />

<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />

5


GEDENKEN<br />

„Es ist unsere Aufgabe, die Bilder vor dem Vergessen zu bewahren <strong>und</strong> neue Bilder zu gestalten, auf<br />

denen Menschen ohne Hass <strong>und</strong> Angst zusammenstehen.“<br />

70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz<br />

„Ich lernte die Geschichte<br />

kennen, um sie weiter zu tragen.“<br />

Teilnehmer der Jugendbegegnungen in Auschwitz berichten.<br />

Beitrag von Alexandra Waluch,<br />

Schülerin der Technischen<br />

Berufsschule in Bielsko-Biała<br />

Die polnische Dichterin Zofia Nalkowska<br />

hat uns alle schon sehr früh im Gedenken<br />

an Auschwitz daran erinnert: Denkt immer<br />

daran: Menschen haben Menschen dies<br />

Schicksal bereitet. Und jetzt stehe ich vor<br />

Ihnen – ein junger Mensch <strong>und</strong> ich bin sehr<br />

aufgeregt, heute hier zu sein <strong>und</strong> zu sprechen:<br />

Und ich bin sehr berührt von dem,<br />

was Herr Turski <strong>und</strong> Frau Fahidi berichtet<br />

haben.<br />

Vor einigen Monaten nahm ich an einer<br />

.Austauschmaßnahme des Internationalen<br />

Auschwitz Komitees teil. Ich tauschte<br />

mit den deutschen Kollegen von Volkswagen<br />

die Ansichten <strong>und</strong> Vorstellungen über<br />

die Welt <strong>und</strong> das Leben. Ich überwand<br />

Klischees. Ich lachte <strong>und</strong> weinte. Ich arbeitete<br />

in der Gedenkstätte <strong>und</strong> Museum<br />

Auschwitz-Birkenau. Ich lernte die Geschichte<br />

kennen, um sie weiter zu tragen.<br />

Um die Tragödie der Juden, der Roma, der<br />

Polen, der sowjetischen Kriegsgefangenen<br />

<strong>und</strong> anderer Nationen zu zeigen, deren<br />

Schicksale sich an dieser Stelle getroffen<br />

haben. Um aus den Fehlern der Vergangenheit<br />

zu lernen. Um die Geschichte vor<br />

der Vergessenheit zu bewahren <strong>und</strong> die<br />

Menschen darauf aufmerksam zu machen,<br />

dass auch heute an verschiedenen Orten<br />

in der Welt Orte des Entsetzens entstehen.<br />

Über viele dieser Orte <strong>wir</strong>d viel zu leise <strong>und</strong><br />

viel zu wenig gesprochen. Wir, die jungen<br />

Menschen, <strong>wir</strong> können uns ein Schweigen<br />

nicht leisten. Allein können <strong>wir</strong> nicht viel,<br />

aber wenn unsere gemeinsame Stimme,<br />

noch so unsicher <strong>und</strong> unerfahren, wenn sie<br />

wenigstens eine Person bewegen kann, so<br />

hat sich unsere Mühe schon gelohnt.<br />

Als Schülerin einer Fotografieklasse will<br />

ich die Geschichte mit alten schwarz-weiß<br />

Fotos vergleichen. Sie besitzen eine eigenartige<br />

tiefe Ausdrucksfähigkeit, aber mit<br />

den Jahren verbleichen sie immer mehr<br />

<strong>und</strong> drohen ganz zu verschwinden. Es ist<br />

die Aufgabe von uns Fotografen, diese Bilder<br />

vor dem Vergessen zu bewahren <strong>und</strong><br />

es ist auch unsere Aufgabe, neue Bilder<br />

zu gestalten <strong>und</strong> aufzunehmen, auf denen<br />

Menschen ohne Hass <strong>und</strong> Angst zusammenstehen<br />

als Teil einer Gemeinschaft, der<br />

<strong>wir</strong> alle angehören: Egal welcher Herkunft<br />

oder welcher Religion <strong>wir</strong> sind. Darum will<br />

ich mich kümmern: Das habe ich in Auschwitz,<br />

das habe ich in Oswiecim gelernt.<br />

Rede der VW-Auszubildenden<br />

Sarah Nonnenmacher<br />

Die Schuhe. Ich werde die Schuhe nie<br />

vergessen. 14 Tage haben <strong>wir</strong> im Juni 2014<br />

in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau<br />

gearbeitet. Wir – das heißt Auszubildende<br />

von Volkswagen aus Wolfsburg <strong>und</strong> Emden<br />

<strong>und</strong> Berufsschülerinnen <strong>und</strong> Berufsschüler<br />

aus Bielsko Biała. Alexandra, die vor mir gesprochen<br />

hat, war eine von ihnen.<br />

Einige von uns haben den Stacheldraht in<br />

Birkenau erneuert, der erhalten <strong>wir</strong>d, damit<br />

die Menschen aus vielen Ländern verstehen,<br />

um was für einen Ort es sich handelt:<br />

Hier waren Menschen eingesperrt, hier<br />

wurde gequält <strong>und</strong> gemordet, hier wurde<br />

geweint <strong>und</strong> geschrien, hier war der dunkelste<br />

Ort, den ich bisher in meinem Leben<br />

gesehen habe.<br />

Aber ich wollte es wissen: Ich wollte <strong>und</strong><br />

will wissen, warum Millionen jüdischer<br />

Menschen gejagt <strong>und</strong> ermordet worden<br />

sind, ich will wissen, was mit den Roma<br />

geschehen ist, was mit den Polen, was mit<br />

den sowjetischen Kriegsgefangenen, was<br />

mit all den andern.<br />

Ich habe doch die Schuhe gesehen, ich<br />

habe sie in meinen Händen gehalten, sie<br />

sorgfältig gereinigt <strong>und</strong> konserviert, die<br />

Schuhe der Opfer - ihre letzte Spur über<br />

der Asche. Manche Schuhe so klein – die<br />

Kinder. Ja, Alexandra hat recht: Wir haben<br />

zusammen geweint: Deutsche <strong>und</strong> Polen –<br />

in Auschwitz. Die Geschichte war uns sehr<br />

nah, sie hatte Namen <strong>und</strong> Gesichter, viele<br />

der Opfer waren damals so alt, wie <strong>wir</strong> heute<br />

sind: Nein, eigentlich kann ich nicht beschreiben,<br />

was für ein Gefühl es war, diese<br />

Arbeit tun zu dürfen, den Menschen von<br />

Auschwitz so nahe zu sein.<br />

Als <strong>wir</strong> das erste Mal das Geländes Birkenau<br />

betreten haben, war ich überwältigt<br />

von der Größe: So viel Draht, so viele unsichtbare<br />

Gräber, so logisch organisiert:<br />

Keine Mörderbande, ein geplantes <strong>und</strong><br />

durchgeführtes Verbrechen des damaligen<br />

deutschen Staates: Das ist Auschwitz. Und<br />

auch von den Tätern, den Wachleuten, den<br />

Helfern waren viele so alt wie <strong>wir</strong>.<br />

Wie will ich leben? Auschwitz hat meinen<br />

Blick geschärft für das, was heute um mich<br />

herum geschieht. Gleichgültigkeit, Antisemitismus,<br />

Hass, Intoleranz – aber auch<br />

die Schönheit des Lebens, meine Familie,<br />

mein Fre<strong>und</strong>, meine Arbeit, – dass ich geborgen<br />

bin – kein Flüchtling, kein Mensch,<br />

der gejagt <strong>wir</strong>d, voller Angst in der Fremde.<br />

Die Schuhe. Ich werde die Schuhe von<br />

Auschwitz nie vergessen: Ihre Spuren führen<br />

zu uns: Behaltet uns im Gedächtnis:<br />

Wir gehören zu Euch! Für immer! <br />

www.polen-<strong>und</strong>-<strong>wir</strong>.de<br />

Auch <strong>wir</strong> sind im Internet. Sie finden<br />

unsere Zeitschrift <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong><br />

sowie die Deutsch-Polnische Gesellschaft<br />

der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland<br />

e.V. in neuer Aufmachung <strong>und</strong><br />

unter einem neuen Seitennamen im<br />

Internet. Besuchen Sie uns doch mal<br />

online.<br />

6 <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong>


GEDENKEN<br />

70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz<br />

Die Seele der Dinge<br />

Éva Fahidi - Als 18jährige auf der Rampe von Birkenau<br />

Von Ulrike Höck<br />

„In der Morgendämmerung des 1. Juli<br />

1944 auf der Rampe von Auschwitz-Birkenau<br />

war meine Kindheit vorbei“ so schreibt<br />

Éva Fahidi-Pusztai in ihren Erinnerungen<br />

„Die Dinge der Seele“. Bei der Veranstaltung<br />

des Auschwitz-Komitees in Berlin hatte<br />

sie aus ihren Erinnerungen in ergreifender<br />

Weise erzählt.<br />

Noch als die deutschen Truppen Ungarn<br />

schon besetzt hatten, träumte die damals<br />

18jährige von einer Karriere als Pianistin.<br />

Weder sie noch ihre Familie wollten glauben,<br />

was bald Wirklichkeit sein würde.<br />

Über 430.000 ungarische Juden wurden<br />

damals innerhalb weniger Wochen deportiert,<br />

die meisten nach Auschwitz-Birkenau,<br />

um dort unmittelbar nach der Ankunft<br />

selektiert <strong>und</strong> kurz darauf ermordet zu<br />

werden. Nur wenige waren für die Zwangsarbeit<br />

vorgesehen. Mütter, Kinder, Alte, sie<br />

alle hatten keine Chance zu überleben.<br />

Éva berichtet in dem Buch vom Transport,<br />

der Enge <strong>und</strong> dem Wassermangel. Immerhin<br />

ist sie ges<strong>und</strong> <strong>und</strong> jung. Sie erzählt von<br />

der kleinen Schwester, die sich über die<br />

Schäferh<strong>und</strong>e nahe der Rampe von Auschwitz<br />

freut. Von der ersten Begegnung mit<br />

den <strong>und</strong>efinierbaren Gestalten in hässlichen<br />

grau-schwarz gestreiften Pyjamas,<br />

den ersten Anweisungen, Warnungen, dem<br />

Geschreie. Sie fragt immer wieder: „Wer<br />

erinnert sich an ... die Appelle … die Enge<br />

… die Blockälteste … den Sumpf … die Peitschenhiebe<br />

… ?“<br />

Den größten Teil widmet Éva jedoch den<br />

Menschen, die sie prägten. Verwandte, die<br />

Eltern, die Schwester, die Lehrer <strong>und</strong> viele<br />

mehr werden wieder zum Leben erweckt,<br />

dem Leben vor Juli 1944. Dabei gelingt es<br />

der Autorin zugleich ein Bild der Gesellschaft<br />

Ungarns der 20er bis 40er Jahre zu<br />

zeichnen. Ihre Kindheit <strong>und</strong> Jugend ist erfüllt<br />

von Wärme <strong>und</strong> Geborgenheit in einer<br />

wohlhabenden Familie. Als Kind spielte sie<br />

in der Natur <strong>und</strong> lauschte den Geschichten<br />

des Vaters. Sie erfuhr aber auch eine Erziehung<br />

zu Disziplin <strong>und</strong> Wahrhaftigkeit <strong>und</strong><br />

Respekt vor anderen Menschen.<br />

Nur kurz blieb Éva in Auschwitz. Bald wurde<br />

sie ins hessische Allendorf deportiert,<br />

um dort mit 1.000 anderen Jüdinnen in<br />

Münchmühle für die deutsche Rüstungsindustrie<br />

Zwangsarbeit zu leisten. Die Zeit<br />

hier ist von Hunger, Kälte <strong>und</strong> der Ungewissheit<br />

über das Schicksal der Verwandten<br />

geprägt. Nur<br />

mit Hilfe der Fünfergruppen,<br />

zu denen<br />

die Frauen zur<br />

Arbeit eingeteilt waren,<br />

konnte sie <strong>und</strong><br />

andere überleben.<br />

Die Frauen entwickelten<br />

Strategien,<br />

um den nächsten<br />

Tag zu überstehen.<br />

Ein eigenes Kulturprogramm<br />

sorgte<br />

in der Umgebung<br />

von Schmutz <strong>und</strong><br />

Éva Fahidi-Pusztai bei der Gedenkfeier in der Berliner Urania mit B<strong>und</strong>es<br />

kanzlerin Angela Merkel.<br />

Foto: Boris Buchholz/IAK<br />

Der erste Ausweis, nach der Befreiung. Wohnort: KZ-Auschwitz<br />

Gift, Entkräftung<br />

<strong>und</strong> Hunger für die<br />

notwendige Ablenkung <strong>und</strong> neuen Überlebenswillen.<br />

Noch weiß Éva nicht, dass fast<br />

alle ihrer Verwandten<br />

ermordet wurden,<br />

die meisten die<br />

Ankunft in Auschwitz<br />

allenfalls wenige<br />

St<strong>und</strong>en überlebten.<br />

Wie viele war Éva<br />

weder politisch auffällig,<br />

noch hatte sie<br />

gegen Gesetze verstoßen:<br />

ihr einziger<br />

Fehler war es, Jüdin<br />

zu sein, ungarische<br />

Jüdin.<br />

Éva überlebte. Am<br />

4. November 1945<br />

kehrte sie nach Debrecen<br />

zurück, im Gepäck den ersten<br />

Ausweis. „Graue Wolkenfetzen hingen am<br />

Himmel, genau wie am 19. März 1944 als<br />

Ungarn von der deutschen Wehrmacht besetzt<br />

wurde. Fast 19 Monate waren seitdem<br />

vergangen, aber ich war nicht um 19<br />

Monate gealtert, sondern um ein ganzes<br />

Leben. Gerade war ich noch ein Kind gewesen<br />

<strong>und</strong> dann ohne Übergang ein alter<br />

Mensch geworden. Ich hatte nichts <strong>und</strong><br />

niemanden <strong>und</strong> musste vollkommen auf<br />

mich gestellt, mutterseelenallein in der<br />

Welt bestehen.“<br />

<br />

Éva Fahidi-Pusztai: Die Seele der Dinge.<br />

Hrsg. im Auftrag des Internationalen Auschwitz<br />

Komitees, Berlin, <strong>und</strong> der Gedenkstätte<br />

Deutscher Widerstand, Berlin. Lukas-Verlag<br />

Berlin 2011, ISBN 978-3-86732-098-6, 239<br />

Seiten, 40 Abb. Preis 16,90 €<br />

<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />

7


GEDENKEN<br />

Polnische Pfadfinderorganisation im Lager<br />

Ein Sieg der Würde des Menschen<br />

Zur Befreiumg des KZ Ravensbrück<br />

Von Werner Stenzel<br />

In einem Brief an die Mahn- <strong>und</strong> Gedenkstätte<br />

Ravensbrück schrieb der Soldat<br />

Sergej Garbusik im <strong>April</strong> 1966: „Lang <strong>und</strong><br />

schwer war der Weg für das sowjetische<br />

Volk zum Sieg. Sowjetische Soldaten befreiten<br />

auch deutsches Territorium vom<br />

faschistischen Gesindel. So war die nie zu<br />

vergessende Pflicht. Die sowjetischen Soldaten<br />

halfen den anderen Völkern, die unter<br />

der Hitlermacht stöhnten. Sie dachten<br />

auch an die Millionen, die in den KZ leiden<br />

mussten. Uns Soldaten war die Aufgabe<br />

klar: Der Faschismus ist zu schlagen <strong>und</strong><br />

der Krieg in Berlin an der Spree zu beenden.“<br />

Jedes Wort dieser einfachen Wahrheit<br />

bleibt bedenkenswert <strong>und</strong> für immer gültig.<br />

Als das KZ Ravensbrück am 30. <strong>April</strong> 1945<br />

befreit wurde, waren noch 3.000 Häftlinge<br />

sich selbst überlassen, ohne Ausnahme<br />

krank <strong>und</strong> sterbend mit sogenanntem medizinischen<br />

Personal aus mehr als 20 Nationen<br />

im Lager. In den ersten Tagen nach<br />

der Befreiung starben im Männerlager täglich<br />

35 – 40 Menschen.<br />

Noch im <strong>April</strong> 1945 waren 39.000 Gefangene<br />

im Lager. Einerseits gab es in dieser<br />

Zeit hohe Zugangsraten, allein im Januar<br />

waren 22.000 zumeist jüdische Frauen<br />

eingeliefert worden, andererseits wurden<br />

Internierte massenhaft vernichtet. 5.000<br />

bis 6.000 Häftlinge wurden in der noch zur<br />

Jahreswende 1944/45 gebauten Gaskammer,<br />

die am 23. <strong>April</strong> von der SS gesprengt<br />

wurde, oder in dem geräumten Jugendlager<br />

Uckermark durch Giftspritze oder Hunger<br />

umgebracht.<br />

Am 27. <strong>April</strong> begann für 12.000 Gefangene<br />

in drei Etappen der Todesmarsch, unter<br />

ihnen die unvergessene Rosa Thälmann,<br />

der es gelang, sich am 28. <strong>April</strong> aus dem<br />

Gedränge des gespenstischen Zuges zu lösen<br />

<strong>und</strong> im Haus 21 der Dorfstraße in Ravensbrück<br />

Sicherheit zu finden.<br />

Mit der Befreiung am 30. <strong>April</strong> fand für<br />

Ravenbsbrück das Grauen ein Ende <strong>und</strong><br />

begann der Weg in eine erhoffte Zukunft.<br />

Vor jedem heutigen Besucher einer Nationalen<br />

Mahn- <strong>und</strong> Gedenkstätte steht die<br />

Frage: Wie konnten Menschen diese Hölle<br />

überleben?<br />

Gabriele Knapp lässt in ihrem 2002 erschienenen<br />

Buch „Frauenstimmen - Musikerinnen<br />

erinnern an Ravensbrück“ Clara<br />

Rupp zu Wort kommen: „Unsere freudigen<br />

Erlebnisse waren gering, so bescheiden,<br />

gemessen an dem, was ein Mensch<br />

in Freiheit erlebt. Aber ohne Freude kann<br />

kein Mensch leben. Er verschafft sich seine<br />

Freude, koste sie was wolle <strong>und</strong> sei es das<br />

Leben … Freude <strong>und</strong> Feiern <strong>und</strong> kulturelle<br />

Betätigung gehört zu unserem Leben wie<br />

Essen <strong>und</strong> Trinken.“<br />

Für die polnischen Frauen <strong>und</strong> Mädchen<br />

gehörten zu solchen Erlebnissen Nationalfeiertage<br />

<strong>und</strong> Kirchenfeste wie Ostern,<br />

Allerheiligen, Weihnachten. Solche ‘Lagermessen‘<br />

mussten von den Blockältesten<br />

genehmigt werden.<br />

Bis zu den Jahren 1940 – 42 gab es weder<br />

Gebetbücher, noch Hostien. Später gelang<br />

es, religiöse Literatur von Häftlingen aus<br />

der Effektenkammer zu schmuggeln <strong>und</strong><br />

mit Hilfe von Verbindungen in Außenlager<br />

Hostien ins KZ zu schaffen. Mancher Text<br />

wurde auf dünnem Papier geschrieben, das<br />

von der Verpackung von Mullbinden <strong>und</strong><br />

anderem Material stammte.<br />

Unter strengsten Vorsichtsmaßnahmen,<br />

gebilligt von den Blockältesten, die nicht<br />

selten bestochen werden wollten, wurden<br />

an Namenstage auch mit einem Lied erinnert.<br />

Das Lied machte Menschen Mut, die<br />

in ständiger Ungewissheit lebten <strong>und</strong> nie<br />

wussten, was ihnen der nächste Tag bringt.<br />

Dabei waren Lieder nicht der einzige Ausdruck<br />

der Selbstverteidigung, ebenso gehörten<br />

dazu auch Gedichte <strong>und</strong> die Zeichnungen,<br />

deren nicht wenige, Zeugnisse in<br />

späteren Gerichtsprozessen wurden, weil<br />

sie eindeutig in der Darstellung von Schikanen<br />

<strong>und</strong> Strafen waren.<br />

Das Lied <strong>und</strong> das patriotische Gedicht<br />

führten von der Selbstbehauptung zu gemeinsamem<br />

Handeln von Strömungen.<br />

Schon 1940 hatte sich die Marianische<br />

Bruderschaft unter der Leitung der 16jährigen<br />

Maria Spitterowna gegründet, die<br />

sich in der Hauptsache caritative Aufgaben<br />

zur Pflege von Kranken <strong>und</strong> Alten gestellt<br />

hatte. Das Mädchen wurde in Auschwitz<br />

umgebracht. Die gebildeten Gemeinschaften<br />

des lebenden Rosenkranzes lösten sich<br />

auf.<br />

Eine bedeutende Rolle spielten im Lager<br />

die polnischen Pfadfinder. Die erste Gruppe<br />

der Grauen Reihen wurde bereits im Januar<br />

1941 gegründet <strong>und</strong> leistete im Block<br />

16 der blutrünstigen Greta Muskeller Widerstand.<br />

Im November 1941 bildete sich<br />

die Pfadfinderorganisation mury (Mauern)<br />

im Block 15. Im Laufe der Zeit gründeten<br />

sich sieben Kameradschaften cegły (Bausteine),<br />

f<strong>und</strong>amenty (F<strong>und</strong>amente), kamenie<br />

(Steine), wody (Wasser), kielnie (Kellen),<br />

ż<strong>wir</strong>y (Kiesel).<br />

Durch Krankheit <strong>und</strong> Mord änderte sich<br />

die Zahl der Mitglieder. Am 1. <strong>April</strong> 1945<br />

soll ihre Zahl 105 betragen haben. Im<br />

Marsch der Gruppe mury (geschrieben<br />

von Maria Masłowska auf kleine Papiertücher<br />

von Verpackungsmaterial) heißt es:<br />

„Schwestern lasst uns weiter <strong>und</strong> tapfer<br />

leben, denn Polen <strong>und</strong> unser Haus sind<br />

nicht mehr weit. Die Untergruppen wachsen,<br />

sieh das ‘Wasser‘ <strong>und</strong> die ‘Kellen‘. Da<br />

kommt Geschichte auf. Also soll dein Gesicht<br />

strahlen. Marsch Pfadfinderinnen,<br />

Marsch in Ravensbrück. Heb hoch den<br />

Kopf <strong>und</strong> sei wachsam … <strong>wir</strong> sind zusammen<br />

<strong>und</strong> dürfen uns nicht beugen.“<br />

Die Pfiffigkeit von inhaftierten Pfadfinderinnen<br />

rettete in Ravensbrück die Fahne<br />

der 13. Maria-Wocalewska-Pfadfindermannschaft.<br />

Diese Fahne wurde beim Sortieren<br />

der Kleidung gef<strong>und</strong>en, in Bettzeug<br />

eingenäht <strong>und</strong> mit einem der weißen Busse<br />

heimlich nach Schweden gebracht. Nach<br />

dem Krieg wurde das Banner in der Gedenkstätte<br />

Auschwitz in Anwesenheit des<br />

Warschauer Kommandanten der Pfadfinder<br />

an der Todeswand gehisst. Heute soll<br />

es sich im Museum des polnischen Militärs<br />

befinden. (Verweisen möchte ich an dieser<br />

Stelle auch auf meinen Text über die polnischen<br />

Pfadfinder in Heft 4/2014 PuW).<br />

Zu der Gruppe der Polinnen gehörten Mitglieder<br />

der Sozialistischen Partei (PPS). In<br />

den heimlichen Diskussionsthemen ging<br />

es um das künftige Gesellschaftsmodell<br />

Polens, die Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialpolitik<br />

<strong>und</strong> natürlich das Verhältnis zur UdSSR. In<br />

dieser Gruppe war Janina Peretjakowicz,<br />

Funktionärin der PPS <strong>und</strong> Mitarbeiterin von<br />

Josef Cyrankiewicz, der ebenfalls in ein KZ<br />

verschleppt worden war.<br />

Im Außenlager Neubrandenburg des KZ<br />

Ravensbrück arbeitete im Jahre 1943 eine<br />

zahlenmäßig große Gruppe in der Mechanische<br />

Werkstätten GmbH bei der Herstellung<br />

von Flugzeugteilen. Insgesamt hatte<br />

das KZ ca. 70 größere <strong>und</strong> kleinere Außenlager<br />

u.a. für die Produktion von Flugzeugteilen<br />

<strong>und</strong> Versuchen für Ernährung <strong>und</strong><br />

Verpflegung.<br />

Auf Anregung von Krystina Strażyc, be-<br />

8 <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong>


GEDENKEN<br />

fre<strong>und</strong>et mit der Sekretärin von Cyrankiewicz<br />

<strong>und</strong> Meldegängerin, entstand das<br />

Manifest von Neubrandenburg. Zu den<br />

Autoren zählten u.a. die kriegsgefangene<br />

Ärztin Walentyna Fiedorowna, die Tschechin<br />

Vera Pečkova <strong>und</strong> zwei Französinnen.<br />

Das Manifest, welches leider nur mündlich<br />

überliefert ist, forderte eine Veränderung<br />

der Gesellschaft durch eine Bodenreform,<br />

die Verstaatlichung der Fabriken <strong>und</strong> eine<br />

gesicherte Sozialfürsorge. Es rief zur Völkerversöhnung<br />

auf, zur Freiheit des Menschen<br />

auf der Gr<strong>und</strong>lage von Toleranz <strong>und</strong><br />

Achtung <strong>und</strong> zum Frieden. Durch die Umstände<br />

ist der Text des Manifestes nicht<br />

mehr vorhanden. Eine Gefangene, die Medikamente<br />

holen sollte, nahm das Manifest<br />

in SS-Begleitung nach Ravensbrück mit <strong>und</strong><br />

übergab es dort. In einem Schränkchen im<br />

Krankenrevier versteckt, fiel es in die Hände<br />

der SS-Schwester Marschall. Sie glaubte,<br />

dass das Papier der von ihr gemochten<br />

Iza Sicińska gehörte <strong>und</strong> zerriss es, ohne<br />

es der Leitung des Lagers zu übergeben.<br />

Einfluss auf die Untergr<strong>und</strong>organisation<br />

im Lager nahm die Landesarmee (AK) direkt.<br />

Halina Wasilewska (34370) kam am<br />

7. <strong>April</strong> 1944 aus dem Warschauer Pawiak<br />

nach Ravensbrück. Sie überbrachte Instruktionen<br />

für die Vorbereitung der Häftlinge<br />

auf die letzten St<strong>und</strong>en des Lagerbestehens.<br />

Es wurde ein Projekt für die Verteidigung<br />

des Lagers vorbereitet, Fünfergruppen aus<br />

den Erfahrensten gebildet, Medikamente<br />

gesammelt, die Besetzung wichtiger<br />

Objekte geplant wie der Küche <strong>und</strong> der<br />

Reviere, die Beobachtung von Straßen,<br />

die Verhinderung von Panik <strong>und</strong> andere<br />

Verantwortlichkeiten bestimmt. Funktionshäftlinge<br />

verzichteten im Frühjahr 1945<br />

auf ihren Transport mit den weißen Bussen<br />

nach Schweden <strong>und</strong> verbargen sich<br />

im Krankenrevier, um die gestellten Aufgaben<br />

zu erfüllen. In diese Auflistung gehört<br />

auch die Mitteilung vom 18.03.1944, dass<br />

die SS-Aufseherin Gallinat zusammengeschlagen<br />

wurde, weil sie verhindern wollte,<br />

dass sich acht Polinnen, die zur Exekution<br />

geführt wurden, von ihren Kameradinnen<br />

verabschieden konnten. Es war der erste<br />

öffentliche Aufstand. So bereiteten die<br />

Häftlinge ihre Befreiung vor, verhinderten<br />

Panik <strong>und</strong> konnten, soweit körperlich fähig,<br />

den Soldaten der Roten Armee entgegen<br />

gehen.<br />

Die Kraft zu überleben, drückte sich<br />

vor allem in der Sorge für die Kinder aus.<br />

Selbstlos übernahmen ‚Lagermütter‘ die<br />

Sorge um die Neugeborenen, um verwaiste<br />

Kinder. Sie retteten Leben <strong>und</strong> mag es<br />

unter den höllischen Bedingungen des KZ<br />

von h<strong>und</strong>ert nur eins gewesen sein. Sie organisierten<br />

1944 eine Weihnachtsfeier für<br />

400 Kinder.<br />

Die Inszenierung <strong>und</strong> Aufführung des<br />

Kasperle-Theaters „Es war einmal ein<br />

Drache“ wurde nachträglich aufgeschrieben<br />

<strong>und</strong> erlebte zwischen 1983 <strong>und</strong> 1986<br />

drei Auflagen als Lesestück für Kinder von<br />

neun Jahren an. Illustriert hat das Buch<br />

Leo Haas, selbst Häftling im KZ Sachsenhausen.<br />

Das Buch bekam den Kinderhörspiel-Kritikerpreis<br />

der DDR. Es setzt dem<br />

Überlebenswillen aller in Ravensbrück gefangenen<br />

Frauen ein Denkmal.<br />

Jede Generation <strong>wir</strong>d in Zukunft den Märtyrern<br />

<strong>und</strong> Widerstandskämpfern Respekt<br />

<strong>und</strong> Ehrerbietung erweisen, aber auch die<br />

Frage stellen, wie waren die Naziverbrechen<br />

möglich <strong>und</strong> Antwort darauf finden.<br />

Faschismus ist eine Erscheinungsform des<br />

Kapitalismus <strong>und</strong> das macht wachsam <strong>und</strong><br />

unruhig.<br />

<br />

Erstmals in der<br />

Zusammenschau: Kunst als<br />

letzte Hoffnung<br />

»Jürgen Kaumkötter stellt mit seinen<br />

bewegenden Erzählungen die Kunstgeschichte<br />

über den Zeitraum von 1933 bis 1945 nicht<br />

auf den Kopf, sondern auf die Füße.«<br />

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung<br />

»Ein <strong>wir</strong>klich gutes, gut geschriebenes <strong>und</strong><br />

reich illustriertes Buch, das bedenkenswerte<br />

Einblicke ermöglicht.« Nürnberger Zeitung<br />

384 Seiten, geb<strong>und</strong>en mit Schutzumschlag<br />

großes Format, durchgehend vierfarbig<br />

280 Abbildungen<br />

Euro 39,99 (D)<br />

ISBN 978-3-86971-103-4<br />

www.galiani.de<br />

<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />

9


KULTUR<br />

70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz<br />

Der Tod hat nicht das letzte Wort<br />

Zur Ausstellung im Deutschen B<strong>und</strong>estag<br />

Von Karl Forster<br />

„Überleben <strong>und</strong> widerstehen: Zeichnungen<br />

von Häftlingen des Konzentrationslagers<br />

Auschwitz 1940 – 46“ lautete der Titel<br />

einer Ausstellung der Deutsch-Polnischen<br />

Gesellschaft der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland<br />

<strong>und</strong> des Museums Auschwitz, die ab<br />

1979 in zahlreichen Städten der damaligen<br />

B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland zu sehen war.<br />

Die Schirmherrschaft über diese Ausstellung<br />

hatte damals Willy Brandt. Es war die<br />

erste große Präsentation der Zeichnungen,<br />

die Häftlinge in Auschwitz während des Lageraufenthalts<br />

oder unmittelbar nach der<br />

Befreiung gefertigt hatten. Wie auch in anderen<br />

KZs mussten Häftlinge unter anderem<br />

für die SS Bilder zeichnen <strong>und</strong> malen.<br />

Die Werkstätten <strong>und</strong> das Material nutzen<br />

viele, illegal Kunstwerke zu schaffen. Bald<br />

jedoch waren diese Werke nur noch „Dokumente“,<br />

gezeichnete Zeitzeugenberichte.<br />

Als Kunst wurden sie nicht angesehen.<br />

Und so gab es nur noch vereinzelt in historischen<br />

Ausstellungen das eine oder andere<br />

Bild zu sehen. Bald kam hinzu, dass<br />

die Werke unter dem Einfluss von Licht <strong>und</strong><br />

Feuchtigkeit drohten, Schaden zu nehmen<br />

<strong>und</strong> vom Museum nicht mehr ausgeliehen<br />

wurden. Auch in Auschwitz selbst war der<br />

große Kunstbestand nicht ständig ausgestellt.<br />

Ein Besuch des Ausstellungsarchivs<br />

war nur gelegentlich für Gruppen nach<br />

Voranmeldung oder zu Forschungszwecken<br />

möglich. Jetzt hat eine Ausstellung<br />

im Deutschen B<strong>und</strong>estag (Paul-Löbe-Haus<br />

in Berlin) anlässlich des 70. Jahrestags der<br />

Befreiung von Auschwitz das Thema in besonderer<br />

Weise in den Mittelpunkt gerückt.<br />

Unter den Häftlingen der Ghettos <strong>und</strong><br />

KZs waren auch Künstler. Aber dort wurden<br />

auch Künstler ausgebildet. Und ehemalige<br />

Häftlinge bildeten nach der Befreiung<br />

weitere Künstler aus, die sich in ihren<br />

Arbeiten auf die Zeit der Ghettos <strong>und</strong> KZs<br />

beziehen. So brachte Peter Kein (eigentlich<br />

František Petr Kien) in Theresienstadt dem<br />

12-jährigen Yehuda Bacon (er <strong>wir</strong>kte unter<br />

anderem an der Kinderoper Br<strong>und</strong>ibár<br />

mit) das Zeichnen bei. Beide kamen nach<br />

Auschwitz, Kien starb, Bacon überlebte,<br />

ging nach Jerusalem, wurde Künstler <strong>und</strong><br />

Lehrer an der Bezalel Akademie. Dort lehrte<br />

er Sigalit Landau das Zeichnen. Sie ist<br />

heute eine der weltweit einflussreichsten<br />

10 <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />

zeitgenössischen Künstlerinnen. Kien, Bacon<br />

<strong>und</strong> Landau eint die Katastrophe des<br />

letzten Jahrh<strong>und</strong>erts, die Shoa, sie ist der<br />

Kern ihrer Kunst.<br />

Jürgen Kaumkötte, Kunsthistoriker, Jahrgang<br />

1969, befasst sich seit über 15 Jahren<br />

mit Exil- <strong>und</strong> Holocaust-Kunst. Vor<br />

zwei Jahren beauftragte ihn der Deutsche<br />

B<strong>und</strong>estag zu dem diesjährigen Gedenktag<br />

eine Ausstellung zu erarbeiten. Ihm gelang<br />

eine bemerkenswerte Ausstellung, welche<br />

die Werke von Holocaust-Überlebenden<br />

<strong>und</strong> -Opfern mit der Kunst der Generation<br />

ihrer Kinder <strong>und</strong> Enkel in Zusammenhang<br />

setzt. Direkt aus der Sammlung des<br />

Staatlichen Museums Auschwitz kamen 16<br />

Zeichnungen in den B<strong>und</strong>estag – die umfangreichste<br />

Leihgabe des Museums der<br />

letzten Jahre. Darunter auch großformatige<br />

Kohlezeichnungen von Jerzy Adam Brandhuber,<br />

geschaffen für die erste Ausstellung<br />

in Auschwitz im Jahr 1947; Brandhuber war<br />

Überlebender des Lagers <strong>und</strong> erster Kurator<br />

des Museums in Auschwitz. Begleitet<br />

werden sie von Werken Peter Kiens, Sigalit<br />

Landaus <strong>und</strong> Yehuda Bacons. Kunstwerke<br />

Sigalit Landau, Avigdor, 2013, Schuhe, dem Wasser des Toten Meeres<br />

ausgesetzt, 25 × 32 × 21 cm Courtesy of the artist<br />

von Kien <strong>und</strong> Bacon sind erstmals in Berlin<br />

zu sehen. Sigalit Landau hat eigens für<br />

die Ausstellung ein Kunstwerk geschaffen,<br />

in dem sie auf das Museum Auschwitz<br />

Bezug nimmt: In der großen Vitrine<br />

in der Dauerausstellung des Staatlichen<br />

Museums Auschwitz Birkenau liegen ausgestellt<br />

Berge von Schuhen – von Frauen,<br />

Männern, modische Schuhe, alte Schuhe,<br />

kaputte Schuhe, Schuhe von Kindern,<br />

Großeltern, Rabbinern, es sind Schuhe<br />

ohne Menschen. Sigalit Landau sammelte<br />

in Israel 100 Paar Schuhe <strong>und</strong> versenkte<br />

sie als Bündel im Toten Meer. Das Meer<br />

umhüllte die Schuhe mit seinem heilenden<br />

Salz, schützt sie gleichsam vor den Katastrophen<br />

der Welt. Die Schuhe wurden<br />

im Herbst 2014 aus dem Meer gehoben.<br />

Ergänzt wurde die Ausstellung durch Medieninstallationen<br />

der ARD, die Besuchern<br />

gleichsam eine Führung durch die Gedenkstätte<br />

in Auschwitz bot.<br />

Einziger Kritikpunkt: Die Ausstellung war<br />

gerade mal vier Wochen zu sehen. Man<br />

konnte sie zwar, ohne Eintritt zu zahlen,<br />

besuchen, musste sich jedoch vorher anmelden.<br />

Die öffentliche Wahrnehmung war<br />

sehr gering <strong>und</strong> auch diejenigen, die davon<br />

erfuhren, wurden damit konfrontiert, dass<br />

die am 27.1. eröffnete Ausstellung Ende<br />

Februar bereits wieder abgebaut wurde.<br />

Interessierte haben aber dennoch zwei<br />

Möglichkeiten, sich mit dem Thema zu befassen.<br />

Ab 27. Juni <strong>wir</strong>d die Ausstellung<br />

bis zum 13. September im Muzeum Sztuki<br />

Współczesnej w Krakowie MOCAK (Museum<br />

für Zeitgenössische Kunst in Krakau,<br />

auf dem Gelände von Schindlers Fabrik) zu<br />

sehen sein.<br />

Wer nicht solange warten will oder nicht<br />

nach Krakau reisen kann, dem sei das zur<br />

Ausstellung erschienene Buch empfohlen,<br />

das weit mehr als nur ein Katalog ist. „Der<br />

Tod hat nicht das letzte<br />

Wort. Kunst in der Katastrophe<br />

1933-1945“<br />

ist der Titel des Werkes,<br />

das erstmals eine<br />

Zusammenschau der<br />

in Verstecken, Ghettos<br />

<strong>und</strong> Lagern entstandenen<br />

Kunst <strong>und</strong><br />

ihrer Schöpfer bietet.<br />

Abgebildet werden ca.<br />

250 Werke, zahlreiche<br />

davon zum ersten<br />

Mal. Erstmals werden<br />

systematisch die Hintergründe<br />

ihrer Entstehung<br />

gezeigt. Alle<br />

Exponate der B<strong>und</strong>estagsausstellung sind<br />

auch im Buch abgebildet. Zur Ausstellung<br />

in Krakau <strong>wir</strong>d das Buch auch in polnischer<br />

Sprache erscheinen.<br />

<br />

Jürgen Kaumkötter: Der Tod hat nicht das<br />

letzte Wort. Kunst in der Katastrophe 1933-<br />

1945. Verlag Galiani Berlin. 384 Seiten,<br />

geb<strong>und</strong>en mit Schutzumschlag, großes Format,<br />

durchgehend vierfarbig, 250 Abbildungen.<br />

39,99 Euro. ISBN 978-3-86971-103-4


<strong>POLEN</strong> HEUTE<br />

Zum Wahljahr in Polen<br />

Eigentlich herrscht Ruhe<br />

Von Holger Politt, Warschau<br />

Bevor der Wahlzirkus richtig beginnt, sind<br />

bereits zwei wichtige Entscheidungen gefallen.<br />

Bronisław Komorowski <strong>wir</strong>d auch nach<br />

den Wahlen im Mai das Amt des Staatspräsidenten<br />

ausfüllen. Die einzig noch offene<br />

Frage bleibt, ob er das Mandat bereits im<br />

ersten Wahlgang erringen <strong>wir</strong>d oder doch<br />

in die Stichwahl muss. Und die Bewegung<br />

von Janusz Palikot, die im Herbst 2011<br />

gleich einem linksliberalen Wetterleuchten<br />

glatte zehn Prozent der Wählerstimmen auf<br />

ihr Konto verbuchen konnte, hat sich nun<br />

selbst zerlegt. Als Palikot Anfang März der<br />

eigenen Fraktion den Rücken kehrte, ist<br />

klar geworden, dass die kurze Geschichte<br />

der Palikot-Bewegung geschrieben werden<br />

kann – als Aufstieg <strong>und</strong> als Fall.<br />

Vor zehn Jahren begann die Dominanz<br />

zweier rechter Parteien – zunächst hatte<br />

für einige Jahre die Nationalkonservativen<br />

der PiS die Nase vorn, seit 2007 regieren<br />

die Wirtschaftsliberalen der PO. In Umfragen<br />

schwanken beide derzeit um die 35<br />

Prozent. Einst hatten sich beide Parteien<br />

abgesprochen, das Wahlrecht zu ändern,<br />

sobald sie zusammengerechnet die Zweidrittelmehrheit<br />

im Parlament besäßen, damit<br />

nur noch die Gewinner der Wahlkreise<br />

ins Hohe Haus kämen. Polen, so der ursprüngliche<br />

Plan, wäre dann politisch fein<br />

säuberlich aufgeteilt entlang der jeweiligen<br />

Hochburgen.<br />

Dass es dazu nicht kam war zunächst einmal<br />

dem verbissenen Kampf beider Gruppierungen<br />

untereinander zu verdanken, der<br />

bis heute den Charakter einer reflexhaften<br />

Auseinandersetzung zweier zutiefst verfeindeter<br />

politischer Lager behalten hat.<br />

Doch wiegt hier die Tatsache schwer, dass<br />

auch so – ohne Wahlrechtsänderung – der<br />

hohe Wählerzuspruch für beide Gruppierungen<br />

erhalten blieb. Allerdings hatte PiS<br />

gegenüber PO zusehends ein strukturelles<br />

Nachsehen, da die Hochburgen der PO in<br />

den Großstädten nicht zu schleifen waren<br />

<strong>und</strong> diese mit der Bauernpartei PSL einen<br />

treuen Regierungspartner gef<strong>und</strong>en hatte,<br />

der auf dem flachen Land dem Einfluss von<br />

PiS so etwas wie natürliche Grenzen setzte.<br />

Die vierte Partei im Rennen – die SLD<br />

– spielte insofern kaum eine Rolle, weil<br />

sie für das Kräfteverhältnis zwischen PiS<br />

<strong>und</strong> PO kaum noch Bedeutung hatte, da<br />

sie immer weniger in der Lage war, der PO<br />

ernsthaft Paroli bieten zu können. Wenn es<br />

Wählerwanderung zwischen PO <strong>und</strong> SLD<br />

gab, dann immer nur in die eine Richtung.<br />

Erst Palikot zeigte 2011 allen, dass doch<br />

ein linksliberales Kraut gewachsen war,<br />

der PO massenhaft Stimmen abzunehmen,<br />

<strong>und</strong> zwar dort, wo sie übermächtig schien<br />

– in den Großstädten <strong>und</strong> unter jüngeren<br />

Wählerschichten. Palikots Sieg war die<br />

Verheißung, dass die ewig währende Dominanz<br />

von PO <strong>und</strong> PiS von links aufgebrochen<br />

werden kann. Alle, die vor allem<br />

eine Rückkehr von Jarosław Kaczyński an<br />

die Macht verhindern wollen, hätten eine<br />

Alternative gewonnen.<br />

Doch der plötzliche Höhenflug des einen<br />

war die Niederlage des anderen. Die<br />

Linksdemokraten der SLD wechselten die<br />

Pferde, ersetzten den glücklosen Grzegorz<br />

Napieralski durch den alten Haudegen<br />

Leszek Miller, der nur noch eins wollte –<br />

den Bestandsschutz für die SLD. Mit dem<br />

Recht dessen, der einst diese Partei mitbegründet<br />

<strong>und</strong> zu ihren größten Erfolgen geführt<br />

hatte, machte er die Schotten dicht.<br />

In den Medien zirkulierte nun das Bild einer<br />

von umtriebigen <strong>und</strong> unkonventionellen<br />

Palikot-Leuten belagerten Festung, deren<br />

Burgherr feste Eisenrüstung anzulegen befahl.<br />

Der erste, der diesem Unfug die Gefolgschaft<br />

aufkündigte, war Aleksander<br />

Kwaśniewski, der auf das Potential von 20<br />

bis 25 Prozent der Wählerstimmen verwies,<br />

auf die hohe Verantwortung zudem,<br />

die die beiden linksliberalen Parlamentsgruppierung<br />

dabei hätten. Seine Initiativen<br />

verliefen schnell im Sande, unerbittlich<br />

folgte Miller seiner harten Linie. Er rechnete<br />

fest damit, dass die „Belagerer“ sich<br />

aufreiben würden, weil ihnen programmatische<br />

Bindung fehle <strong>und</strong> überhaupt das<br />

Sitzfleisch fürs harte politische Geschäft.<br />

Dass er mit dieser Taktik praktisch das gesamte<br />

linksliberale Feld außerhalb seiner<br />

Burg zur leichten Beute der Wirtschaftsliberalen<br />

machte, entging dem alten Fuchs.<br />

In dem albernen Streit, wer von den beiden<br />

Streithähnen eigentlich der echte, der<br />

bessere Sozialdemokrat sei, hat nun der<br />

Linksdemokrat Miller gewonnen. Womöglich<br />

ist es sein letzter Sieg auf der politischen<br />

Ebene. Nicht wenige Beobachter<br />

unken bereits, dass auch die SLD am Ende,<br />

dass ihre Zeit aufgebraucht sei. Vielleicht<br />

elektrisieren <strong>und</strong> mobilisieren diese Warnrufe<br />

noch einmal das Wählerpotential, das<br />

einst als das eiserne galt <strong>und</strong> die Konkurrenz<br />

das Fürchten lehrte. Das waren Zeiten,<br />

in denen noch frisch <strong>und</strong> frech gefordert<br />

wurde, die Zukunft zu wählen. Heute<br />

läuft die Partei nur noch der eigenen Vergangenheit<br />

hinterher, ist ein Schatten ihrer<br />

selbst.<br />

Wenn im Herbst dieses Jahres die Stimmen<br />

gezählt werden, dürften sich PO <strong>und</strong><br />

PiS freuen – ganz gleich, wer dann tatsächlich<br />

die Nase vorne haben <strong>wir</strong>d. Dem<br />

alten Ziel, die übrige <strong>und</strong> lästige politische<br />

Konkurrenz loszuwerden, <strong>wir</strong>d man dann<br />

wieder ein Schritt näher gerückt sein. Und<br />

viele, die einen Kaczyński an den Regierungshebeln<br />

verhindern wollten, werden<br />

ihre Stimme – wie schon so oft <strong>und</strong> ohne<br />

innere Überzeugung – erneut der PO gegeben<br />

haben. An gutgemeinten Begründungen<br />

<strong>wir</strong>d es hinterher nicht fehlen. Dass<br />

die gesellschaftliche Wirklichkeit in Polen<br />

allerdings nach einem anderen Kräfteverhältnis<br />

verlangt, steht auf einem ganz anderen<br />

Blatt.<br />

<br />

Kulturhauptstadt<br />

2016: Wrocław<br />

Es war eine griechische Idee: Die damalige<br />

Kulturministerin Griechenlands, die<br />

Sängerin Melina Mercouri, hatte 1985<br />

vorgeschlagen, jährlich eine Kulturhauptstadt<br />

Europas zu benennen. Um die bei der<br />

EU-Erweiterung 2004 <strong>und</strong> 2007 hinzugekommenen<br />

neuen EU-Mitglieder möglichst<br />

schnell in die Aktion einzubinden, werden<br />

ab 2009 zwei Kulturhauptstädte ernannt,<br />

davon eine aus den alten Mitgliedstaaten<br />

<strong>und</strong> eine aus den neuen. Im Jahr 2016 werden<br />

das niederschlesische Wrocław <strong>und</strong><br />

das baskische San Sebastian diesen Titel<br />

tragen. Wrocław hat sich für das nächste<br />

Jahr viel vorgenommen. In Wroclaw, werde<br />

längst an vielen Stellen gebaut, sagte der<br />

Bürgermeister der Stadt, Rafal Dutkiewicz,<br />

bei der Tourismusmesse ITB (4. bis 8.<br />

März) in Berlin. Bereits im Herbst diesen<br />

Jahres soll das neue Musikforum mit vier<br />

Musiksälen <strong>und</strong> Platz für 1800 Gäste eröffnen.<br />

Musik ist 2016 ein wichtiger Schwerpunkt:<br />

Mehr als 70 Projekte von Klassik bis<br />

Rock sind geplant, etablierte Festivals wie<br />

«Jazz an der Oder» eingeschlossen. «Singing<br />

Europe» heißt eines davon, bei dem<br />

Chöre aus ganz Europa zusammen auftreten<br />

sollen.<br />

<br />

<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />

11


GESCHICHTE<br />

Wiedereröffnung der Ausstellung im KZ Sonnenburg<br />

Erfolge <strong>und</strong> Probleme<br />

Angehörige der Opfer nicht angemessen berücksichtigt<br />

Von Kamil Majchrzak<br />

12 <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />

Am 30. Januar <strong>2015</strong> wurde in dem<br />

gr<strong>und</strong>sanierten Museum der Martyrologie<br />

in Słońsk eine neue Ausstellung zur Geschichte<br />

des deutschen KZ <strong>und</strong> Zuchthaus<br />

Sonnenburg eröffnet. Zeitgleich erschien<br />

beim Metropol-Verlag eine neue Publikation<br />

zu dem Thema. In Sonnenburg waren<br />

u.a. Antifaschisten aus Deutschland <strong>und</strong><br />

Widerstandskämpfer aus vielen von der<br />

deutschen Wehrmacht besetzten Ländern<br />

weggesperrt. In der Nacht vom 30. zum<br />

31. Januar 1945 wurden 819 Gefangene<br />

von einem SS-Kommando erschossen.<br />

Die Berliner Vereinigung der Verfolgten<br />

des Naziregimes nimmt seit 2010 an den<br />

jährlichen Gedenkfeiern an die Opfer des<br />

KZ <strong>und</strong> Zuchthauses teil, die die Gemeinde<br />

veranstaltet. Ein neugegründeter Internationaler<br />

Arbeitskreis setzt sich seitdem<br />

dafür ein, dass die Gedenkstätte in Słońsk<br />

mit dem Museum <strong>und</strong> dem Friedhof für die<br />

Opfer des Zuchthauses auch ein europäischer<br />

Gedenk- <strong>und</strong> Mahnort <strong>wir</strong>d.<br />

Die Zusammenarbeit zwischen der Berliner<br />

VVN-BdA <strong>und</strong> der Gemeinde in Słońsk<br />

begann mit der Vorbereitung der viel beachteten<br />

Konferenz zur Geschichte des KZ<br />

<strong>und</strong> Zuchthauses Sonnenburg im September<br />

2013. An dieser nahmen Angehörige<br />

ehemaliger KZ- bzw. Zuchthaus-Häftlinge<br />

teil: Erika Klug, Tochter von August Klug,<br />

der in dem berüchtigten Massaker 1945<br />

ermordet wurde; Wolfgang Linke, Sohn von<br />

Emil Linke, der nach seiner Entlassung aus<br />

dem KZ Sonnenburg in die Sowjetunion<br />

floh <strong>und</strong> dort 1938 im Zuge des Großen<br />

Terrors ermordet wurde; Ingrid Kröning,<br />

Tochter des im Zuchthaus ermordeten<br />

deutschen Antifaschisten Paul Voss sowie<br />

die dritte Generation von KZ-Häftlingen Natalja<br />

Schäfer (Enkelin von Rudolf Bernstein,<br />

Autor des Buches »Die Hölle von Sonnenburg«)<br />

sowie Jan Lekschas (Enkel von Fritz<br />

Lange). An der Konferenz nahmen auch<br />

teil Peter Gerlinghoff, Leiter des Mitte der<br />

1980er-Jahre begründeten »Arbeitskreis<br />

Ehemaliges KZ Sonnenburg« bei der Westberliner<br />

Friedenskooperative, Eckart Spoo,<br />

Herausgeber der Zeitschrift Ossietzky.<br />

Kurz nach der Konferenz unterbreitete der<br />

Arbeitskreis der Gemeinde ein von Kaspar<br />

Nürnberg, Dr. Hans Coppi, Kamil Majchrzak<br />

<strong>und</strong> dem polnischen Historiker Dr. Andrzej<br />

Toczewski abgestimmtes Konzept<br />

über »Thematische Aspekte für eine neue<br />

Ausstellung im ›Museum der Martyrologie<br />

der Häftlinge – Opfer des Hitlerfaschismus‹<br />

in Słońsk/Sonnenburg 1933-1945«.<br />

Nach eingehender Diskussion u.a. mit dem<br />

polnischen Prof. Tomasz Nodzyński, einem<br />

Experten für Geschichte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />

wurden die vorgelegten »Themen-<br />

Aspekte« Gr<strong>und</strong>lage für die zweisprachige<br />

Ausstellung im Museum <strong>und</strong> die anschließende<br />

Ausschreibung der Gemeinde zu deren<br />

Gestaltung. Zuvor übergab Peter Gerlinghoff<br />

Materialien seines Arbeitskreises<br />

an die Berliner VVN-BdA. Frieder Böhne<br />

übertrug die darin enthaltenen ca. 500 Namen<br />

in eine von ihm angelegte Datenbank,<br />

die Ende Dezember 2014 – nach umfangreichen<br />

weiteren Recherchen – nunmehr<br />

956 Namen von ehemaligen KZ-Häftlingen<br />

enthält. Der engagierte Fotograph Andreas<br />

Domma fertigte Mitte 2013 eine umfangreiche<br />

Inventarisierung der zerstörten Exponate<br />

der Ausstellung des Museums aus<br />

dem Jahre 1974 an.<br />

Bei der Suche nach einer zusammenhängenden<br />

Darstellung über die wechselvolle<br />

– <strong>und</strong> in der deutschen Erinnerungskultur<br />

weitgehend unbekannte – Geschichte des<br />

KZ <strong>und</strong> Zuchthauses, lagen bislang nur eine<br />

polnische Monographie von Przemysław<br />

Mnichowski <strong>und</strong> in deutscher Sprache lediglich<br />

eine Publikation von André Hohengarten<br />

aus Luxemburg zum Massaker vom<br />

30./31. Januar 1945 <strong>und</strong> von Kaspar Nürnberg<br />

zum Konzentrationslager Sonnenburg<br />

vor. Der Internationale AK konsultierte deshalb<br />

Historiker in mehreren europäischen<br />

Ländern, die sich mit der Geschichte des<br />

KZ <strong>und</strong> Zuchthauses Sonnenburg befasst<br />

hatten sowie Gedenkstätten, deren Geschichte<br />

mit Sonnenburg verb<strong>und</strong>en ist.<br />

Insbesondere seien hier erwähnt: Irene<br />

von Götz, Kuratorin der »Gedenkstätte SA-<br />

Gefängnis Papestrasse«, Dr. Laurent Thiery<br />

von »Centre d`histoire et de mémoire du<br />

Nord de Calais: La Coupole« (Frankreich),<br />

der norwegische Forscher Thomas V. H.<br />

Hagen vom Stiftelsen Arkivet in Kristiansand<br />

sowie der engagierte Soziologe Jan<br />

Hertogen aus Belgien, der umfassende<br />

Recherchen zur Geschichte der Belgier in<br />

Sonnenburg vorlegte <strong>und</strong> Kontakt zu Angehörigen<br />

<strong>und</strong> mehreren noch lebenden ehemaligen<br />

Zuchthaus-Häftlingen herstellte.<br />

Für die Erarbeitung der Inhalte der neuen<br />

Hans Coppi führt die Angehörigen ehemliger Häftlinge durch die neue Ausstellung.<br />

Foto: Andreas Domma<br />

Ausstellung waren die polnischen Partnerinnen<br />

<strong>und</strong> Partner für das Zuchthaus im<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>erts bis zum Jahr 1933 <strong>und</strong> für<br />

das Gedenken <strong>und</strong> Erinnern in den Nachkriegsjahrzehnten<br />

in Słońsk zuständig. Der<br />

Internationale Arbeitskreis zum Gedenken<br />

an die Häftlinge des KZ <strong>und</strong> Zuchthauses<br />

Sonnenburg bei der Berliner VVN-BdA<br />

wurde von der Gemeinde beauftragt, den<br />

Zeitraum von 1933 bis 1945 aufzuarbeiten.<br />

Autorinnen <strong>und</strong> Autoren der Recherchen<br />

<strong>und</strong> Texte der so entstandenen 15<br />

Tafeln sind: Frieder Böhne, Dr. Hans Coppi,<br />

Christoph Gollasch, Thomas V. H. Hagen<br />

(Kristiansand, Norwegen), Jan Hertogen<br />

(Mechelen, Belgien), Irmtraudt Kuß, Kamil<br />

Majchrzak, Diete Oudesluijs (Amsterdam,<br />

Niederlande) sowie Daniel Queiser.<br />

Die polnische Gemeinde Słońsk war bei<br />

den diesjährigen Gedenkfeiern sichtbar<br />

überfordert. Eine angemessene Einbin-


GEDENKEN<br />

Angehörige ehemaliger Opfer aus Deutschland, Belgien, Holland <strong>und</strong> Norwegen vor dem Museum<br />

Foto: Andreas Domma<br />

dung der Angehörigen ehemaliger Opfer<br />

in das Gedenken fand nicht statt. Dabei<br />

waren 17 Angehörige ehemaliger Häftlinge,<br />

bzw. Vertreter von Opferverbänden aus<br />

Deutschland, Belgien, den Niederlanden<br />

<strong>und</strong> Norwegen nach Słońsk gekommen.<br />

Sie wurden eingeladen, waren aber nicht<br />

willkommen. Sie wurden nicht begrüßt <strong>und</strong><br />

teilweise am Zugang zu den Feierlichkeiten<br />

in Przyborów gehindert. Die Gemeinde<br />

änderte einseitig das Programm. Ohne<br />

Vorankündigung wurden die Reden des<br />

belgischen Konsuls aus Poznań Jan Spillia-<br />

Das Konzentrationslager <strong>und</strong><br />

Zuchthaus Sonnenburg<br />

Das Zuchthaus in Sonnenburg war schon vor der Nazi-Zeit bekannt. Hier saß unter anderem<br />

der Schuster Wilhelm Voigt ein, der später als „Hauptmann von Köpenick“ berühmt<br />

wurde. Doch 1930 war diese Haftanstalt von der preußischen Regierung wegen „katas t<br />

r o - phaler hygienischer Verhältnisse“ geschlossen worden. Doch kaum waren die Nazis<br />

an der Macht, wurde Sonnenburg reaktiviert Sonnenburg symbolisiert heutewie kaum<br />

ein anderer Ort Beginn <strong>und</strong> Ende der zwölf Jahre währenden Schreckensherrschaft des<br />

NS-Regimes. Als eine der größten frühen Folter- <strong>und</strong> Haftstätten im Deutschen Reich<br />

wurde das Konzentrationslager Sonnenburg Anfang <strong>April</strong> 1933<br />

eingerichtet. Nach dessen Auflösung im Frühjahr 1934 fungierte<br />

die Haftstätte als Zuchthaus. Von 1942 bis 1944 waren hier<br />

über 1500 Häftlinge aus dem besetzten Westeuropa <strong>und</strong> Norwegen<br />

inhaftiert, die aufgr<strong>und</strong> des Nacht-<strong>und</strong>-Nebel-Erlasses vom<br />

7. Dezember 1941 verschleppt worden waren. Mit dem Näherrücken<br />

der Roten Armee wurde die Evakuierung der Haftanstalt<br />

angeordnet. In der Nacht vom 30. zum 31. Januar 1945 erschoss<br />

ein 17-köpfiges SS-Kommando 819 Häftlinge. Erstmals widmet<br />

sich eine Publikation der in der deutschen Erinnerungskultur<br />

weitgehend unbekannten Geschichte des Konzentrationslagers<br />

<strong>und</strong> Zuchthauses Sonnenburg von 1933 bis 1945. Die einh<strong>und</strong>ert<br />

Kilometer von Berlin entfernte polnische Gemeinde Slonsk, das frühere Sonnenburg, ist<br />

mit dem neu gestalteten Museum <strong>und</strong> dem Friedhof mit den 16 Massengräbern ein europäischer<br />

Gedenk- <strong>und</strong> Mahnort.<br />

<br />

Hans Coppi, Kamil Majchrzak (Hrsg.): Das Konzentrationslager <strong>und</strong> Zuchthaus Sonnenburg.<br />

ISBN: 978-3-86331-227-5 - 240 Seiten · 19,00 Euro<br />

ert, Jan Hertogen <strong>und</strong> von Hans Coppi, der<br />

maßgeblich an der Erarbeitung der neuen<br />

Ausstellung im Museum beteiligt war, gestrichen.<br />

Der Internationale AK bei der Berliner<br />

VVN-BdA wies in einem Schreiben an die<br />

Gemeinde auf das mangelhafte Impressum<br />

der Ausstellung <strong>und</strong> zahlreiche inhaltliche<br />

Fehler <strong>und</strong> Urheberrechtsverletzungen im<br />

gegenwärtig von der Gemeinde vertriebenen<br />

Ausstellungs-Katalog <strong>und</strong> der Ausstellung<br />

hin. Die Ausblendung der Autorinnen<br />

<strong>und</strong> Autoren der Ausstellung ist umso fragwürdiger,<br />

als die Sanierung des Museums<br />

<strong>und</strong> die Ausstellung selbst von der Europäischen<br />

Union finanziert wurden. Ohne<br />

die intensive Zusammenarbeit von Bürgern<br />

<strong>und</strong> Institutionen mehrerer europäischer<br />

Länder <strong>und</strong> der Bemühungen des Internationalen<br />

Arbeitskreises bei der Berliner<br />

VVN-BdA wäre die Ausstellung in dieser<br />

Form nicht möglich gewesen.<br />

Einen wichtigen Beitrag zur Erforschung<br />

der Geschichte des Zuchthaueses Sonnenburg<br />

<strong>und</strong> seiner juristischen Aufarbeitung<br />

leisteten auch der polnische Staatsanwalt<br />

Janusz Jagiełłowicz sowie Frau Magdalena<br />

Dźwigał von der Kommission für die Verfolgung<br />

von Verbrechen gegen die polnische<br />

Nation in Szczecin. Jagiełłowicz hat am 24.<br />

Februar 2014 die Ermittlungen der polnischen<br />

Staatsanwaltschaft wegen Kriegsverbrechen<br />

im Zuchthaus Sonnenburg<br />

wieder aufgenommen. Darüber informierte<br />

er die Angehörigen im Anschluss an die<br />

Ausstellungs-Eröffnung.<br />

<br />

Buch zur Vertreibungs-<br />

Tagung erschienen<br />

Im Februar 2012 fand an der Freien Universität<br />

Berlin eine Tagung mit dem Titel<br />

„War die ´Vertreibung´ Unrecht“ statt. Zu<br />

dieser von der Deutsch-Polnischen Gesellschaft<br />

der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland<br />

initiierten Konferenz ist nun der Sammelband<br />

erschienen. Vor dem Hintergr<strong>und</strong><br />

der in der B<strong>und</strong>esrepublik anhaltenden<br />

Unrechtsdebatte diskutieren die Beiträge<br />

des Buches die völkerrechtliche Zulässigkeit<br />

<strong>und</strong> die historischen Aus<strong>wir</strong>kungen der<br />

Beschlüsse des Potsdamer Abkommens<br />

vom 2.8.1945. Das Buch enthält die auf<br />

der Konferenz durch die Referenten gehaltenen<br />

Beiträge. Natürlich ist das Buch<br />

über alle Buchhandlungen bestellbar. Es<br />

<strong>wir</strong>d auch bei der Hauptversammlung der<br />

Deutsch-Polnischen Gesellschaft der BRD<br />

sowie bei der im September stattfindenden<br />

Konferenz zum Potsdamer Abkommen erhältlich<br />

sein.<br />

<br />

Christoph Koch (Hrsg.)<br />

War die »Vertreibung« Unrecht?<br />

Die Umsiedlungsbeschlüsse des Potsdamer<br />

Abkommens <strong>und</strong> ihre Umsetzung in ihrem<br />

völkerrechtlichen <strong>und</strong> historischen Kontext<br />

Verlag Peter Lang, Frankfurt. Printausgabe:<br />

ISBN 978-3-631-62909-3, Preis: 69,95 €<br />

e-book: ISBN 978-3-653-04638-0, Preis:<br />

77,83 €<br />

<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />

13


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14 <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong>


NACHRUF<br />

Der Historiker <strong>und</strong> langjährige Direktor des Jüdischen Historischen Instituts Warschau bei einer Rede<br />

in der Münchner Synagoge.<br />

Foto: Marina Maisel<br />

Zum Tod von Feliks Tych (1929 - <strong>2015</strong>)<br />

Gern leben <strong>und</strong> eine Aufgabe haben<br />

Von Holger Politt<br />

Die Arbeiterrevolution kam doch. Was<br />

nur noch ein Gegenstand historischer Forschung<br />

zu sein schien, stand eines Tages<br />

unverhofft vor der eigenen Haustür. Als<br />

der „Solidarność“-Aufstand das Land in<br />

den Gr<strong>und</strong>festen erschütterte, begann<br />

sich auch das berufliche Leben desjenigen<br />

Mannes zu ändern, der in den zurückliegenden<br />

Jahren der Geschichte der polnischen<br />

Arbeiterbewegung mit wissenschaftlichen<br />

Methoden vielleicht am gründlichsten<br />

nachgespürt hatte. Feliks Tych sah sich von<br />

nun an starkem Gegenwind ausgesetzt, der<br />

schließlich in den Jahren 1989/90 zum regelrechten<br />

Sturm geriet, mit dem der Forschungsgegenstand<br />

selbst von der Agenda<br />

weggefegt wurde, mit dem Argument übrigens,<br />

er sei ohnehin nicht viel mehr als Teil<br />

der verhassten <strong>und</strong> gestürzten Staatsideologie.<br />

Eine auf wissenschaftliche Institutionen<br />

gestützte <strong>und</strong> mit öffentlichen Mitteln<br />

geförderte Erforschung der Geschichte der<br />

polnischen Arbeiterbewegung entschwand<br />

vollkommen von der Bildfläche. Wer heute<br />

im guten Glauben sich auf die Suche nach<br />

vergangenen Spuren der polnischen Arbeiterbewegung<br />

aufmacht, kommt meistens<br />

nur noch bis zur legendären „Solidarność“-<br />

Zeit mit dem Arbeiterführer Lech Wałȩsa an<br />

der Spitze.<br />

Allerdings hatte der Historiker Feliks Tych<br />

zuvor geleistet, wofür er weltweit geschätzt<br />

wurde. An erster Stelle darf wohl der F<strong>und</strong><br />

der über 1.000 Briefe von Rosa Luxemburg<br />

an Leo Jogiches stehen, auf die der junge<br />

Historiker Ende der fünfziger Jahre in Moskau<br />

stieß. Von 1968 bis 1971 wurden die<br />

meisten dieser Briefe in einer dreibändigen<br />

Ausgabe in Warschau auch der Öffentlichkeit<br />

zugänglich. Spätestens seit diesem<br />

Moment stand die gesamte Rosa-Luxemburg-Forschung<br />

auf anderen Füßen. Eine<br />

der Folgen dieses Brieff<strong>und</strong>es war übrigens<br />

die in der DDR ab 1970 erscheinende große<br />

Werkausgabe, die nun 2019 zum 100.<br />

Jahrestag der Ermordung von Rosa Luxemburg<br />

<strong>und</strong> Leo Jogiches abgeschlossen<br />

werden soll <strong>und</strong> ohne die Quellenhinweise<br />

aus den Briefen Rosa Luxemburgs an ihren<br />

langjährigen Lebenspartner <strong>und</strong> engsten<br />

politischen Verbündeten gar nicht zu denken<br />

wäre.<br />

Lang wäre die Liste, sollte hier aufgezählt<br />

werden, was Feliks Tych als Forscher der<br />

Geschichte der polnischen Arbeiterbewegung<br />

geleistet hat. Stellvertretend mögen<br />

deshalb zwei Vorhaben genannt werden,<br />

die gar nicht mehr abgeschlossen werden<br />

konnten. Zunächst wurde eine mehrbändige<br />

Ausgabe von Briefen Julian Marchlewski<br />

ein Opfer der Wende, denn das für den<br />

Druck bereits fertiggestellte Material fand<br />

in Polen keinen Verlag mehr. Und schließlich<br />

arbeitete Feliks Tych in den neunziger<br />

Jahren <strong>und</strong> mit Unterstützung deutscher<br />

Stiftungsgelder an einer politischen Biographie<br />

von Leo Jogiches. Erhalten geblieben<br />

sind erste Kapitel, die die Zeit in Wilna<br />

<strong>und</strong> in Zürich betreffen, sowie Fragmente.<br />

Seine Berufung zum Direktor des Jüdischen<br />

Historischen Instituts in Warschau,<br />

die Funktion übte er von 1996 bis 2006<br />

aus, machte eine Weiterarbeit an der begonnenen<br />

Arbeit unmöglich.<br />

Am 27. Januar 2010 hielt Feliks Tych im<br />

Deutschen B<strong>und</strong>estag eine Rede, in der er<br />

an seinen Vater erinnerte, der deutsche<br />

Okkupanten noch aus der Zeit des Ersten<br />

Weltkriegs kannte <strong>und</strong> deshalb meinte,<br />

das Verhalten deutscher Soldaten gut einschätzen<br />

zu können. Dass er seinen jungen<br />

Sohn rettete, weil er ihn noch rechtzeitig<br />

aus dem Ghetto weggab, <strong>wir</strong>d dem Vater in<br />

der Todessst<strong>und</strong>e in Treblinka kaum Trost<br />

gewesen sein. Feliks Tych trat im Deutschen<br />

B<strong>und</strong>estag als Zeitzeuge auf, der die<br />

Vernichtung der polnischen Juden überlebt<br />

hatte. Dass die Abgeordneten an diesem<br />

Tag einem der größten <strong>und</strong> verdienstvollsten<br />

Luxemburg-Forscher zuhörten, <strong>wir</strong>d<br />

kaum jemand unter ihnen wahrgenommen<br />

haben.<br />

Als der junge Historiker ganz am Beginn<br />

seiner großen Laufbahn der Geschichte<br />

der Sozialdemokratie aus dem Königreich<br />

Polen nachzuforschen begann, jener legendären<br />

Partei von Leo Jogiches <strong>und</strong> Rosa<br />

Luxemburg, stieß er auf Gedanken wie diesen<br />

hier: Einmal erkämpft <strong>und</strong> mit teurem<br />

Arbeiterblut bezahlt, müsse die Arbeiterbewegung<br />

die Freiheit der Meinung, der Versammlung<br />

<strong>und</strong> der Organisation hüten wie<br />

den Augapfel, denn nur unter diesen Bedingungen<br />

könne der Weg zum Sozialismus<br />

eingeschlagen werden. Die Gegenwart, in<br />

der Feliks Tych diesem Gedanken damals<br />

folgte, schien genügend zu beweisen, dass<br />

es auch anders gehe. Erst als polnische<br />

Arbeiter zu H<strong>und</strong>ertausenden die einfache<br />

<strong>und</strong> unteilbare Freiheit der Meinung, des<br />

Versammelns <strong>und</strong> der Organisation einforderten<br />

– <strong>und</strong> der Historiker wusste, wie<br />

sehr das alles in vielerlei Hinsicht den einstigen<br />

Rezepten Rosa Luxemburgs glich –<br />

war die Gesellschaftsordnung am Ende, die<br />

irrigerweise Sozialismus genannt wurde.<br />

Wer darüber nachzudenken beginnt, <strong>wir</strong>d<br />

am umfangreichen Werk, das Feliks Tych<br />

hinterlassen hat, nicht vorbeikommen.<br />

<br />

<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />

15


GESCHICHTE/POLITIK<br />

Vor 70 Jahren<br />

8. Mai - Tag der Befreiung<br />

Das Elend der deutschen Nachkriegsgeschichte<br />

Von Renate Hennecke<br />

Für Verfolgte <strong>und</strong> Widerstandskämpfer/<br />

innen war der 8. Mai 1945 von Anfang an<br />

der „Tag der Befreiung”. Darin enthalten ist<br />

die Erinnerung an die Verbrechen der Nazis,<br />

die Ehrung des Widerstands, der Dank<br />

an die Befreier. Für die Mehrheit der B<strong>und</strong>esbürger<br />

galt der 8. Mai lange als Tag des<br />

Zusammenbruchs, der bedingungslosen<br />

Kapitulation, der deutschen Katastrophe<br />

–- manchen gar als schwärzester Tag in<br />

der deutschen Geschichte. Nur langsam<br />

drang ins öffentliche Bewusstsein, welche<br />

beispiellosen Verbrechen während der NS-<br />

Zeit in deutschem Namen <strong>und</strong> von Deutschen<br />

begangen worden waren. Es dauerte<br />

40 Jahre, bis am 8. Mai 1985 Richard von<br />

Weizsäcker als erster amtierender B<strong>und</strong>espräsident<br />

sagte: „Der 8. Mai war ein<br />

Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit<br />

von dem menschenverachtenden System<br />

der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.”<br />

Weizsäcker gedachte der Opfer,<br />

schloss bislang ungenannte Opfergruppen<br />

– Deserteure, Euthanasie-Opfer, Sinti<br />

<strong>und</strong> Roma, Kommunisten – ein, sprach von<br />

Trauer <strong>und</strong> Leid, die für viele Deutsche mit<br />

dem Kriegsende verb<strong>und</strong>en waren, nannte<br />

die Ursachen. Drei Tage nach dem verstörenden<br />

Händedruck zwischen Helmut<br />

Kohl <strong>und</strong> Ronald Reagan über den Gräbern<br />

deutscher Soldaten <strong>und</strong> SS-Angehöriger<br />

auf dem Friedhof von Bitburg-Kolmeshöhe<br />

setzte von Weizsäcker ein Zeichen dagegen:<br />

Er zitierte die jüdische Weisheit, wonach<br />

Versöhnung nicht durch Beschweigen<br />

<strong>und</strong> Verdrängen möglich ist, sondern<br />

nachhaltiges Erinnern voraussetzt: „Das<br />

Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.”<br />

Recht auf Vergessen?<br />

„Erinnern oder vergessen?“ So fasste Die<br />

Zeit anderthalb Jahre später das Leitmotiv<br />

der Kontroverse zusammen, die durch die<br />

Weizsäcker-Rede angestoßen wurde. Einer,<br />

der für das Vergessen plädierte, war der<br />

CSU-Vorsitzende <strong>und</strong> bayerische Ministerpräsident<br />

Franz Josef Strauss. Schon<br />

1969 hatte die Frankfurter R<strong>und</strong>schau ihn<br />

mit den Worten zitiert: „Ein Volk, das diese<br />

<strong>wir</strong>tschaftlichen Leistungen vollbracht hat,<br />

hat ein Recht darauf, von Auschwitz nichts<br />

mehr hören zu wollen.” (FR, 13. September<br />

1969) Die Vergangenheit, fand er im Jahr<br />

des Historikerstreits 1986, müsse man „in<br />

der Versenkung, oder Versunkenheit, besser<br />

gesagt,” verschwinden lassen. „Fehler”<br />

der deutschen Politik „bis in den Bereich<br />

des Verbrecherischen hinein” wollte er gerade<br />

noch einräumen, aber „die ewige Vergangenheitsbewältigung<br />

als gesellschaftliche<br />

Dauerbüßeraufgabe” müsse aufhören.<br />

Schließlich seien „Verbrechen nicht nur<br />

von Deutschen begangen” worden. (Die<br />

Zeit, 5.12.1986)<br />

In dasselbe Horn stieß der Vorsitzende<br />

der CDU/CSU-B<strong>und</strong>estagsfraktion Alfred<br />

Dregger. Für den Anführer der „Stahlhelmfraktion”<br />

der Union galt das Motto:<br />

„Es muß endlich Schluß sein mit der uns<br />

von den Siegermächten aufgezwungenen<br />

Geschichtsbetrachtung.” (Der Spiegel<br />

48/1986) Die Deutschen, forderte er,<br />

müssten endlich „normal werden” <strong>und</strong><br />

„aus dem Schatten Hitlers heraustreten”.<br />

Missklang in der Scheinharmonie<br />

Die Ereignisse von 1989/90, der Sieg<br />

des „Westens” im Kalten Krieg, veränderten<br />

die Situation. Durch seine Teilnahme<br />

an den Feierlichkeiten, die 1995 um den<br />

60. Jahrestag des Endes von Krieg <strong>und</strong> Nazi-Herrschaft<br />

in London, Paris <strong>und</strong> Moskau<br />

stattfanden, demonstrierte B<strong>und</strong>eskanzler<br />

Kohl die „Normalität” des vereinigten<br />

Deutschlands. Am 8. Mai 1995 selbst kamen<br />

umgekehrt Vertreter der USA, Großbritanniens,<br />

Frankreichs <strong>und</strong> Russlands<br />

zu einer Gedenkzeremonie nach Berlin.<br />

Die Vergangenheit schien vergangen, der<br />

deutsche Kanzler ein Regierungschef wie<br />

andere auch. Vertreter ehemals besetzter<br />

Länder wie Belgien, Dänemark, Norwegen,<br />

Polen oder Tschechische Republik waren<br />

nicht eingeladen. Im Fokus stand der<br />

gleichberechtigte Schulterschluss mit den<br />

Siegern, nicht das Erinnern an die Leiden<br />

der Opfer.<br />

Einen Missklang in diese Scheinharmonie<br />

brachte die Anzeige, die unter der Überschrift<br />

„8. Mai – Gegen das Vergessen” in<br />

der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom<br />

7. <strong>April</strong> 1995 veröffentlicht wurde. Der Anzeigentext<br />

beinhaltete einen Angriff auf die<br />

Allierten <strong>und</strong> Unterzeichner des Potsdamer<br />

Abkommens – auf die nach Berlin geladenen<br />

Gäste also. Er begann mit einem Zitat<br />

von Theodor Heuss aus der Zeit kurz vor<br />

seiner Wahl zum ersten B<strong>und</strong>espräsidenten<br />

der soeben gegründeten BRD: „Im Gr<strong>und</strong>e<br />

genommen bleibt dieser 8. Mai 1945 die<br />

tragischste <strong>und</strong> fragwürdigste Paradoxie<br />

der Geschichte für jeden von uns. Warum<br />

denn? Weil <strong>wir</strong> erlöst <strong>und</strong> vernichtet in<br />

einem gewesen sind”, hatte er in der 10.<br />

Sitzung des Parlamentarischen Rats zur<br />

Verabschiedung des Gr<strong>und</strong>gesetzes am 8.<br />

Mai 1949 gesagt. Die von Heuss beschriebene<br />

Paradoxie, so der Anzeigentext weiter,<br />

werde zunehmend durch eine einseitige<br />

Charakterisierung des 8. Mai als Tag<br />

der Befreiung in den Hintergr<strong>und</strong> gedrängt.<br />

Man dürfe aber nicht vergessen, dass<br />

dieser Tag auch „den Beginn von Vertreibungsterror<br />

<strong>und</strong> neuer Unterdrückung im<br />

Osten <strong>und</strong> den Beginn der Teilung unseres<br />

Landes bedeutete”. Ein „Geschichtsbild,<br />

das diese Wahrheit verschweigt, verdrängt<br />

<strong>und</strong> relativiert”, könne nicht „Gr<strong>und</strong>lage für<br />

das Selbstverständnis einer selbstbewussten<br />

Nation” sein, die notwendig sei, „um<br />

vergleichbare Katastrophen künftig auszuschließen”.<br />

Initiiert war die Anzeige von Wortführern<br />

der Neuen Rechten (Klaus Rainer Röhl, Ulrich<br />

Schacht, Heimo Schwilk <strong>und</strong> Rainer<br />

Zitelmann) mit dem Ziel, die „kulturelle Hegemonie<br />

der Linken” zu brechen, so Rainer<br />

Zitelmann laut Spiegel 18/1995, <strong>und</strong> die<br />

Deutungshoheit über den 8. Mai zurückzugewinnen.<br />

Unter den Unterzeichnern<br />

waren etliche prominente Repräsentanten<br />

der nationalkonservativen Strömungen in<br />

CDU/CSU <strong>und</strong> FDP. Der ehemalige Verteidigungsminister<br />

Apel (SPD) zog seine Unterschrift<br />

zurück, nicht wegen des Inhalts<br />

der Anzeige, sondern wegen der peinlichen<br />

Gesellschaft, in der er sich befand. Alfred<br />

Dregger, mittlerweile Ehrenpräsident der<br />

CDU/CSU-Fraktion, sah keinen Gr<strong>und</strong> zu<br />

einem solchen Schritt. Er sagte lediglich,<br />

auf Intervention des Kanzleramtes, seinen<br />

geplanten Auftritt bei einer Veranstaltung<br />

in München ab, die der Werbung weiterer<br />

Unterzeichner dienen sollte. Berührungsängste<br />

gegenüber rechten Kräften hatte<br />

er nicht: Schon am 25. März 1995 hatte<br />

er bei einer Veranstaltung des Verbands<br />

Deutscher Soldaten in Heilbronn mit einem<br />

Vortrag unter der Überschrift „Der<br />

ganzen Wahrheit ins Auge sehen” für die<br />

Unterzeichnung der Anzeige geworben.<br />

Dieser Verband, unter dessen Dach u.a.<br />

die Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit<br />

der Angehörigen der ehemaligen Waffen-<br />

SS (HIAG) ihr Unwesen trieb, verbreitete so<br />

ungeniert nazistisches Gedankengut, dass<br />

16 <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong>


GESCHICHTE/POLITIK<br />

das Verteidigungsministerium 2004 nicht<br />

umhin konnte, der B<strong>und</strong>eswehr jeglichen<br />

Kontakt zu ihm zu verbieten.<br />

Das Elend der deutschen<br />

Nachkriegsgeschichte<br />

Die Veröffentlichung der Anzeige in der<br />

FAZ liegt zwanzig Jahre zurück, aber immer<br />

noch gilt, was Heribert Prantl in der<br />

Süddeutschen Zeitung vom 11. <strong>April</strong> 1995<br />

darauf antwortete: „Der Streit um den 8.<br />

Mai spiegelt das Elend der deutschen<br />

Nachkriegsgeschichte wider. Die Flucht<br />

vor der Vergangenheit ist noch immer<br />

nicht zu Ende. Zwar gibt es nur noch wenige<br />

Deutsche, die die Verbrechen des<br />

Nazi-Regimes leugnen. Dafür aber gibt es<br />

immer mehr, die neben diese Verbrechen<br />

das Einerseits schreiben <strong>und</strong> dann ein Andererseits<br />

hinzufügen: Einerseits, so heißt<br />

es, endet am 8. Mai 1945 der NS-Terror,<br />

andererseits aber beginnt mit diesem Tag<br />

der Vertreibungsterror. Man tut also so, als<br />

stünde der deutschen Schuld die Schuld<br />

der anderen gegenüber.” Als „seltsame<br />

Aufrechnung” charakterisierte Prantl diese<br />

Haltung. Man dürfe in der Tat nicht die Leiden<br />

vergessen, die für viele Menschen mit<br />

dem 8. Mai 1945 erst begannen. „Man darf<br />

aber auch nicht vergessen, auf wen <strong>und</strong><br />

auf welchen Tag dieses Leid zurückgeht.”<br />

Nicht am 8. Mai 1945 habe die deutsche<br />

Niederlage stattgef<strong>und</strong>en, sondern – wie<br />

auch von Weizsäcker in seiner Rede von<br />

1985 feststellte – am 30. Januar 1933,<br />

dem Tag, an dem Hitler zum Reichskanzler<br />

ernannt wurde.<br />

Das Vertreibungsmuseum, eine Idee<br />

aus der Stahlhelmfraktion<br />

Das Thema „Vertreibungsterror” wurde in<br />

diesen zwanzig Jahren vor allem von Erika<br />

Steinbach bedient. 1991 stimmte die hessische<br />

CDU-Abgeordnete im B<strong>und</strong>estag gegen<br />

die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie<br />

als deutsche Ostgrenze, 1994 trat sie in<br />

Absprache mit ihrem „politischen Leuchtturm”<br />

Alfred Dregger dem B<strong>und</strong> der Vertriebenen<br />

(BdV) bei, 1998 ließ sie sich zur<br />

BdV-Präsidentin wählen, 1999 präsentierte<br />

sie erstmals ihre Idee eines Vertreibungszentrums,<br />

das sie in der Mitte von Berlin, in<br />

Sichtweite des Denkmals für die ermordeten<br />

Juden Europas, errichtet wissen wollte.<br />

Damit sie nicht immer noch mehr außenpolitisches<br />

Porzellan zerschlagen konnte,<br />

wurde ihr das Projekt aus der Hand genommen<br />

<strong>und</strong> unter staatliche Oberaufsicht<br />

gestellt. Sein Zweck aber blieb derselbe:<br />

Anprangerung des „Unrechts”, das den<br />

Deutschen durch<br />

die Umsiedelung<br />

1945/46 angeblich<br />

angetan wurde. Mit<br />

Manfred Kittel wurde<br />

zudem ein Mann<br />

zum Gründungsdirektor<br />

berufen, der<br />

Steinbachs Weltsicht<br />

teilt. Über das<br />

von ihm vorgelegte<br />

Ausstellungskonzept<br />

schrieb der Publizist<br />

Conrad Taler alias<br />

Kurt Nelhiebel in der<br />

Zeitschrift Ossietzky:<br />

„… ungestört von<br />

Schlagzeile der Aachener Nachrichten.<br />

öffentlichem Interesse<br />

(konnte Kittel) ein Konzept entwickeln,<br />

das die Entkopplung von Krieg <strong>und</strong> Vertreibung<br />

zum Ziel hat <strong>und</strong> die Deutschen als<br />

die eigentlich Leidtragenden des Krieges<br />

<strong>und</strong> der Naziherrschaft erscheinen läßt.<br />

Zehn Seiten des Konzepts für die Arbeit der<br />

Stiftung sind der Vertreibung <strong>und</strong> den Gewalttaten<br />

russischer Soldaten gewidmet,<br />

zwei dem deutschen Besatzungsterror in<br />

Mittel- <strong>und</strong> Osteuropa.”<br />

Die Deutung der Umsiedelung<br />

als „ethnische Säuberung”<br />

Manfred Kittel hat sich mittlerweile durch<br />

eigenwilligen Umgang mit historischen<br />

Fakten <strong>und</strong> Eigenmächtigkeit gegenüber<br />

dem Wissenschaftlichen Beirat der Stiftung<br />

Flucht, Vertreibung, Versöhnung<br />

(SFVV), die als Trägerin des Vertreibungszentrums<br />

fungieren soll, ins Abseits manövriert.<br />

Im Dezember 2014 wurde er gefeuert<br />

<strong>und</strong> darf nun, weitab von Berlin, in der<br />

Bayreuther Außenstelle des B<strong>und</strong>esarchivs<br />

Lastenausgleichsakten bearbeiten.<br />

Zum Verteidiger von Kittels Konzeption<br />

hat sich der CSU-Politiker Bernd Posselt gemacht,<br />

B<strong>und</strong>esvorsitzender <strong>und</strong> Sprecher<br />

der Sudetendeutschen Landsmannschaft<br />

(der größten Einzelorganisation unter dem<br />

Dach des BdV). Der Stiftung FVV droht er<br />

mit einem „schweren Akzeptanz-Problem<br />

in Kreisen der Vertriebenen“ für den Fall,<br />

dass die „Vertreibung der Deutschen nach<br />

1945” nun womöglich „einseitig” im Kontext<br />

des Zweiten Weltkrieges dargestellt<br />

werde. Mit Kittel <strong>und</strong> Steinbach hält Posselt<br />

den Zweiten Weltkrieg <strong>und</strong> die NS-Politik<br />

als Ursache der Umsiedelungsmaßnahmen<br />

für relativ unbedeutend. Entscheidend<br />

seien viel frühere Entwicklungen: Im Gefolge<br />

der Französischen Revolution habe<br />

sich ab Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts in ganz<br />

Europa Nationalismus ausgebreitet wie<br />

eine ansteckende Krankheit, <strong>und</strong> mit ihm<br />

die Idealvorstellung ethnisch homogener<br />

Nationalstaaten. Tschechische <strong>und</strong> polnische<br />

Nationalisten hätten seitdem – <strong>und</strong><br />

verstärkt nach der Gründung einer unabhängigen<br />

Tschechoslowakei <strong>und</strong> der Wiederherstellung<br />

eines polnischen Staates<br />

1918/19 – davon geträumt, die Deutschen<br />

zu verjagen. Hitler habe ihnen schließlich<br />

nur einen Vorwand dafür geliefert. Dies<br />

impliziert, dass die Zwangsumsiedelung<br />

1945/46 nicht einer erneuten Instrumentalisierung<br />

deutschstämmiger Minderheiten<br />

für eine deutsche Expansion nach<br />

Osten einen Riegel vorschieben sollte,<br />

sondern eine von zahlreichen „ethnischen<br />

Säuberungen” gewesen sei, die alle von<br />

derselben völkisch-nationalistischen Motivation<br />

getrieben <strong>und</strong> alle gleichermaßen<br />

verbrecherisch gewesen seien.<br />

Auf wie schwachen Füßen diese These<br />

steht, zeigt schon die Unterstellung, ganz<br />

Europa habe sich die sehr deutsche Vorstellung<br />

der Nation als Abstammungsgemeinschaft<br />

zu eigen gemacht, <strong>und</strong> dies<br />

ausgerechnet im Kontext der Französischen<br />

Revolution, deren Konzept der Nation<br />

ausdrücklich ein nicht-völkisches war.<br />

Posselt jedenfalls hält Kittels Ablösung<br />

für „unfair <strong>und</strong> sachlich völlig unbegründet”,<br />

herbeigeführt durch eine „einseitige<br />

ideologische Kampagne”. In der Sudetendeutschen<br />

Zeitung zum Jahresende wurde<br />

die „schon im frühen Streit mit linken<br />

Politikern von FDP <strong>und</strong> PDS gegenwärtige<br />

Sorge” geäußert, „in einer verwässerten<br />

Ausstellung habe sich die Darstellung des<br />

Schicksals von 15 Millionen deutschen<br />

Heimatvertriebenen <strong>und</strong> Deportierten weniger<br />

an der geschichtlichen Wahrheit zu<br />

orientieren, sondern an den Geschichtsbil-<br />

<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />

17


GESCHICHTE/POLITIK<br />

dern einzelner Vertreiberstaaten <strong>und</strong> diesen<br />

gewogener Historiker <strong>und</strong> Politiker”.<br />

Posselt <strong>und</strong> seine CSU haben vorgesorgt:<br />

Das in München geplante Sudetendeutsche<br />

Museum <strong>wir</strong>d zwar vollständig aus<br />

Steuergeldern finanziert, aber allein von<br />

der Sudetendeutschen Stiftung, einer Einrichtung<br />

der Landsmannschaft, betrieben.<br />

Die bisherigen Informationen zur inhaltlichen<br />

Konzeption sind sehr vage gehalten.<br />

Jedenfalls gehört Kittel dem Wissenschaftlichen<br />

Beirat für dieses Museum an.<br />

Steinbachs Abschiedsrede<br />

Seit November 2014 ist Erika Steinbach<br />

nicht mehr Präsidentin des BdV. Einen großen<br />

Teil ihrer Abschiedsrede beim Tag der<br />

Heimat am 30.8.2014 widmete sie dem 8.<br />

Mai. Darin bekennt sie sich ausdrücklich<br />

zu der in der FAZ-Anzeige 1995 beschworenen<br />

Heuss‘schen Paradoxie <strong>und</strong> entwickelt<br />

eine neue Variante des Einerseits/<br />

Andererseits, mit verschärfter antikommunistischer<br />

Ausrichtung. Demzufolge wurde<br />

der Zweite Weltkrieg als Kalter Krieg fortgesetzt,<br />

Deutschland gehört am Ende – bei<br />

der <strong>wir</strong>klichen Befreiung am 9. November<br />

1989 – zu den Siegern, <strong>und</strong> das absolut<br />

Böse ist die Sowjetunion. Man kann‘s im<br />

Internet nachlesen unter http://www.bdvb<strong>und</strong>.de/files/steinbach-tdh-2014.pdf.<br />

Empörung wie noch vor ein paar Jahren<br />

löste Steinbach mit ihrem „national-apologetischen<br />

Geschichtsverständnis” (Urteil<br />

des Historikers Heinrich August Winkler<br />

2009) nicht mehr aus. Mit dem Bau eines<br />

Vertreibungsmuseums in Berlin sowie mit<br />

der Debatte über einen speziellen Gedenktag<br />

für die deutschen Opfer von Flucht,<br />

Vertreibung <strong>und</strong> Deportation, wie er in<br />

Bayern, Hessen <strong>und</strong> Sachsen bereits eingeführt<br />

wurde, haben die Verfechter des<br />

Andererseits die Deutungshoheit über die<br />

Geschichte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts als „Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

der Vertreibungen” ein Stück weit<br />

zurückgewonnen. Das Dogma vom „Unrecht<br />

der Vertreibung” wurde wieder gefestigt,<br />

<strong>und</strong> der BdV, den schon einmal der<br />

Modergeruch des Ewiggestrigen umwehte,<br />

konnte sich zur modernen Menschenrechtsorganisation<br />

stilisieren. Forschungsaufträge<br />

zu der Frage nach den politischen<br />

Motivationen, aus denen die Alliierten die<br />

Umsiedlung der außerhalb der neuen deutschen<br />

Grenzen verbliebenen Deutschen<br />

<strong>und</strong> Deutschstämmigen für notwendig hielten<br />

<strong>und</strong> in Potsdam beschlossen, gelten<br />

weiterhin nicht als dringendes Desiderat.<br />

Die Hoffnung der Befreiten<br />

Plakat <strong>und</strong> Postkarte der VVN-BdA Jozef Oleksy †<br />

Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes<br />

(VVN) wurde 1947 von NS-Verfolgten<br />

<strong>und</strong> Widerstandskämpfer/innen <strong>und</strong><br />

ihren Angehörigen gegründet. Seit 1971<br />

organisiert sie, nunmehr als VVN-B<strong>und</strong> der<br />

Antifaschistinnen <strong>und</strong> Antifaschisten, auch<br />

Angehörige jüngerer Generationen, unabhängig<br />

vom familiären Hintergr<strong>und</strong>. Ihr Plakat<br />

zum 70. Jahrestag der bedingungslosen<br />

Kapitulation des Deutschen Reiches lautet<br />

„8. Mai, Tag der Befreiung – was sonst?!” In<br />

einer Erklärung fordert sie, diesen Tag wie<br />

in vielen anderen Ländern zum nationalen<br />

Feiertag zu machen.<br />

Sie erinnert an die Weizsäcker-Rede von<br />

1985 <strong>und</strong> stellt fest: „Bis dahin hatte die<br />

Sicht der Nazis, der Deutsch-Nationalen,<br />

der ‚Frontkämpfer‘, der Profiteure <strong>und</strong><br />

Mitläufer das offizielle Vokabular geprägt:<br />

Zusammenbruch, Kapitulation, Besatzer.<br />

Mit Weizsäckers Rede wurde die Perspektive<br />

der Verfolgten des Nazi-Regimes<br />

ˏgesellschaftsfähig‘.“ Angesichts vielfältiger<br />

Bedrohungen der Demokratie, angesichts<br />

des rasanten Aufstiegs neofaschistischer<br />

<strong>und</strong> rechtspopulistischer Kräfte in<br />

nahezu allen europäischen Ländern, angesichts<br />

der „Bereitschaft, ˏdeutsche Interessen‘<br />

gegen den Willen der Mehrheit<br />

der Bevölkerung erneut mit militärischen<br />

Mitteln durchzusetzen”, will die VVN-BdA<br />

am 8. Mai „vor allem an die Hoffnung der<br />

Befreiten auf eine Welt ohne Kriege, Elend<br />

<strong>und</strong> Unterdrückung erinnern <strong>und</strong> diese als<br />

Impuls nehmen, weiter an der Schaffung<br />

einer neuen Welt des Friedens <strong>und</strong> der<br />

Freiheit zu arbeiten, so wie es die befreiten<br />

Häftlinge von Buchenwald geschworen haben”.<br />

<br />

Als „Meister des roten Charmes“ bezeichneten<br />

ihn polnische Journalisten <strong>und</strong><br />

das deutschsprachige Internetportal RA-<br />

DIOdienst Polska begann seinen Nachruf<br />

mit: Er kam stets wohlgenährt, jovial, gut<br />

gelaunt daher, umgeben von der Aura eines<br />

herzensguten Lebemannes. Der sympathische<br />

Genussmensch Józef Oleksy verkörperte<br />

geradezu perfekt die chamäleonhafte<br />

Fähigkeit vieler einstiger kommunistischer<br />

Apparatschiks, sich der neuen Umgebung<br />

anzupassen. Schelmisch mit den Augen<br />

zwinkernd behauptete er sogar, selbst ein<br />

Opfer des Kommunismus zu sein.<br />

1946 in Nowy Sącz geboren, besuchte er<br />

ein Knabenseminar für Jungen, die Priester<br />

werden sollten. Später studierte er an der<br />

elitären Fakultät für Außenhandel. 1969<br />

trat er in die PVAP ein, arbeitete später<br />

beim Studentenverband, ab 1977 im ZK<br />

der PVAP. Zusammen mit Leszek Miller,<br />

Włodzimierz Cimoszewicz <strong>und</strong> Aleksander<br />

Kwaśniewski verwandelte Oleksy die ausgediente<br />

polnische Partei Anfang 1990<br />

in eine „Sozialdemokratie“. 1993 wurde<br />

Oleksy Parlamentspräsident, 1995 gar<br />

Regierungschef. Doch nach wenigen Monaten<br />

musste er wegen Spionagevorwürfen<br />

zurücktreten, trat sogar 2007 aus der<br />

Partei aus, um einem Ausschlussverfahren<br />

zuvorzukommen, obwohl kurz darauf das<br />

Ermittlungsverfahren gegen ihn eingestellt<br />

wurde. Seit dieser Zeit verlor die SLD zunehmend<br />

an Akzeptanz in der Öffentlichkeit.<br />

2010 trat Oleksy der Partei wieder bei<br />

<strong>und</strong> war seit 2012 bis zu seinem Tod am 9.<br />

Januar <strong>2015</strong> stellvertrender Vorsitzender<br />

der SLD.<br />

<br />

18 <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong>


BÜCHER<br />

Antipolnische Maßnahmen staatlicher Institutionen<br />

Wir Unsichtbaren<br />

Geschichte der Polen in Deutschland<br />

Von Wulf Schade<br />

Dies ist der Titel eines Buches über die<br />

„Geschichte der Polen in Deutschland“, geschrieben<br />

vom stellvertretenden Leiter des<br />

Deutschen Polen Instituts in Darmstadt<br />

Oliver Loew. Es ist nach eigenen Aussagen<br />

eine Überblicksdarstellung. Sie stützt<br />

sich auf die bisher vorliegende, meist<br />

streng an ethnischen Grenzen orientierte<br />

Forschungsliteratur. So ist es denn ein<br />

konventionelles Geschichtsbuch, wer sich<br />

auch eine kritische Distanz erwartet hat,<br />

<strong>wir</strong>d enttäuscht. Immerhin widerspricht es<br />

der im politischen Raum auch heute noch<br />

gerne geäußerten These über die gelungene<br />

Integration, nicht zuletzt der ruhrpolnischen<br />

Bevölkerung.<br />

In gewissem Maße erfüllt das Buch sein<br />

gestecktes Ziel. Dem Leser <strong>und</strong> der Leserin<br />

<strong>wir</strong>d auf etwa 280 Seiten in chronologischer<br />

Reihenfolge dargestellt, dass sich<br />

seit ca. 1100 Jahren Polen in von Deutschen<br />

beherrschten Gebieten aufgehalten<br />

haben. Unter Polen versteht Loew alle polnischsprachigen<br />

Menschen, also die Polinnen<br />

wie Masuren, die Schlesier wie auch<br />

Kaschubinnen.<br />

Loew erzählt die Geschichte allerdings<br />

höchst unterschiedlich. Soweit es sich<br />

um die der polnischen Herrschaftsschichten<br />

aus Politik, Wirtschaft <strong>und</strong> Kultur <strong>und</strong><br />

deren Kontakte mit den entsprechenden<br />

deutschen Herrschaftsschichten handelt,<br />

werden die engen Beziehungen <strong>und</strong> die<br />

gegenseitige Beeinflussung eindrücklich<br />

beschrieben. Wenn es aber um die Arbeitsmigration,<br />

d. h. die h<strong>und</strong>erttausenden migrierenden<br />

polnischsprachigen Menschen<br />

zur Arbeit in die Land<strong>wir</strong>tschaft oder die<br />

<strong>wir</strong>tschaftlichen Zentren im Westen des<br />

jeweiligen Deutschlands geht, werden die<br />

Beziehungen zur angestammten deutschen<br />

Bevölkerung nur gestreift, als hätte es nur<br />

am Rande Gemeinsamkeiten gegeben. Es<br />

<strong>wir</strong>d somit die weit verbreitete Meinung<br />

konserviert, als handele es sich bei der polnischsprachigen<br />

Arbeitsmigration um eine<br />

sich selbst von der angestammten deutschen<br />

Bevölkerung isolierende homogene<br />

Masse. Verstärkt <strong>wir</strong>d dieser Eindruck<br />

noch dadurch, dass die Arbeitsmigration<br />

im Gegensatz zur Darstellung der adeligen<br />

<strong>und</strong> anderen Herrschaftsschichten keine<br />

Individualisierung durch unterschiedliche<br />

Persönlichkeiten erfährt.<br />

Die die lokalen Räume untersuchende<br />

Mikroforschung zur Bevölkerung in Grenzräumen<br />

<strong>und</strong> zur Arbeitsmigration wie auch<br />

die zur Konstruktion von Nationalitäten<br />

hat aber deutlich gezeigt, dass diese Menschengruppen<br />

weder politisch-ideologisch<br />

einheitlich noch national-homogen sind.<br />

Dass Loew diese Forschung bekannt ist,<br />

zeigt er bei seiner Darstellung über die<br />

Geschichte der polnischsprachigen Bevölkerung<br />

in Schlesien, die denn auch zu<br />

den stärksten Teilen des Buches gehört.<br />

Eine 'die Masse' differenzierende Darstellung<br />

ist aber nicht nur aus Sicht der historischen<br />

'Wahrheit' bedeutsam, sondern<br />

auch aus aktuellen Gesichtspunkten. Die in<br />

der angestammten deutschen Bevölkerung<br />

weit verbreitete Ansicht über die polnische<br />

Arbeitsmigration als graue, katholisch<br />

konservative Masse, die sich selbst auf<br />

nationalistischer Gr<strong>und</strong>lage isolierte, zum<br />

Streikbruch <strong>und</strong> zur Lohndrückerei bereit<br />

war, <strong>wir</strong>d erhalten <strong>und</strong> durch Übertragung<br />

auf die heutige Zeit leicht mobilisierbar.<br />

Dass das keine theoretische Diskussion<br />

ist, zeigte sich 2005, als Polen der EU beitrat.<br />

Horrormeldungen in den Medien der<br />

gesellschaftlichen Mitte überschlugen sich<br />

über die angeblich auf gepackten Koffern<br />

sitzenden polnischen Arbeiter, die unseren<br />

Arbeitsmarkt überschwemmen <strong>und</strong> unsere<br />

Sozialstandarts untergraben werden.<br />

Die negative Sichtweise auf die polnischsprachigen<br />

Menschen <strong>wir</strong>d auch durch den<br />

Titel des Buches „Wir Unsichtbaren“ verstärkt.<br />

Diese Beschreibung der polnischsprachigen<br />

Migration trifft abgesehen von<br />

der Nazi-Zeit eigentlich nur auf die Zeit<br />

von Mitte der 1950er bis Ende der 1990er<br />

Jahre <strong>und</strong> dann wieder um die Jahre 2005<br />

bzw. 2011 zu, als der EU Beitritt Polens<br />

sowie die völlige Freizügigkeit der Arbeitskräfte<br />

aus Polen in Kraft traten. In allen<br />

anderen Zeiten konnten die polnischsprachigen<br />

Menschen offen mit ihrer Sprache<br />

<strong>und</strong> Kultur leben oder sie erkämpften sich<br />

dieses Recht offensiv, was v. a. für die Zeit<br />

der Germanisierungspolitik des Deutschen<br />

Reiches im 19. <strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert galt.<br />

Unsichtbar trotz realer Existenz verhält<br />

man sich aber, wenn man entweder in<br />

seiner Umgebung wegen seiner Herkunft<br />

nicht gelitten ist <strong>und</strong> deshalb Angst hat<br />

oder weil man sich versteckt, um seine<br />

Umgebung zu hintergehen. Loew weist<br />

zwar darauf hin, dass es auch nach dem<br />

2. Weltkrieg nicht immer leicht war, als<br />

polnischsprachiger Mensch in der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

zu leben, eine durchgängige antipolnische<br />

Politik der staatlichen Institutionen<br />

vermag er aber nur für die Kaiserzeit<br />

im 19. <strong>und</strong> angehenden 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

zu erkennen. Die in der Weimarer Republik<br />

wie der BRD bis weit in die 1990er Jahre<br />

reichenden politischen <strong>und</strong> administrativen<br />

antipolnischen Maßnahmen staatlicher<br />

Institutionen, werden nicht als rassistische<br />

Maßnahmen sondern bezüglich der BRD<br />

nebulös als „deutschtümelnde Politik der<br />

regierenden Christdemokraten“ bezeichnet.<br />

So finden beispielsweise die bis heute<br />

gültige Verweigerung der Entschädigung<br />

für die 'deutschen' polnischen KZ-Insassen<br />

bzw. -Insassinnen wie auch die jahrzehntelang<br />

geübte Praxis, den Eintrag polnischer<br />

Personen- wie auch Städtenamen in deutsche<br />

amtliche Papiere zu verweigern oder<br />

die in einigen B<strong>und</strong>esländern bis heute<br />

praktizierte Weigerung, die Pflege der polnischen<br />

Kultur <strong>und</strong> Sprache durch staatliche<br />

Förderung materiell zu unterstützen,<br />

nahezu gar keine Erwähnung. Sicherlich<br />

unbeabsichtigt von Loew bleibt also die andere<br />

Sicht übrig: man versteckt sich, weil<br />

man unlautere Absichten hat .... <br />

Peter Oliver Loew, Wir Unsichtbaren, Geschichte<br />

der Polen in Deutschland, Verlag<br />

C. H. Beck, München 2014, ISBN 978 3 406<br />

66708 4, 18,95 €<br />

<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />

19


BÜCHER<br />

Das aktuelle Buch Kurt Pätzolds<br />

Basiswissen über den II. Weltkrieg<br />

Von Friedrich Leidinger<br />

Einen Überblick angesichts der unübersehbaren<br />

Fülle von Publikationen – seien<br />

es große, enzyklopädische Erzählungen<br />

oder Einzeldarstellungen - zu geben ist<br />

das explizite Anliegen dieses schmalen<br />

Bandes. Für seinen Autor, Kurt Pätzold,<br />

ausgewiesener Experte zur Geschichte<br />

des deutschen Faschismus <strong>und</strong> des von<br />

Deutschland geplanten <strong>und</strong> ausgelösten<br />

Zweiten Weltkrieges <strong>und</strong> einer der führenden<br />

Wissenschaftler in der ehemaligen<br />

DDR, war der damit verb<strong>und</strong>ene Zwang zur<br />

Reduktion eine überzeugend gelöste Herausforderung.<br />

Die hauptsächliche Erzählebene bildet<br />

der Verlauf der militärischen Ereignisse,<br />

denen <strong>wir</strong> gleichsam wie einem zu einem<br />

Knäuel verschlungenen Faden in siebzehn<br />

Kapiteln vom „1. September 1939“<br />

bis zur „Sehnsucht nach Frieden“ zu den<br />

verschiedenen Schauplätzen <strong>und</strong> über einen<br />

Zeitraum von sechs Jahren folgen. In<br />

knappen Worten, die seine eigene moralische<br />

Position nie in Frage stehen lassen,<br />

beschreibt der Autor aus Sicht der Deutschen<br />

die Logik der ihren Planern zunehmend<br />

entgleitenden Kriegsführung, die gescheiterte<br />

Strategie <strong>und</strong> die geographische<br />

Ausweitung der deutschen Aggression, bis<br />

Ende 1941 schließlich 38 Staaten auf allen<br />

Kontinenten der Erde am Krieg beteiligt<br />

sind. Wenn nach den ersten Rückschlägen<br />

sich einige Befehlshaber wegen der frühzeitig<br />

absehbaren Niederlage durch Demission,<br />

wie zum Beispiel Admiral Raeder,<br />

oder durch Suizid, wie das Fliegeridol Ernst<br />

Udet, aus der Verantwortung schlichen, so<br />

verstiegen sich die ihrem Feldherrn Hitler<br />

treu ergebenen Generäle mit zunehmender<br />

Aussichtslosigkeit in immer phantastischere,<br />

<strong>wir</strong>re Ideen. Niemand aus der Führung<br />

war bereit, das Scheitern einzugestehen.<br />

Auf einer weiteren Ebene skizziert Pätzold<br />

die politischen Entwicklungen <strong>und</strong><br />

Allianzen der am Krieg beteiligten Staaten.<br />

Breiteren Raum widmet er der Beschreibung<br />

des Alltags der Deutschen, die in<br />

diesen Krieg – anders als 25 Jahre zuvor<br />

– mehrheitlich ohne Begeisterung zogen,<br />

doch abgesehen von einer kaum zählbaren<br />

Minderheit zu keinem nennenswerten<br />

Widerstand in der Lage waren, <strong>und</strong>, ohne<br />

selbst Fanatiker zu sein, den fanatischen<br />

Durchhalteparolen des Propagandaapparates<br />

willig folgten <strong>und</strong> selbst im Angesicht<br />

der Niederlage den Kampf noch<br />

fortsetzten. Bis zuletzt funktionierte der<br />

militärische Einsatz gegen die Befreier, bis<br />

zuletzt funktionierten Rüstungsproduktion<br />

<strong>und</strong> andere kriegswichtige Industrie, funktionierten<br />

Verkehr <strong>und</strong> Alltag, Schule <strong>und</strong><br />

Unterhaltung. Dabei kann sich Pätzold, der<br />

den Krieg als Teenager erlebt hat, auch auf<br />

persönliche Erinnerung stützen.<br />

In seiner sachlichen Schilderung des<br />

Terrors von Wehrmacht <strong>und</strong> Polizei in den<br />

besetzten Ländern Europas tritt die Rationalität<br />

der auf totale Herrschaft <strong>und</strong> rücksichtslose<br />

Machtausübung abzielenden<br />

deutschen Politik hervor. Mehr noch als<br />

militärische Kampfeinsätze haben die erbarmungslose<br />

Grausamkeit des deutschen<br />

Besatzungsregimes, die Massenexekutionen,<br />

Raub <strong>und</strong> Ausplünderung der Lebensgr<strong>und</strong>lagen<br />

der Zivilbevölkerung in den<br />

eroberten Ländern das Bild der Deutschen<br />

für Generationen geprägt.<br />

Ein Abschnitt schildert die schrittweise<br />

Radikalisierung des antijüdischen Terrors<br />

des deutschen Regimes, bis nach dem Einfall<br />

in die Sowjetunion die systematische<br />

Ermordung der jüdischen Bevölkerung im<br />

deutschen Machtbereich als reale Möglichkeit<br />

aufschien. Die Instrumente der<br />

„Endlösung“ waren Massenerschießungen<br />

durch Sonderkommandos, Deportation<br />

<strong>und</strong> Aushungern in Ghettos <strong>und</strong> Lagern,<br />

Vernichtung durch Arbeit <strong>und</strong> der Mord in<br />

der Gaskammer.<br />

Der scheinbar unaufhaltsame Vormarsch<br />

der Deutschen wurde vor Moskau gestoppt,<br />

die Soldaten der Roten Armee<br />

schlugen mit unbeugsamem Mut die Wehrmacht<br />

bis nach Berlin zurück. Im Bündnis<br />

mit Großbritannien <strong>und</strong> den USA trug die<br />

Sowjetunion die Hauptlast bei der Befreiung<br />

Europas. Obwohl viele sowjetische Offiziere<br />

dem stalinistischen Terror der dreißiger<br />

Jahre zum Opfer gefallen waren, war<br />

die Rote Armee den Deutschen an Strategie<br />

<strong>und</strong> nach der Wende von Stalingrad<br />

auch an Feuerkraft überlegen.<br />

Auch wenn zwischen der Kriegsführung<br />

des Deutschen Reiches in Europa <strong>und</strong><br />

Nordafrika <strong>und</strong> der Kriegsführung Japans<br />

in Ostasien <strong>und</strong> Ozeanien keine Abstimmung<br />

existierte, zeigt der Autor, wie beide<br />

Mächte in ihrem Expansionsdrang als strategisch<br />

Verbündete handelten. Nach dem<br />

Sieg der Anti-Hitler-Koalition ging der Krieg<br />

im Pazifik noch Monate weiter. Während<br />

die Sieger in Europa sich an die Wiederherstellung<br />

der staatlichen Ordnung <strong>und</strong><br />

an die Bestrafung der verantwortlichen<br />

Kriegstreiber machten, markierte das<br />

Kriegsende in Asien für viele Länder das<br />

Ende der kolonialen Fremdherrschaft <strong>und</strong><br />

den Sieg der chinesischen Revolution.<br />

Das Buch endet mit einem Überblick über<br />

die vielfältigen Bemühungen, als Konsequenz<br />

aus dem Krieg <strong>und</strong> seinen Folgen<br />

ein internationales System der Friedenssicherung<br />

<strong>und</strong> des Ausgleichs zu schaffen:<br />

die Gründung der Vereinten Nationen <strong>und</strong><br />

weiterer internationaler Organisationen,<br />

die Abrüstungs- <strong>und</strong> Friedensinitiativen<br />

<strong>und</strong> die – wenn auch halbherzige <strong>und</strong> lückenhafte<br />

– Entschädigung für Überlebende<br />

der faschistischen Verbrechen. Last but<br />

not least gehört auch eine kritische, der<br />

Aufklärung verpflichtete Geschichtswissenschaft<br />

zu den Folgen des Krieges, die<br />

gerade in den letzten Jahren eines wiederauflebenden<br />

Antikommunismus <strong>und</strong> Nationalismus<br />

in verschiedenen europäischen<br />

Ländern wieder gefährdet ist. Sollte dieses<br />

Buch seine Leser animieren, weiterzulesen<br />

<strong>und</strong> sich auf das eine oder andere Thema<br />

tiefer einzulassen, es hätte - mit den Worten<br />

des Autors - den ihm zugedachten Nutzen<br />

be<strong>wir</strong>kt.<br />

<br />

Kurt Pätzold: Zweiter Weltkrieg. Basiswissen.<br />

Papyrossa-Verlag Köln. 2014. 143 Seiten,<br />

broschiert. ISBN-13: 978-3894385583<br />

Preis: 9.90 €<br />

20 <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong>


Aufklärung gegen einseitige Berichterstattung<br />

Ukraine am Rande des Abgr<strong>und</strong>es<br />

Neue Bücher mit Fakten <strong>und</strong> Analysen zum Bürgerkrieg in der Ukraine<br />

Von Friedrich Leidinger<br />

Bis 1945 gehörte der Westen der Ukraine zur polnischen Republik, viele polnische<br />

Bürger haben in L’viv (polnisch Lwów) oder Drohobyč (polnisch Drogobycz) ihre<br />

familiären Wurzeln. Noch bis 1946 kämpften polnische <strong>und</strong> sowjetische Sicherheitskräfte<br />

gemeinsam ukrainische Insurgenten nieder, die Namen ihrer Anführer,<br />

in Polen als Schlächter der polnischen Zivilbevölkerung in Wolhynien während des<br />

Rückzugs der deutschen Besatzung berüchtigt, gehören 70 Jahre später zu den<br />

Idolen des Majdan. Aleksander Kwaśniewski bemühte sich während seiner Präsidentschaft<br />

intensiv um eine Normalisierung der polnisch-ukrainischen Beziehungen.<br />

Die Krise in der Ukraine <strong>und</strong> den ukrainisch-russischen Konflikt verfolgen die<br />

Menschen in Polen daher mit besonderer Anteilnahme.<br />

Wessen Bedürfnis nach Hintergr<strong>und</strong>informationen<br />

zur Ukraine-Krise in diesen<br />

Tagen über die Zigarettenkippe des Kiewer<br />

ARD-Korrespondenten hinausgeht, dem<br />

seien zwei aktuelle Bucherscheinungen<br />

mit Fakten <strong>und</strong> Analysen empfohlen. Da<br />

ist zunächst ein Band mit Aufsätzen verschiedener<br />

Autoren, die eher dem linken<br />

politischen Spektrum zuzuordnen sind.<br />

Der Herausgeber, der Kasseler Politikwissenschaftler<br />

<strong>und</strong> Sprecher des „B<strong>und</strong>esausschusses<br />

Friedensratschlag“, Peter<br />

Strutynski, weist einleitend auf die intensive<br />

<strong>und</strong> zugleich mehrdeutige Rolle der<br />

deutschen Außenpolitik in diesem Konflikt<br />

hin, der vordergründig eine innere Sache<br />

der Ukraine zu sein scheint, auf dessen Dynamik<br />

eine Reihe weiterer Interessen <strong>und</strong><br />

Konflikte ein<strong>wir</strong>ken. Deutschland ist seit<br />

Jahren aktiv um politischen Einfluss in Ost<strong>und</strong><br />

Südosteuropa bemüht <strong>und</strong> zieht aus<br />

der EU-Osterweiterung den größten <strong>wir</strong>tschaftlichen<br />

Nutzen. Im innerukrainischen<br />

Machtkampf hat die B<strong>und</strong>esregierung sehr<br />

früh die aus dem Majdan-Aufstand hervorgegangene<br />

Regierung unterstützt, ohne an<br />

deren Zustandekommen <strong>und</strong> Unterstützung<br />

durch offen faschistische Gruppen<br />

Anstoß zu nehmen. Damit kommt Deutschland<br />

aber auch in einen Interessengegensatz<br />

zu Russland, mit dem es andererseits<br />

aus energiepolitischen <strong>und</strong> <strong>wir</strong>tschaftlichen<br />

Gründen an stabilen <strong>und</strong> spannungsfreien<br />

Beziehungen interessiert ist. Als<br />

Verbündeter der USA unterstützt die BRD<br />

schließlich die antirussische Politik, die<br />

gerade unter Obama eine bedeutende Verschärfung<br />

erfahren hat.<br />

Handelt es sich um die Rückkehr eines<br />

Kalten Krieges? Die Metapher ist wohl<br />

eher irreführend. Dieser bezeichnete den<br />

Ost-West-Gegensatz auf der Basis zweier<br />

hochgerüsteter, allerdings balancierter<br />

Bündnisse. Davon geblieben sind heute lediglich<br />

die Atombewaffnung Russlands <strong>und</strong><br />

der Ost-West-Konflikt trotz kapitalistischer<br />

Verhältnisse. Indessen ist das östliche<br />

Bündnis mit dem Scheitern des staatlichen<br />

Sozialismus zerbrochen <strong>und</strong> die NATO wesentlich<br />

an Russland herangerückt. Die<br />

NATO wiederum hält mit Ausnahme Russlands<br />

die konkurrierenden europäischen<br />

Mächte <strong>und</strong> die USA (sowie Kanada) in einem<br />

Bündnis zusammen. Und welche Rolle<br />

die neuen Global Player China oder Indien<br />

einnehmen werden, ist noch völlig unklar.<br />

Ohne Zweifel hat die EU in der Ukraine-<br />

Krise eine fatale Rolle als Brandbeschleuniger<br />

gespielt. Durch ihre Verhandlungsführung<br />

über das Assoziierungsabkommen<br />

hat sie eine Lage geschaffen, in der die<br />

BÜCHER<br />

Janukowitsch-Regierung sich für die EU<br />

<strong>und</strong> gegen Russland entscheiden sollte,<br />

ohne Rücksicht auf die engen <strong>wir</strong>tschaftlichen<br />

<strong>und</strong> politischen Verflechtungen der<br />

Ukraine mit Russland <strong>und</strong> obwohl, wie der<br />

ehemalige Kommissar für die EU-Osterweiterung,<br />

Günther Verheugen, in verschiedenen<br />

Interviews erklärte, Russland in<br />

dieser Angelegenheit keinen besonderen<br />

Druck ausübte. Die schärfste Kritik an der<br />

westlichen Politik kam ausgerechnet von<br />

Persönlichkeiten wie Helmut Schmidt, der<br />

– man hat es fast vergessen – 1979 den<br />

NATO-Nachrüstungsbeschluss gegen die<br />

Sowjetunion durchgesetzt hat, <strong>und</strong> Horst<br />

Teltschik, Industriemanager, ehemaliger<br />

Sicherheitsberater eines B<strong>und</strong>eskanzlers<br />

Kohl <strong>und</strong> von 1999-2008 Leiter der Münchner<br />

Sicherheitskonferenz. Dagegen sehen<br />

führende Vertreter des „grünen“ parteienmäßig<br />

organisierten Pazifismus in der<br />

Kriegspropaganda der ukrainischen Regierung<br />

das Wirken demokratischer Kräfte<br />

<strong>und</strong> wollen – wie z.B. Marieluise Beck<br />

– einen Krieg – natürlich nur zur Verteidigung<br />

der Opfer vor dem Aggressor, den sie<br />

ebenso wie jene eindeutig jeweils auf einer<br />

Seite erkannt zu haben glaubt – nicht mehr<br />

ausschließen.<br />

Dem Mitgefühl für die Opfer tun Fakten<br />

<strong>und</strong> Analysen keinen Abbruch. Davon liefert<br />

das Buch eine Menge, <strong>und</strong> damit bietet<br />

es Aufklärung, die angesichts der selbst<br />

vom ARD-Fernsehrat gerügten einseitigen<br />

Berichterstattung in den Leitmedien durch<br />

„Euromaidan“ in Kiew am 21. Februar nach dem das Friedensabkommen unterzeichnet wurde, das<br />

kurz danach überholt war.<br />

Foto: Wikipedia<br />

<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />

21


BÜCHER<br />

Journalisten, die sich gewöhnlich im Dunstkreis<br />

der Mächtigen wohlfühlen, eine so<br />

rare wie wertvolle Münze ist.<br />

Das Buch beginnt mit einer Reportage<br />

vom „Euromajdan“, dem Ort, der bereits<br />

2004 Schauplatz der „orangenen Revolution“<br />

gewesen war. Ende 2013 hatte das<br />

Lavieren Janukowitsch’ zwischen Brüssel<br />

<strong>und</strong> Moskau ein Ende. Seine Unternehmerfre<strong>und</strong>e<br />

hatten ihm die Gefahr für die<br />

von russischen Subventionen abhängige<br />

ukrainische Wirtschaft deutlich gemacht,<br />

die nach einer Unterschrift unter das seit<br />

einem Jahr auf Betreiben von EU-Politikern<br />

suspendierte Abkommen drohten.<br />

Der <strong>wir</strong>tschaftlichen Katastrophe standen<br />

phantastische Erwartungen der Bevölkerung<br />

an Hilfe aus dem Westen gegenüber.<br />

Die Entscheidung des Präsidenten<br />

– zunächst noch getragen von seiner Parlamentsmehrheit<br />

– trieb viele enttäuschte<br />

Bürger auf die Straße <strong>und</strong> leitete das Ende<br />

seiner Macht ein.<br />

Es blieb nicht bei spontanen Demonstrationen.<br />

Westliche politische Stiftungen<br />

haben seit Jahren intensive Landschaftspflege<br />

betrieben, wovon Daniela Dahn in<br />

ihrer Analyse berichtet. Allein die CIA gibt<br />

seit 1990 Jahr für Jahr bis zu 200 Millionen<br />

Dollar in der Ukraine aus. Die Demonstranten<br />

hatten von Anfang an die offene<br />

Unterstützung hochrangiger Politiker aus<br />

USA, Deutschland, Polen <strong>und</strong> anderen EU-<br />

Ländern, als sie Janukowitsch’ Rücktritt<br />

forderten. Diese nahmen auch keinen Anstoß<br />

daran, dass von Anfang an unter den<br />

Demonstranten die gut organisierten Gruppen<br />

des „rechten Sektors“ agierten, die in<br />

der Tradition der faschistischen „Organisation<br />

Ukrainischer Nationalisten“ (OUN) stehen<br />

<strong>und</strong> schließlich entscheidend Einfluss<br />

auf die Entwicklung nahmen. Die politische<br />

Krise verschärfte sich, bis am 20. Februar<br />

2014 Dutzende Tote auf dem Platz lagen.<br />

Wer geschossen hat, wer die Verantwortung<br />

für die am Ende mehr als h<strong>und</strong>ert Opfer,<br />

darunter zahlreiche von Scharfschützen<br />

getötete Polizisten, trägt, ist bis heute<br />

unklar <strong>und</strong> <strong>wir</strong>d wahrscheinlich auch nie<br />

vollständig aufgeklärt werden. Als Janukowitsch<br />

auch noch durch Überläufer seiner<br />

Partei den Rückhalt im Parlament verlor,<br />

war der Regime Change perfekt.<br />

„Annexion der Krim“<br />

Die in deutschen Medien meistens so bezeichnete<br />

„Annexion der Krim“ behandelt<br />

der linke Publizist Willi Gerns (Marxistische<br />

Blätter). Er beleuchtet die historische <strong>und</strong><br />

kulturelle Verbindung der Krim mit Russland<br />

<strong>und</strong> die Ursachen für die Sezession<br />

der dortigen Bevölkerung vom ukrainischen<br />

Staatsverband, auch wenn er deren<br />

problematische Umstände anerkennt. Der<br />

Völkerrechtler Norman Paech analysiert<br />

die Rückkehr der Krim zu Russland unter<br />

dem Aspekt des internationalen Rechts.<br />

Zweifellos entsprach die Sezession dem<br />

Willen der Mehrheit der Bevölkerung der<br />

Krim, allerdings hatte Russland die Zugehörigkeit<br />

der Krim zum ukrainischen<br />

Staatsgebiet formell anerkannt, sodass<br />

schon die Durchführung der Volksabstimmung<br />

nicht nur aus ukrainischer sondern<br />

auch aus internationaler Sicht illegal war.<br />

Paech verweist auf die Haltung Russlands<br />

zur Unabhängigkeitserklärung Tschetscheniens<br />

1995. Auch hatte Russland 2008<br />

im Falle des Kosovo der Auffassung des<br />

Internationalen Gerichtshofs in Den Haag<br />

ausdrücklich widersprochen, der meinte,<br />

das Völkerrecht verbiete keine (einseitige)<br />

Unabhängigkeitserklärung. Dies unterstreiche,<br />

wie wichtig die Einhaltung rechtlicher<br />

Normen sei. Eine Rückabwicklung der<br />

Eingliederung der Krim in den russischen<br />

Staatsverband hält Paech dennoch für ausgeschlossen.<br />

Bis die Ukraine wie die internationale<br />

Gemeinschaft die Fakten akzeptieren<br />

werden, werde es allerdings noch<br />

eine längere Phase von Spannungen <strong>und</strong><br />

schwieriger praktischer Probleme geben.<br />

Ulrich Schneider, Historiker <strong>und</strong> B<strong>und</strong>essprecher<br />

der VVN-BdA geht den Ursprüngen<br />

der starken rechten Gruppierungen<br />

auf den Gr<strong>und</strong>. Die Partei „Swoboda“<br />

sieht sich in der politischen Tradition der<br />

faschistischen OUN, die während der deutschen<br />

Besatzung Freiwillige für die SS-Division<br />

„Galizien“ rekrutierte. Die UPA, der<br />

militärische Arm des Bandera-Flügels der<br />

OUN, ermordete 1941-43 in Wolhynien<br />

über 90.000 polnische Zivilisten. Stepan<br />

Bandera, ein ukrainischer Nationalist, der<br />

wegen der Ermordung des polnischen Innenministers<br />

seit 1934 in Haft saß, kam<br />

im September 1939 frei <strong>und</strong> diente sich<br />

den Deutschen als bezahlter Spitzel an. Ob<br />

Bandera an den Massakern an Juden <strong>und</strong><br />

Kommunisten in Lemberg kurz vor dem<br />

deutschen Überfall auf die Sowjetunion<br />

beteiligt war, ist umstritten. Später geriet<br />

er in Konflikt mit seinen deutschen Meistern<br />

<strong>und</strong> wurde in Sachsenhausen inhaftiert.<br />

Er starb 1959 in München an einem<br />

Attentat. In der unabhängigen Ukraine entstand<br />

rasch ein Heldenkult um Bandera.<br />

Nicht nur in der Kiewer Regierung, sondern<br />

auch in lokalen Gremien hat Swoboda einen<br />

wachsenden Einfluss <strong>und</strong> fördert u.a.<br />

einen geradezu obszönen Geschichtsrevisionismus.<br />

So wurde z.B. in L’viv (Lemberg)<br />

die Feier des Sieges über den Faschismus<br />

am 8. <strong>und</strong> 9. Mai zum „Tag der Trauer <strong>und</strong><br />

des Gedenkens der Opfer des Totalitarismus<br />

<strong>und</strong> des Krieges“ umfunktioniert.<br />

Swoboda-Politiker schüren eine regelrechte<br />

antisemitische <strong>und</strong> antirussische Hetze.<br />

Eine wichtige Rolle spielt zudem die Allianz<br />

der politischen Rechten mit Hooligans, ein<br />

auch in der BRD seit den Kölner Hooligan-<br />

Krawallen vom Januar <strong>2015</strong> stärker beachtetes<br />

Phänomen.<br />

„Revolutionen“ unter kräftiger Mit<strong>wir</strong>kung<br />

westlicher Stiftungen haben in Georgien<br />

(2003 „Rosen“), Kirgistan (2005<br />

„Tulpen“) <strong>und</strong> 2004 auch in der Ukraine<br />

(„orangene“) Regimes an die Macht gebracht,<br />

die die nachfolgenden Wahlen nicht<br />

überstanden haben. Dennoch scheinen sie<br />

vielen im Westen als probates Mittel der<br />

Einflussnahme zu gelten. Die Motive dieser<br />

Einflussnahme <strong>und</strong> ihre Ziele beschreibt<br />

u.a. Erhard Crome, ehemaliger Mitarbeiter<br />

des Instituts für Internationale Beziehungen<br />

der DDR. In einem eigenen Kapitel<br />

stellt Lühr Henken vom Friedensratschlag<br />

einiges zur aktuellen Rüstungspolitik der<br />

NATO auf der einen, <strong>und</strong> Russlands auf der<br />

anderen Seite richtig.<br />

Im letzten Teil des Buches untersuchen<br />

Arno Klönne, Eckart Spoo <strong>und</strong> weitere Autoren<br />

das skandalöse Versagen deutscher<br />

Medien <strong>und</strong> von Teilen der – man muss<br />

schon sagen: ehemaligen – Friedensbewegung.<br />

Ein interessantes Buch, das aufgr<strong>und</strong><br />

seines überwiegend unaufgeregten <strong>und</strong><br />

hintergründig analytischen Inhalts mit den<br />

fortschreitenden Ereignissen an Aktualität<br />

22 <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong>


BÜCHER<br />

nichts einbüßt.<br />

Auf die Lage der Ukraine im geopolitischen<br />

Kraftfeld zwischen EU <strong>und</strong> Russland<br />

konzentriert sich das Buch des Journalisten<br />

Jörg Kronauer, der sich seit Jahren in<br />

Beiträgen für Konkret <strong>und</strong> anderen linken<br />

Zeitschriften einen Namen als kritischer<br />

Beobachter der deutschen Außenpolitik<br />

gemacht hat. Die Geschichte der deutschukrainischen<br />

Beziehungen begann während<br />

des ersten Weltkriegs. Paul Rohrbach,<br />

ein baltendeutscher Beamter des Auswärtigen<br />

Amtes entwickelte die Idee, das Russische<br />

Reich durch Herauslösen einzelner<br />

Teile - wie die Filets einer Orange – zu zerschlagen<br />

<strong>und</strong> dauerhaft als Konkurrenten<br />

im Osten auszuschalten. Die „Deutsch-<br />

Ukrainische Gesellschaft“ gründete er im<br />

Frühjahr 1918. Als die 1. Ausgabe der von<br />

ihm herausgegebenen Zeitschrift „Die Ukraine“<br />

im Dezember 1918 erschien, war<br />

das Ziel einer deutschen Eroberung des<br />

Ostens vorläufig gescheitert. Rohrbach<br />

setzte seinen Einsatz für eine „Randstaatenpolitik“<br />

fort. Als politischer Publizist<br />

prägte er viele außenpolitische Debatten<br />

der Weimarer Zeit, immer mit dem Ziel,<br />

für Sympathie für den ukrainischen Nationalismus<br />

<strong>und</strong> das Ziel der „Befreiung der<br />

Ukraine von russischer Vorherrschaft“ zu<br />

werben. Der Dienst ukrainischer Nationalisten<br />

in der Waffen-SS, die Mit<strong>wir</strong>kung ukrainischer<br />

Faschisten bei der Niederschlagung<br />

des Warschauer Aufstandes oder bei<br />

der Shoah bildeten eine weitere Etappe auf<br />

dem Weg des Nationbuilding. 1949 erhielt<br />

Rohrbach in München, dem Zufluchtsort<br />

zahlreicher Funktionäre der OUN <strong>und</strong> UPA,<br />

die Ehrendoktorwürde der „Freien Ukrainischen<br />

Universität“. Vier Jahrzehnte später<br />

eröffnete die B<strong>und</strong>esrepublik vorausschauend<br />

ein Konsulat in Kiew, das 1992 einfach<br />

in eine Botschaft umgewandelt wurde. Als<br />

2003 die letzte überlebende UPA-Kämpferin,<br />

die 1991 aus dem Münchner Exil zurückgekehrte<br />

Jaroslawa Stezko starb, hielt<br />

der Oppositionsführer <strong>und</strong> vormalige Ministerpräsident<br />

Wiktor Juschtschenko die<br />

Grabrede.<br />

Bruttosozialprodukt auf 40% gesunken<br />

Die Entstehung eines unabhängigen ukrainischen<br />

Staates wurde seit den frühen<br />

Anfängen vom besonderen Wohlwollen der<br />

deutschen Regierungen begleitet. Glück im<br />

materiellen Sinne war dem Unternehmen<br />

dennoch nicht beschieden. Anfang der<br />

1990er Jahre bescheinigten die Ökonomen<br />

der Deutschen Bank der Ukraine die besten<br />

Aussichten auf Wachstum <strong>und</strong> Wohlstand,<br />

doch stattdessen wuchsen Armut<br />

<strong>und</strong> Elend als Folge eines beispiellosen<br />

<strong>wir</strong>tschaftlichen Niedergangs. Nach 10<br />

Jahren der Unabhängigkeit war das Bruttosozialprodukt<br />

auf 40% des Ausgangswertes<br />

von 1990 gesunken. Millionen ukrainischer<br />

Bürger verließen das Land <strong>und</strong> suchten<br />

eine Perspektive in Westeuropa oder jenseits<br />

des Atlantiks. Inmitten des Desasters<br />

vollzog sich die Konzentration von Vermögen<br />

<strong>und</strong> <strong>wir</strong>tschaftlicher Macht in den<br />

Händen weniger skrupelloser <strong>und</strong> gewaltbereiter<br />

Unternehmer, deren Handeln nicht<br />

von dem organisierter Krimineller zu unterscheiden<br />

war. Über eine Repräsentantin<br />

dieser Clique von Oligarchen, der immer<br />

noch von vielen als Freiheitsikone verehrte<br />

Julia Timoschenko, meinte Günther Verheugen<br />

einmal, der Skandal sei nicht, dass<br />

sie im Gefängnis sitze sondern, dass sie<br />

allein im Gefängnis sitze.<br />

Solchermaßen herunterge<strong>wir</strong>tschaftet<br />

bot die Ukraine beste Voraussetzungen,<br />

im Schachspiel globaler Interessen hin <strong>und</strong><br />

hergeschoben zu werden, wie der frühere<br />

amerikanische Sicherheitsberater Zbigniew<br />

Brzezinski in seinem Buch „The Grand<br />

Chessboard“ angekündigt hatte. Wie Kronauer<br />

zeigt, war die weitgehende Einbeziehung<br />

der Ukraine in die NATO, um damit ein<br />

jederzeit verfügbares Druckmittel gegen<br />

Russland in der Hand zu haben, seit langem<br />

Ziel vor allem der amerikanischen Politik.<br />

In diesem Punkt vertrat die deutsche<br />

B<strong>und</strong>esregierung in Sorge um die Beziehungen<br />

zu Russland <strong>und</strong> wohl auch in der<br />

Absicht, die USA nicht zu sehr in Osteuropa<br />

zu involvieren, eine andere Haltung. Wie<br />

eng die Beziehung der Kiewer Herrschaft<br />

zu den USA sich entwickelte zeigt die Stationierung<br />

von zeitweise mehr als 1.600<br />

ukrainischen Soldaten als Verbündete der<br />

USA im Irak. Dies stand dennoch nicht im<br />

Widerspruch zu weiterhin engen Beziehungen<br />

zu Russland. Die Kiewer Regierungen<br />

egal welcher politischen Couleur pflegten<br />

gegenüber den Aspirationen Russlands<br />

<strong>und</strong> der Westmächte eine Schaukelpolitik,<br />

die durchaus im eigenen Interesse lag.<br />

Ein wichtiges Instrument der Einflussnahme<br />

auf die politischen Verhältnisse der<br />

Ukraine sind die Stiftungen. Sie schossen<br />

nach 1992 wie Pilze aus dem Boden. Über<br />

sie wurden Millionenbeträge weitergeleitet,<br />

vor allem in Gruppierung, die sich<br />

später im „Prawy Sektor“, dem rechten<br />

Sektor wiederfinden. So erklärt sich die<br />

rasche Ausbreitung rechter <strong>und</strong> ultrarechter<br />

Organisationen, die auf dem Majdan<br />

2014 durch eine zweckmäßige technische<br />

Ausrüstung <strong>und</strong> Waffen auffallen. Der politische<br />

Einfluss der Rechten ist daher wesentlich<br />

stärker, als ihr Stimmenanteil bei<br />

Wahlen zum Ausdruck bringt. Eine wachsende<br />

Radikalisierung <strong>und</strong> Gewalttätigkeit<br />

der ukrainischen Gesellschaft im Bürgerkrieg<br />

ist die Folge.<br />

Kronauer hat eine faktenreiche Erzählung<br />

zur Geschichte der ukrainischen Krise vorgelegt.<br />

Er benutzt zahlreiche Quellen <strong>und</strong><br />

zeichnet Entwicklungen über längere Zeiträume<br />

nach. Seine Schlussfolgerung, die<br />

herrschenden Zustände in der Ukraine seien<br />

das Produkt einer mutwillig betriebenen<br />

Interventionspolitik, möchte man allerdings<br />

entgegen halten, dass die postsowjetische,<br />

nationalistische Ukraine im Würgegriff superreicher<br />

Oligarchen kaum eine andere<br />

Entwicklung hätte nehmen können. Die<br />

zunehmende Militanz der ukrainischen Gesellschaft<br />

ist sicher nicht von außen importiert<br />

worden. Der Westen hat lange nicht<br />

wahrhaben wollen, dass die Bemühungen,<br />

die Ukraine aus ihrer Bindung an Russland<br />

herauszulösen solche gewaltsamen Folgen<br />

haben könnte. Vielleicht sind ja Merkels<br />

<strong>und</strong> Hollandes diplomatische Bemühungen<br />

um einen Waffenstillstand erste Anzeichen<br />

für eine realistische Bewertung der Lage.<br />

<br />

Peter Strutynski (Hg.): Spiel mit dem Feuer.<br />

Die Ukraine, Russland <strong>und</strong> der Westen. PapyRossa-Verlag<br />

Köln. 2014. 213 S. 12,90 €.<br />

Jörg Kronauer: Ukraine über alles. Ein Expansionsprojekt<br />

des Westens. Mit einem<br />

historischen Überblick von Erich Später.<br />

Konkret Literatur Verlag. Hamburg. <strong>2015</strong>.<br />

216 S. 19,80 €<br />

<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />

23


DEUTSCH-POLNISCHE GRENZE<br />

Leben im deutschen Speckgürtel von Stettin<br />

Am Anfang der Welt<br />

Von Oliver Dietrich<br />

Eine gute Nachbarschaft sieht anders<br />

aus: Vor etlichen Jahren tauchten Deutsche<br />

in Polen vor Häusern auf, sie <strong>wir</strong>kten<br />

vorwurfsvoll, geradezu herrisch: „Das war<br />

mal unser Eigentum, also behandeln Sie<br />

es bitte pfleglich! Wir kommen nämlich<br />

wieder!“ Als Polen 2004 der EU <strong>und</strong> dem<br />

Schengener Abkommen beitrat, war die<br />

Angst davor so groß, dass eine Zusatzklausel<br />

ausgehandelt wurde: Deutschen<br />

Staatsbürgern war es verboten, in Polen<br />

Land zu kaufen. Seit 2009 dürfen sie es<br />

zwar, aber nicht als Dauerwohnsitz.<br />

Der Dokumentarfilm „Nur der Pole bringt<br />

die Kohle“ von Markus Stein beginnt in<br />

Stettin, polnisch Szczecin, einer Großstadt<br />

mit 400.000 Einwohnern an der Grenze<br />

zu Deutschland. Nein, eigentlich beginnt<br />

er ganz in der Nähe von Stettin, auf deutscher<br />

Seite: Hier befindet sich die Gemeinde<br />

Löcknitz, 3.000 Menschen wohnen<br />

hier <strong>und</strong> in den Dörfern r<strong>und</strong>herum, eine<br />

idyllische Gegend, in der nur noch wenige<br />

leben. Es gibt kaum Arbeit, die Infrastruktur<br />

ist dörflich, die jungen Menschen hat<br />

es längst in die Ferne gezogen, nach Berlin<br />

oder nach Hamburg etwa, viele Häuser<br />

sind verfallen. Dennoch ziehen Menschen<br />

dorthin, der Pole Krzysztof Pyrka etwa, der<br />

im Dorf Bergholz ein Dolmetscherbüro betreibt:<br />

„Viele Menschen sagen, das ist doch<br />

am Ende der Welt. Und ich sage dann: Ach,<br />

das ist am Anfang der Welt! Hier entsteht<br />

was.“<br />

Wie in anderen Großstädten auch, zieht<br />

es die Stettiner Bewohner hinaus aus der<br />

Stadt, Wohnraum ist knapp <strong>und</strong> teuer, irgendwo<br />

muss ja auch Platz für die Kinder<br />

sein. Und keine 15 Kilometer weiter verfallen<br />

die Häuser, ab 30.000 Euro ist schon<br />

eins zu haben, eine Win-win-Situation,<br />

wenn man es so betrachtet. Regisseur<br />

Stein, der im polnischen Lodz studiert hat<br />

<strong>und</strong> fließend Polnisch spricht, hat die neuen<br />

Nachbarn mit seiner Kamera begleitet<br />

– <strong>und</strong> dabei festgestellt, dass es nicht ganz<br />

so einfach ist.<br />

„In Polen werden die Häuser weiter übertragen“,<br />

sagt Agnieszka Horn, die mit ihrem<br />

Mann eine Immobilienfirma betreibt.<br />

„Das ist sehr selten, dass da mal ein altes<br />

Haus auf dem Markt ist.“ Das Geschäft mit<br />

den deutschen Immobilien floriert, in den<br />

letzten fünf, sechs Jahren haben sie 140<br />

Häuser an polnische Familien verkauft. In<br />

24 <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />

dem kleinen Dorf Rosow etwa ist die Hälfte<br />

der Einwohner polnisch – Familien, Künstler,<br />

Wissenschaftler sind auf der deutschen<br />

Seite auf der Suche nach etwas Neuem.<br />

Oft werden die Häuser nur als Schlafzimmer<br />

genutzt: Gearbeitet <strong>wir</strong>d weiterhin in<br />

Stettin. Annexion andersherum.<br />

Und wie gehen die Bewohner mit der<br />

neuen Nachbarschaft um? „Wenn die Polen<br />

Häuser kaufen, dann stehlen sie nicht<br />

mehr“, heißt es lapidar – Vorurteile gibt es<br />

natürlich auf beiden Seiten: Klar, der Pole<br />

klaue Autos <strong>und</strong> sei schlampig, der Deutsche<br />

pedantisch <strong>und</strong> ein humorloser Nazi.<br />

Krzysztof Pyrka kennt das: „Zu viele Vorurteile<br />

zu haben, ist nicht gut, aber manche<br />

helfen ein bisschen, manche schützen“,<br />

sagt er. Es gebe ja auch positive Vorurteile:<br />

dass Polinnen schön seien <strong>und</strong> der Pole<br />

gut improvisieren könne. Und mit dem<br />

Vorurteil, klebrige Finger zu haben, <strong>wir</strong>d<br />

sogar in Polen gescherzt: „Ich hatte noch<br />

nie Lust, in Deutschland etwas zu klauen“,<br />

sagt ein Friseur auf der polnischen Seite.<br />

„Aber manche halten es ja für einen patriotischen<br />

Akt, dort ein Auto zu stehlen.“<br />

Markus Stein gelingt es gerade mit diesen<br />

Zitaten, dass man oft lachen muss. Obwohl:<br />

Worüber lacht man jetzt eigentlich?<br />

Über den Polen, den Deutschen? Über das<br />

Vorurteil? Oder lacht man nicht eigentlich<br />

über sich selbst? Dazu passt das Porträt<br />

der scheinbaren Idylle, die die Kamera<br />

einfängt, ohne jemanden dabei vorzuführen:<br />

die freiwillige Feuerwehr etwa, der in<br />

einer Nacht das komplette Feuerwehrauto<br />

geklaut wurde, oder der Bademeister<br />

im Löcknitzer Freibad, das nur von Polen<br />

besucht <strong>wir</strong>d. „Wenn <strong>wir</strong> nicht hier wären,<br />

könntet ihr dichtmachen“, habe ihm ein<br />

Pole gesagt. „Seit ihr hier seid, kommen die<br />

Löcknitzer gar nicht mehr her“, konterte er.<br />

Für Regisseur Stein seien die ganzen Vorurteile<br />

ein schmerzhaftes Thema gewesen:<br />

„Ich wollte nicht losrennen <strong>und</strong> die Deutschen<br />

<strong>und</strong> Polen nach ihren Vorurteilen fragen“,<br />

erzählt er im Filmgespräch. Das sei<br />

aber falsch gewesen: Man kann sie nicht<br />

einfach ignorieren. Auch Marta Szuster ist<br />

zum Gespräch geladen. Die 34-Jährige ist<br />

gebürtige Stettinerin, hat in Hamburg gelebt,<br />

ist jetzt zurückgekehrt – <strong>und</strong> sitzt im<br />

uckermärkischen Gartz im Gemeinderat:<br />

Das Amt Gartz hat zwölf Prozent polnische<br />

Einwohner, in den Kindergärten sind<br />

15 Prozent polnische Kinder. „Ja, es sind<br />

schon die Polen, die klauen, da brauchen<br />

<strong>wir</strong> nicht herumzureden. Aber es sind nicht<br />

die Nachbarn: Die kaufen kein Haus, um<br />

nebenan zu klauen“, sagt sie. Sie habe es<br />

sich zur Aufgabe gemacht, die Menschen<br />

zusammenzubringen. Viele wohnen seit<br />

Jahrzehnten dort, waren aber nicht einmal<br />

im polnischen Gryfino – <strong>und</strong> das liegt direkt<br />

gegenüber, nur die Oder ist dazwischen.<br />

Über die Zukunft entscheidet wohl die<br />

nächste Generation, etwa die, die auf das<br />

zweisprachige deutsch-polnische Gymnasium<br />

in Löcknitz geht. Am Ende des Films<br />

sitzen drei 13-Jährige zusammen <strong>und</strong> können<br />

sich nicht entscheiden, welche Nationalität<br />

sie denn haben. Woran macht man<br />

das fest? Geht es darum, wie man sich<br />

fühlt? Zunächst herrscht Ratlosigkeit. „Ich<br />

fühle mich wie eine rein Deutsche“, sagt<br />

Natalie. „Nur mein Opa hat etwas dagegen,<br />

wenn ich das sage.“ Wenn es also noch<br />

eine Grenze gibt, dann ist es die Sprache.<br />

Und eigentlich ist die höchstens eine Barriere.<br />

<br />

Vorstehender Beitrag erschien in den Potsdamer<br />

Neueste Nachrichten. Wir danken für<br />

die Nachdruckerlaubnis.<br />

Ländliche Regionen im deutschen Grenzgebiet zu Polen sind gekennzeichnet durch eine Entvölkerung,<br />

die durch den Zuzug polnischer Bürger teilweise wieder ausgeglichen <strong>wir</strong>d.<br />

Foto: arte


GESCHICHTE<br />

Fortentwicklung der deutsch-polnischen Schulbuchkommission<br />

Europäische Geschichte aus neuen Blickwinkeln<br />

Das deutsch-polnische Projekt eines gemeinsamen Geschichtsbuches<br />

Von Thomas Strobel<br />

„Mit diesem Projekt können <strong>wir</strong> Deutsche<br />

deutlich machen“, so B<strong>und</strong>esaußenminister<br />

Frank-Walter Steinmeier 2006 über<br />

die Idee für ein gemeinsames Geschichtsbuch,<br />

„dass <strong>wir</strong> offen sind für polnische<br />

Sichtweisen auf die Geschichte. Ich bin<br />

sicher, dass viele Deutsche es als Bereicherung<br />

empfinden, diese Sichtweisen<br />

besser kennen zu lernen <strong>und</strong> mehr aus der<br />

polnischen Geschichte zu erfahren.“ In<br />

der Rückschau war dies der Startschuss<br />

für das 2008 offiziell ins Leben gerufene<br />

Projekt, ein Schulbuch zu entwickeln, das<br />

in der Sek<strong>und</strong>arstufe I beider Länder <strong>wir</strong>d<br />

eingesetzt werden können. Es ist von hoher<br />

politischer Symbolik, da es nicht als<br />

Zusatzmaterial zu den deutsch-polnischen<br />

Beziehungen verwendet werden soll, sondern<br />

als reguläres Lehrwerk in der Konkurrenz<br />

zu anderen lehrplankonformen<br />

Schulbüchern konzipiert ist, in dem die<br />

klassischen Lehrplaninhalte (von der Urgeschichte<br />

bis zur Gegenwart) unter besonderer<br />

Berücksichtigung deutsch-polnischer<br />

Perspektiven behandelt werden. Beide<br />

Länder gestatten es sich somit gegenseitig,<br />

an dem historischen Wissen, der der<br />

jungen Generation vermittelt werden soll,<br />

mitzuschreiben.<br />

Wurzeln <strong>und</strong> Genese des Projektes<br />

Das Projekt eines gemeinsamen deutschpolnischen<br />

Geschichtsbuches hat seine<br />

Wurzeln in einem jahrzehntelangen fachwissenschaftlichen<br />

Dialog der Fächer<br />

Geschichte <strong>und</strong> Geographie, der Schulbuchinhalte<br />

als Ausgangspunkt nahm. Die<br />

Arbeit der 1972 im Rahmen der UNESCO<br />

gegründeten Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission<br />

war über viele Jahre<br />

hinweg ausgerichtet auf die Analyse <strong>und</strong><br />

Verbesserung bestehender Lehrwerke in<br />

beiden Ländern sowie auf die Vertiefung<br />

der Wissenschaftskooperation. Der Schulbuchdialog<br />

war zugleich politischen Ansprüchen<br />

ausgesetzt <strong>und</strong> stand in starker<br />

Wechsel<strong>wir</strong>kung mit den Öffentlichkeiten<br />

beider Länder. Das verstärkte sich, als die<br />

Schulbuchkommission die in den Jahren<br />

1972-1976 erarbeiteten „Empfehlungen“<br />

vorlegte, in denen sie den Versuch unternahm,<br />

zu einer für beide Seiten tragbaren<br />

Darstellung der gesamten deutsch-polnischen<br />

Beziehungsgeschichte zu kommen<br />

<strong>und</strong> Schulbuch¬autoren <strong>und</strong> Lehrkräften<br />

in beiden Ländern Orientierung zu geben.<br />

Nachdem die Schulbuchkommission ab<br />

1977 auf Fachkonferenzen wissenschaftliche<br />

Spezialthemen der Empfehlungen vertieft<br />

behandelt hatte, <strong>wir</strong>kte sie seit dem<br />

Ende der 1980er verstärkt nicht nur bei der<br />

Korrektur bestehender, sondern auch bei<br />

der Produktion neuer ergänzender Lehrmaterialien<br />

mit. Ein Schulbuch zu erarbeiten,<br />

das regulär im Geschichtsunterricht beider<br />

Länder würde eingesetzt werden können,<br />

ist allerdings erst ein Projekt der vergangenen<br />

Jahre, zumal dafür während der deutschen<br />

Teilung <strong>und</strong> des Blockgegensatzes<br />

die politischen Voraussetzungen nicht vorhanden<br />

gewesen waren.<br />

Die von B<strong>und</strong>esaußenminister Steinmeier<br />

im Herbst 2006 in zwei Reden vorgeschlagene<br />

Idee, Deutsche <strong>und</strong> Polen könnten ein<br />

gemeinsames Geschichtsbuch konzipieren,<br />

war stark von der seit 2004 erarbeiteten<br />

deutsch-französischen Schulbuchreihe inspiriert.<br />

Ein ähnliches deutsch-polnisches<br />

Projekt schien in dieser Zeit angespannter<br />

deutsch-polnischer Beziehungen allerdings<br />

kaum umsetzbar. Ein erschwerender Faktor<br />

schien auch die Tatsache zu sein, dass<br />

deutsche Geschichte, wie eine Machbarkeitsstudie<br />

des Georg-Eckert-Instituts<br />

2008 zeigte, zwar ein zentraler Bestandteil<br />

des polnischen Geschichtsunterrichts ist,<br />

aber polnische Geschichte in den meisten<br />

deutschen Lehrplänen nur eine marginale<br />

Rolle spielt. Gerade bei den jeweiligen Nationalgeschichten<br />

gibt es teilweise deutliche<br />

Abweichungen der deutschen <strong>und</strong> polnischen<br />

Lehrpläne, dennoch aber, so die<br />

Bilanz der Studie, ausreichende Schnittmengen<br />

für ein in beiden Ländern einsetzbares<br />

Geschichtsbuch.<br />

Die Anbahnung des Projekts in den Jahren<br />

2006-2008 zeigt das Zusammen<strong>wir</strong>ken<br />

zivilgesellschaftlicher <strong>und</strong> politischer<br />

Akteure: Nach dem Regierungswechsel<br />

in Polen im Herbst 2007 änderte sich die<br />

politische Großwetterlage <strong>und</strong> die beiden<br />

Außenminister Steinmeier <strong>und</strong> Sikorski<br />

vereinbarten in einer gemeinsamen Initiative<br />

die Entwicklung eines gemeinsamen Geschichtsbuches.<br />

Unterstützung erhielten<br />

sie unter den deutschen B<strong>und</strong>esländern<br />

besonders vom Land Brandenburg. Der<br />

Schulbuchkommission, die 2007 bereits<br />

konzeptionelle Vorüberlegungen getroffen<br />

hatte, gelang es, ihre prominente Rolle<br />

auch in diese nächste Phase des Projektes<br />

zu transferieren. Bei dem im Mai 2008<br />

vollzogenen offiziellen Start wurde eine<br />

zweigliedrige Projektstruktur etabliert:<br />

Während der von Fachwissenschaftlern<br />

<strong>und</strong> Schulpraktikern besetzte binationale<br />

Expertenrat die wissenschaftliche Expertise<br />

sichert, verantwortet der aus Vertretern<br />

der in beiden Ländern zuständigen<br />

Ministerien bestehende Steuerungsrat die<br />

politischen <strong>und</strong> finanziellen Rahmenbedingungen<br />

des Projekts.<br />

Phasen des Projektes<br />

In den Jahren 2008-2010 erarbeitete der<br />

Expertenrat das Konzept der Schulbuchreihe<br />

– bestehend aus einem didaktischen<br />

Rahmenkonzept <strong>und</strong> Leitlinien für die Behandlung<br />

der einzelnen Epochen (Ur-/<br />

Frühgeschichte, Antike, Mittelalter, Frühe<br />

Neuzeit, 19. Jahrh<strong>und</strong>ert, 20. Jahrh<strong>und</strong>ert).<br />

Die sich anschließende Verlagsfindung im<br />

Jahr 2011 gestaltete sich in beiden Ländern<br />

schwierig, da die Verlage Aufwand<br />

<strong>und</strong> ökonomischen Erfolg des Projektes<br />

zu wenig vorhersagen konnten. Die Politik<br />

reagierte darauf damit mit der Schaffung<br />

entsprechender Rahmenbedingungen:<br />

Während das Auswärtige Amt bereits seit<br />

2008 die organisatorische Umsetzung des<br />

Buches fördert <strong>und</strong> nach dem Erscheinen<br />

des Buches für deutsche Auslandsschulen<br />

Klassensätze anschaffen <strong>wir</strong>d, fördert<br />

die Kultusministerkonferenz die Arbeit des<br />

deutschen Verlages.<br />

2012 ist das Projekt mit dem Eintritt<br />

zweier Schulbuchverlage – den Wydawnictwa<br />

Szkolne i Pedagogiczne aus Warschau<br />

<strong>und</strong> der Eduversum GmbH aus Wiesbaden<br />

– in seine nächste Phase eingetreten.<br />

Das Verlagstandem arbeitet seitdem – im<br />

Unterschied zum sich an die Oberstufe<br />

richtenden deutsch-französischen Geschichtsbuch<br />

– an der Produktion einer<br />

vierbändigen Schulbuchreihe für die Sek<strong>und</strong>arstufe<br />

I (in Polen für das Gimnazjum<br />

<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />

25


GESCHICHTE<br />

<strong>und</strong> die erste Klasse des Liceum), um einen<br />

möglichst breiten Kreis an Schülern<br />

zu erreichen. Deren erster Band zur Ur-/<br />

Frühgeschichte, Antike <strong>und</strong> zum Mittelalter<br />

soll Ende <strong>2015</strong> erscheinen, die Bände 2<br />

bis 4 (Frühe Neuzeit, 19. Jahrh<strong>und</strong>ert, 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert) in den Folgejahren. Folgende<br />

Arbeitsweise wurde etabliert: Die Schulbuchkapitel<br />

werden in deutsch-polnischen<br />

Autorentandems erarbeitet. Im Wechsel<br />

erarbeitet zuerst ein polnischer oder deutscher<br />

Autor den Erstentwurf eines Kapitels,<br />

der vom Autor aus dem Nachbarland<br />

überarbeitet <strong>wir</strong>d. Im Anschluss daran<br />

kommentieren die für die jeweilige Epoche<br />

zuständigen Mitglieder des Expertenrates<br />

diese gemeinsam erarbeiteten Manuskripte.<br />

Ein weiteres Moment der Qualitätssicherung<br />

<strong>und</strong> Rückkopplung an die Schulpraxis<br />

sind Workshops mit Lehrkräften aus<br />

beiden Ländern, in denen Beispielkapitel<br />

getestet werden.<br />

Konzeptionelle Rahmungen<br />

Die Projektgruppe stellt in der von ihr<br />

derzeit produzierten Schulbuchreihe die<br />

Geschichte Europas sowie themenabhängig<br />

auch anderer Teile der Welt ins Zentrum.<br />

Sie erarbeitet also explizit nicht, wie<br />

es die Bezeichnung „deutsch-polnisch“<br />

nahelegen würde, ein Buch zur deutschpolnischen<br />

Beziehungsgeschichte. Durch<br />

die Arbeit deutsch-polnischer Autorentandems<br />

sollen den Schülern bislang unbekannte<br />

Perspektiven auf die Geschichte<br />

Europas aufgezeigt werden, die besonders<br />

den Blick der deutschen Schüler deutlich<br />

stärker als bis dato auf die Geschichte Mittel-<br />

<strong>und</strong> Osteuropas lenken soll. Gleichzeitig<br />

sollen polnische Schüler kennenlernen,<br />

wie Geschichte in Deutschland erzählt <strong>und</strong><br />

gewertet <strong>wir</strong>d. Gr<strong>und</strong>voraussetzung dafür<br />

ist es, dass unterschiedliche Deutungen<br />

der Geschichte auch offengelegt <strong>und</strong> thematisiert,<br />

aber nicht zu Kompromissnarrativen<br />

zusammengeführt werden. Vor<br />

diesem Hintergr<strong>und</strong> <strong>wir</strong>d das Schulbuch<br />

besondere Akzente im Bereich der Erinnerungskultur<br />

setzen.<br />

Herausforderungen<br />

War bereits die Schaffung eines konzeptionellen<br />

F<strong>und</strong>aments für das Projekt sehr<br />

aufwändig, so zeichnet sich ab, dass sich<br />

die Produktion der Schulbuchreihe selber<br />

<strong>und</strong> im Anschluss ihre Implementation in<br />

die Schulpraxis noch schwieriger gestalten.<br />

Bei der Erarbeitung des Buches <strong>wir</strong>d deutlich,<br />

dass die binational besetzten Teams<br />

von Verlagsredakteuren, Autoren, Experten<br />

<strong>und</strong> Koordinatoren großen Abstimmungsbedarf<br />

implizieren, nicht zuletzt vor dem<br />

Hintergr<strong>und</strong> einer nur bei einem Teil der<br />

Akteure vorhandenen Zweisprachigkeit.<br />

Ein zweiter Aspekt ist die Frage danach, inwiefern<br />

sich die ambitionierten Vorstellungen<br />

der Experten in die Schulbuchpraxis<br />

übersetzen lassen – konkret, ob die Akteure<br />

Zwängen widerstehen können, Themen<br />

der Nationalgeschichte stark zu machen,<br />

proportional einander gegenüberzustellen<br />

<strong>und</strong> das Buch dadurch binational zu verengen,<br />

ob die Autorentandems es vermögen,<br />

Narrative beider Länder sinnvoll miteinander<br />

zu verflechten <strong>und</strong> ob es den Verlagen<br />

gelingt, die Schulbuchkulturen so miteinander<br />

zu kombinieren, dass beiden Seiten<br />

ein Mehrwert dadurch entsteht, ohne Abstriche<br />

an nationalen Standards machen<br />

zu müssen. Hintergr<strong>und</strong> für die sich daraus<br />

ergebenden schwierigen Aushandlungsprozesse<br />

ist nicht zuletzt der Versuch beider<br />

Seiten, traditionellen Erwartungshaltungen<br />

„ihrer“ Lehrer gerecht zu werden zu<br />

versuchen, um das Buch in die Schulpraxis<br />

bringen zu können <strong>und</strong> zu einem Markterfolg<br />

werden zu lassen. Damit ist auch schon<br />

der zweite Bereich von Herausforderungen<br />

angesprochen, der sich im Zusammenhang<br />

mit der Implementation des Lehrbuches in<br />

die Schulpraxis ergeben <strong>wir</strong>d. Geschichtslehrer<br />

in beiden Ländern werden das Buch<br />

nicht nur an seiner methodischen <strong>und</strong> inhaltlichen<br />

Qualität messen, sondern auch<br />

daran, ob es die entsprechenden Lehrplaninhalte<br />

ihres (B<strong>und</strong>es)Landes ausreichend<br />

berücksichtigt. Ein weiterer Aspekt, der<br />

Produktions- <strong>und</strong> Implementationsphase<br />

miteinander verbindet, sind die Faktoren<br />

von Politik <strong>und</strong> Öffentlichkeit. Zwar haben<br />

die politischen Akteure beider Länder das<br />

Projekt durch politische Würdigung aufgewertet<br />

<strong>und</strong> für die Schaffung adäquater<br />

Rahmenbedingungen gesorgt, den beteiligten<br />

Verlagen <strong>und</strong> Wissenschaftlern in<br />

inhaltlichen Fragen aber freie Hand gelassen.<br />

Die Tatsache, dass das gemeinsame<br />

Geschichtsbuch von der Politik in hohem<br />

Maße symbolisch aufgeladen wurde <strong>und</strong><br />

dass mit seinem Erscheinen jedes Detail<br />

des Buches einer kritischen Analyse unterzogen<br />

werden <strong>wir</strong>d, führt zu einer besonders<br />

behutsamen, aber deshalb auch<br />

zeitaufwändigen Erarbeitung des Buches.<br />

Das Projekt sieht sich also konfrontiert<br />

mit dem Dilemma, einerseits neue Wege<br />

in der Konzeption von Geschichtsbüchern<br />

beschreiten zu wollen, andererseits durch<br />

seine symbolische Aufladung vielfältigen<br />

<strong>und</strong> sich widersprechenden Ansprüchen<br />

aus Politik, Wissenschaft <strong>und</strong> Schule ausgesetzt<br />

zu sein, die es nicht alle <strong>wir</strong>d erfüllen<br />

können.<br />

<br />

Unser Autor Dr. des. Thomas Strobel studierte<br />

Mittlere <strong>und</strong> Neuere Geschichte <strong>und</strong> Politikwissenschaft<br />

an den Universitäten Heidelberg,<br />

Krakau <strong>und</strong> Leipzig. Seit 2005 ist er wissenschaftlicher<br />

Mitarbeiter am Georg-Eckert-Institut<br />

– Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung<br />

in Braunschweig. Dr. Strobel ist seit<br />

2008 Wissenschaftlicher Sekretär des deutschpolnischen<br />

Projektes „Schulbuch Geschichte“<br />

<strong>und</strong> der Gemeinsamen Deutsch-Polnischen<br />

Schulbuchkommission.<br />

Jerzy Holzer †<br />

Am 14. Januar <strong>2015</strong> starb im Alter von 84<br />

Jahren der renommierte polnische Historiker<br />

Professor Jerzy Holzer. Mit seinen Publikationen<br />

zur Geschichte Deutschlands in<br />

der Weimarer Zeit <strong>und</strong> während des Ersten<br />

<strong>und</strong> Zweiten Weltkriegs wie auch mit seinem<br />

herausragenden Werk über das Europa<br />

des Kalten Krieges (2013) gehörte er<br />

zur Riege der bedeutendsten europäischen<br />

Historiker.<br />

Über viele Jahre hinweg war er Mitglied<br />

des Präsidiums der Gemeinsamen<br />

Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission.<br />

Er unterstützte nicht nur die Idee<br />

eines polnischen historischen Instituts in<br />

Berlin, sondern <strong>wir</strong>kte nach dessen Gründung<br />

– zuerst als Wissenschaftliches Zentrum,<br />

später als Zentrum für Historische<br />

Forschung der Polnischen Akademie der<br />

Wissenschaften (2006) – auch aktiv an<br />

Projekten mit <strong>und</strong> brachte dabei stets sein<br />

Wissen <strong>und</strong> seine Erfahrung mit ein. Im<br />

Frühjahr 2014 ernannte das Präsidium der<br />

Schulbuchkommission Professor Jerzy Holzer<br />

einstimmig zu seinem Ehrenmitglied.<br />

26 <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong>


Gewinnen Sie<br />

das besondere<br />

Kochbuch<br />

In der letzten Ausgabe unserer Zeitschrift<br />

hatten <strong>wir</strong> Ihnen das besondere Kochbuch<br />

„Kandierte Orangen - Eine kulinarische Reise<br />

durch das winterliche Polen“ vorgestellt.<br />

Heute können Sie eines dieser tollen Bücher<br />

gewinnen.<br />

Schicken Sie uns einfach eine e-mail an<br />

die Adresse polen-<strong>und</strong>-<strong>wir</strong>@online.de <strong>und</strong><br />

schreiben Sie als Betreff: Kochbuch. In die<br />

Mail schreiben Sie Ihre Anschrift. Einsendeschluss<br />

ist der 15. Juni <strong>2015</strong>.<br />

Das Buch können Sie auch im Buchhandel<br />

zum Preis von 36 Euro erwerben. <br />

Orden für Prof. Bingen<br />

Der Staatspräsident<br />

der<br />

Republik Polen,<br />

Bronisław Komorowski,<br />

hat<br />

den Direktor<br />

des Deutschen<br />

Polen-Instituts,<br />

Prof. Dr. Dieter<br />

Bingen (Foto),<br />

mit dem Offizierskreuz<br />

des<br />

Verdienstordens der Republik Polen in<br />

Anerkennung seiner Verdienste um die<br />

Entwicklung der deutsch-polnischen Zusammenarbeit<br />

<strong>und</strong> der Förderung des Ansehens<br />

Polens im Ausland ausgezeichnet.<br />

Bingen leitet seit 1999 das von Karl Dedecius<br />

gegründete Polen-Institut.<br />

DAS VORLETZTE<br />

Vorankündigung:<br />

Tagung 70 Jahre nach „Potsdam“<br />

Im August <strong>2015</strong> jährt sich die Bekanntgabe der Beschlüsse der Potsdamer<br />

Konferenz der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, die die Nachkriegsgeschichte<br />

des besiegten Deutschlands entscheidend bestimmen sollten, zum<br />

70. Mal. Aus diesem Anlass findet vom<br />

1. - 4. September <strong>2015</strong><br />

in Potsdam eine von der Landeshauptstadt Potsdam, der Berlin-Brandenburgischen<br />

Auslandsgesellschaft e.V. <strong>und</strong> der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland e. V. organisierte wissenschaftliche Konferenz zum Thema statt, die<br />

Völkerrechtler <strong>und</strong> Historiker aus allen an der Konferenz beteiligten Nationen, dazu<br />

aus den beiden deutschen Nachkriegsstaaten <strong>und</strong> aus Polen vereint. Gegenstand der<br />

Beiträge ist der rechtliche Charakter <strong>und</strong> die rechtliche Verbindlichkeit der Beschlüsse<br />

<strong>und</strong> ihre Aus<strong>wir</strong>kungen auf beide deutsche Staaten <strong>und</strong> ganz Europa bis heute.<br />

Veranstaltungsort ist das Potsdam-Museum, Am Alten Markt, 14467 Potsdam.<br />

Die Tagung beginnt am Dienstag, 1. September nachmittags <strong>und</strong> endet am Mittag des<br />

Freitag, 4. September. Am 3. September findet nachmittags für die Teilnehmer eine<br />

Stadtr<strong>und</strong>fahrt <strong>und</strong> ein Besuch der Gedenkstätte des Potsdamer Abkommens statt.<br />

Die Teilnahmegebühr beträgt 20 Euro. Kosten für Anreise, Unterkunft <strong>und</strong> Verpflegung<br />

sind selbst zu tragen. Detaillierte Angaben, Programm, Referenten etc. finden Sie voraussichtlich<br />

ab Juni im Internet unter www.polen-<strong>und</strong>-<strong>wir</strong>.de .<br />

Voranmeldung für die Tagung ist ab sofort unter dombrowsky@bbag-ev.de möglich.<br />

Sie erhalten dann das genaue Programm nach Fertigstellung per Mail zugestellt. Wir<br />

bitten um Verständnis, dass die Teilnehmerzahl aus Platzgründen auf 80 Personen<br />

begrenzt ist.<br />

<br />

11 Jahre Teatr Studio in Berlin<br />

Pfannkuchen, Schweine, Heiligenscheine<br />

Von Karl Forster<br />

Nein, es war keine Karnevalsveranstaltung,<br />

auch wenn das ungewöhnliche Jubiläum<br />

„11“ Jahre, darauf hindeuten würde.<br />

Aber humorvoll ging es doch zu, beim Jubiläumsstück<br />

„Pfannkuchen, Schweine,<br />

Heiligenscheine“ von der deutsch-polnischen<br />

Schriftstellerin Dr. Brigitta Helbig-<br />

Mischewski. Sie hat schon mit mancherlei<br />

Texten für Unterhaltung <strong>und</strong> Nachdenken<br />

gesorgt, so mit ihrem Prosaband „Enerdowce<br />

i inne ludzie” („Ossis <strong>und</strong> andere<br />

Leute“) Im „Teatr Studio am Salzufer - Tadeusz<br />

Różewicz Bühne” in Berlin, das nun<br />

zum 11. Jubiläumstag lud, wurde das auf<br />

ihren Texten basierende Stück „Pfannkuchen,<br />

Schweine, Heiligenscheine” unter<br />

der Regie der Theaterleiterin <strong>und</strong> Chefin<br />

der Transform Schauspielschule, Dr. Janina<br />

Szarek aufgeführt.<br />

Akteure des Stücks sind Schüler der<br />

Schauspielschule, denen die schwere Aufgabe,<br />

Zuschauer zum Lachen zu bringen,<br />

durchaus glänzend gelingt. Das Stück ist<br />

einerseits eine Satire auf das polnische<br />

Emigrationsmilieu in Deutschland, aber<br />

auch eine Satire der gegenseitigen Wahrnehmung<br />

der Deutschen <strong>und</strong> Polen. Noch<br />

immer spielen nationale Stereotypen auch<br />

in der Kommunikation zwischen Deutschen<br />

<strong>und</strong> Polen eine Rolle <strong>und</strong> führen mitunter<br />

zu grotesken Situationen. Ein Stück, das<br />

gerade im multikulturellen, grenznahen<br />

Berlin absolut am richtigen Platz ist. Wer<br />

ebenfalls einen humorvoll-nachdenklichen<br />

Abend mit dem Stück (gespielt in deutscher<br />

Sprache mit Elementen der polnischen)<br />

erleben möchte, hat dazu im Teatr<br />

Studio, Salzufer 13/14 (im Hof) in Berlin<br />

am 25. <strong>April</strong>, 6. Mai <strong>und</strong> 23. Mai <strong>2015</strong>, jeweils<br />

20:00 Uhr, Gelegenheit. <br />

<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />

27


K 6045<br />

DPAG Pressepost Entgelt bezahlt<br />

Verlag Deutsch-Polnische Gesellschaft<br />

der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland<br />

c/o Manfred Feustel<br />

Im Freihof 3, 46569 Hünxe<br />

Liebe Leserin, lieber Leser<br />

Wenn an dieser Stelle kein Versandetikett klebt,<br />

sind Sie vielleicht noch kein Abonnent<br />

unserer Zeitschrift. Das sollte sich ändern.<br />

Für nur 12 Euro pro Jahr erhalten Sie<br />

<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> frei Haus.<br />

Bestellung an nebenstehende Anschrift.<br />

Einladung zur Hauptversammlung<br />

der Deutsch-Polnischen Gesellschaft<br />

der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland e.V.<br />

Das Jahr <strong>2015</strong> ist wieder ein Jahr der deutsch-polnischen Gedenktage. Da war am 27. Januar der 70. Jahrestag der Befreiung<br />

des KZ-Auschwitz, der deutsche Gedenktag der Opfer des Faschismus <strong>und</strong> internationaler Holocaust-Tag, da ist am 8.<br />

Mai der 70. Jahrestag der Befreiung Europas vom Faschismus, <strong>und</strong> im Juli jährt sich ebenfalls zum 70. Mal die Potsdamer<br />

Konferenz.<br />

65 Jahre Deutsch-Polnische Gesellschaft<br />

Aber <strong>wir</strong> wollen in diesem Zusammenhang auch an zwei andere wichtige Termine erinnern: Vor 65 Jahren wurde in Düsseldorf<br />

unsere Deutsch-Polnische Gesellschaft der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland, damals unter dem Namen „Hellmut-von-<br />

Gerlach-Gesellschaft“ gegründet. Und vor 25 Jahren entstand in der „Wendezeit“ der DDR die „Gesellschaft für gute Nachbarschaft<br />

zu Polen“, die heute der Regionalverband Ost unserer Gesellschaft ist. Nicht zuletzt können <strong>wir</strong> auf ein Jubiläum<br />

zurückblicken, das eigentlich schon im vergangenen Jahr war, das 30jährige Bestehen unserer Zeitschrift „<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong>“.<br />

Am Wochenende 4./5. Juli <strong>2015</strong> laden <strong>wir</strong> Sie/Euch aus diesem Gr<strong>und</strong> zu einer<br />

besonderen Hauptversammlung unserer Gesellschaft in Berlin ein.<br />

Für die Berliner <strong>und</strong> die schon am Samstag anreisenden Gäste beginnen <strong>wir</strong> am Samstag, 4. Juli, um 16.30 Uhr mit einem<br />

historisch-politischen Stadtr<strong>und</strong>gang durch „SO36 – Berlin Kreuzberg“. Treffpunkt ist vor der Wilhelm-Liebknecht-/Namik-<br />

Kemal-Bibliothek Adalbertstraße. Verkehrsgünstig direkt am U-Bahnhof Kottbusser Tor (Ausgang Adalbertstraße) gelegen.<br />

Der Spaziergang <strong>wir</strong>d auch für Berlin-Kenner Interessantes <strong>und</strong> Unbekanntes zeigen, auf die Geschichte der türkischen<br />

<strong>und</strong> polnischen Zuwanderung eingehen, die ersten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen aus dem 19. Jahrh<strong>und</strong>ert vorstellen,<br />

überraschende Mauergeschichten zeigen, zum polnischen Sozialrat sowie zu einer neuen Moschee führen <strong>und</strong> nach r<strong>und</strong><br />

2,5 St<strong>und</strong>en an einem türkischen Restaurant enden, wo man erlebt, dass türkische Küche nicht nur Döner ist.<br />

Matinee Benefiz-Kulturveranstaltung<br />

Am Sonntag, 5. Juli um 10 Uhr beginnt die Hauptversammlung mit einer öffentlichen Matinee als Benefiz-Kulturveranstaltung<br />

gemeinsam mit dem Kulturring in Berlin e.V. im Kulturforum Berlin-Hellersdorf. Neben Musik- <strong>und</strong> Literaturbeiträgen<br />

werden <strong>wir</strong> kurz auf das Gedenkjahr eingehen. Außerdem hoffen <strong>wir</strong> auf einige Gratulanten. Nach einer Mittagspause <strong>wir</strong>d<br />

sich um 13 Uhr der formale Teil der Hauptversammlung mit Rechenschaftsbericht <strong>und</strong> Neuwahl des Vorstands anschließen.<br />

Der geführte Spaziergang am Samstag ist nach vorheriger Anmeldung für Mitglieder der Gesellschaft kostenlos. Die Teilnehmerzahl ist<br />

begrenzt. Die Benefizveranstaltung ist öffentlich bei freiem Eintritt, Spenden für die Arbeit der Gesellschaft werden ausdrücklich erbeten.<br />

Anmeldungen per Mail unter hauptversammlung<strong>2015</strong>@polen-news.de oder per Post an Karl Forster, Neue Grottkauer Str. 38, 12619<br />

Berlin. Bitte geben Sie Ihre Adresse <strong>und</strong> eine Rückrufnummer an. Die Mitglieder der Gesellschaft erhalten noch per Post eine formelle<br />

Einladung mit Anmeldeformular.<br />

Deutsch-Polnische Gesellschaft der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland e.V.<br />

28 <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong>

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