POLEN und wir - April 2015
Zeitschrift für deutsch-polnische verständigung
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Nr. 2/<strong>2015</strong> (111) - K 6045 - 3 EURO<br />
ZEITSCHRIFT FÜR DEUTSCH-POLNISCHE VERSTÄNDIGUNG<br />
70 Zwischen Jahre Befreiung Angst <strong>und</strong> Auschwitz Größenwahn S. S. 3<br />
Zum Ein irrwitziges Wahljahr in Strohfeuer Polen S.11<br />
5<br />
<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />
1
EDITORIAL<br />
Liebe Leserinnen <strong>und</strong> Leser,<br />
Das Jahr der Gedenktage hatten <strong>wir</strong> schon im Januar eingeläutet. Einer dieser Termine<br />
betrifft uns selbst unmittelbar. In diesem Jahr <strong>wir</strong>d unsere Deutsch-Polnische Gesellschaft<br />
65 Jahre alt. Eigentlich lag der Anfang noch zwei weitere Jahre zurück, aber die 1948<br />
in Berlin gegründete Hellmut-von-Gerlach-Gesellschaft wurde mit der Gründung zweier<br />
deutscher Staaten 1949 konfrontiert <strong>und</strong> so wurde 1950 in Düsseldorf die Gesellschaft<br />
für die neue B<strong>und</strong>esrepublik neu ins Leben gerufen. Die erste Gründung, jetzt in der<br />
DDR beheimatet, existierte nur bis 1953, aber ihre Mitglieder blieben dem Gedanken der<br />
Verständigung mit Polen in anderen Organisationen treu. Die westdeutsche Organisation<br />
existierte weiter, bekam in den 90er Jahren Zuwachs im Osten. Jetzt können <strong>wir</strong> auf viele<br />
aktive Jahre zurückblicken. Aber zur Ruhe setzen wollen <strong>wir</strong> uns trotz des „Rentenalters“<br />
nicht. Denn unsere Aufgaben sind so vielfältig wie jeher. Das Jubiläum jedenfalls wollen<br />
<strong>wir</strong> mit unserer Hauptveranstaltung feiern. Zu der Matineeveranstaltung am 5. Juli (siehe<br />
letzte Seite) können Sie gerne Gäste einladen. Auch sie sollen uns <strong>und</strong> unsere Arbeit<br />
kennenlernen.<br />
Ihre Redaktion<br />
In dieser Ausgabe lesen Sie:<br />
Seite 3 Nach der Wahl ist vor der Wahl<br />
Eine Analyse der Kommunalwahl von Holger Politt<br />
Seite 4 „Wir jungen Menschen können uns<br />
ein Schweigen nicht leisten“<br />
Seite 5 „Eure Generation muss ihre Strecke<br />
der Staffel selbst durchlaufen“<br />
Seite 6 „Ich lernte die Geschichte kennen,<br />
um sie weiter zu tragen.“<br />
Seite 7 Die Seele der Dinge - Éva Fahidi<br />
Seite 8 Ein Sieg der Würde des Menschen<br />
Seite 10 Der Tod hat nicht das letzte Wort<br />
Seite 11 Eigentlich herrscht Ruhe - Zum Wahljahr in Polen<br />
Seite 12 Erfolge <strong>und</strong> Probleme - KZ Sonnenburg/Słonsk<br />
Seite 15 Gern leben <strong>und</strong> eine Aufgabe haben - Feliks Tych †<br />
Seite 16 8. Mai - Tag der Befreiung<br />
Seite 19 Wir Unsichtbaren - Geschichte der Polen in Deutschland<br />
Seite 20 Basiswissen über den II. Weltkrieg<br />
Seite 21 Ukraine am Rande des Abgr<strong>und</strong>s<br />
Seite 24 Leben im deutschen Speckgürtel von Stettin<br />
Seite 25 Europäische Geschichte aus neuen Blickwinkeln<br />
Unser Titelbild zeigt die Rampe in Auschwitz-Birkenau. Siehe hierzu unsere<br />
Berichterstattung von Seite 3 bis 8.<br />
Bescheinigung für das Finanzamt bei Zuwendungen bis 200,00 Euro:<br />
Diese Bescheinigung gilt in Verbindung mit einem Kontoauszug oder einem Bareinzahlungsbeleg<br />
der Bank für Ihre Zuwendungen (Spenden <strong>und</strong> Mitgliedsbeiträge).<br />
Wir sind wegen der Förderung internationaler Gesinnung, der Toleranz auf allen Gebieten der<br />
Kultur <strong>und</strong> des Völkerverständigungsgedankens nach dem letzten uns zugegangenen Freistellungsbescheid<br />
für 2012 zur Körperschaftsteuer vom 23.5.2014 vom Finanzamt Düsseldorf-Mitte<br />
St-Nr. 133/5906/0194 gemäß $5 Absatz 1 Nr. 9 KStG von der Körperschaftsteuer befreit.<br />
Es <strong>wir</strong>d bestätigt, dass die Zuwendung nur zur Förderung internationaler Gesinnung, der Toleranz<br />
auf allen Gebieten der Kultur <strong>und</strong> des Völkerverständigungsgedankens gemäß §52 Absatz 2 Satz<br />
1 Nr. 13 AO verwendet <strong>wir</strong>d.<br />
Deutsch-Polnische Gesellschaft der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland e.V., c/o Manfred Feustel, Im Freihof 3, 46569 Hünxe<br />
DEUTSCH-POLNISCHE GESELLSCHAFT DER<br />
BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND E.V.<br />
1. Vorsitzender: Prof. Dr. Christoph Koch,<br />
Sprachwissenschaftler, Berlin<br />
Stellv. Vorsitzender: Dr. Friedrich Leidinger,<br />
Psychiater, Hürth<br />
Vorstand: Henryk Dechnik, Lehrer, Düsseldorf<br />
- Manfred Feustel, Steuerberater, Hünxe - Karl<br />
Forster, Journalist, Berlin - Dr. Klaus-Ulrich<br />
Goettner, Berlin - Dr. Egon Knapp, Arzt, Schwetzingen<br />
- Dr. Holger Politt, Gesellschaftswissenschaftler,<br />
Warschau - Wulf Schade, Slawist, Bochum<br />
- Horst Teubert, Journalist, London.<br />
Beirat: Armin Clauss - Horst Eisel † - Prof. Dr.<br />
sc. Heinrich Fink - Prof. Dr. Gerhard Fischer † -<br />
Dr. Franz von Hammerstein † - Christoph Heubner<br />
- Witold Kaminski - Dr. Piotr Łysakowski -<br />
Hans-Richard Nevermann - Eckart Spoo.<br />
Anschrift: Deutsch-Polnische Gesellschaft der<br />
B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland e.V., c/o Manfred<br />
Feustel, Im Freihof 3, 46569 Hünxe, Tel.:<br />
02858-7137, Fax: 02858-7945<br />
IMPRESSUM:<br />
Zeitschrift für deutsch-polnische Verständigung<br />
ISSN 0930-4584 - K 6045<br />
Heft 2/<strong>2015</strong>, 32. Jahrgang (Nr. 111)<br />
Verlag u. Herausgeber: Deutsch-Polnische Gesellschaft<br />
der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland e.V.<br />
Redaktion <strong>und</strong> Layout: Karl Forster<br />
Redaktionelle Mitarbeit: Ulrike Höck, Susanne<br />
Kramer-Drużycka, Wulf Schade.<br />
Redaktionsbüro: <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong><br />
Karl Forster, Neue Grottkauer Str. 38,<br />
12619 Berlin, Tel.: 030-89370650<br />
e-Mail: redaktion.puw@polen-news.de<br />
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Aboverwaltung: Manfred Feustel, Im Freihof 3,<br />
46569 Hünxe, Fax: 02858-7945<br />
Bezugspreis: Einzelheft 3,00 €, Jahres-Abonnement<br />
12,00 € inkl. Versand, Ausland: 10,00 €<br />
zuzügl. Versandkosten, Mitglieder der Deutsch-<br />
Polnischen Gesellschaft der B<strong>und</strong>esrepublik<br />
Deutschland e.V. erhalten <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> im<br />
Rahmen ihrer Mitgliedschaft.<br />
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Namentlich gekennzeichnete Beiträge stimmen<br />
nicht immer mit der Meinung der Redaktion<br />
oder der Herausgeberin überein. Für unverlangt<br />
eingesandte Manuskripte oder Fotos <strong>wir</strong>d keine<br />
Haftung übernommen.<br />
Erscheinungstermin: 1. <strong>April</strong> <strong>2015</strong><br />
Erscheinungstag der nächsten Ausgabe:<br />
Mittwoch, 1. Juli <strong>2015</strong><br />
Redaktionsschluss: 15. Mai 2014<br />
2 <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong>
GEDENKEN<br />
Feierliche Gedenkveranstaltung in Auschwitz, erstmals in einem großen Zelt über dem Eingangstor zum Vernichtungslager Birkenau. R<strong>und</strong> 300 Überlebende<br />
<strong>und</strong> Gäste aus zahlreichen Ländern.<br />
Foto; privat<br />
Gedenkfeier in Auschwitz-Birkenau<br />
70 Jahre nach der Befreiung<br />
Der Vertreter des Landes der Befreier fehlte<br />
Von Christoph Heubner<br />
Mehr als 300 Überlebende waren am 27.<br />
Januar anlässlich des 70. Jahrestages ihrer<br />
Befreiung noch einmal in Auschwitz zusammengekommen:<br />
Ihre Erinnerungen <strong>und</strong> ihr<br />
Beitrag zum Aufbau einer Welt der Vielfalt<br />
<strong>und</strong> der Toleranz sollten im Mittelpunkt der<br />
Gedenkveranstaltung stehen.<br />
Halina Birenbaum aus Israel, Kazimierz<br />
Albin aus Polen <strong>und</strong> der Präsident des Internationalen<br />
Auschwitz Komitees Roman<br />
Kent aus New York beschrieben in ihren<br />
Reden teils emotional aufrührend, teils<br />
sachlich verstörend, was mit ihnen <strong>und</strong> um<br />
sie herum in Auschwitz <strong>und</strong> in Birkenau geschehen<br />
war <strong>und</strong> wofür sie ihr Leben lang<br />
Zeugen bleiben werden.<br />
Sie beschrieben aber auch die Verstörungen<br />
<strong>und</strong> die Bitternis der Überlebenden<br />
angesichts heutiger Wellen von Antisemitismus,<br />
Ablehnung von Flüchtlingen, Hass<br />
gegen Roma <strong>und</strong> Sinti <strong>und</strong> f<strong>und</strong>amentalistischem<br />
Terror.<br />
Und dennoch bewegte gerade an diesem<br />
Tag nicht nur die Rednerin <strong>und</strong> die Redner<br />
die Präsenz der zahlreichen jungen<br />
Menschen, die als Gäste der Gedenkstätte<br />
<strong>und</strong> der Internationalen Jugendbegegnungsstätte<br />
an der Gedenkzeremonie teilnahmen.<br />
So hatten am Tag zuvor in Berlin<br />
Jugendliche aus Polen, Israel <strong>und</strong> Deutschland<br />
bei der Gedenkveranstaltung des Internationalen<br />
Auschwitz Komitees in Anwesenheit<br />
der B<strong>und</strong>eskanzlerin über ihre<br />
Begegnungen mit Überlebenden <strong>und</strong> ihre<br />
Erfahrungen bei Aufenthalten in der Ge-<br />
Wo blieb Putin?<br />
Ein Kommentar von Karl Forster<br />
Dass ausgerechnet B<strong>und</strong>espräsident<br />
Gauck die Ansprache im Deutschen B<strong>und</strong>estag<br />
zum 70. Jahrestag der Befreiung halten<br />
sollte, sorgte schon im Vorfeld für Kritik.<br />
Doch Gauck sprach einen bedeutungsvollen<br />
Satz: „Die Vernichtungslager im Osten wurden<br />
von den Sowjetsoldaten befreit. Vor ihnen,<br />
die allein bei der Befreiung von Auschwitz<br />
231 Kameraden verloren, verneigen <strong>wir</strong><br />
uns auch heute in Respekt <strong>und</strong> Dankbarkeit“.<br />
Aus allen Fraktionen gab es für dieses<br />
Signal Applaus. Ein Signal das nach Russland<br />
ging. Nicht nur dort war mit Befremden<br />
festgestellt worden, dass der Präsident des<br />
Landes der Befreier nicht an den Befreiungsfeierlichkeiten<br />
teilnehmen würde. Zehn<br />
Jahre zuvor hatte Putin in Auschwitz nicht<br />
nur teilgenommen <strong>und</strong> sogar gesprochen.<br />
Am Rande wurden auch eifrig Kontakte der<br />
Politiker geknüpft.<br />
Die Gerüchteküche brodelte. Aus Moskau<br />
hieß es, Putin käme nicht, weil er bewusst<br />
nicht eingeladen worden sei. Christoph<br />
Heubner, IAK-Vizepräsident <strong>und</strong> Mitglied<br />
des Internationalen Auschwitz Rates stellte<br />
klar: „Kein Staats- oder Regierungschef wurde<br />
eingeladen. Wir haben schon vor Monadenkstätte<br />
Auschwitz berichtet (Siehe unsere<br />
Berichterstattung auf den Seiten 4-7).<br />
Im Anschluss an die Berliner Veranstaltung<br />
war Marian Turski als Auschwitz-Überlebender<br />
vom Präsidenten des Deutschen<br />
B<strong>und</strong>estages eingeladen worden mit ihm<br />
<strong>und</strong> dem B<strong>und</strong>espräsidenten mit Jugendlichen<br />
im Reichstag zu diskutieren: „Wir<br />
übergeben Euch unsere Erinnerungen <strong>und</strong><br />
unsere Erfahrungen, betonte Turski gegenüber<br />
den Jugendlichen aus Deutschland,<br />
Polen <strong>und</strong> Frankreich, „ihr müsst jetzt den<br />
Staffelstab übernehmen.“ <br />
ten beschlossen, dass die Überlebenden im<br />
Mittelpunkt stehen sollen, nicht Politiker.“<br />
Dies war, so Beobachter, auch eine Reaktion<br />
auf die Kritik in früheren Jahren, Polen<br />
würde die Veranstaltung politisch instrumentalisieren.<br />
Die Gedenkstätte Auschwitz<br />
habe auf Empfehlung des Auschwitz-Rates<br />
hin „bei allen Botschaften in Warschau angefragt,<br />
ob das entsprechende Land teilnehmen<br />
möchte <strong>und</strong> wenn ja, auf welcher<br />
Ebene“, sagte Heubner. Die polnische Regierung<br />
habe die Anfragen fre<strong>und</strong>licherweise<br />
an die Botschaften übermittelt, „mehr<br />
nicht“.<br />
Putins Sprecher bestätigte, dass keine<br />
persönliche Einladung an den Präsidenten<br />
eingegangen sei, betonte aber: Dies sei allerdings<br />
offenbar in diesem Zusammenhang<br />
ohnehin nicht üblich.<br />
Dass polnische Politiker ein Erscheinen<br />
Putins nicht wünschten, ist unumstritten.<br />
Dass sich der polnische Außenminister gar<br />
in Erklärungen verstieg, nicht russische Soldaten,<br />
sondern ukrainische Kämpfer hätten<br />
Auschwitz befreit, ist nicht nur falsch, sondern<br />
gefährlich dumm. Dennoch muss man<br />
sich fragen, warum Putin nicht gerade deshalb<br />
nach Auschwitz gekommen ist. Er hätte<br />
damit die ehemaligen Häftlinge wie die<br />
sowjetischen Soldaten ehren können <strong>und</strong><br />
müssen.<br />
<br />
<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />
3
GEDENKEN<br />
70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz<br />
„Wir jungen Menschen können uns<br />
ein Schweigen nicht leisten“<br />
Am Vortag der Veranstaltung in Polen<br />
gedachten in einer feierlichen Gedenkveranstaltung<br />
am 26. Januar <strong>2015</strong> in<br />
der Berliner Urania Marian Turski <strong>und</strong><br />
Éva Fahidi, Überlebende des Vernichtungslagers<br />
Auschwitz, Jugendliche,<br />
die in Auschwitz zum Erhalt der Gedenkstätte<br />
gearbeitet hatten, <strong>und</strong> B<strong>und</strong>eskanzlerin<br />
Angela Merkel sowie etwa<br />
800 Gäste den Opfern der NS-Vernichtungsmaschinerie.<br />
„Aus Erinnerung erwächst also ein Auftrag“,<br />
sagte B<strong>und</strong>eskanzlerin Angela Merkel<br />
in ihrer Rede. Sie fuhr fort: „Verbrechen<br />
an der Menschheit verjähren nicht. Wir<br />
haben die immerwährende Verantwortung,<br />
das Wissen über die Gräueltaten von<br />
damals weiterzugeben <strong>und</strong> das Erinnern<br />
wachzuhalten.“<br />
Zuvor hatte die Auschwitz-Überlebende<br />
Éva Fahidi gesagt: „Im Namen fast aller<br />
Zeitzeugen kann ich sagen: Heute hassen<br />
<strong>wir</strong> niemanden mehr! Wir wissen, wie der<br />
Hass die menschliche Seele zerstört. Wir<br />
wollen nicht mehr hassen, <strong>wir</strong> lassen uns<br />
nicht demoralisieren, <strong>wir</strong> stehen weit darüber.<br />
Das ist unser trauriger Trost. […] In<br />
unseren Herzen dominiert der Schmerz,<br />
auch nach 70 Jahren. Uns selbst ist der<br />
Tod schon nahe <strong>und</strong> <strong>wir</strong> können immer<br />
noch den unwürdigen Tod unserer Vorgänger<br />
nicht vergessen. Die unnatürliche <strong>und</strong><br />
unmenschliche Weise, wie es geschah.“<br />
Und weiter: „Weil ich eine Zeugin bin, weil<br />
ich mir alles, was geschah, gut gemerkt<br />
habe, weil ich die Erinnerung an meine Erlebnisse<br />
der ganzen Welt übergeben muss.<br />
Nach einem Schweigen von fast sechzig<br />
Jahren ist es mein Lebensziel geworden,<br />
die Erinnerung an Auschwitz-Birkenau<br />
nicht auslöschen zu lassen. Für die Zeit,<br />
die noch übrig bleibt, ist es eine würdige<br />
Aufgabe.“<br />
Éva Fahidi schloss mit den Worten: „All<br />
denen, die im Sumpf von Auschwitz-Birkenau<br />
ruhen, den Juden, den Sinti <strong>und</strong><br />
Roma, den Polen, den Russen, den Frauen<br />
<strong>und</strong> Männern des Widerstandes aus allen<br />
Ländern Europas, allen, die kein würdiges<br />
Begräbnis hatten, die nicht von weinenden<br />
Familienmitgliedern zum Grab begleitet<br />
wurden, weil es kein Grab gibt, ihnen sei<br />
hier das letzte Wort gesprochen: Heute,<br />
nach siebzig Jahren, wendet sich die ganze<br />
Welt mit Scham <strong>und</strong> Mitleid zu Euch!“<br />
Alexandra Waluch, Schülerin der Technischen<br />
Berufsschule „Franciszek Kepka“ in<br />
Bielsko-Biala, Polen, hatte letztes Jahr im<br />
Rahmen eines Projekts des IAK mit polnischen<br />
<strong>und</strong> deutschen Auszubildenden in<br />
der Gedenkstätte Auschwitz gearbeitet.<br />
Sie sagte: „Ich lernte die Geschichte kennen,<br />
um sie weiter zu tragen. Um die Tragödie<br />
der Juden, der Roma, der Polen, der sowjetischen<br />
Kriegsgefangenen <strong>und</strong> anderer<br />
Nationen zu zeigen, deren Schicksale sich<br />
an dieser Stelle getroffen haben. Um aus<br />
den Fehlern der Vergangenheit zu lernen.<br />
Zahlreiche Ehrengäste, darunter B<strong>und</strong>eskanzlerin Angela Merkel <strong>und</strong> Brandenburgs Ministerpräsident<br />
Woidke kamen zu Ehren der Häftlinge von Auschwitz in die Berliner Urania. Fotos: Boris Buchholz/IAK<br />
Christoph Heubner, Vize-Präsident des Internationalen<br />
Auschwitz-Komitees <strong>und</strong> Mitglied im<br />
Auschwitz-Rat führte durch die Veranstaltung.<br />
Um die Geschichte vor der Vergessenheit<br />
zu bewahren <strong>und</strong> die Menschen darauf<br />
aufmerksam zu machen, dass auch heute<br />
an verschiedenen Orten in der Welt Orte<br />
des Entsetzens entstehen. Über viele dieser<br />
Orte <strong>wir</strong>d viel zu leise <strong>und</strong> viel zu wenig<br />
gesprochen. Wir, die jungen Menschen, <strong>wir</strong><br />
können uns ein Schweigen nicht leisten.“<br />
„Ich versuche mich daran zu erinnern,<br />
was mein Großvater mir über das Menschsein<br />
erzählt hat“, berichtete der israelische<br />
Pädagoge Joshua Weiner. „Ich denke, dass<br />
er <strong>und</strong> seine Geschwister von mir erwartet<br />
hätten, aufzustehen, <strong>und</strong> ein stolzer Jude<br />
zu sein, ein stolzer Israeli, aber vor allem<br />
ein Mensch zu sein, der die Verantwortung<br />
der Erinnerung an die Vergangenheit trägt,<br />
<strong>und</strong> ganz in der Gegenwart lebt.“<br />
Auch die VW-Auszubildenden Sarah Nonnenmacher<br />
war in Auschwitz gewesen <strong>und</strong><br />
hatte mit Alexandra Waluch für den Erhalt<br />
der Gedenkstätte gearbeitet. Sie sagte in<br />
ihrer Rede in der Berliner Urania: „Einige<br />
von uns haben den Stacheldraht in Birkenau<br />
erneuert, der erhalten <strong>wir</strong>d, damit die<br />
Menschen aus vielen Ländern verstehen,<br />
um was für einen Ort es sich handelt: Hier<br />
waren Menschen eingesperrt, hier wurde<br />
gequält <strong>und</strong> gemordet, hier wurde geweint<br />
<strong>und</strong> geschrien, hier war der dunkelste Ort,<br />
den ich bisher in meinem Leben gesehen<br />
habe.“<br />
<br />
4 <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong>
GEDENKEN<br />
70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz<br />
„Eure Generation muss ihre Strecke<br />
der Staffel selbst durchlaufen“<br />
Von Marian Turski<br />
Marian Turski, polnischer Journalist jüdischer Abstammung ist Vorsitzender des<br />
Jüdischen Historischen Instituts in Warschau, Mitglied im Internationalen Auschwitz-Rat<br />
<strong>und</strong> des Rates des Hauses der Wannseekonferenz <strong>und</strong> Vorsitzender des<br />
Rates des neuen Warschauer Museums der Geschichte der polnischen Juden. Bei<br />
der Gedenkfeier in der Berliner Urania hielt er eine bemerkenswerte Rede die <strong>wir</strong><br />
nach der Filmaufzeichnung dokumentieren.<br />
Ich möchte Ihnen von einer Begegnung<br />
erzählen, die ich vor sechs Jahren in Dachau<br />
hatte.<br />
Es wurde damals eine neue Ausstellung<br />
in der Gedenkstätte Dachau eröffnet. Auch<br />
ich wurde eingeladen. Ich kam also dort<br />
an, ließ mein Köfferchen in der Garderobe,<br />
die von jungen freiwilligen Praktikanten betreut<br />
wurde. Als die Feierlichkeiten vorüber<br />
waren, ging ich zur Garderobe, mein Köfferchen<br />
abzuholen. Ich fragte eine Praktikantin,<br />
welche Verkehrsmittel ich nach<br />
München nehmen kann, weil dort meine<br />
Fre<strong>und</strong>e wohnen. Sie hat mir gesagt, – die<br />
Praktikantin war etwa 25 Jahre alt – dass<br />
sie dort wohne <strong>und</strong> mich gerne vorbeifahre.<br />
Natürlich, ich sagte ja. Ich nehme meinen<br />
Koffer. Sie sagte, - sie sieht einen älteren<br />
Herren - dass sie meinen Koffer gerne<br />
zum Wagen tragen würde. Da sage ich zu<br />
ihr: omnia mea mecum porto. Was heißt<br />
das? Alles was mir gehört, trage ich bei<br />
mir. („All meinen Besitz trage ich bei mir“<br />
ist ein von Cicero dem griechischen Philosophen<br />
Bias von Priene zugeschriebener<br />
Ausspruch. Anm. d. Redaktion)<br />
Der Weg von Dachau nach München ist<br />
etwa 50 Minuten. Nach fünf Minuten Fahrzeit<br />
sagt die junge Frau – später erfuhr ich,<br />
dass sie Heidi heißt – man hat Sie hier in<br />
Dachau wie eine wichtige Person behandelt.<br />
Könnte ich erfahren, weshalb? Ich<br />
antwortete: Wohl aus dem Gr<strong>und</strong>, dass ich<br />
zwei Universitäten abgeschlossen habe,<br />
erst Auschwitz, dann Buchenwald. Sie<br />
verstummte, dachte nach, <strong>und</strong> sagte nach<br />
einer Weile zu mir: Würden Sie mir etwas<br />
über den Alltag in Auschwitz erzählen? Ich<br />
muss zugeben, dass ich dies nicht gerne<br />
tue. Aber die junge Frau ist so nett, so höflich,<br />
so fre<strong>und</strong>lich. Also versuche ich, einige<br />
Szenen aus Auschwitz zu erzählen. Über<br />
das Grauen, die Erniedrigung, <strong>und</strong> Szenen<br />
über die Größe des menschlichen Geistes,<br />
Aufopferung <strong>und</strong> Solidarität zwischen den<br />
Menschen, was auch mich betroffen hat.<br />
Wir halten am Haus, wo meine Fre<strong>und</strong>e<br />
wohnen. Sie zu mir: darf ich Sie küssen?<br />
Welcher ältere Mann entsagt schon dem<br />
Kuss eines jungen Mädchens. Und sie:<br />
Ich habe dank Ihnen viel über diese Zeit<br />
erfahren. Und ich sagte damals zu ihr -ja,<br />
ich denke, das war ein bisschen brutal: Sagen<br />
Sie mir, haben Sie jemals ihre Eltern<br />
nach der damaligen Zeit gefragt? Und sie:<br />
Nein, niemals, mir fehlte der Mut dazu. Wir<br />
verabschiedeten uns, ich ging ins Haus, sie<br />
fuhr weiter.<br />
Nach einigen Tagen erhalte ich einen<br />
Brief von ihr. Ich weiß schon, dass sie Heidi<br />
heißt. Erlauben Sie mir, dass ich ihren<br />
Nachnamen nicht erwähne, da ich nicht<br />
weiß, ob sie damit einverstanden wäre.<br />
Meinen Nachnamen hat sie ergoogelt, <strong>und</strong><br />
die Warschauer Adresse gef<strong>und</strong>en.<br />
Der Brief ist lang, ich habe ihn dabei, ich<br />
werde nur die Quintessenz wiedergeben.<br />
Sie entschuldigt sich bei mir, dass sie – wie<br />
sie schreibt – so unverschämt war, einem<br />
wildfremden Menschen Fragen gestellt zu<br />
haben, die sie sich in ihrer engsten Familie<br />
nie getraut hatte zu stellen. Dass sie mir<br />
unendlich dankbar für meine Bekenntnisse<br />
sei. Dass sie sich immer für diese grausamen<br />
Zeiten interessiert, sie viel darüber<br />
gelesen hatte.<br />
Aber – entschuldigen Sie wenn ich mich<br />
hier ein wenig selbst lobe, aber ich zitiere<br />
nur den Brief – aber zum ersten Mal<br />
erschien ihr das, was bisher nur Schwarz-<br />
Weiß war, <strong>und</strong> jetzt, dank meinen Bekenntnissen,<br />
sieht sie es in vielen Facetten <strong>und</strong><br />
Farben.<br />
Dass dieser Tag – ich zitiere – einen<br />
Durchbruch für ihre Überlegungen bedeutete.<br />
Und dass sie die Worte behalten hat,<br />
die ich gewählt hatte, als <strong>wir</strong> die Garderobe<br />
verließen. „Omnia mea mecum porto“. Seit<br />
diesem Tag, verehrter Herr Turski, möchte<br />
ich, dass Sie wissen, dass ich auch Ihre<br />
Last auf meinen Schultern trage.<br />
Ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass mir<br />
Marian Tuski schilderte eine bewegende Begegnung<br />
mit Jugendlichen.<br />
diese ihre Worte einen Kloß im Hals bereiteten.<br />
Sie hat mich sehr berührt. Und wie<br />
Sie sehen, sie berühren mich auch jetzt. An<br />
diesem Ort <strong>und</strong> in diesem Moment. Danke<br />
Heidi. Und ich bedanke mich bei allen<br />
jungen Deutschen, die ähnlich denken <strong>und</strong><br />
fühlen. Es ist doch ein Wunsch, ein Traum<br />
jedes Menschen, <strong>und</strong> auch mein Wunsch<br />
<strong>und</strong> Traum, dass unsere Ziele <strong>und</strong> Ideale<br />
die nächsten Generationen weitertragen.<br />
Zum Schluss möchte ich mit Ihnen manche<br />
Überlegungen teilen. Als Historiker<br />
könnte ich die Menschheitsgeschichte mit<br />
einem Staffellauf vergleichen. Jede Generation<br />
übernimmt den Staffelstab von ihren<br />
Vorgängern.<br />
Das, was ich nun sagen werde, ist besonders<br />
an die jungen Leute, die hier versammelt<br />
sind, gerichtet. Was bedeutet es, den<br />
Staffelstab zu übernehmen. Es bedeutet,<br />
dass <strong>wir</strong> Überlebende Euch unser Erbe, unseren<br />
Schatz an Erfahrungen übergeben.<br />
Gute <strong>und</strong> Schlechte. Ihr bekommt also den<br />
Stab. Aber Eure Generation muss ihre Strecke<br />
der Staffel selbst durchlaufen. Daher<br />
berücksichtigt unsere Erfahrungen <strong>und</strong> erspart<br />
Euch somit Leid <strong>und</strong> Schande.<br />
Wir haben uns anlässlich des Jahrestages<br />
der Befreiung von Auschwitz versammelt.<br />
Auschwitz begann mit Demütigung des<br />
Menschen. Diese Demütigung war das<br />
F<strong>und</strong>ament von Auschwitz.<br />
Ohne diese Demütigung hätte es nicht<br />
funktionieren können. Deshalb möchte<br />
ich heute mit vollem Nachdruck sagen:<br />
Wenn jemand heute einen Rom, einen Juden,<br />
Bosnier, Türken, Israeli, Palästinenser,<br />
Christen, Moslem oder Ungläubigen demütigt,<br />
so ist es, als beginne Auschwitz von<br />
neuem.<br />
Ich möchte allen denjenigen die sich heute<br />
gegen eine solche Demütigung, einem<br />
solchen Säen von Hass, entgegenstellen,<br />
meine Hochachtung aussprechen. Ebenso<br />
wie der Befreiung von Auschwitz vor 70<br />
Jahren.<br />
<br />
<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />
5
GEDENKEN<br />
„Es ist unsere Aufgabe, die Bilder vor dem Vergessen zu bewahren <strong>und</strong> neue Bilder zu gestalten, auf<br />
denen Menschen ohne Hass <strong>und</strong> Angst zusammenstehen.“<br />
70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz<br />
„Ich lernte die Geschichte<br />
kennen, um sie weiter zu tragen.“<br />
Teilnehmer der Jugendbegegnungen in Auschwitz berichten.<br />
Beitrag von Alexandra Waluch,<br />
Schülerin der Technischen<br />
Berufsschule in Bielsko-Biała<br />
Die polnische Dichterin Zofia Nalkowska<br />
hat uns alle schon sehr früh im Gedenken<br />
an Auschwitz daran erinnert: Denkt immer<br />
daran: Menschen haben Menschen dies<br />
Schicksal bereitet. Und jetzt stehe ich vor<br />
Ihnen – ein junger Mensch <strong>und</strong> ich bin sehr<br />
aufgeregt, heute hier zu sein <strong>und</strong> zu sprechen:<br />
Und ich bin sehr berührt von dem,<br />
was Herr Turski <strong>und</strong> Frau Fahidi berichtet<br />
haben.<br />
Vor einigen Monaten nahm ich an einer<br />
.Austauschmaßnahme des Internationalen<br />
Auschwitz Komitees teil. Ich tauschte<br />
mit den deutschen Kollegen von Volkswagen<br />
die Ansichten <strong>und</strong> Vorstellungen über<br />
die Welt <strong>und</strong> das Leben. Ich überwand<br />
Klischees. Ich lachte <strong>und</strong> weinte. Ich arbeitete<br />
in der Gedenkstätte <strong>und</strong> Museum<br />
Auschwitz-Birkenau. Ich lernte die Geschichte<br />
kennen, um sie weiter zu tragen.<br />
Um die Tragödie der Juden, der Roma, der<br />
Polen, der sowjetischen Kriegsgefangenen<br />
<strong>und</strong> anderer Nationen zu zeigen, deren<br />
Schicksale sich an dieser Stelle getroffen<br />
haben. Um aus den Fehlern der Vergangenheit<br />
zu lernen. Um die Geschichte vor<br />
der Vergessenheit zu bewahren <strong>und</strong> die<br />
Menschen darauf aufmerksam zu machen,<br />
dass auch heute an verschiedenen Orten<br />
in der Welt Orte des Entsetzens entstehen.<br />
Über viele dieser Orte <strong>wir</strong>d viel zu leise <strong>und</strong><br />
viel zu wenig gesprochen. Wir, die jungen<br />
Menschen, <strong>wir</strong> können uns ein Schweigen<br />
nicht leisten. Allein können <strong>wir</strong> nicht viel,<br />
aber wenn unsere gemeinsame Stimme,<br />
noch so unsicher <strong>und</strong> unerfahren, wenn sie<br />
wenigstens eine Person bewegen kann, so<br />
hat sich unsere Mühe schon gelohnt.<br />
Als Schülerin einer Fotografieklasse will<br />
ich die Geschichte mit alten schwarz-weiß<br />
Fotos vergleichen. Sie besitzen eine eigenartige<br />
tiefe Ausdrucksfähigkeit, aber mit<br />
den Jahren verbleichen sie immer mehr<br />
<strong>und</strong> drohen ganz zu verschwinden. Es ist<br />
die Aufgabe von uns Fotografen, diese Bilder<br />
vor dem Vergessen zu bewahren <strong>und</strong><br />
es ist auch unsere Aufgabe, neue Bilder<br />
zu gestalten <strong>und</strong> aufzunehmen, auf denen<br />
Menschen ohne Hass <strong>und</strong> Angst zusammenstehen<br />
als Teil einer Gemeinschaft, der<br />
<strong>wir</strong> alle angehören: Egal welcher Herkunft<br />
oder welcher Religion <strong>wir</strong> sind. Darum will<br />
ich mich kümmern: Das habe ich in Auschwitz,<br />
das habe ich in Oswiecim gelernt.<br />
Rede der VW-Auszubildenden<br />
Sarah Nonnenmacher<br />
Die Schuhe. Ich werde die Schuhe nie<br />
vergessen. 14 Tage haben <strong>wir</strong> im Juni 2014<br />
in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau<br />
gearbeitet. Wir – das heißt Auszubildende<br />
von Volkswagen aus Wolfsburg <strong>und</strong> Emden<br />
<strong>und</strong> Berufsschülerinnen <strong>und</strong> Berufsschüler<br />
aus Bielsko Biała. Alexandra, die vor mir gesprochen<br />
hat, war eine von ihnen.<br />
Einige von uns haben den Stacheldraht in<br />
Birkenau erneuert, der erhalten <strong>wir</strong>d, damit<br />
die Menschen aus vielen Ländern verstehen,<br />
um was für einen Ort es sich handelt:<br />
Hier waren Menschen eingesperrt, hier<br />
wurde gequält <strong>und</strong> gemordet, hier wurde<br />
geweint <strong>und</strong> geschrien, hier war der dunkelste<br />
Ort, den ich bisher in meinem Leben<br />
gesehen habe.<br />
Aber ich wollte es wissen: Ich wollte <strong>und</strong><br />
will wissen, warum Millionen jüdischer<br />
Menschen gejagt <strong>und</strong> ermordet worden<br />
sind, ich will wissen, was mit den Roma<br />
geschehen ist, was mit den Polen, was mit<br />
den sowjetischen Kriegsgefangenen, was<br />
mit all den andern.<br />
Ich habe doch die Schuhe gesehen, ich<br />
habe sie in meinen Händen gehalten, sie<br />
sorgfältig gereinigt <strong>und</strong> konserviert, die<br />
Schuhe der Opfer - ihre letzte Spur über<br />
der Asche. Manche Schuhe so klein – die<br />
Kinder. Ja, Alexandra hat recht: Wir haben<br />
zusammen geweint: Deutsche <strong>und</strong> Polen –<br />
in Auschwitz. Die Geschichte war uns sehr<br />
nah, sie hatte Namen <strong>und</strong> Gesichter, viele<br />
der Opfer waren damals so alt, wie <strong>wir</strong> heute<br />
sind: Nein, eigentlich kann ich nicht beschreiben,<br />
was für ein Gefühl es war, diese<br />
Arbeit tun zu dürfen, den Menschen von<br />
Auschwitz so nahe zu sein.<br />
Als <strong>wir</strong> das erste Mal das Geländes Birkenau<br />
betreten haben, war ich überwältigt<br />
von der Größe: So viel Draht, so viele unsichtbare<br />
Gräber, so logisch organisiert:<br />
Keine Mörderbande, ein geplantes <strong>und</strong><br />
durchgeführtes Verbrechen des damaligen<br />
deutschen Staates: Das ist Auschwitz. Und<br />
auch von den Tätern, den Wachleuten, den<br />
Helfern waren viele so alt wie <strong>wir</strong>.<br />
Wie will ich leben? Auschwitz hat meinen<br />
Blick geschärft für das, was heute um mich<br />
herum geschieht. Gleichgültigkeit, Antisemitismus,<br />
Hass, Intoleranz – aber auch<br />
die Schönheit des Lebens, meine Familie,<br />
mein Fre<strong>und</strong>, meine Arbeit, – dass ich geborgen<br />
bin – kein Flüchtling, kein Mensch,<br />
der gejagt <strong>wir</strong>d, voller Angst in der Fremde.<br />
Die Schuhe. Ich werde die Schuhe von<br />
Auschwitz nie vergessen: Ihre Spuren führen<br />
zu uns: Behaltet uns im Gedächtnis:<br />
Wir gehören zu Euch! Für immer! <br />
www.polen-<strong>und</strong>-<strong>wir</strong>.de<br />
Auch <strong>wir</strong> sind im Internet. Sie finden<br />
unsere Zeitschrift <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong><br />
sowie die Deutsch-Polnische Gesellschaft<br />
der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland<br />
e.V. in neuer Aufmachung <strong>und</strong><br />
unter einem neuen Seitennamen im<br />
Internet. Besuchen Sie uns doch mal<br />
online.<br />
6 <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong>
GEDENKEN<br />
70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz<br />
Die Seele der Dinge<br />
Éva Fahidi - Als 18jährige auf der Rampe von Birkenau<br />
Von Ulrike Höck<br />
„In der Morgendämmerung des 1. Juli<br />
1944 auf der Rampe von Auschwitz-Birkenau<br />
war meine Kindheit vorbei“ so schreibt<br />
Éva Fahidi-Pusztai in ihren Erinnerungen<br />
„Die Dinge der Seele“. Bei der Veranstaltung<br />
des Auschwitz-Komitees in Berlin hatte<br />
sie aus ihren Erinnerungen in ergreifender<br />
Weise erzählt.<br />
Noch als die deutschen Truppen Ungarn<br />
schon besetzt hatten, träumte die damals<br />
18jährige von einer Karriere als Pianistin.<br />
Weder sie noch ihre Familie wollten glauben,<br />
was bald Wirklichkeit sein würde.<br />
Über 430.000 ungarische Juden wurden<br />
damals innerhalb weniger Wochen deportiert,<br />
die meisten nach Auschwitz-Birkenau,<br />
um dort unmittelbar nach der Ankunft<br />
selektiert <strong>und</strong> kurz darauf ermordet zu<br />
werden. Nur wenige waren für die Zwangsarbeit<br />
vorgesehen. Mütter, Kinder, Alte, sie<br />
alle hatten keine Chance zu überleben.<br />
Éva berichtet in dem Buch vom Transport,<br />
der Enge <strong>und</strong> dem Wassermangel. Immerhin<br />
ist sie ges<strong>und</strong> <strong>und</strong> jung. Sie erzählt von<br />
der kleinen Schwester, die sich über die<br />
Schäferh<strong>und</strong>e nahe der Rampe von Auschwitz<br />
freut. Von der ersten Begegnung mit<br />
den <strong>und</strong>efinierbaren Gestalten in hässlichen<br />
grau-schwarz gestreiften Pyjamas,<br />
den ersten Anweisungen, Warnungen, dem<br />
Geschreie. Sie fragt immer wieder: „Wer<br />
erinnert sich an ... die Appelle … die Enge<br />
… die Blockälteste … den Sumpf … die Peitschenhiebe<br />
… ?“<br />
Den größten Teil widmet Éva jedoch den<br />
Menschen, die sie prägten. Verwandte, die<br />
Eltern, die Schwester, die Lehrer <strong>und</strong> viele<br />
mehr werden wieder zum Leben erweckt,<br />
dem Leben vor Juli 1944. Dabei gelingt es<br />
der Autorin zugleich ein Bild der Gesellschaft<br />
Ungarns der 20er bis 40er Jahre zu<br />
zeichnen. Ihre Kindheit <strong>und</strong> Jugend ist erfüllt<br />
von Wärme <strong>und</strong> Geborgenheit in einer<br />
wohlhabenden Familie. Als Kind spielte sie<br />
in der Natur <strong>und</strong> lauschte den Geschichten<br />
des Vaters. Sie erfuhr aber auch eine Erziehung<br />
zu Disziplin <strong>und</strong> Wahrhaftigkeit <strong>und</strong><br />
Respekt vor anderen Menschen.<br />
Nur kurz blieb Éva in Auschwitz. Bald wurde<br />
sie ins hessische Allendorf deportiert,<br />
um dort mit 1.000 anderen Jüdinnen in<br />
Münchmühle für die deutsche Rüstungsindustrie<br />
Zwangsarbeit zu leisten. Die Zeit<br />
hier ist von Hunger, Kälte <strong>und</strong> der Ungewissheit<br />
über das Schicksal der Verwandten<br />
geprägt. Nur<br />
mit Hilfe der Fünfergruppen,<br />
zu denen<br />
die Frauen zur<br />
Arbeit eingeteilt waren,<br />
konnte sie <strong>und</strong><br />
andere überleben.<br />
Die Frauen entwickelten<br />
Strategien,<br />
um den nächsten<br />
Tag zu überstehen.<br />
Ein eigenes Kulturprogramm<br />
sorgte<br />
in der Umgebung<br />
von Schmutz <strong>und</strong><br />
Éva Fahidi-Pusztai bei der Gedenkfeier in der Berliner Urania mit B<strong>und</strong>es<br />
kanzlerin Angela Merkel.<br />
Foto: Boris Buchholz/IAK<br />
Der erste Ausweis, nach der Befreiung. Wohnort: KZ-Auschwitz<br />
Gift, Entkräftung<br />
<strong>und</strong> Hunger für die<br />
notwendige Ablenkung <strong>und</strong> neuen Überlebenswillen.<br />
Noch weiß Éva nicht, dass fast<br />
alle ihrer Verwandten<br />
ermordet wurden,<br />
die meisten die<br />
Ankunft in Auschwitz<br />
allenfalls wenige<br />
St<strong>und</strong>en überlebten.<br />
Wie viele war Éva<br />
weder politisch auffällig,<br />
noch hatte sie<br />
gegen Gesetze verstoßen:<br />
ihr einziger<br />
Fehler war es, Jüdin<br />
zu sein, ungarische<br />
Jüdin.<br />
Éva überlebte. Am<br />
4. November 1945<br />
kehrte sie nach Debrecen<br />
zurück, im Gepäck den ersten<br />
Ausweis. „Graue Wolkenfetzen hingen am<br />
Himmel, genau wie am 19. März 1944 als<br />
Ungarn von der deutschen Wehrmacht besetzt<br />
wurde. Fast 19 Monate waren seitdem<br />
vergangen, aber ich war nicht um 19<br />
Monate gealtert, sondern um ein ganzes<br />
Leben. Gerade war ich noch ein Kind gewesen<br />
<strong>und</strong> dann ohne Übergang ein alter<br />
Mensch geworden. Ich hatte nichts <strong>und</strong><br />
niemanden <strong>und</strong> musste vollkommen auf<br />
mich gestellt, mutterseelenallein in der<br />
Welt bestehen.“<br />
<br />
Éva Fahidi-Pusztai: Die Seele der Dinge.<br />
Hrsg. im Auftrag des Internationalen Auschwitz<br />
Komitees, Berlin, <strong>und</strong> der Gedenkstätte<br />
Deutscher Widerstand, Berlin. Lukas-Verlag<br />
Berlin 2011, ISBN 978-3-86732-098-6, 239<br />
Seiten, 40 Abb. Preis 16,90 €<br />
<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />
7
GEDENKEN<br />
Polnische Pfadfinderorganisation im Lager<br />
Ein Sieg der Würde des Menschen<br />
Zur Befreiumg des KZ Ravensbrück<br />
Von Werner Stenzel<br />
In einem Brief an die Mahn- <strong>und</strong> Gedenkstätte<br />
Ravensbrück schrieb der Soldat<br />
Sergej Garbusik im <strong>April</strong> 1966: „Lang <strong>und</strong><br />
schwer war der Weg für das sowjetische<br />
Volk zum Sieg. Sowjetische Soldaten befreiten<br />
auch deutsches Territorium vom<br />
faschistischen Gesindel. So war die nie zu<br />
vergessende Pflicht. Die sowjetischen Soldaten<br />
halfen den anderen Völkern, die unter<br />
der Hitlermacht stöhnten. Sie dachten<br />
auch an die Millionen, die in den KZ leiden<br />
mussten. Uns Soldaten war die Aufgabe<br />
klar: Der Faschismus ist zu schlagen <strong>und</strong><br />
der Krieg in Berlin an der Spree zu beenden.“<br />
Jedes Wort dieser einfachen Wahrheit<br />
bleibt bedenkenswert <strong>und</strong> für immer gültig.<br />
Als das KZ Ravensbrück am 30. <strong>April</strong> 1945<br />
befreit wurde, waren noch 3.000 Häftlinge<br />
sich selbst überlassen, ohne Ausnahme<br />
krank <strong>und</strong> sterbend mit sogenanntem medizinischen<br />
Personal aus mehr als 20 Nationen<br />
im Lager. In den ersten Tagen nach<br />
der Befreiung starben im Männerlager täglich<br />
35 – 40 Menschen.<br />
Noch im <strong>April</strong> 1945 waren 39.000 Gefangene<br />
im Lager. Einerseits gab es in dieser<br />
Zeit hohe Zugangsraten, allein im Januar<br />
waren 22.000 zumeist jüdische Frauen<br />
eingeliefert worden, andererseits wurden<br />
Internierte massenhaft vernichtet. 5.000<br />
bis 6.000 Häftlinge wurden in der noch zur<br />
Jahreswende 1944/45 gebauten Gaskammer,<br />
die am 23. <strong>April</strong> von der SS gesprengt<br />
wurde, oder in dem geräumten Jugendlager<br />
Uckermark durch Giftspritze oder Hunger<br />
umgebracht.<br />
Am 27. <strong>April</strong> begann für 12.000 Gefangene<br />
in drei Etappen der Todesmarsch, unter<br />
ihnen die unvergessene Rosa Thälmann,<br />
der es gelang, sich am 28. <strong>April</strong> aus dem<br />
Gedränge des gespenstischen Zuges zu lösen<br />
<strong>und</strong> im Haus 21 der Dorfstraße in Ravensbrück<br />
Sicherheit zu finden.<br />
Mit der Befreiung am 30. <strong>April</strong> fand für<br />
Ravenbsbrück das Grauen ein Ende <strong>und</strong><br />
begann der Weg in eine erhoffte Zukunft.<br />
Vor jedem heutigen Besucher einer Nationalen<br />
Mahn- <strong>und</strong> Gedenkstätte steht die<br />
Frage: Wie konnten Menschen diese Hölle<br />
überleben?<br />
Gabriele Knapp lässt in ihrem 2002 erschienenen<br />
Buch „Frauenstimmen - Musikerinnen<br />
erinnern an Ravensbrück“ Clara<br />
Rupp zu Wort kommen: „Unsere freudigen<br />
Erlebnisse waren gering, so bescheiden,<br />
gemessen an dem, was ein Mensch<br />
in Freiheit erlebt. Aber ohne Freude kann<br />
kein Mensch leben. Er verschafft sich seine<br />
Freude, koste sie was wolle <strong>und</strong> sei es das<br />
Leben … Freude <strong>und</strong> Feiern <strong>und</strong> kulturelle<br />
Betätigung gehört zu unserem Leben wie<br />
Essen <strong>und</strong> Trinken.“<br />
Für die polnischen Frauen <strong>und</strong> Mädchen<br />
gehörten zu solchen Erlebnissen Nationalfeiertage<br />
<strong>und</strong> Kirchenfeste wie Ostern,<br />
Allerheiligen, Weihnachten. Solche ‘Lagermessen‘<br />
mussten von den Blockältesten<br />
genehmigt werden.<br />
Bis zu den Jahren 1940 – 42 gab es weder<br />
Gebetbücher, noch Hostien. Später gelang<br />
es, religiöse Literatur von Häftlingen aus<br />
der Effektenkammer zu schmuggeln <strong>und</strong><br />
mit Hilfe von Verbindungen in Außenlager<br />
Hostien ins KZ zu schaffen. Mancher Text<br />
wurde auf dünnem Papier geschrieben, das<br />
von der Verpackung von Mullbinden <strong>und</strong><br />
anderem Material stammte.<br />
Unter strengsten Vorsichtsmaßnahmen,<br />
gebilligt von den Blockältesten, die nicht<br />
selten bestochen werden wollten, wurden<br />
an Namenstage auch mit einem Lied erinnert.<br />
Das Lied machte Menschen Mut, die<br />
in ständiger Ungewissheit lebten <strong>und</strong> nie<br />
wussten, was ihnen der nächste Tag bringt.<br />
Dabei waren Lieder nicht der einzige Ausdruck<br />
der Selbstverteidigung, ebenso gehörten<br />
dazu auch Gedichte <strong>und</strong> die Zeichnungen,<br />
deren nicht wenige, Zeugnisse in<br />
späteren Gerichtsprozessen wurden, weil<br />
sie eindeutig in der Darstellung von Schikanen<br />
<strong>und</strong> Strafen waren.<br />
Das Lied <strong>und</strong> das patriotische Gedicht<br />
führten von der Selbstbehauptung zu gemeinsamem<br />
Handeln von Strömungen.<br />
Schon 1940 hatte sich die Marianische<br />
Bruderschaft unter der Leitung der 16jährigen<br />
Maria Spitterowna gegründet, die<br />
sich in der Hauptsache caritative Aufgaben<br />
zur Pflege von Kranken <strong>und</strong> Alten gestellt<br />
hatte. Das Mädchen wurde in Auschwitz<br />
umgebracht. Die gebildeten Gemeinschaften<br />
des lebenden Rosenkranzes lösten sich<br />
auf.<br />
Eine bedeutende Rolle spielten im Lager<br />
die polnischen Pfadfinder. Die erste Gruppe<br />
der Grauen Reihen wurde bereits im Januar<br />
1941 gegründet <strong>und</strong> leistete im Block<br />
16 der blutrünstigen Greta Muskeller Widerstand.<br />
Im November 1941 bildete sich<br />
die Pfadfinderorganisation mury (Mauern)<br />
im Block 15. Im Laufe der Zeit gründeten<br />
sich sieben Kameradschaften cegły (Bausteine),<br />
f<strong>und</strong>amenty (F<strong>und</strong>amente), kamenie<br />
(Steine), wody (Wasser), kielnie (Kellen),<br />
ż<strong>wir</strong>y (Kiesel).<br />
Durch Krankheit <strong>und</strong> Mord änderte sich<br />
die Zahl der Mitglieder. Am 1. <strong>April</strong> 1945<br />
soll ihre Zahl 105 betragen haben. Im<br />
Marsch der Gruppe mury (geschrieben<br />
von Maria Masłowska auf kleine Papiertücher<br />
von Verpackungsmaterial) heißt es:<br />
„Schwestern lasst uns weiter <strong>und</strong> tapfer<br />
leben, denn Polen <strong>und</strong> unser Haus sind<br />
nicht mehr weit. Die Untergruppen wachsen,<br />
sieh das ‘Wasser‘ <strong>und</strong> die ‘Kellen‘. Da<br />
kommt Geschichte auf. Also soll dein Gesicht<br />
strahlen. Marsch Pfadfinderinnen,<br />
Marsch in Ravensbrück. Heb hoch den<br />
Kopf <strong>und</strong> sei wachsam … <strong>wir</strong> sind zusammen<br />
<strong>und</strong> dürfen uns nicht beugen.“<br />
Die Pfiffigkeit von inhaftierten Pfadfinderinnen<br />
rettete in Ravensbrück die Fahne<br />
der 13. Maria-Wocalewska-Pfadfindermannschaft.<br />
Diese Fahne wurde beim Sortieren<br />
der Kleidung gef<strong>und</strong>en, in Bettzeug<br />
eingenäht <strong>und</strong> mit einem der weißen Busse<br />
heimlich nach Schweden gebracht. Nach<br />
dem Krieg wurde das Banner in der Gedenkstätte<br />
Auschwitz in Anwesenheit des<br />
Warschauer Kommandanten der Pfadfinder<br />
an der Todeswand gehisst. Heute soll<br />
es sich im Museum des polnischen Militärs<br />
befinden. (Verweisen möchte ich an dieser<br />
Stelle auch auf meinen Text über die polnischen<br />
Pfadfinder in Heft 4/2014 PuW).<br />
Zu der Gruppe der Polinnen gehörten Mitglieder<br />
der Sozialistischen Partei (PPS). In<br />
den heimlichen Diskussionsthemen ging<br />
es um das künftige Gesellschaftsmodell<br />
Polens, die Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialpolitik<br />
<strong>und</strong> natürlich das Verhältnis zur UdSSR. In<br />
dieser Gruppe war Janina Peretjakowicz,<br />
Funktionärin der PPS <strong>und</strong> Mitarbeiterin von<br />
Josef Cyrankiewicz, der ebenfalls in ein KZ<br />
verschleppt worden war.<br />
Im Außenlager Neubrandenburg des KZ<br />
Ravensbrück arbeitete im Jahre 1943 eine<br />
zahlenmäßig große Gruppe in der Mechanische<br />
Werkstätten GmbH bei der Herstellung<br />
von Flugzeugteilen. Insgesamt hatte<br />
das KZ ca. 70 größere <strong>und</strong> kleinere Außenlager<br />
u.a. für die Produktion von Flugzeugteilen<br />
<strong>und</strong> Versuchen für Ernährung <strong>und</strong><br />
Verpflegung.<br />
Auf Anregung von Krystina Strażyc, be-<br />
8 <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong>
GEDENKEN<br />
fre<strong>und</strong>et mit der Sekretärin von Cyrankiewicz<br />
<strong>und</strong> Meldegängerin, entstand das<br />
Manifest von Neubrandenburg. Zu den<br />
Autoren zählten u.a. die kriegsgefangene<br />
Ärztin Walentyna Fiedorowna, die Tschechin<br />
Vera Pečkova <strong>und</strong> zwei Französinnen.<br />
Das Manifest, welches leider nur mündlich<br />
überliefert ist, forderte eine Veränderung<br />
der Gesellschaft durch eine Bodenreform,<br />
die Verstaatlichung der Fabriken <strong>und</strong> eine<br />
gesicherte Sozialfürsorge. Es rief zur Völkerversöhnung<br />
auf, zur Freiheit des Menschen<br />
auf der Gr<strong>und</strong>lage von Toleranz <strong>und</strong><br />
Achtung <strong>und</strong> zum Frieden. Durch die Umstände<br />
ist der Text des Manifestes nicht<br />
mehr vorhanden. Eine Gefangene, die Medikamente<br />
holen sollte, nahm das Manifest<br />
in SS-Begleitung nach Ravensbrück mit <strong>und</strong><br />
übergab es dort. In einem Schränkchen im<br />
Krankenrevier versteckt, fiel es in die Hände<br />
der SS-Schwester Marschall. Sie glaubte,<br />
dass das Papier der von ihr gemochten<br />
Iza Sicińska gehörte <strong>und</strong> zerriss es, ohne<br />
es der Leitung des Lagers zu übergeben.<br />
Einfluss auf die Untergr<strong>und</strong>organisation<br />
im Lager nahm die Landesarmee (AK) direkt.<br />
Halina Wasilewska (34370) kam am<br />
7. <strong>April</strong> 1944 aus dem Warschauer Pawiak<br />
nach Ravensbrück. Sie überbrachte Instruktionen<br />
für die Vorbereitung der Häftlinge<br />
auf die letzten St<strong>und</strong>en des Lagerbestehens.<br />
Es wurde ein Projekt für die Verteidigung<br />
des Lagers vorbereitet, Fünfergruppen aus<br />
den Erfahrensten gebildet, Medikamente<br />
gesammelt, die Besetzung wichtiger<br />
Objekte geplant wie der Küche <strong>und</strong> der<br />
Reviere, die Beobachtung von Straßen,<br />
die Verhinderung von Panik <strong>und</strong> andere<br />
Verantwortlichkeiten bestimmt. Funktionshäftlinge<br />
verzichteten im Frühjahr 1945<br />
auf ihren Transport mit den weißen Bussen<br />
nach Schweden <strong>und</strong> verbargen sich<br />
im Krankenrevier, um die gestellten Aufgaben<br />
zu erfüllen. In diese Auflistung gehört<br />
auch die Mitteilung vom 18.03.1944, dass<br />
die SS-Aufseherin Gallinat zusammengeschlagen<br />
wurde, weil sie verhindern wollte,<br />
dass sich acht Polinnen, die zur Exekution<br />
geführt wurden, von ihren Kameradinnen<br />
verabschieden konnten. Es war der erste<br />
öffentliche Aufstand. So bereiteten die<br />
Häftlinge ihre Befreiung vor, verhinderten<br />
Panik <strong>und</strong> konnten, soweit körperlich fähig,<br />
den Soldaten der Roten Armee entgegen<br />
gehen.<br />
Die Kraft zu überleben, drückte sich<br />
vor allem in der Sorge für die Kinder aus.<br />
Selbstlos übernahmen ‚Lagermütter‘ die<br />
Sorge um die Neugeborenen, um verwaiste<br />
Kinder. Sie retteten Leben <strong>und</strong> mag es<br />
unter den höllischen Bedingungen des KZ<br />
von h<strong>und</strong>ert nur eins gewesen sein. Sie organisierten<br />
1944 eine Weihnachtsfeier für<br />
400 Kinder.<br />
Die Inszenierung <strong>und</strong> Aufführung des<br />
Kasperle-Theaters „Es war einmal ein<br />
Drache“ wurde nachträglich aufgeschrieben<br />
<strong>und</strong> erlebte zwischen 1983 <strong>und</strong> 1986<br />
drei Auflagen als Lesestück für Kinder von<br />
neun Jahren an. Illustriert hat das Buch<br />
Leo Haas, selbst Häftling im KZ Sachsenhausen.<br />
Das Buch bekam den Kinderhörspiel-Kritikerpreis<br />
der DDR. Es setzt dem<br />
Überlebenswillen aller in Ravensbrück gefangenen<br />
Frauen ein Denkmal.<br />
Jede Generation <strong>wir</strong>d in Zukunft den Märtyrern<br />
<strong>und</strong> Widerstandskämpfern Respekt<br />
<strong>und</strong> Ehrerbietung erweisen, aber auch die<br />
Frage stellen, wie waren die Naziverbrechen<br />
möglich <strong>und</strong> Antwort darauf finden.<br />
Faschismus ist eine Erscheinungsform des<br />
Kapitalismus <strong>und</strong> das macht wachsam <strong>und</strong><br />
unruhig.<br />
<br />
Erstmals in der<br />
Zusammenschau: Kunst als<br />
letzte Hoffnung<br />
»Jürgen Kaumkötter stellt mit seinen<br />
bewegenden Erzählungen die Kunstgeschichte<br />
über den Zeitraum von 1933 bis 1945 nicht<br />
auf den Kopf, sondern auf die Füße.«<br />
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung<br />
»Ein <strong>wir</strong>klich gutes, gut geschriebenes <strong>und</strong><br />
reich illustriertes Buch, das bedenkenswerte<br />
Einblicke ermöglicht.« Nürnberger Zeitung<br />
384 Seiten, geb<strong>und</strong>en mit Schutzumschlag<br />
großes Format, durchgehend vierfarbig<br />
280 Abbildungen<br />
Euro 39,99 (D)<br />
ISBN 978-3-86971-103-4<br />
www.galiani.de<br />
<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />
9
KULTUR<br />
70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz<br />
Der Tod hat nicht das letzte Wort<br />
Zur Ausstellung im Deutschen B<strong>und</strong>estag<br />
Von Karl Forster<br />
„Überleben <strong>und</strong> widerstehen: Zeichnungen<br />
von Häftlingen des Konzentrationslagers<br />
Auschwitz 1940 – 46“ lautete der Titel<br />
einer Ausstellung der Deutsch-Polnischen<br />
Gesellschaft der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland<br />
<strong>und</strong> des Museums Auschwitz, die ab<br />
1979 in zahlreichen Städten der damaligen<br />
B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland zu sehen war.<br />
Die Schirmherrschaft über diese Ausstellung<br />
hatte damals Willy Brandt. Es war die<br />
erste große Präsentation der Zeichnungen,<br />
die Häftlinge in Auschwitz während des Lageraufenthalts<br />
oder unmittelbar nach der<br />
Befreiung gefertigt hatten. Wie auch in anderen<br />
KZs mussten Häftlinge unter anderem<br />
für die SS Bilder zeichnen <strong>und</strong> malen.<br />
Die Werkstätten <strong>und</strong> das Material nutzen<br />
viele, illegal Kunstwerke zu schaffen. Bald<br />
jedoch waren diese Werke nur noch „Dokumente“,<br />
gezeichnete Zeitzeugenberichte.<br />
Als Kunst wurden sie nicht angesehen.<br />
Und so gab es nur noch vereinzelt in historischen<br />
Ausstellungen das eine oder andere<br />
Bild zu sehen. Bald kam hinzu, dass<br />
die Werke unter dem Einfluss von Licht <strong>und</strong><br />
Feuchtigkeit drohten, Schaden zu nehmen<br />
<strong>und</strong> vom Museum nicht mehr ausgeliehen<br />
wurden. Auch in Auschwitz selbst war der<br />
große Kunstbestand nicht ständig ausgestellt.<br />
Ein Besuch des Ausstellungsarchivs<br />
war nur gelegentlich für Gruppen nach<br />
Voranmeldung oder zu Forschungszwecken<br />
möglich. Jetzt hat eine Ausstellung<br />
im Deutschen B<strong>und</strong>estag (Paul-Löbe-Haus<br />
in Berlin) anlässlich des 70. Jahrestags der<br />
Befreiung von Auschwitz das Thema in besonderer<br />
Weise in den Mittelpunkt gerückt.<br />
Unter den Häftlingen der Ghettos <strong>und</strong><br />
KZs waren auch Künstler. Aber dort wurden<br />
auch Künstler ausgebildet. Und ehemalige<br />
Häftlinge bildeten nach der Befreiung<br />
weitere Künstler aus, die sich in ihren<br />
Arbeiten auf die Zeit der Ghettos <strong>und</strong> KZs<br />
beziehen. So brachte Peter Kein (eigentlich<br />
František Petr Kien) in Theresienstadt dem<br />
12-jährigen Yehuda Bacon (er <strong>wir</strong>kte unter<br />
anderem an der Kinderoper Br<strong>und</strong>ibár<br />
mit) das Zeichnen bei. Beide kamen nach<br />
Auschwitz, Kien starb, Bacon überlebte,<br />
ging nach Jerusalem, wurde Künstler <strong>und</strong><br />
Lehrer an der Bezalel Akademie. Dort lehrte<br />
er Sigalit Landau das Zeichnen. Sie ist<br />
heute eine der weltweit einflussreichsten<br />
10 <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />
zeitgenössischen Künstlerinnen. Kien, Bacon<br />
<strong>und</strong> Landau eint die Katastrophe des<br />
letzten Jahrh<strong>und</strong>erts, die Shoa, sie ist der<br />
Kern ihrer Kunst.<br />
Jürgen Kaumkötte, Kunsthistoriker, Jahrgang<br />
1969, befasst sich seit über 15 Jahren<br />
mit Exil- <strong>und</strong> Holocaust-Kunst. Vor<br />
zwei Jahren beauftragte ihn der Deutsche<br />
B<strong>und</strong>estag zu dem diesjährigen Gedenktag<br />
eine Ausstellung zu erarbeiten. Ihm gelang<br />
eine bemerkenswerte Ausstellung, welche<br />
die Werke von Holocaust-Überlebenden<br />
<strong>und</strong> -Opfern mit der Kunst der Generation<br />
ihrer Kinder <strong>und</strong> Enkel in Zusammenhang<br />
setzt. Direkt aus der Sammlung des<br />
Staatlichen Museums Auschwitz kamen 16<br />
Zeichnungen in den B<strong>und</strong>estag – die umfangreichste<br />
Leihgabe des Museums der<br />
letzten Jahre. Darunter auch großformatige<br />
Kohlezeichnungen von Jerzy Adam Brandhuber,<br />
geschaffen für die erste Ausstellung<br />
in Auschwitz im Jahr 1947; Brandhuber war<br />
Überlebender des Lagers <strong>und</strong> erster Kurator<br />
des Museums in Auschwitz. Begleitet<br />
werden sie von Werken Peter Kiens, Sigalit<br />
Landaus <strong>und</strong> Yehuda Bacons. Kunstwerke<br />
Sigalit Landau, Avigdor, 2013, Schuhe, dem Wasser des Toten Meeres<br />
ausgesetzt, 25 × 32 × 21 cm Courtesy of the artist<br />
von Kien <strong>und</strong> Bacon sind erstmals in Berlin<br />
zu sehen. Sigalit Landau hat eigens für<br />
die Ausstellung ein Kunstwerk geschaffen,<br />
in dem sie auf das Museum Auschwitz<br />
Bezug nimmt: In der großen Vitrine<br />
in der Dauerausstellung des Staatlichen<br />
Museums Auschwitz Birkenau liegen ausgestellt<br />
Berge von Schuhen – von Frauen,<br />
Männern, modische Schuhe, alte Schuhe,<br />
kaputte Schuhe, Schuhe von Kindern,<br />
Großeltern, Rabbinern, es sind Schuhe<br />
ohne Menschen. Sigalit Landau sammelte<br />
in Israel 100 Paar Schuhe <strong>und</strong> versenkte<br />
sie als Bündel im Toten Meer. Das Meer<br />
umhüllte die Schuhe mit seinem heilenden<br />
Salz, schützt sie gleichsam vor den Katastrophen<br />
der Welt. Die Schuhe wurden<br />
im Herbst 2014 aus dem Meer gehoben.<br />
Ergänzt wurde die Ausstellung durch Medieninstallationen<br />
der ARD, die Besuchern<br />
gleichsam eine Führung durch die Gedenkstätte<br />
in Auschwitz bot.<br />
Einziger Kritikpunkt: Die Ausstellung war<br />
gerade mal vier Wochen zu sehen. Man<br />
konnte sie zwar, ohne Eintritt zu zahlen,<br />
besuchen, musste sich jedoch vorher anmelden.<br />
Die öffentliche Wahrnehmung war<br />
sehr gering <strong>und</strong> auch diejenigen, die davon<br />
erfuhren, wurden damit konfrontiert, dass<br />
die am 27.1. eröffnete Ausstellung Ende<br />
Februar bereits wieder abgebaut wurde.<br />
Interessierte haben aber dennoch zwei<br />
Möglichkeiten, sich mit dem Thema zu befassen.<br />
Ab 27. Juni <strong>wir</strong>d die Ausstellung<br />
bis zum 13. September im Muzeum Sztuki<br />
Współczesnej w Krakowie MOCAK (Museum<br />
für Zeitgenössische Kunst in Krakau,<br />
auf dem Gelände von Schindlers Fabrik) zu<br />
sehen sein.<br />
Wer nicht solange warten will oder nicht<br />
nach Krakau reisen kann, dem sei das zur<br />
Ausstellung erschienene Buch empfohlen,<br />
das weit mehr als nur ein Katalog ist. „Der<br />
Tod hat nicht das letzte<br />
Wort. Kunst in der Katastrophe<br />
1933-1945“<br />
ist der Titel des Werkes,<br />
das erstmals eine<br />
Zusammenschau der<br />
in Verstecken, Ghettos<br />
<strong>und</strong> Lagern entstandenen<br />
Kunst <strong>und</strong><br />
ihrer Schöpfer bietet.<br />
Abgebildet werden ca.<br />
250 Werke, zahlreiche<br />
davon zum ersten<br />
Mal. Erstmals werden<br />
systematisch die Hintergründe<br />
ihrer Entstehung<br />
gezeigt. Alle<br />
Exponate der B<strong>und</strong>estagsausstellung sind<br />
auch im Buch abgebildet. Zur Ausstellung<br />
in Krakau <strong>wir</strong>d das Buch auch in polnischer<br />
Sprache erscheinen.<br />
<br />
Jürgen Kaumkötter: Der Tod hat nicht das<br />
letzte Wort. Kunst in der Katastrophe 1933-<br />
1945. Verlag Galiani Berlin. 384 Seiten,<br />
geb<strong>und</strong>en mit Schutzumschlag, großes Format,<br />
durchgehend vierfarbig, 250 Abbildungen.<br />
39,99 Euro. ISBN 978-3-86971-103-4
<strong>POLEN</strong> HEUTE<br />
Zum Wahljahr in Polen<br />
Eigentlich herrscht Ruhe<br />
Von Holger Politt, Warschau<br />
Bevor der Wahlzirkus richtig beginnt, sind<br />
bereits zwei wichtige Entscheidungen gefallen.<br />
Bronisław Komorowski <strong>wir</strong>d auch nach<br />
den Wahlen im Mai das Amt des Staatspräsidenten<br />
ausfüllen. Die einzig noch offene<br />
Frage bleibt, ob er das Mandat bereits im<br />
ersten Wahlgang erringen <strong>wir</strong>d oder doch<br />
in die Stichwahl muss. Und die Bewegung<br />
von Janusz Palikot, die im Herbst 2011<br />
gleich einem linksliberalen Wetterleuchten<br />
glatte zehn Prozent der Wählerstimmen auf<br />
ihr Konto verbuchen konnte, hat sich nun<br />
selbst zerlegt. Als Palikot Anfang März der<br />
eigenen Fraktion den Rücken kehrte, ist<br />
klar geworden, dass die kurze Geschichte<br />
der Palikot-Bewegung geschrieben werden<br />
kann – als Aufstieg <strong>und</strong> als Fall.<br />
Vor zehn Jahren begann die Dominanz<br />
zweier rechter Parteien – zunächst hatte<br />
für einige Jahre die Nationalkonservativen<br />
der PiS die Nase vorn, seit 2007 regieren<br />
die Wirtschaftsliberalen der PO. In Umfragen<br />
schwanken beide derzeit um die 35<br />
Prozent. Einst hatten sich beide Parteien<br />
abgesprochen, das Wahlrecht zu ändern,<br />
sobald sie zusammengerechnet die Zweidrittelmehrheit<br />
im Parlament besäßen, damit<br />
nur noch die Gewinner der Wahlkreise<br />
ins Hohe Haus kämen. Polen, so der ursprüngliche<br />
Plan, wäre dann politisch fein<br />
säuberlich aufgeteilt entlang der jeweiligen<br />
Hochburgen.<br />
Dass es dazu nicht kam war zunächst einmal<br />
dem verbissenen Kampf beider Gruppierungen<br />
untereinander zu verdanken, der<br />
bis heute den Charakter einer reflexhaften<br />
Auseinandersetzung zweier zutiefst verfeindeter<br />
politischer Lager behalten hat.<br />
Doch wiegt hier die Tatsache schwer, dass<br />
auch so – ohne Wahlrechtsänderung – der<br />
hohe Wählerzuspruch für beide Gruppierungen<br />
erhalten blieb. Allerdings hatte PiS<br />
gegenüber PO zusehends ein strukturelles<br />
Nachsehen, da die Hochburgen der PO in<br />
den Großstädten nicht zu schleifen waren<br />
<strong>und</strong> diese mit der Bauernpartei PSL einen<br />
treuen Regierungspartner gef<strong>und</strong>en hatte,<br />
der auf dem flachen Land dem Einfluss von<br />
PiS so etwas wie natürliche Grenzen setzte.<br />
Die vierte Partei im Rennen – die SLD<br />
– spielte insofern kaum eine Rolle, weil<br />
sie für das Kräfteverhältnis zwischen PiS<br />
<strong>und</strong> PO kaum noch Bedeutung hatte, da<br />
sie immer weniger in der Lage war, der PO<br />
ernsthaft Paroli bieten zu können. Wenn es<br />
Wählerwanderung zwischen PO <strong>und</strong> SLD<br />
gab, dann immer nur in die eine Richtung.<br />
Erst Palikot zeigte 2011 allen, dass doch<br />
ein linksliberales Kraut gewachsen war,<br />
der PO massenhaft Stimmen abzunehmen,<br />
<strong>und</strong> zwar dort, wo sie übermächtig schien<br />
– in den Großstädten <strong>und</strong> unter jüngeren<br />
Wählerschichten. Palikots Sieg war die<br />
Verheißung, dass die ewig währende Dominanz<br />
von PO <strong>und</strong> PiS von links aufgebrochen<br />
werden kann. Alle, die vor allem<br />
eine Rückkehr von Jarosław Kaczyński an<br />
die Macht verhindern wollen, hätten eine<br />
Alternative gewonnen.<br />
Doch der plötzliche Höhenflug des einen<br />
war die Niederlage des anderen. Die<br />
Linksdemokraten der SLD wechselten die<br />
Pferde, ersetzten den glücklosen Grzegorz<br />
Napieralski durch den alten Haudegen<br />
Leszek Miller, der nur noch eins wollte –<br />
den Bestandsschutz für die SLD. Mit dem<br />
Recht dessen, der einst diese Partei mitbegründet<br />
<strong>und</strong> zu ihren größten Erfolgen geführt<br />
hatte, machte er die Schotten dicht.<br />
In den Medien zirkulierte nun das Bild einer<br />
von umtriebigen <strong>und</strong> unkonventionellen<br />
Palikot-Leuten belagerten Festung, deren<br />
Burgherr feste Eisenrüstung anzulegen befahl.<br />
Der erste, der diesem Unfug die Gefolgschaft<br />
aufkündigte, war Aleksander<br />
Kwaśniewski, der auf das Potential von 20<br />
bis 25 Prozent der Wählerstimmen verwies,<br />
auf die hohe Verantwortung zudem,<br />
die die beiden linksliberalen Parlamentsgruppierung<br />
dabei hätten. Seine Initiativen<br />
verliefen schnell im Sande, unerbittlich<br />
folgte Miller seiner harten Linie. Er rechnete<br />
fest damit, dass die „Belagerer“ sich<br />
aufreiben würden, weil ihnen programmatische<br />
Bindung fehle <strong>und</strong> überhaupt das<br />
Sitzfleisch fürs harte politische Geschäft.<br />
Dass er mit dieser Taktik praktisch das gesamte<br />
linksliberale Feld außerhalb seiner<br />
Burg zur leichten Beute der Wirtschaftsliberalen<br />
machte, entging dem alten Fuchs.<br />
In dem albernen Streit, wer von den beiden<br />
Streithähnen eigentlich der echte, der<br />
bessere Sozialdemokrat sei, hat nun der<br />
Linksdemokrat Miller gewonnen. Womöglich<br />
ist es sein letzter Sieg auf der politischen<br />
Ebene. Nicht wenige Beobachter<br />
unken bereits, dass auch die SLD am Ende,<br />
dass ihre Zeit aufgebraucht sei. Vielleicht<br />
elektrisieren <strong>und</strong> mobilisieren diese Warnrufe<br />
noch einmal das Wählerpotential, das<br />
einst als das eiserne galt <strong>und</strong> die Konkurrenz<br />
das Fürchten lehrte. Das waren Zeiten,<br />
in denen noch frisch <strong>und</strong> frech gefordert<br />
wurde, die Zukunft zu wählen. Heute<br />
läuft die Partei nur noch der eigenen Vergangenheit<br />
hinterher, ist ein Schatten ihrer<br />
selbst.<br />
Wenn im Herbst dieses Jahres die Stimmen<br />
gezählt werden, dürften sich PO <strong>und</strong><br />
PiS freuen – ganz gleich, wer dann tatsächlich<br />
die Nase vorne haben <strong>wir</strong>d. Dem<br />
alten Ziel, die übrige <strong>und</strong> lästige politische<br />
Konkurrenz loszuwerden, <strong>wir</strong>d man dann<br />
wieder ein Schritt näher gerückt sein. Und<br />
viele, die einen Kaczyński an den Regierungshebeln<br />
verhindern wollten, werden<br />
ihre Stimme – wie schon so oft <strong>und</strong> ohne<br />
innere Überzeugung – erneut der PO gegeben<br />
haben. An gutgemeinten Begründungen<br />
<strong>wir</strong>d es hinterher nicht fehlen. Dass<br />
die gesellschaftliche Wirklichkeit in Polen<br />
allerdings nach einem anderen Kräfteverhältnis<br />
verlangt, steht auf einem ganz anderen<br />
Blatt.<br />
<br />
Kulturhauptstadt<br />
2016: Wrocław<br />
Es war eine griechische Idee: Die damalige<br />
Kulturministerin Griechenlands, die<br />
Sängerin Melina Mercouri, hatte 1985<br />
vorgeschlagen, jährlich eine Kulturhauptstadt<br />
Europas zu benennen. Um die bei der<br />
EU-Erweiterung 2004 <strong>und</strong> 2007 hinzugekommenen<br />
neuen EU-Mitglieder möglichst<br />
schnell in die Aktion einzubinden, werden<br />
ab 2009 zwei Kulturhauptstädte ernannt,<br />
davon eine aus den alten Mitgliedstaaten<br />
<strong>und</strong> eine aus den neuen. Im Jahr 2016 werden<br />
das niederschlesische Wrocław <strong>und</strong><br />
das baskische San Sebastian diesen Titel<br />
tragen. Wrocław hat sich für das nächste<br />
Jahr viel vorgenommen. In Wroclaw, werde<br />
längst an vielen Stellen gebaut, sagte der<br />
Bürgermeister der Stadt, Rafal Dutkiewicz,<br />
bei der Tourismusmesse ITB (4. bis 8.<br />
März) in Berlin. Bereits im Herbst diesen<br />
Jahres soll das neue Musikforum mit vier<br />
Musiksälen <strong>und</strong> Platz für 1800 Gäste eröffnen.<br />
Musik ist 2016 ein wichtiger Schwerpunkt:<br />
Mehr als 70 Projekte von Klassik bis<br />
Rock sind geplant, etablierte Festivals wie<br />
«Jazz an der Oder» eingeschlossen. «Singing<br />
Europe» heißt eines davon, bei dem<br />
Chöre aus ganz Europa zusammen auftreten<br />
sollen.<br />
<br />
<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />
11
GESCHICHTE<br />
Wiedereröffnung der Ausstellung im KZ Sonnenburg<br />
Erfolge <strong>und</strong> Probleme<br />
Angehörige der Opfer nicht angemessen berücksichtigt<br />
Von Kamil Majchrzak<br />
12 <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />
Am 30. Januar <strong>2015</strong> wurde in dem<br />
gr<strong>und</strong>sanierten Museum der Martyrologie<br />
in Słońsk eine neue Ausstellung zur Geschichte<br />
des deutschen KZ <strong>und</strong> Zuchthaus<br />
Sonnenburg eröffnet. Zeitgleich erschien<br />
beim Metropol-Verlag eine neue Publikation<br />
zu dem Thema. In Sonnenburg waren<br />
u.a. Antifaschisten aus Deutschland <strong>und</strong><br />
Widerstandskämpfer aus vielen von der<br />
deutschen Wehrmacht besetzten Ländern<br />
weggesperrt. In der Nacht vom 30. zum<br />
31. Januar 1945 wurden 819 Gefangene<br />
von einem SS-Kommando erschossen.<br />
Die Berliner Vereinigung der Verfolgten<br />
des Naziregimes nimmt seit 2010 an den<br />
jährlichen Gedenkfeiern an die Opfer des<br />
KZ <strong>und</strong> Zuchthauses teil, die die Gemeinde<br />
veranstaltet. Ein neugegründeter Internationaler<br />
Arbeitskreis setzt sich seitdem<br />
dafür ein, dass die Gedenkstätte in Słońsk<br />
mit dem Museum <strong>und</strong> dem Friedhof für die<br />
Opfer des Zuchthauses auch ein europäischer<br />
Gedenk- <strong>und</strong> Mahnort <strong>wir</strong>d.<br />
Die Zusammenarbeit zwischen der Berliner<br />
VVN-BdA <strong>und</strong> der Gemeinde in Słońsk<br />
begann mit der Vorbereitung der viel beachteten<br />
Konferenz zur Geschichte des KZ<br />
<strong>und</strong> Zuchthauses Sonnenburg im September<br />
2013. An dieser nahmen Angehörige<br />
ehemaliger KZ- bzw. Zuchthaus-Häftlinge<br />
teil: Erika Klug, Tochter von August Klug,<br />
der in dem berüchtigten Massaker 1945<br />
ermordet wurde; Wolfgang Linke, Sohn von<br />
Emil Linke, der nach seiner Entlassung aus<br />
dem KZ Sonnenburg in die Sowjetunion<br />
floh <strong>und</strong> dort 1938 im Zuge des Großen<br />
Terrors ermordet wurde; Ingrid Kröning,<br />
Tochter des im Zuchthaus ermordeten<br />
deutschen Antifaschisten Paul Voss sowie<br />
die dritte Generation von KZ-Häftlingen Natalja<br />
Schäfer (Enkelin von Rudolf Bernstein,<br />
Autor des Buches »Die Hölle von Sonnenburg«)<br />
sowie Jan Lekschas (Enkel von Fritz<br />
Lange). An der Konferenz nahmen auch<br />
teil Peter Gerlinghoff, Leiter des Mitte der<br />
1980er-Jahre begründeten »Arbeitskreis<br />
Ehemaliges KZ Sonnenburg« bei der Westberliner<br />
Friedenskooperative, Eckart Spoo,<br />
Herausgeber der Zeitschrift Ossietzky.<br />
Kurz nach der Konferenz unterbreitete der<br />
Arbeitskreis der Gemeinde ein von Kaspar<br />
Nürnberg, Dr. Hans Coppi, Kamil Majchrzak<br />
<strong>und</strong> dem polnischen Historiker Dr. Andrzej<br />
Toczewski abgestimmtes Konzept<br />
über »Thematische Aspekte für eine neue<br />
Ausstellung im ›Museum der Martyrologie<br />
der Häftlinge – Opfer des Hitlerfaschismus‹<br />
in Słońsk/Sonnenburg 1933-1945«.<br />
Nach eingehender Diskussion u.a. mit dem<br />
polnischen Prof. Tomasz Nodzyński, einem<br />
Experten für Geschichte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />
wurden die vorgelegten »Themen-<br />
Aspekte« Gr<strong>und</strong>lage für die zweisprachige<br />
Ausstellung im Museum <strong>und</strong> die anschließende<br />
Ausschreibung der Gemeinde zu deren<br />
Gestaltung. Zuvor übergab Peter Gerlinghoff<br />
Materialien seines Arbeitskreises<br />
an die Berliner VVN-BdA. Frieder Böhne<br />
übertrug die darin enthaltenen ca. 500 Namen<br />
in eine von ihm angelegte Datenbank,<br />
die Ende Dezember 2014 – nach umfangreichen<br />
weiteren Recherchen – nunmehr<br />
956 Namen von ehemaligen KZ-Häftlingen<br />
enthält. Der engagierte Fotograph Andreas<br />
Domma fertigte Mitte 2013 eine umfangreiche<br />
Inventarisierung der zerstörten Exponate<br />
der Ausstellung des Museums aus<br />
dem Jahre 1974 an.<br />
Bei der Suche nach einer zusammenhängenden<br />
Darstellung über die wechselvolle<br />
– <strong>und</strong> in der deutschen Erinnerungskultur<br />
weitgehend unbekannte – Geschichte des<br />
KZ <strong>und</strong> Zuchthauses, lagen bislang nur eine<br />
polnische Monographie von Przemysław<br />
Mnichowski <strong>und</strong> in deutscher Sprache lediglich<br />
eine Publikation von André Hohengarten<br />
aus Luxemburg zum Massaker vom<br />
30./31. Januar 1945 <strong>und</strong> von Kaspar Nürnberg<br />
zum Konzentrationslager Sonnenburg<br />
vor. Der Internationale AK konsultierte deshalb<br />
Historiker in mehreren europäischen<br />
Ländern, die sich mit der Geschichte des<br />
KZ <strong>und</strong> Zuchthauses Sonnenburg befasst<br />
hatten sowie Gedenkstätten, deren Geschichte<br />
mit Sonnenburg verb<strong>und</strong>en ist.<br />
Insbesondere seien hier erwähnt: Irene<br />
von Götz, Kuratorin der »Gedenkstätte SA-<br />
Gefängnis Papestrasse«, Dr. Laurent Thiery<br />
von »Centre d`histoire et de mémoire du<br />
Nord de Calais: La Coupole« (Frankreich),<br />
der norwegische Forscher Thomas V. H.<br />
Hagen vom Stiftelsen Arkivet in Kristiansand<br />
sowie der engagierte Soziologe Jan<br />
Hertogen aus Belgien, der umfassende<br />
Recherchen zur Geschichte der Belgier in<br />
Sonnenburg vorlegte <strong>und</strong> Kontakt zu Angehörigen<br />
<strong>und</strong> mehreren noch lebenden ehemaligen<br />
Zuchthaus-Häftlingen herstellte.<br />
Für die Erarbeitung der Inhalte der neuen<br />
Hans Coppi führt die Angehörigen ehemliger Häftlinge durch die neue Ausstellung.<br />
Foto: Andreas Domma<br />
Ausstellung waren die polnischen Partnerinnen<br />
<strong>und</strong> Partner für das Zuchthaus im<br />
19. Jahrh<strong>und</strong>erts bis zum Jahr 1933 <strong>und</strong> für<br />
das Gedenken <strong>und</strong> Erinnern in den Nachkriegsjahrzehnten<br />
in Słońsk zuständig. Der<br />
Internationale Arbeitskreis zum Gedenken<br />
an die Häftlinge des KZ <strong>und</strong> Zuchthauses<br />
Sonnenburg bei der Berliner VVN-BdA<br />
wurde von der Gemeinde beauftragt, den<br />
Zeitraum von 1933 bis 1945 aufzuarbeiten.<br />
Autorinnen <strong>und</strong> Autoren der Recherchen<br />
<strong>und</strong> Texte der so entstandenen 15<br />
Tafeln sind: Frieder Böhne, Dr. Hans Coppi,<br />
Christoph Gollasch, Thomas V. H. Hagen<br />
(Kristiansand, Norwegen), Jan Hertogen<br />
(Mechelen, Belgien), Irmtraudt Kuß, Kamil<br />
Majchrzak, Diete Oudesluijs (Amsterdam,<br />
Niederlande) sowie Daniel Queiser.<br />
Die polnische Gemeinde Słońsk war bei<br />
den diesjährigen Gedenkfeiern sichtbar<br />
überfordert. Eine angemessene Einbin-
GEDENKEN<br />
Angehörige ehemaliger Opfer aus Deutschland, Belgien, Holland <strong>und</strong> Norwegen vor dem Museum<br />
Foto: Andreas Domma<br />
dung der Angehörigen ehemaliger Opfer<br />
in das Gedenken fand nicht statt. Dabei<br />
waren 17 Angehörige ehemaliger Häftlinge,<br />
bzw. Vertreter von Opferverbänden aus<br />
Deutschland, Belgien, den Niederlanden<br />
<strong>und</strong> Norwegen nach Słońsk gekommen.<br />
Sie wurden eingeladen, waren aber nicht<br />
willkommen. Sie wurden nicht begrüßt <strong>und</strong><br />
teilweise am Zugang zu den Feierlichkeiten<br />
in Przyborów gehindert. Die Gemeinde<br />
änderte einseitig das Programm. Ohne<br />
Vorankündigung wurden die Reden des<br />
belgischen Konsuls aus Poznań Jan Spillia-<br />
Das Konzentrationslager <strong>und</strong><br />
Zuchthaus Sonnenburg<br />
Das Zuchthaus in Sonnenburg war schon vor der Nazi-Zeit bekannt. Hier saß unter anderem<br />
der Schuster Wilhelm Voigt ein, der später als „Hauptmann von Köpenick“ berühmt<br />
wurde. Doch 1930 war diese Haftanstalt von der preußischen Regierung wegen „katas t<br />
r o - phaler hygienischer Verhältnisse“ geschlossen worden. Doch kaum waren die Nazis<br />
an der Macht, wurde Sonnenburg reaktiviert Sonnenburg symbolisiert heutewie kaum<br />
ein anderer Ort Beginn <strong>und</strong> Ende der zwölf Jahre währenden Schreckensherrschaft des<br />
NS-Regimes. Als eine der größten frühen Folter- <strong>und</strong> Haftstätten im Deutschen Reich<br />
wurde das Konzentrationslager Sonnenburg Anfang <strong>April</strong> 1933<br />
eingerichtet. Nach dessen Auflösung im Frühjahr 1934 fungierte<br />
die Haftstätte als Zuchthaus. Von 1942 bis 1944 waren hier<br />
über 1500 Häftlinge aus dem besetzten Westeuropa <strong>und</strong> Norwegen<br />
inhaftiert, die aufgr<strong>und</strong> des Nacht-<strong>und</strong>-Nebel-Erlasses vom<br />
7. Dezember 1941 verschleppt worden waren. Mit dem Näherrücken<br />
der Roten Armee wurde die Evakuierung der Haftanstalt<br />
angeordnet. In der Nacht vom 30. zum 31. Januar 1945 erschoss<br />
ein 17-köpfiges SS-Kommando 819 Häftlinge. Erstmals widmet<br />
sich eine Publikation der in der deutschen Erinnerungskultur<br />
weitgehend unbekannten Geschichte des Konzentrationslagers<br />
<strong>und</strong> Zuchthauses Sonnenburg von 1933 bis 1945. Die einh<strong>und</strong>ert<br />
Kilometer von Berlin entfernte polnische Gemeinde Slonsk, das frühere Sonnenburg, ist<br />
mit dem neu gestalteten Museum <strong>und</strong> dem Friedhof mit den 16 Massengräbern ein europäischer<br />
Gedenk- <strong>und</strong> Mahnort.<br />
<br />
Hans Coppi, Kamil Majchrzak (Hrsg.): Das Konzentrationslager <strong>und</strong> Zuchthaus Sonnenburg.<br />
ISBN: 978-3-86331-227-5 - 240 Seiten · 19,00 Euro<br />
ert, Jan Hertogen <strong>und</strong> von Hans Coppi, der<br />
maßgeblich an der Erarbeitung der neuen<br />
Ausstellung im Museum beteiligt war, gestrichen.<br />
Der Internationale AK bei der Berliner<br />
VVN-BdA wies in einem Schreiben an die<br />
Gemeinde auf das mangelhafte Impressum<br />
der Ausstellung <strong>und</strong> zahlreiche inhaltliche<br />
Fehler <strong>und</strong> Urheberrechtsverletzungen im<br />
gegenwärtig von der Gemeinde vertriebenen<br />
Ausstellungs-Katalog <strong>und</strong> der Ausstellung<br />
hin. Die Ausblendung der Autorinnen<br />
<strong>und</strong> Autoren der Ausstellung ist umso fragwürdiger,<br />
als die Sanierung des Museums<br />
<strong>und</strong> die Ausstellung selbst von der Europäischen<br />
Union finanziert wurden. Ohne<br />
die intensive Zusammenarbeit von Bürgern<br />
<strong>und</strong> Institutionen mehrerer europäischer<br />
Länder <strong>und</strong> der Bemühungen des Internationalen<br />
Arbeitskreises bei der Berliner<br />
VVN-BdA wäre die Ausstellung in dieser<br />
Form nicht möglich gewesen.<br />
Einen wichtigen Beitrag zur Erforschung<br />
der Geschichte des Zuchthaueses Sonnenburg<br />
<strong>und</strong> seiner juristischen Aufarbeitung<br />
leisteten auch der polnische Staatsanwalt<br />
Janusz Jagiełłowicz sowie Frau Magdalena<br />
Dźwigał von der Kommission für die Verfolgung<br />
von Verbrechen gegen die polnische<br />
Nation in Szczecin. Jagiełłowicz hat am 24.<br />
Februar 2014 die Ermittlungen der polnischen<br />
Staatsanwaltschaft wegen Kriegsverbrechen<br />
im Zuchthaus Sonnenburg<br />
wieder aufgenommen. Darüber informierte<br />
er die Angehörigen im Anschluss an die<br />
Ausstellungs-Eröffnung.<br />
<br />
Buch zur Vertreibungs-<br />
Tagung erschienen<br />
Im Februar 2012 fand an der Freien Universität<br />
Berlin eine Tagung mit dem Titel<br />
„War die ´Vertreibung´ Unrecht“ statt. Zu<br />
dieser von der Deutsch-Polnischen Gesellschaft<br />
der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland<br />
initiierten Konferenz ist nun der Sammelband<br />
erschienen. Vor dem Hintergr<strong>und</strong><br />
der in der B<strong>und</strong>esrepublik anhaltenden<br />
Unrechtsdebatte diskutieren die Beiträge<br />
des Buches die völkerrechtliche Zulässigkeit<br />
<strong>und</strong> die historischen Aus<strong>wir</strong>kungen der<br />
Beschlüsse des Potsdamer Abkommens<br />
vom 2.8.1945. Das Buch enthält die auf<br />
der Konferenz durch die Referenten gehaltenen<br />
Beiträge. Natürlich ist das Buch<br />
über alle Buchhandlungen bestellbar. Es<br />
<strong>wir</strong>d auch bei der Hauptversammlung der<br />
Deutsch-Polnischen Gesellschaft der BRD<br />
sowie bei der im September stattfindenden<br />
Konferenz zum Potsdamer Abkommen erhältlich<br />
sein.<br />
<br />
Christoph Koch (Hrsg.)<br />
War die »Vertreibung« Unrecht?<br />
Die Umsiedlungsbeschlüsse des Potsdamer<br />
Abkommens <strong>und</strong> ihre Umsetzung in ihrem<br />
völkerrechtlichen <strong>und</strong> historischen Kontext<br />
Verlag Peter Lang, Frankfurt. Printausgabe:<br />
ISBN 978-3-631-62909-3, Preis: 69,95 €<br />
e-book: ISBN 978-3-653-04638-0, Preis:<br />
77,83 €<br />
<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />
13
ANZEIGE<br />
14 <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong>
NACHRUF<br />
Der Historiker <strong>und</strong> langjährige Direktor des Jüdischen Historischen Instituts Warschau bei einer Rede<br />
in der Münchner Synagoge.<br />
Foto: Marina Maisel<br />
Zum Tod von Feliks Tych (1929 - <strong>2015</strong>)<br />
Gern leben <strong>und</strong> eine Aufgabe haben<br />
Von Holger Politt<br />
Die Arbeiterrevolution kam doch. Was<br />
nur noch ein Gegenstand historischer Forschung<br />
zu sein schien, stand eines Tages<br />
unverhofft vor der eigenen Haustür. Als<br />
der „Solidarność“-Aufstand das Land in<br />
den Gr<strong>und</strong>festen erschütterte, begann<br />
sich auch das berufliche Leben desjenigen<br />
Mannes zu ändern, der in den zurückliegenden<br />
Jahren der Geschichte der polnischen<br />
Arbeiterbewegung mit wissenschaftlichen<br />
Methoden vielleicht am gründlichsten<br />
nachgespürt hatte. Feliks Tych sah sich von<br />
nun an starkem Gegenwind ausgesetzt, der<br />
schließlich in den Jahren 1989/90 zum regelrechten<br />
Sturm geriet, mit dem der Forschungsgegenstand<br />
selbst von der Agenda<br />
weggefegt wurde, mit dem Argument übrigens,<br />
er sei ohnehin nicht viel mehr als Teil<br />
der verhassten <strong>und</strong> gestürzten Staatsideologie.<br />
Eine auf wissenschaftliche Institutionen<br />
gestützte <strong>und</strong> mit öffentlichen Mitteln<br />
geförderte Erforschung der Geschichte der<br />
polnischen Arbeiterbewegung entschwand<br />
vollkommen von der Bildfläche. Wer heute<br />
im guten Glauben sich auf die Suche nach<br />
vergangenen Spuren der polnischen Arbeiterbewegung<br />
aufmacht, kommt meistens<br />
nur noch bis zur legendären „Solidarność“-<br />
Zeit mit dem Arbeiterführer Lech Wałȩsa an<br />
der Spitze.<br />
Allerdings hatte der Historiker Feliks Tych<br />
zuvor geleistet, wofür er weltweit geschätzt<br />
wurde. An erster Stelle darf wohl der F<strong>und</strong><br />
der über 1.000 Briefe von Rosa Luxemburg<br />
an Leo Jogiches stehen, auf die der junge<br />
Historiker Ende der fünfziger Jahre in Moskau<br />
stieß. Von 1968 bis 1971 wurden die<br />
meisten dieser Briefe in einer dreibändigen<br />
Ausgabe in Warschau auch der Öffentlichkeit<br />
zugänglich. Spätestens seit diesem<br />
Moment stand die gesamte Rosa-Luxemburg-Forschung<br />
auf anderen Füßen. Eine<br />
der Folgen dieses Brieff<strong>und</strong>es war übrigens<br />
die in der DDR ab 1970 erscheinende große<br />
Werkausgabe, die nun 2019 zum 100.<br />
Jahrestag der Ermordung von Rosa Luxemburg<br />
<strong>und</strong> Leo Jogiches abgeschlossen<br />
werden soll <strong>und</strong> ohne die Quellenhinweise<br />
aus den Briefen Rosa Luxemburgs an ihren<br />
langjährigen Lebenspartner <strong>und</strong> engsten<br />
politischen Verbündeten gar nicht zu denken<br />
wäre.<br />
Lang wäre die Liste, sollte hier aufgezählt<br />
werden, was Feliks Tych als Forscher der<br />
Geschichte der polnischen Arbeiterbewegung<br />
geleistet hat. Stellvertretend mögen<br />
deshalb zwei Vorhaben genannt werden,<br />
die gar nicht mehr abgeschlossen werden<br />
konnten. Zunächst wurde eine mehrbändige<br />
Ausgabe von Briefen Julian Marchlewski<br />
ein Opfer der Wende, denn das für den<br />
Druck bereits fertiggestellte Material fand<br />
in Polen keinen Verlag mehr. Und schließlich<br />
arbeitete Feliks Tych in den neunziger<br />
Jahren <strong>und</strong> mit Unterstützung deutscher<br />
Stiftungsgelder an einer politischen Biographie<br />
von Leo Jogiches. Erhalten geblieben<br />
sind erste Kapitel, die die Zeit in Wilna<br />
<strong>und</strong> in Zürich betreffen, sowie Fragmente.<br />
Seine Berufung zum Direktor des Jüdischen<br />
Historischen Instituts in Warschau,<br />
die Funktion übte er von 1996 bis 2006<br />
aus, machte eine Weiterarbeit an der begonnenen<br />
Arbeit unmöglich.<br />
Am 27. Januar 2010 hielt Feliks Tych im<br />
Deutschen B<strong>und</strong>estag eine Rede, in der er<br />
an seinen Vater erinnerte, der deutsche<br />
Okkupanten noch aus der Zeit des Ersten<br />
Weltkriegs kannte <strong>und</strong> deshalb meinte,<br />
das Verhalten deutscher Soldaten gut einschätzen<br />
zu können. Dass er seinen jungen<br />
Sohn rettete, weil er ihn noch rechtzeitig<br />
aus dem Ghetto weggab, <strong>wir</strong>d dem Vater in<br />
der Todessst<strong>und</strong>e in Treblinka kaum Trost<br />
gewesen sein. Feliks Tych trat im Deutschen<br />
B<strong>und</strong>estag als Zeitzeuge auf, der die<br />
Vernichtung der polnischen Juden überlebt<br />
hatte. Dass die Abgeordneten an diesem<br />
Tag einem der größten <strong>und</strong> verdienstvollsten<br />
Luxemburg-Forscher zuhörten, <strong>wir</strong>d<br />
kaum jemand unter ihnen wahrgenommen<br />
haben.<br />
Als der junge Historiker ganz am Beginn<br />
seiner großen Laufbahn der Geschichte<br />
der Sozialdemokratie aus dem Königreich<br />
Polen nachzuforschen begann, jener legendären<br />
Partei von Leo Jogiches <strong>und</strong> Rosa<br />
Luxemburg, stieß er auf Gedanken wie diesen<br />
hier: Einmal erkämpft <strong>und</strong> mit teurem<br />
Arbeiterblut bezahlt, müsse die Arbeiterbewegung<br />
die Freiheit der Meinung, der Versammlung<br />
<strong>und</strong> der Organisation hüten wie<br />
den Augapfel, denn nur unter diesen Bedingungen<br />
könne der Weg zum Sozialismus<br />
eingeschlagen werden. Die Gegenwart, in<br />
der Feliks Tych diesem Gedanken damals<br />
folgte, schien genügend zu beweisen, dass<br />
es auch anders gehe. Erst als polnische<br />
Arbeiter zu H<strong>und</strong>ertausenden die einfache<br />
<strong>und</strong> unteilbare Freiheit der Meinung, des<br />
Versammelns <strong>und</strong> der Organisation einforderten<br />
– <strong>und</strong> der Historiker wusste, wie<br />
sehr das alles in vielerlei Hinsicht den einstigen<br />
Rezepten Rosa Luxemburgs glich –<br />
war die Gesellschaftsordnung am Ende, die<br />
irrigerweise Sozialismus genannt wurde.<br />
Wer darüber nachzudenken beginnt, <strong>wir</strong>d<br />
am umfangreichen Werk, das Feliks Tych<br />
hinterlassen hat, nicht vorbeikommen.<br />
<br />
<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />
15
GESCHICHTE/POLITIK<br />
Vor 70 Jahren<br />
8. Mai - Tag der Befreiung<br />
Das Elend der deutschen Nachkriegsgeschichte<br />
Von Renate Hennecke<br />
Für Verfolgte <strong>und</strong> Widerstandskämpfer/<br />
innen war der 8. Mai 1945 von Anfang an<br />
der „Tag der Befreiung”. Darin enthalten ist<br />
die Erinnerung an die Verbrechen der Nazis,<br />
die Ehrung des Widerstands, der Dank<br />
an die Befreier. Für die Mehrheit der B<strong>und</strong>esbürger<br />
galt der 8. Mai lange als Tag des<br />
Zusammenbruchs, der bedingungslosen<br />
Kapitulation, der deutschen Katastrophe<br />
–- manchen gar als schwärzester Tag in<br />
der deutschen Geschichte. Nur langsam<br />
drang ins öffentliche Bewusstsein, welche<br />
beispiellosen Verbrechen während der NS-<br />
Zeit in deutschem Namen <strong>und</strong> von Deutschen<br />
begangen worden waren. Es dauerte<br />
40 Jahre, bis am 8. Mai 1985 Richard von<br />
Weizsäcker als erster amtierender B<strong>und</strong>espräsident<br />
sagte: „Der 8. Mai war ein<br />
Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit<br />
von dem menschenverachtenden System<br />
der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.”<br />
Weizsäcker gedachte der Opfer,<br />
schloss bislang ungenannte Opfergruppen<br />
– Deserteure, Euthanasie-Opfer, Sinti<br />
<strong>und</strong> Roma, Kommunisten – ein, sprach von<br />
Trauer <strong>und</strong> Leid, die für viele Deutsche mit<br />
dem Kriegsende verb<strong>und</strong>en waren, nannte<br />
die Ursachen. Drei Tage nach dem verstörenden<br />
Händedruck zwischen Helmut<br />
Kohl <strong>und</strong> Ronald Reagan über den Gräbern<br />
deutscher Soldaten <strong>und</strong> SS-Angehöriger<br />
auf dem Friedhof von Bitburg-Kolmeshöhe<br />
setzte von Weizsäcker ein Zeichen dagegen:<br />
Er zitierte die jüdische Weisheit, wonach<br />
Versöhnung nicht durch Beschweigen<br />
<strong>und</strong> Verdrängen möglich ist, sondern<br />
nachhaltiges Erinnern voraussetzt: „Das<br />
Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.”<br />
Recht auf Vergessen?<br />
„Erinnern oder vergessen?“ So fasste Die<br />
Zeit anderthalb Jahre später das Leitmotiv<br />
der Kontroverse zusammen, die durch die<br />
Weizsäcker-Rede angestoßen wurde. Einer,<br />
der für das Vergessen plädierte, war der<br />
CSU-Vorsitzende <strong>und</strong> bayerische Ministerpräsident<br />
Franz Josef Strauss. Schon<br />
1969 hatte die Frankfurter R<strong>und</strong>schau ihn<br />
mit den Worten zitiert: „Ein Volk, das diese<br />
<strong>wir</strong>tschaftlichen Leistungen vollbracht hat,<br />
hat ein Recht darauf, von Auschwitz nichts<br />
mehr hören zu wollen.” (FR, 13. September<br />
1969) Die Vergangenheit, fand er im Jahr<br />
des Historikerstreits 1986, müsse man „in<br />
der Versenkung, oder Versunkenheit, besser<br />
gesagt,” verschwinden lassen. „Fehler”<br />
der deutschen Politik „bis in den Bereich<br />
des Verbrecherischen hinein” wollte er gerade<br />
noch einräumen, aber „die ewige Vergangenheitsbewältigung<br />
als gesellschaftliche<br />
Dauerbüßeraufgabe” müsse aufhören.<br />
Schließlich seien „Verbrechen nicht nur<br />
von Deutschen begangen” worden. (Die<br />
Zeit, 5.12.1986)<br />
In dasselbe Horn stieß der Vorsitzende<br />
der CDU/CSU-B<strong>und</strong>estagsfraktion Alfred<br />
Dregger. Für den Anführer der „Stahlhelmfraktion”<br />
der Union galt das Motto:<br />
„Es muß endlich Schluß sein mit der uns<br />
von den Siegermächten aufgezwungenen<br />
Geschichtsbetrachtung.” (Der Spiegel<br />
48/1986) Die Deutschen, forderte er,<br />
müssten endlich „normal werden” <strong>und</strong><br />
„aus dem Schatten Hitlers heraustreten”.<br />
Missklang in der Scheinharmonie<br />
Die Ereignisse von 1989/90, der Sieg<br />
des „Westens” im Kalten Krieg, veränderten<br />
die Situation. Durch seine Teilnahme<br />
an den Feierlichkeiten, die 1995 um den<br />
60. Jahrestag des Endes von Krieg <strong>und</strong> Nazi-Herrschaft<br />
in London, Paris <strong>und</strong> Moskau<br />
stattfanden, demonstrierte B<strong>und</strong>eskanzler<br />
Kohl die „Normalität” des vereinigten<br />
Deutschlands. Am 8. Mai 1995 selbst kamen<br />
umgekehrt Vertreter der USA, Großbritanniens,<br />
Frankreichs <strong>und</strong> Russlands<br />
zu einer Gedenkzeremonie nach Berlin.<br />
Die Vergangenheit schien vergangen, der<br />
deutsche Kanzler ein Regierungschef wie<br />
andere auch. Vertreter ehemals besetzter<br />
Länder wie Belgien, Dänemark, Norwegen,<br />
Polen oder Tschechische Republik waren<br />
nicht eingeladen. Im Fokus stand der<br />
gleichberechtigte Schulterschluss mit den<br />
Siegern, nicht das Erinnern an die Leiden<br />
der Opfer.<br />
Einen Missklang in diese Scheinharmonie<br />
brachte die Anzeige, die unter der Überschrift<br />
„8. Mai – Gegen das Vergessen” in<br />
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom<br />
7. <strong>April</strong> 1995 veröffentlicht wurde. Der Anzeigentext<br />
beinhaltete einen Angriff auf die<br />
Allierten <strong>und</strong> Unterzeichner des Potsdamer<br />
Abkommens – auf die nach Berlin geladenen<br />
Gäste also. Er begann mit einem Zitat<br />
von Theodor Heuss aus der Zeit kurz vor<br />
seiner Wahl zum ersten B<strong>und</strong>espräsidenten<br />
der soeben gegründeten BRD: „Im Gr<strong>und</strong>e<br />
genommen bleibt dieser 8. Mai 1945 die<br />
tragischste <strong>und</strong> fragwürdigste Paradoxie<br />
der Geschichte für jeden von uns. Warum<br />
denn? Weil <strong>wir</strong> erlöst <strong>und</strong> vernichtet in<br />
einem gewesen sind”, hatte er in der 10.<br />
Sitzung des Parlamentarischen Rats zur<br />
Verabschiedung des Gr<strong>und</strong>gesetzes am 8.<br />
Mai 1949 gesagt. Die von Heuss beschriebene<br />
Paradoxie, so der Anzeigentext weiter,<br />
werde zunehmend durch eine einseitige<br />
Charakterisierung des 8. Mai als Tag<br />
der Befreiung in den Hintergr<strong>und</strong> gedrängt.<br />
Man dürfe aber nicht vergessen, dass<br />
dieser Tag auch „den Beginn von Vertreibungsterror<br />
<strong>und</strong> neuer Unterdrückung im<br />
Osten <strong>und</strong> den Beginn der Teilung unseres<br />
Landes bedeutete”. Ein „Geschichtsbild,<br />
das diese Wahrheit verschweigt, verdrängt<br />
<strong>und</strong> relativiert”, könne nicht „Gr<strong>und</strong>lage für<br />
das Selbstverständnis einer selbstbewussten<br />
Nation” sein, die notwendig sei, „um<br />
vergleichbare Katastrophen künftig auszuschließen”.<br />
Initiiert war die Anzeige von Wortführern<br />
der Neuen Rechten (Klaus Rainer Röhl, Ulrich<br />
Schacht, Heimo Schwilk <strong>und</strong> Rainer<br />
Zitelmann) mit dem Ziel, die „kulturelle Hegemonie<br />
der Linken” zu brechen, so Rainer<br />
Zitelmann laut Spiegel 18/1995, <strong>und</strong> die<br />
Deutungshoheit über den 8. Mai zurückzugewinnen.<br />
Unter den Unterzeichnern<br />
waren etliche prominente Repräsentanten<br />
der nationalkonservativen Strömungen in<br />
CDU/CSU <strong>und</strong> FDP. Der ehemalige Verteidigungsminister<br />
Apel (SPD) zog seine Unterschrift<br />
zurück, nicht wegen des Inhalts<br />
der Anzeige, sondern wegen der peinlichen<br />
Gesellschaft, in der er sich befand. Alfred<br />
Dregger, mittlerweile Ehrenpräsident der<br />
CDU/CSU-Fraktion, sah keinen Gr<strong>und</strong> zu<br />
einem solchen Schritt. Er sagte lediglich,<br />
auf Intervention des Kanzleramtes, seinen<br />
geplanten Auftritt bei einer Veranstaltung<br />
in München ab, die der Werbung weiterer<br />
Unterzeichner dienen sollte. Berührungsängste<br />
gegenüber rechten Kräften hatte<br />
er nicht: Schon am 25. März 1995 hatte<br />
er bei einer Veranstaltung des Verbands<br />
Deutscher Soldaten in Heilbronn mit einem<br />
Vortrag unter der Überschrift „Der<br />
ganzen Wahrheit ins Auge sehen” für die<br />
Unterzeichnung der Anzeige geworben.<br />
Dieser Verband, unter dessen Dach u.a.<br />
die Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit<br />
der Angehörigen der ehemaligen Waffen-<br />
SS (HIAG) ihr Unwesen trieb, verbreitete so<br />
ungeniert nazistisches Gedankengut, dass<br />
16 <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong>
GESCHICHTE/POLITIK<br />
das Verteidigungsministerium 2004 nicht<br />
umhin konnte, der B<strong>und</strong>eswehr jeglichen<br />
Kontakt zu ihm zu verbieten.<br />
Das Elend der deutschen<br />
Nachkriegsgeschichte<br />
Die Veröffentlichung der Anzeige in der<br />
FAZ liegt zwanzig Jahre zurück, aber immer<br />
noch gilt, was Heribert Prantl in der<br />
Süddeutschen Zeitung vom 11. <strong>April</strong> 1995<br />
darauf antwortete: „Der Streit um den 8.<br />
Mai spiegelt das Elend der deutschen<br />
Nachkriegsgeschichte wider. Die Flucht<br />
vor der Vergangenheit ist noch immer<br />
nicht zu Ende. Zwar gibt es nur noch wenige<br />
Deutsche, die die Verbrechen des<br />
Nazi-Regimes leugnen. Dafür aber gibt es<br />
immer mehr, die neben diese Verbrechen<br />
das Einerseits schreiben <strong>und</strong> dann ein Andererseits<br />
hinzufügen: Einerseits, so heißt<br />
es, endet am 8. Mai 1945 der NS-Terror,<br />
andererseits aber beginnt mit diesem Tag<br />
der Vertreibungsterror. Man tut also so, als<br />
stünde der deutschen Schuld die Schuld<br />
der anderen gegenüber.” Als „seltsame<br />
Aufrechnung” charakterisierte Prantl diese<br />
Haltung. Man dürfe in der Tat nicht die Leiden<br />
vergessen, die für viele Menschen mit<br />
dem 8. Mai 1945 erst begannen. „Man darf<br />
aber auch nicht vergessen, auf wen <strong>und</strong><br />
auf welchen Tag dieses Leid zurückgeht.”<br />
Nicht am 8. Mai 1945 habe die deutsche<br />
Niederlage stattgef<strong>und</strong>en, sondern – wie<br />
auch von Weizsäcker in seiner Rede von<br />
1985 feststellte – am 30. Januar 1933,<br />
dem Tag, an dem Hitler zum Reichskanzler<br />
ernannt wurde.<br />
Das Vertreibungsmuseum, eine Idee<br />
aus der Stahlhelmfraktion<br />
Das Thema „Vertreibungsterror” wurde in<br />
diesen zwanzig Jahren vor allem von Erika<br />
Steinbach bedient. 1991 stimmte die hessische<br />
CDU-Abgeordnete im B<strong>und</strong>estag gegen<br />
die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie<br />
als deutsche Ostgrenze, 1994 trat sie in<br />
Absprache mit ihrem „politischen Leuchtturm”<br />
Alfred Dregger dem B<strong>und</strong> der Vertriebenen<br />
(BdV) bei, 1998 ließ sie sich zur<br />
BdV-Präsidentin wählen, 1999 präsentierte<br />
sie erstmals ihre Idee eines Vertreibungszentrums,<br />
das sie in der Mitte von Berlin, in<br />
Sichtweite des Denkmals für die ermordeten<br />
Juden Europas, errichtet wissen wollte.<br />
Damit sie nicht immer noch mehr außenpolitisches<br />
Porzellan zerschlagen konnte,<br />
wurde ihr das Projekt aus der Hand genommen<br />
<strong>und</strong> unter staatliche Oberaufsicht<br />
gestellt. Sein Zweck aber blieb derselbe:<br />
Anprangerung des „Unrechts”, das den<br />
Deutschen durch<br />
die Umsiedelung<br />
1945/46 angeblich<br />
angetan wurde. Mit<br />
Manfred Kittel wurde<br />
zudem ein Mann<br />
zum Gründungsdirektor<br />
berufen, der<br />
Steinbachs Weltsicht<br />
teilt. Über das<br />
von ihm vorgelegte<br />
Ausstellungskonzept<br />
schrieb der Publizist<br />
Conrad Taler alias<br />
Kurt Nelhiebel in der<br />
Zeitschrift Ossietzky:<br />
„… ungestört von<br />
Schlagzeile der Aachener Nachrichten.<br />
öffentlichem Interesse<br />
(konnte Kittel) ein Konzept entwickeln,<br />
das die Entkopplung von Krieg <strong>und</strong> Vertreibung<br />
zum Ziel hat <strong>und</strong> die Deutschen als<br />
die eigentlich Leidtragenden des Krieges<br />
<strong>und</strong> der Naziherrschaft erscheinen läßt.<br />
Zehn Seiten des Konzepts für die Arbeit der<br />
Stiftung sind der Vertreibung <strong>und</strong> den Gewalttaten<br />
russischer Soldaten gewidmet,<br />
zwei dem deutschen Besatzungsterror in<br />
Mittel- <strong>und</strong> Osteuropa.”<br />
Die Deutung der Umsiedelung<br />
als „ethnische Säuberung”<br />
Manfred Kittel hat sich mittlerweile durch<br />
eigenwilligen Umgang mit historischen<br />
Fakten <strong>und</strong> Eigenmächtigkeit gegenüber<br />
dem Wissenschaftlichen Beirat der Stiftung<br />
Flucht, Vertreibung, Versöhnung<br />
(SFVV), die als Trägerin des Vertreibungszentrums<br />
fungieren soll, ins Abseits manövriert.<br />
Im Dezember 2014 wurde er gefeuert<br />
<strong>und</strong> darf nun, weitab von Berlin, in der<br />
Bayreuther Außenstelle des B<strong>und</strong>esarchivs<br />
Lastenausgleichsakten bearbeiten.<br />
Zum Verteidiger von Kittels Konzeption<br />
hat sich der CSU-Politiker Bernd Posselt gemacht,<br />
B<strong>und</strong>esvorsitzender <strong>und</strong> Sprecher<br />
der Sudetendeutschen Landsmannschaft<br />
(der größten Einzelorganisation unter dem<br />
Dach des BdV). Der Stiftung FVV droht er<br />
mit einem „schweren Akzeptanz-Problem<br />
in Kreisen der Vertriebenen“ für den Fall,<br />
dass die „Vertreibung der Deutschen nach<br />
1945” nun womöglich „einseitig” im Kontext<br />
des Zweiten Weltkrieges dargestellt<br />
werde. Mit Kittel <strong>und</strong> Steinbach hält Posselt<br />
den Zweiten Weltkrieg <strong>und</strong> die NS-Politik<br />
als Ursache der Umsiedelungsmaßnahmen<br />
für relativ unbedeutend. Entscheidend<br />
seien viel frühere Entwicklungen: Im Gefolge<br />
der Französischen Revolution habe<br />
sich ab Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts in ganz<br />
Europa Nationalismus ausgebreitet wie<br />
eine ansteckende Krankheit, <strong>und</strong> mit ihm<br />
die Idealvorstellung ethnisch homogener<br />
Nationalstaaten. Tschechische <strong>und</strong> polnische<br />
Nationalisten hätten seitdem – <strong>und</strong><br />
verstärkt nach der Gründung einer unabhängigen<br />
Tschechoslowakei <strong>und</strong> der Wiederherstellung<br />
eines polnischen Staates<br />
1918/19 – davon geträumt, die Deutschen<br />
zu verjagen. Hitler habe ihnen schließlich<br />
nur einen Vorwand dafür geliefert. Dies<br />
impliziert, dass die Zwangsumsiedelung<br />
1945/46 nicht einer erneuten Instrumentalisierung<br />
deutschstämmiger Minderheiten<br />
für eine deutsche Expansion nach<br />
Osten einen Riegel vorschieben sollte,<br />
sondern eine von zahlreichen „ethnischen<br />
Säuberungen” gewesen sei, die alle von<br />
derselben völkisch-nationalistischen Motivation<br />
getrieben <strong>und</strong> alle gleichermaßen<br />
verbrecherisch gewesen seien.<br />
Auf wie schwachen Füßen diese These<br />
steht, zeigt schon die Unterstellung, ganz<br />
Europa habe sich die sehr deutsche Vorstellung<br />
der Nation als Abstammungsgemeinschaft<br />
zu eigen gemacht, <strong>und</strong> dies<br />
ausgerechnet im Kontext der Französischen<br />
Revolution, deren Konzept der Nation<br />
ausdrücklich ein nicht-völkisches war.<br />
Posselt jedenfalls hält Kittels Ablösung<br />
für „unfair <strong>und</strong> sachlich völlig unbegründet”,<br />
herbeigeführt durch eine „einseitige<br />
ideologische Kampagne”. In der Sudetendeutschen<br />
Zeitung zum Jahresende wurde<br />
die „schon im frühen Streit mit linken<br />
Politikern von FDP <strong>und</strong> PDS gegenwärtige<br />
Sorge” geäußert, „in einer verwässerten<br />
Ausstellung habe sich die Darstellung des<br />
Schicksals von 15 Millionen deutschen<br />
Heimatvertriebenen <strong>und</strong> Deportierten weniger<br />
an der geschichtlichen Wahrheit zu<br />
orientieren, sondern an den Geschichtsbil-<br />
<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />
17
GESCHICHTE/POLITIK<br />
dern einzelner Vertreiberstaaten <strong>und</strong> diesen<br />
gewogener Historiker <strong>und</strong> Politiker”.<br />
Posselt <strong>und</strong> seine CSU haben vorgesorgt:<br />
Das in München geplante Sudetendeutsche<br />
Museum <strong>wir</strong>d zwar vollständig aus<br />
Steuergeldern finanziert, aber allein von<br />
der Sudetendeutschen Stiftung, einer Einrichtung<br />
der Landsmannschaft, betrieben.<br />
Die bisherigen Informationen zur inhaltlichen<br />
Konzeption sind sehr vage gehalten.<br />
Jedenfalls gehört Kittel dem Wissenschaftlichen<br />
Beirat für dieses Museum an.<br />
Steinbachs Abschiedsrede<br />
Seit November 2014 ist Erika Steinbach<br />
nicht mehr Präsidentin des BdV. Einen großen<br />
Teil ihrer Abschiedsrede beim Tag der<br />
Heimat am 30.8.2014 widmete sie dem 8.<br />
Mai. Darin bekennt sie sich ausdrücklich<br />
zu der in der FAZ-Anzeige 1995 beschworenen<br />
Heuss‘schen Paradoxie <strong>und</strong> entwickelt<br />
eine neue Variante des Einerseits/<br />
Andererseits, mit verschärfter antikommunistischer<br />
Ausrichtung. Demzufolge wurde<br />
der Zweite Weltkrieg als Kalter Krieg fortgesetzt,<br />
Deutschland gehört am Ende – bei<br />
der <strong>wir</strong>klichen Befreiung am 9. November<br />
1989 – zu den Siegern, <strong>und</strong> das absolut<br />
Böse ist die Sowjetunion. Man kann‘s im<br />
Internet nachlesen unter http://www.bdvb<strong>und</strong>.de/files/steinbach-tdh-2014.pdf.<br />
Empörung wie noch vor ein paar Jahren<br />
löste Steinbach mit ihrem „national-apologetischen<br />
Geschichtsverständnis” (Urteil<br />
des Historikers Heinrich August Winkler<br />
2009) nicht mehr aus. Mit dem Bau eines<br />
Vertreibungsmuseums in Berlin sowie mit<br />
der Debatte über einen speziellen Gedenktag<br />
für die deutschen Opfer von Flucht,<br />
Vertreibung <strong>und</strong> Deportation, wie er in<br />
Bayern, Hessen <strong>und</strong> Sachsen bereits eingeführt<br />
wurde, haben die Verfechter des<br />
Andererseits die Deutungshoheit über die<br />
Geschichte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts als „Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
der Vertreibungen” ein Stück weit<br />
zurückgewonnen. Das Dogma vom „Unrecht<br />
der Vertreibung” wurde wieder gefestigt,<br />
<strong>und</strong> der BdV, den schon einmal der<br />
Modergeruch des Ewiggestrigen umwehte,<br />
konnte sich zur modernen Menschenrechtsorganisation<br />
stilisieren. Forschungsaufträge<br />
zu der Frage nach den politischen<br />
Motivationen, aus denen die Alliierten die<br />
Umsiedlung der außerhalb der neuen deutschen<br />
Grenzen verbliebenen Deutschen<br />
<strong>und</strong> Deutschstämmigen für notwendig hielten<br />
<strong>und</strong> in Potsdam beschlossen, gelten<br />
weiterhin nicht als dringendes Desiderat.<br />
Die Hoffnung der Befreiten<br />
Plakat <strong>und</strong> Postkarte der VVN-BdA Jozef Oleksy †<br />
Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes<br />
(VVN) wurde 1947 von NS-Verfolgten<br />
<strong>und</strong> Widerstandskämpfer/innen <strong>und</strong><br />
ihren Angehörigen gegründet. Seit 1971<br />
organisiert sie, nunmehr als VVN-B<strong>und</strong> der<br />
Antifaschistinnen <strong>und</strong> Antifaschisten, auch<br />
Angehörige jüngerer Generationen, unabhängig<br />
vom familiären Hintergr<strong>und</strong>. Ihr Plakat<br />
zum 70. Jahrestag der bedingungslosen<br />
Kapitulation des Deutschen Reiches lautet<br />
„8. Mai, Tag der Befreiung – was sonst?!” In<br />
einer Erklärung fordert sie, diesen Tag wie<br />
in vielen anderen Ländern zum nationalen<br />
Feiertag zu machen.<br />
Sie erinnert an die Weizsäcker-Rede von<br />
1985 <strong>und</strong> stellt fest: „Bis dahin hatte die<br />
Sicht der Nazis, der Deutsch-Nationalen,<br />
der ‚Frontkämpfer‘, der Profiteure <strong>und</strong><br />
Mitläufer das offizielle Vokabular geprägt:<br />
Zusammenbruch, Kapitulation, Besatzer.<br />
Mit Weizsäckers Rede wurde die Perspektive<br />
der Verfolgten des Nazi-Regimes<br />
ˏgesellschaftsfähig‘.“ Angesichts vielfältiger<br />
Bedrohungen der Demokratie, angesichts<br />
des rasanten Aufstiegs neofaschistischer<br />
<strong>und</strong> rechtspopulistischer Kräfte in<br />
nahezu allen europäischen Ländern, angesichts<br />
der „Bereitschaft, ˏdeutsche Interessen‘<br />
gegen den Willen der Mehrheit<br />
der Bevölkerung erneut mit militärischen<br />
Mitteln durchzusetzen”, will die VVN-BdA<br />
am 8. Mai „vor allem an die Hoffnung der<br />
Befreiten auf eine Welt ohne Kriege, Elend<br />
<strong>und</strong> Unterdrückung erinnern <strong>und</strong> diese als<br />
Impuls nehmen, weiter an der Schaffung<br />
einer neuen Welt des Friedens <strong>und</strong> der<br />
Freiheit zu arbeiten, so wie es die befreiten<br />
Häftlinge von Buchenwald geschworen haben”.<br />
<br />
Als „Meister des roten Charmes“ bezeichneten<br />
ihn polnische Journalisten <strong>und</strong><br />
das deutschsprachige Internetportal RA-<br />
DIOdienst Polska begann seinen Nachruf<br />
mit: Er kam stets wohlgenährt, jovial, gut<br />
gelaunt daher, umgeben von der Aura eines<br />
herzensguten Lebemannes. Der sympathische<br />
Genussmensch Józef Oleksy verkörperte<br />
geradezu perfekt die chamäleonhafte<br />
Fähigkeit vieler einstiger kommunistischer<br />
Apparatschiks, sich der neuen Umgebung<br />
anzupassen. Schelmisch mit den Augen<br />
zwinkernd behauptete er sogar, selbst ein<br />
Opfer des Kommunismus zu sein.<br />
1946 in Nowy Sącz geboren, besuchte er<br />
ein Knabenseminar für Jungen, die Priester<br />
werden sollten. Später studierte er an der<br />
elitären Fakultät für Außenhandel. 1969<br />
trat er in die PVAP ein, arbeitete später<br />
beim Studentenverband, ab 1977 im ZK<br />
der PVAP. Zusammen mit Leszek Miller,<br />
Włodzimierz Cimoszewicz <strong>und</strong> Aleksander<br />
Kwaśniewski verwandelte Oleksy die ausgediente<br />
polnische Partei Anfang 1990<br />
in eine „Sozialdemokratie“. 1993 wurde<br />
Oleksy Parlamentspräsident, 1995 gar<br />
Regierungschef. Doch nach wenigen Monaten<br />
musste er wegen Spionagevorwürfen<br />
zurücktreten, trat sogar 2007 aus der<br />
Partei aus, um einem Ausschlussverfahren<br />
zuvorzukommen, obwohl kurz darauf das<br />
Ermittlungsverfahren gegen ihn eingestellt<br />
wurde. Seit dieser Zeit verlor die SLD zunehmend<br />
an Akzeptanz in der Öffentlichkeit.<br />
2010 trat Oleksy der Partei wieder bei<br />
<strong>und</strong> war seit 2012 bis zu seinem Tod am 9.<br />
Januar <strong>2015</strong> stellvertrender Vorsitzender<br />
der SLD.<br />
<br />
18 <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong>
BÜCHER<br />
Antipolnische Maßnahmen staatlicher Institutionen<br />
Wir Unsichtbaren<br />
Geschichte der Polen in Deutschland<br />
Von Wulf Schade<br />
Dies ist der Titel eines Buches über die<br />
„Geschichte der Polen in Deutschland“, geschrieben<br />
vom stellvertretenden Leiter des<br />
Deutschen Polen Instituts in Darmstadt<br />
Oliver Loew. Es ist nach eigenen Aussagen<br />
eine Überblicksdarstellung. Sie stützt<br />
sich auf die bisher vorliegende, meist<br />
streng an ethnischen Grenzen orientierte<br />
Forschungsliteratur. So ist es denn ein<br />
konventionelles Geschichtsbuch, wer sich<br />
auch eine kritische Distanz erwartet hat,<br />
<strong>wir</strong>d enttäuscht. Immerhin widerspricht es<br />
der im politischen Raum auch heute noch<br />
gerne geäußerten These über die gelungene<br />
Integration, nicht zuletzt der ruhrpolnischen<br />
Bevölkerung.<br />
In gewissem Maße erfüllt das Buch sein<br />
gestecktes Ziel. Dem Leser <strong>und</strong> der Leserin<br />
<strong>wir</strong>d auf etwa 280 Seiten in chronologischer<br />
Reihenfolge dargestellt, dass sich<br />
seit ca. 1100 Jahren Polen in von Deutschen<br />
beherrschten Gebieten aufgehalten<br />
haben. Unter Polen versteht Loew alle polnischsprachigen<br />
Menschen, also die Polinnen<br />
wie Masuren, die Schlesier wie auch<br />
Kaschubinnen.<br />
Loew erzählt die Geschichte allerdings<br />
höchst unterschiedlich. Soweit es sich<br />
um die der polnischen Herrschaftsschichten<br />
aus Politik, Wirtschaft <strong>und</strong> Kultur <strong>und</strong><br />
deren Kontakte mit den entsprechenden<br />
deutschen Herrschaftsschichten handelt,<br />
werden die engen Beziehungen <strong>und</strong> die<br />
gegenseitige Beeinflussung eindrücklich<br />
beschrieben. Wenn es aber um die Arbeitsmigration,<br />
d. h. die h<strong>und</strong>erttausenden migrierenden<br />
polnischsprachigen Menschen<br />
zur Arbeit in die Land<strong>wir</strong>tschaft oder die<br />
<strong>wir</strong>tschaftlichen Zentren im Westen des<br />
jeweiligen Deutschlands geht, werden die<br />
Beziehungen zur angestammten deutschen<br />
Bevölkerung nur gestreift, als hätte es nur<br />
am Rande Gemeinsamkeiten gegeben. Es<br />
<strong>wir</strong>d somit die weit verbreitete Meinung<br />
konserviert, als handele es sich bei der polnischsprachigen<br />
Arbeitsmigration um eine<br />
sich selbst von der angestammten deutschen<br />
Bevölkerung isolierende homogene<br />
Masse. Verstärkt <strong>wir</strong>d dieser Eindruck<br />
noch dadurch, dass die Arbeitsmigration<br />
im Gegensatz zur Darstellung der adeligen<br />
<strong>und</strong> anderen Herrschaftsschichten keine<br />
Individualisierung durch unterschiedliche<br />
Persönlichkeiten erfährt.<br />
Die die lokalen Räume untersuchende<br />
Mikroforschung zur Bevölkerung in Grenzräumen<br />
<strong>und</strong> zur Arbeitsmigration wie auch<br />
die zur Konstruktion von Nationalitäten<br />
hat aber deutlich gezeigt, dass diese Menschengruppen<br />
weder politisch-ideologisch<br />
einheitlich noch national-homogen sind.<br />
Dass Loew diese Forschung bekannt ist,<br />
zeigt er bei seiner Darstellung über die<br />
Geschichte der polnischsprachigen Bevölkerung<br />
in Schlesien, die denn auch zu<br />
den stärksten Teilen des Buches gehört.<br />
Eine 'die Masse' differenzierende Darstellung<br />
ist aber nicht nur aus Sicht der historischen<br />
'Wahrheit' bedeutsam, sondern<br />
auch aus aktuellen Gesichtspunkten. Die in<br />
der angestammten deutschen Bevölkerung<br />
weit verbreitete Ansicht über die polnische<br />
Arbeitsmigration als graue, katholisch<br />
konservative Masse, die sich selbst auf<br />
nationalistischer Gr<strong>und</strong>lage isolierte, zum<br />
Streikbruch <strong>und</strong> zur Lohndrückerei bereit<br />
war, <strong>wir</strong>d erhalten <strong>und</strong> durch Übertragung<br />
auf die heutige Zeit leicht mobilisierbar.<br />
Dass das keine theoretische Diskussion<br />
ist, zeigte sich 2005, als Polen der EU beitrat.<br />
Horrormeldungen in den Medien der<br />
gesellschaftlichen Mitte überschlugen sich<br />
über die angeblich auf gepackten Koffern<br />
sitzenden polnischen Arbeiter, die unseren<br />
Arbeitsmarkt überschwemmen <strong>und</strong> unsere<br />
Sozialstandarts untergraben werden.<br />
Die negative Sichtweise auf die polnischsprachigen<br />
Menschen <strong>wir</strong>d auch durch den<br />
Titel des Buches „Wir Unsichtbaren“ verstärkt.<br />
Diese Beschreibung der polnischsprachigen<br />
Migration trifft abgesehen von<br />
der Nazi-Zeit eigentlich nur auf die Zeit<br />
von Mitte der 1950er bis Ende der 1990er<br />
Jahre <strong>und</strong> dann wieder um die Jahre 2005<br />
bzw. 2011 zu, als der EU Beitritt Polens<br />
sowie die völlige Freizügigkeit der Arbeitskräfte<br />
aus Polen in Kraft traten. In allen<br />
anderen Zeiten konnten die polnischsprachigen<br />
Menschen offen mit ihrer Sprache<br />
<strong>und</strong> Kultur leben oder sie erkämpften sich<br />
dieses Recht offensiv, was v. a. für die Zeit<br />
der Germanisierungspolitik des Deutschen<br />
Reiches im 19. <strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert galt.<br />
Unsichtbar trotz realer Existenz verhält<br />
man sich aber, wenn man entweder in<br />
seiner Umgebung wegen seiner Herkunft<br />
nicht gelitten ist <strong>und</strong> deshalb Angst hat<br />
oder weil man sich versteckt, um seine<br />
Umgebung zu hintergehen. Loew weist<br />
zwar darauf hin, dass es auch nach dem<br />
2. Weltkrieg nicht immer leicht war, als<br />
polnischsprachiger Mensch in der B<strong>und</strong>esrepublik<br />
zu leben, eine durchgängige antipolnische<br />
Politik der staatlichen Institutionen<br />
vermag er aber nur für die Kaiserzeit<br />
im 19. <strong>und</strong> angehenden 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
zu erkennen. Die in der Weimarer Republik<br />
wie der BRD bis weit in die 1990er Jahre<br />
reichenden politischen <strong>und</strong> administrativen<br />
antipolnischen Maßnahmen staatlicher<br />
Institutionen, werden nicht als rassistische<br />
Maßnahmen sondern bezüglich der BRD<br />
nebulös als „deutschtümelnde Politik der<br />
regierenden Christdemokraten“ bezeichnet.<br />
So finden beispielsweise die bis heute<br />
gültige Verweigerung der Entschädigung<br />
für die 'deutschen' polnischen KZ-Insassen<br />
bzw. -Insassinnen wie auch die jahrzehntelang<br />
geübte Praxis, den Eintrag polnischer<br />
Personen- wie auch Städtenamen in deutsche<br />
amtliche Papiere zu verweigern oder<br />
die in einigen B<strong>und</strong>esländern bis heute<br />
praktizierte Weigerung, die Pflege der polnischen<br />
Kultur <strong>und</strong> Sprache durch staatliche<br />
Förderung materiell zu unterstützen,<br />
nahezu gar keine Erwähnung. Sicherlich<br />
unbeabsichtigt von Loew bleibt also die andere<br />
Sicht übrig: man versteckt sich, weil<br />
man unlautere Absichten hat .... <br />
Peter Oliver Loew, Wir Unsichtbaren, Geschichte<br />
der Polen in Deutschland, Verlag<br />
C. H. Beck, München 2014, ISBN 978 3 406<br />
66708 4, 18,95 €<br />
<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />
19
BÜCHER<br />
Das aktuelle Buch Kurt Pätzolds<br />
Basiswissen über den II. Weltkrieg<br />
Von Friedrich Leidinger<br />
Einen Überblick angesichts der unübersehbaren<br />
Fülle von Publikationen – seien<br />
es große, enzyklopädische Erzählungen<br />
oder Einzeldarstellungen - zu geben ist<br />
das explizite Anliegen dieses schmalen<br />
Bandes. Für seinen Autor, Kurt Pätzold,<br />
ausgewiesener Experte zur Geschichte<br />
des deutschen Faschismus <strong>und</strong> des von<br />
Deutschland geplanten <strong>und</strong> ausgelösten<br />
Zweiten Weltkrieges <strong>und</strong> einer der führenden<br />
Wissenschaftler in der ehemaligen<br />
DDR, war der damit verb<strong>und</strong>ene Zwang zur<br />
Reduktion eine überzeugend gelöste Herausforderung.<br />
Die hauptsächliche Erzählebene bildet<br />
der Verlauf der militärischen Ereignisse,<br />
denen <strong>wir</strong> gleichsam wie einem zu einem<br />
Knäuel verschlungenen Faden in siebzehn<br />
Kapiteln vom „1. September 1939“<br />
bis zur „Sehnsucht nach Frieden“ zu den<br />
verschiedenen Schauplätzen <strong>und</strong> über einen<br />
Zeitraum von sechs Jahren folgen. In<br />
knappen Worten, die seine eigene moralische<br />
Position nie in Frage stehen lassen,<br />
beschreibt der Autor aus Sicht der Deutschen<br />
die Logik der ihren Planern zunehmend<br />
entgleitenden Kriegsführung, die gescheiterte<br />
Strategie <strong>und</strong> die geographische<br />
Ausweitung der deutschen Aggression, bis<br />
Ende 1941 schließlich 38 Staaten auf allen<br />
Kontinenten der Erde am Krieg beteiligt<br />
sind. Wenn nach den ersten Rückschlägen<br />
sich einige Befehlshaber wegen der frühzeitig<br />
absehbaren Niederlage durch Demission,<br />
wie zum Beispiel Admiral Raeder,<br />
oder durch Suizid, wie das Fliegeridol Ernst<br />
Udet, aus der Verantwortung schlichen, so<br />
verstiegen sich die ihrem Feldherrn Hitler<br />
treu ergebenen Generäle mit zunehmender<br />
Aussichtslosigkeit in immer phantastischere,<br />
<strong>wir</strong>re Ideen. Niemand aus der Führung<br />
war bereit, das Scheitern einzugestehen.<br />
Auf einer weiteren Ebene skizziert Pätzold<br />
die politischen Entwicklungen <strong>und</strong><br />
Allianzen der am Krieg beteiligten Staaten.<br />
Breiteren Raum widmet er der Beschreibung<br />
des Alltags der Deutschen, die in<br />
diesen Krieg – anders als 25 Jahre zuvor<br />
– mehrheitlich ohne Begeisterung zogen,<br />
doch abgesehen von einer kaum zählbaren<br />
Minderheit zu keinem nennenswerten<br />
Widerstand in der Lage waren, <strong>und</strong>, ohne<br />
selbst Fanatiker zu sein, den fanatischen<br />
Durchhalteparolen des Propagandaapparates<br />
willig folgten <strong>und</strong> selbst im Angesicht<br />
der Niederlage den Kampf noch<br />
fortsetzten. Bis zuletzt funktionierte der<br />
militärische Einsatz gegen die Befreier, bis<br />
zuletzt funktionierten Rüstungsproduktion<br />
<strong>und</strong> andere kriegswichtige Industrie, funktionierten<br />
Verkehr <strong>und</strong> Alltag, Schule <strong>und</strong><br />
Unterhaltung. Dabei kann sich Pätzold, der<br />
den Krieg als Teenager erlebt hat, auch auf<br />
persönliche Erinnerung stützen.<br />
In seiner sachlichen Schilderung des<br />
Terrors von Wehrmacht <strong>und</strong> Polizei in den<br />
besetzten Ländern Europas tritt die Rationalität<br />
der auf totale Herrschaft <strong>und</strong> rücksichtslose<br />
Machtausübung abzielenden<br />
deutschen Politik hervor. Mehr noch als<br />
militärische Kampfeinsätze haben die erbarmungslose<br />
Grausamkeit des deutschen<br />
Besatzungsregimes, die Massenexekutionen,<br />
Raub <strong>und</strong> Ausplünderung der Lebensgr<strong>und</strong>lagen<br />
der Zivilbevölkerung in den<br />
eroberten Ländern das Bild der Deutschen<br />
für Generationen geprägt.<br />
Ein Abschnitt schildert die schrittweise<br />
Radikalisierung des antijüdischen Terrors<br />
des deutschen Regimes, bis nach dem Einfall<br />
in die Sowjetunion die systematische<br />
Ermordung der jüdischen Bevölkerung im<br />
deutschen Machtbereich als reale Möglichkeit<br />
aufschien. Die Instrumente der<br />
„Endlösung“ waren Massenerschießungen<br />
durch Sonderkommandos, Deportation<br />
<strong>und</strong> Aushungern in Ghettos <strong>und</strong> Lagern,<br />
Vernichtung durch Arbeit <strong>und</strong> der Mord in<br />
der Gaskammer.<br />
Der scheinbar unaufhaltsame Vormarsch<br />
der Deutschen wurde vor Moskau gestoppt,<br />
die Soldaten der Roten Armee<br />
schlugen mit unbeugsamem Mut die Wehrmacht<br />
bis nach Berlin zurück. Im Bündnis<br />
mit Großbritannien <strong>und</strong> den USA trug die<br />
Sowjetunion die Hauptlast bei der Befreiung<br />
Europas. Obwohl viele sowjetische Offiziere<br />
dem stalinistischen Terror der dreißiger<br />
Jahre zum Opfer gefallen waren, war<br />
die Rote Armee den Deutschen an Strategie<br />
<strong>und</strong> nach der Wende von Stalingrad<br />
auch an Feuerkraft überlegen.<br />
Auch wenn zwischen der Kriegsführung<br />
des Deutschen Reiches in Europa <strong>und</strong><br />
Nordafrika <strong>und</strong> der Kriegsführung Japans<br />
in Ostasien <strong>und</strong> Ozeanien keine Abstimmung<br />
existierte, zeigt der Autor, wie beide<br />
Mächte in ihrem Expansionsdrang als strategisch<br />
Verbündete handelten. Nach dem<br />
Sieg der Anti-Hitler-Koalition ging der Krieg<br />
im Pazifik noch Monate weiter. Während<br />
die Sieger in Europa sich an die Wiederherstellung<br />
der staatlichen Ordnung <strong>und</strong><br />
an die Bestrafung der verantwortlichen<br />
Kriegstreiber machten, markierte das<br />
Kriegsende in Asien für viele Länder das<br />
Ende der kolonialen Fremdherrschaft <strong>und</strong><br />
den Sieg der chinesischen Revolution.<br />
Das Buch endet mit einem Überblick über<br />
die vielfältigen Bemühungen, als Konsequenz<br />
aus dem Krieg <strong>und</strong> seinen Folgen<br />
ein internationales System der Friedenssicherung<br />
<strong>und</strong> des Ausgleichs zu schaffen:<br />
die Gründung der Vereinten Nationen <strong>und</strong><br />
weiterer internationaler Organisationen,<br />
die Abrüstungs- <strong>und</strong> Friedensinitiativen<br />
<strong>und</strong> die – wenn auch halbherzige <strong>und</strong> lückenhafte<br />
– Entschädigung für Überlebende<br />
der faschistischen Verbrechen. Last but<br />
not least gehört auch eine kritische, der<br />
Aufklärung verpflichtete Geschichtswissenschaft<br />
zu den Folgen des Krieges, die<br />
gerade in den letzten Jahren eines wiederauflebenden<br />
Antikommunismus <strong>und</strong> Nationalismus<br />
in verschiedenen europäischen<br />
Ländern wieder gefährdet ist. Sollte dieses<br />
Buch seine Leser animieren, weiterzulesen<br />
<strong>und</strong> sich auf das eine oder andere Thema<br />
tiefer einzulassen, es hätte - mit den Worten<br />
des Autors - den ihm zugedachten Nutzen<br />
be<strong>wir</strong>kt.<br />
<br />
Kurt Pätzold: Zweiter Weltkrieg. Basiswissen.<br />
Papyrossa-Verlag Köln. 2014. 143 Seiten,<br />
broschiert. ISBN-13: 978-3894385583<br />
Preis: 9.90 €<br />
20 <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong>
Aufklärung gegen einseitige Berichterstattung<br />
Ukraine am Rande des Abgr<strong>und</strong>es<br />
Neue Bücher mit Fakten <strong>und</strong> Analysen zum Bürgerkrieg in der Ukraine<br />
Von Friedrich Leidinger<br />
Bis 1945 gehörte der Westen der Ukraine zur polnischen Republik, viele polnische<br />
Bürger haben in L’viv (polnisch Lwów) oder Drohobyč (polnisch Drogobycz) ihre<br />
familiären Wurzeln. Noch bis 1946 kämpften polnische <strong>und</strong> sowjetische Sicherheitskräfte<br />
gemeinsam ukrainische Insurgenten nieder, die Namen ihrer Anführer,<br />
in Polen als Schlächter der polnischen Zivilbevölkerung in Wolhynien während des<br />
Rückzugs der deutschen Besatzung berüchtigt, gehören 70 Jahre später zu den<br />
Idolen des Majdan. Aleksander Kwaśniewski bemühte sich während seiner Präsidentschaft<br />
intensiv um eine Normalisierung der polnisch-ukrainischen Beziehungen.<br />
Die Krise in der Ukraine <strong>und</strong> den ukrainisch-russischen Konflikt verfolgen die<br />
Menschen in Polen daher mit besonderer Anteilnahme.<br />
Wessen Bedürfnis nach Hintergr<strong>und</strong>informationen<br />
zur Ukraine-Krise in diesen<br />
Tagen über die Zigarettenkippe des Kiewer<br />
ARD-Korrespondenten hinausgeht, dem<br />
seien zwei aktuelle Bucherscheinungen<br />
mit Fakten <strong>und</strong> Analysen empfohlen. Da<br />
ist zunächst ein Band mit Aufsätzen verschiedener<br />
Autoren, die eher dem linken<br />
politischen Spektrum zuzuordnen sind.<br />
Der Herausgeber, der Kasseler Politikwissenschaftler<br />
<strong>und</strong> Sprecher des „B<strong>und</strong>esausschusses<br />
Friedensratschlag“, Peter<br />
Strutynski, weist einleitend auf die intensive<br />
<strong>und</strong> zugleich mehrdeutige Rolle der<br />
deutschen Außenpolitik in diesem Konflikt<br />
hin, der vordergründig eine innere Sache<br />
der Ukraine zu sein scheint, auf dessen Dynamik<br />
eine Reihe weiterer Interessen <strong>und</strong><br />
Konflikte ein<strong>wir</strong>ken. Deutschland ist seit<br />
Jahren aktiv um politischen Einfluss in Ost<strong>und</strong><br />
Südosteuropa bemüht <strong>und</strong> zieht aus<br />
der EU-Osterweiterung den größten <strong>wir</strong>tschaftlichen<br />
Nutzen. Im innerukrainischen<br />
Machtkampf hat die B<strong>und</strong>esregierung sehr<br />
früh die aus dem Majdan-Aufstand hervorgegangene<br />
Regierung unterstützt, ohne an<br />
deren Zustandekommen <strong>und</strong> Unterstützung<br />
durch offen faschistische Gruppen<br />
Anstoß zu nehmen. Damit kommt Deutschland<br />
aber auch in einen Interessengegensatz<br />
zu Russland, mit dem es andererseits<br />
aus energiepolitischen <strong>und</strong> <strong>wir</strong>tschaftlichen<br />
Gründen an stabilen <strong>und</strong> spannungsfreien<br />
Beziehungen interessiert ist. Als<br />
Verbündeter der USA unterstützt die BRD<br />
schließlich die antirussische Politik, die<br />
gerade unter Obama eine bedeutende Verschärfung<br />
erfahren hat.<br />
Handelt es sich um die Rückkehr eines<br />
Kalten Krieges? Die Metapher ist wohl<br />
eher irreführend. Dieser bezeichnete den<br />
Ost-West-Gegensatz auf der Basis zweier<br />
hochgerüsteter, allerdings balancierter<br />
Bündnisse. Davon geblieben sind heute lediglich<br />
die Atombewaffnung Russlands <strong>und</strong><br />
der Ost-West-Konflikt trotz kapitalistischer<br />
Verhältnisse. Indessen ist das östliche<br />
Bündnis mit dem Scheitern des staatlichen<br />
Sozialismus zerbrochen <strong>und</strong> die NATO wesentlich<br />
an Russland herangerückt. Die<br />
NATO wiederum hält mit Ausnahme Russlands<br />
die konkurrierenden europäischen<br />
Mächte <strong>und</strong> die USA (sowie Kanada) in einem<br />
Bündnis zusammen. Und welche Rolle<br />
die neuen Global Player China oder Indien<br />
einnehmen werden, ist noch völlig unklar.<br />
Ohne Zweifel hat die EU in der Ukraine-<br />
Krise eine fatale Rolle als Brandbeschleuniger<br />
gespielt. Durch ihre Verhandlungsführung<br />
über das Assoziierungsabkommen<br />
hat sie eine Lage geschaffen, in der die<br />
BÜCHER<br />
Janukowitsch-Regierung sich für die EU<br />
<strong>und</strong> gegen Russland entscheiden sollte,<br />
ohne Rücksicht auf die engen <strong>wir</strong>tschaftlichen<br />
<strong>und</strong> politischen Verflechtungen der<br />
Ukraine mit Russland <strong>und</strong> obwohl, wie der<br />
ehemalige Kommissar für die EU-Osterweiterung,<br />
Günther Verheugen, in verschiedenen<br />
Interviews erklärte, Russland in<br />
dieser Angelegenheit keinen besonderen<br />
Druck ausübte. Die schärfste Kritik an der<br />
westlichen Politik kam ausgerechnet von<br />
Persönlichkeiten wie Helmut Schmidt, der<br />
– man hat es fast vergessen – 1979 den<br />
NATO-Nachrüstungsbeschluss gegen die<br />
Sowjetunion durchgesetzt hat, <strong>und</strong> Horst<br />
Teltschik, Industriemanager, ehemaliger<br />
Sicherheitsberater eines B<strong>und</strong>eskanzlers<br />
Kohl <strong>und</strong> von 1999-2008 Leiter der Münchner<br />
Sicherheitskonferenz. Dagegen sehen<br />
führende Vertreter des „grünen“ parteienmäßig<br />
organisierten Pazifismus in der<br />
Kriegspropaganda der ukrainischen Regierung<br />
das Wirken demokratischer Kräfte<br />
<strong>und</strong> wollen – wie z.B. Marieluise Beck<br />
– einen Krieg – natürlich nur zur Verteidigung<br />
der Opfer vor dem Aggressor, den sie<br />
ebenso wie jene eindeutig jeweils auf einer<br />
Seite erkannt zu haben glaubt – nicht mehr<br />
ausschließen.<br />
Dem Mitgefühl für die Opfer tun Fakten<br />
<strong>und</strong> Analysen keinen Abbruch. Davon liefert<br />
das Buch eine Menge, <strong>und</strong> damit bietet<br />
es Aufklärung, die angesichts der selbst<br />
vom ARD-Fernsehrat gerügten einseitigen<br />
Berichterstattung in den Leitmedien durch<br />
„Euromaidan“ in Kiew am 21. Februar nach dem das Friedensabkommen unterzeichnet wurde, das<br />
kurz danach überholt war.<br />
Foto: Wikipedia<br />
<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />
21
BÜCHER<br />
Journalisten, die sich gewöhnlich im Dunstkreis<br />
der Mächtigen wohlfühlen, eine so<br />
rare wie wertvolle Münze ist.<br />
Das Buch beginnt mit einer Reportage<br />
vom „Euromajdan“, dem Ort, der bereits<br />
2004 Schauplatz der „orangenen Revolution“<br />
gewesen war. Ende 2013 hatte das<br />
Lavieren Janukowitsch’ zwischen Brüssel<br />
<strong>und</strong> Moskau ein Ende. Seine Unternehmerfre<strong>und</strong>e<br />
hatten ihm die Gefahr für die<br />
von russischen Subventionen abhängige<br />
ukrainische Wirtschaft deutlich gemacht,<br />
die nach einer Unterschrift unter das seit<br />
einem Jahr auf Betreiben von EU-Politikern<br />
suspendierte Abkommen drohten.<br />
Der <strong>wir</strong>tschaftlichen Katastrophe standen<br />
phantastische Erwartungen der Bevölkerung<br />
an Hilfe aus dem Westen gegenüber.<br />
Die Entscheidung des Präsidenten<br />
– zunächst noch getragen von seiner Parlamentsmehrheit<br />
– trieb viele enttäuschte<br />
Bürger auf die Straße <strong>und</strong> leitete das Ende<br />
seiner Macht ein.<br />
Es blieb nicht bei spontanen Demonstrationen.<br />
Westliche politische Stiftungen<br />
haben seit Jahren intensive Landschaftspflege<br />
betrieben, wovon Daniela Dahn in<br />
ihrer Analyse berichtet. Allein die CIA gibt<br />
seit 1990 Jahr für Jahr bis zu 200 Millionen<br />
Dollar in der Ukraine aus. Die Demonstranten<br />
hatten von Anfang an die offene<br />
Unterstützung hochrangiger Politiker aus<br />
USA, Deutschland, Polen <strong>und</strong> anderen EU-<br />
Ländern, als sie Janukowitsch’ Rücktritt<br />
forderten. Diese nahmen auch keinen Anstoß<br />
daran, dass von Anfang an unter den<br />
Demonstranten die gut organisierten Gruppen<br />
des „rechten Sektors“ agierten, die in<br />
der Tradition der faschistischen „Organisation<br />
Ukrainischer Nationalisten“ (OUN) stehen<br />
<strong>und</strong> schließlich entscheidend Einfluss<br />
auf die Entwicklung nahmen. Die politische<br />
Krise verschärfte sich, bis am 20. Februar<br />
2014 Dutzende Tote auf dem Platz lagen.<br />
Wer geschossen hat, wer die Verantwortung<br />
für die am Ende mehr als h<strong>und</strong>ert Opfer,<br />
darunter zahlreiche von Scharfschützen<br />
getötete Polizisten, trägt, ist bis heute<br />
unklar <strong>und</strong> <strong>wir</strong>d wahrscheinlich auch nie<br />
vollständig aufgeklärt werden. Als Janukowitsch<br />
auch noch durch Überläufer seiner<br />
Partei den Rückhalt im Parlament verlor,<br />
war der Regime Change perfekt.<br />
„Annexion der Krim“<br />
Die in deutschen Medien meistens so bezeichnete<br />
„Annexion der Krim“ behandelt<br />
der linke Publizist Willi Gerns (Marxistische<br />
Blätter). Er beleuchtet die historische <strong>und</strong><br />
kulturelle Verbindung der Krim mit Russland<br />
<strong>und</strong> die Ursachen für die Sezession<br />
der dortigen Bevölkerung vom ukrainischen<br />
Staatsverband, auch wenn er deren<br />
problematische Umstände anerkennt. Der<br />
Völkerrechtler Norman Paech analysiert<br />
die Rückkehr der Krim zu Russland unter<br />
dem Aspekt des internationalen Rechts.<br />
Zweifellos entsprach die Sezession dem<br />
Willen der Mehrheit der Bevölkerung der<br />
Krim, allerdings hatte Russland die Zugehörigkeit<br />
der Krim zum ukrainischen<br />
Staatsgebiet formell anerkannt, sodass<br />
schon die Durchführung der Volksabstimmung<br />
nicht nur aus ukrainischer sondern<br />
auch aus internationaler Sicht illegal war.<br />
Paech verweist auf die Haltung Russlands<br />
zur Unabhängigkeitserklärung Tschetscheniens<br />
1995. Auch hatte Russland 2008<br />
im Falle des Kosovo der Auffassung des<br />
Internationalen Gerichtshofs in Den Haag<br />
ausdrücklich widersprochen, der meinte,<br />
das Völkerrecht verbiete keine (einseitige)<br />
Unabhängigkeitserklärung. Dies unterstreiche,<br />
wie wichtig die Einhaltung rechtlicher<br />
Normen sei. Eine Rückabwicklung der<br />
Eingliederung der Krim in den russischen<br />
Staatsverband hält Paech dennoch für ausgeschlossen.<br />
Bis die Ukraine wie die internationale<br />
Gemeinschaft die Fakten akzeptieren<br />
werden, werde es allerdings noch<br />
eine längere Phase von Spannungen <strong>und</strong><br />
schwieriger praktischer Probleme geben.<br />
Ulrich Schneider, Historiker <strong>und</strong> B<strong>und</strong>essprecher<br />
der VVN-BdA geht den Ursprüngen<br />
der starken rechten Gruppierungen<br />
auf den Gr<strong>und</strong>. Die Partei „Swoboda“<br />
sieht sich in der politischen Tradition der<br />
faschistischen OUN, die während der deutschen<br />
Besatzung Freiwillige für die SS-Division<br />
„Galizien“ rekrutierte. Die UPA, der<br />
militärische Arm des Bandera-Flügels der<br />
OUN, ermordete 1941-43 in Wolhynien<br />
über 90.000 polnische Zivilisten. Stepan<br />
Bandera, ein ukrainischer Nationalist, der<br />
wegen der Ermordung des polnischen Innenministers<br />
seit 1934 in Haft saß, kam<br />
im September 1939 frei <strong>und</strong> diente sich<br />
den Deutschen als bezahlter Spitzel an. Ob<br />
Bandera an den Massakern an Juden <strong>und</strong><br />
Kommunisten in Lemberg kurz vor dem<br />
deutschen Überfall auf die Sowjetunion<br />
beteiligt war, ist umstritten. Später geriet<br />
er in Konflikt mit seinen deutschen Meistern<br />
<strong>und</strong> wurde in Sachsenhausen inhaftiert.<br />
Er starb 1959 in München an einem<br />
Attentat. In der unabhängigen Ukraine entstand<br />
rasch ein Heldenkult um Bandera.<br />
Nicht nur in der Kiewer Regierung, sondern<br />
auch in lokalen Gremien hat Swoboda einen<br />
wachsenden Einfluss <strong>und</strong> fördert u.a.<br />
einen geradezu obszönen Geschichtsrevisionismus.<br />
So wurde z.B. in L’viv (Lemberg)<br />
die Feier des Sieges über den Faschismus<br />
am 8. <strong>und</strong> 9. Mai zum „Tag der Trauer <strong>und</strong><br />
des Gedenkens der Opfer des Totalitarismus<br />
<strong>und</strong> des Krieges“ umfunktioniert.<br />
Swoboda-Politiker schüren eine regelrechte<br />
antisemitische <strong>und</strong> antirussische Hetze.<br />
Eine wichtige Rolle spielt zudem die Allianz<br />
der politischen Rechten mit Hooligans, ein<br />
auch in der BRD seit den Kölner Hooligan-<br />
Krawallen vom Januar <strong>2015</strong> stärker beachtetes<br />
Phänomen.<br />
„Revolutionen“ unter kräftiger Mit<strong>wir</strong>kung<br />
westlicher Stiftungen haben in Georgien<br />
(2003 „Rosen“), Kirgistan (2005<br />
„Tulpen“) <strong>und</strong> 2004 auch in der Ukraine<br />
(„orangene“) Regimes an die Macht gebracht,<br />
die die nachfolgenden Wahlen nicht<br />
überstanden haben. Dennoch scheinen sie<br />
vielen im Westen als probates Mittel der<br />
Einflussnahme zu gelten. Die Motive dieser<br />
Einflussnahme <strong>und</strong> ihre Ziele beschreibt<br />
u.a. Erhard Crome, ehemaliger Mitarbeiter<br />
des Instituts für Internationale Beziehungen<br />
der DDR. In einem eigenen Kapitel<br />
stellt Lühr Henken vom Friedensratschlag<br />
einiges zur aktuellen Rüstungspolitik der<br />
NATO auf der einen, <strong>und</strong> Russlands auf der<br />
anderen Seite richtig.<br />
Im letzten Teil des Buches untersuchen<br />
Arno Klönne, Eckart Spoo <strong>und</strong> weitere Autoren<br />
das skandalöse Versagen deutscher<br />
Medien <strong>und</strong> von Teilen der – man muss<br />
schon sagen: ehemaligen – Friedensbewegung.<br />
Ein interessantes Buch, das aufgr<strong>und</strong><br />
seines überwiegend unaufgeregten <strong>und</strong><br />
hintergründig analytischen Inhalts mit den<br />
fortschreitenden Ereignissen an Aktualität<br />
22 <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong>
BÜCHER<br />
nichts einbüßt.<br />
Auf die Lage der Ukraine im geopolitischen<br />
Kraftfeld zwischen EU <strong>und</strong> Russland<br />
konzentriert sich das Buch des Journalisten<br />
Jörg Kronauer, der sich seit Jahren in<br />
Beiträgen für Konkret <strong>und</strong> anderen linken<br />
Zeitschriften einen Namen als kritischer<br />
Beobachter der deutschen Außenpolitik<br />
gemacht hat. Die Geschichte der deutschukrainischen<br />
Beziehungen begann während<br />
des ersten Weltkriegs. Paul Rohrbach,<br />
ein baltendeutscher Beamter des Auswärtigen<br />
Amtes entwickelte die Idee, das Russische<br />
Reich durch Herauslösen einzelner<br />
Teile - wie die Filets einer Orange – zu zerschlagen<br />
<strong>und</strong> dauerhaft als Konkurrenten<br />
im Osten auszuschalten. Die „Deutsch-<br />
Ukrainische Gesellschaft“ gründete er im<br />
Frühjahr 1918. Als die 1. Ausgabe der von<br />
ihm herausgegebenen Zeitschrift „Die Ukraine“<br />
im Dezember 1918 erschien, war<br />
das Ziel einer deutschen Eroberung des<br />
Ostens vorläufig gescheitert. Rohrbach<br />
setzte seinen Einsatz für eine „Randstaatenpolitik“<br />
fort. Als politischer Publizist<br />
prägte er viele außenpolitische Debatten<br />
der Weimarer Zeit, immer mit dem Ziel,<br />
für Sympathie für den ukrainischen Nationalismus<br />
<strong>und</strong> das Ziel der „Befreiung der<br />
Ukraine von russischer Vorherrschaft“ zu<br />
werben. Der Dienst ukrainischer Nationalisten<br />
in der Waffen-SS, die Mit<strong>wir</strong>kung ukrainischer<br />
Faschisten bei der Niederschlagung<br />
des Warschauer Aufstandes oder bei<br />
der Shoah bildeten eine weitere Etappe auf<br />
dem Weg des Nationbuilding. 1949 erhielt<br />
Rohrbach in München, dem Zufluchtsort<br />
zahlreicher Funktionäre der OUN <strong>und</strong> UPA,<br />
die Ehrendoktorwürde der „Freien Ukrainischen<br />
Universität“. Vier Jahrzehnte später<br />
eröffnete die B<strong>und</strong>esrepublik vorausschauend<br />
ein Konsulat in Kiew, das 1992 einfach<br />
in eine Botschaft umgewandelt wurde. Als<br />
2003 die letzte überlebende UPA-Kämpferin,<br />
die 1991 aus dem Münchner Exil zurückgekehrte<br />
Jaroslawa Stezko starb, hielt<br />
der Oppositionsführer <strong>und</strong> vormalige Ministerpräsident<br />
Wiktor Juschtschenko die<br />
Grabrede.<br />
Bruttosozialprodukt auf 40% gesunken<br />
Die Entstehung eines unabhängigen ukrainischen<br />
Staates wurde seit den frühen<br />
Anfängen vom besonderen Wohlwollen der<br />
deutschen Regierungen begleitet. Glück im<br />
materiellen Sinne war dem Unternehmen<br />
dennoch nicht beschieden. Anfang der<br />
1990er Jahre bescheinigten die Ökonomen<br />
der Deutschen Bank der Ukraine die besten<br />
Aussichten auf Wachstum <strong>und</strong> Wohlstand,<br />
doch stattdessen wuchsen Armut<br />
<strong>und</strong> Elend als Folge eines beispiellosen<br />
<strong>wir</strong>tschaftlichen Niedergangs. Nach 10<br />
Jahren der Unabhängigkeit war das Bruttosozialprodukt<br />
auf 40% des Ausgangswertes<br />
von 1990 gesunken. Millionen ukrainischer<br />
Bürger verließen das Land <strong>und</strong> suchten<br />
eine Perspektive in Westeuropa oder jenseits<br />
des Atlantiks. Inmitten des Desasters<br />
vollzog sich die Konzentration von Vermögen<br />
<strong>und</strong> <strong>wir</strong>tschaftlicher Macht in den<br />
Händen weniger skrupelloser <strong>und</strong> gewaltbereiter<br />
Unternehmer, deren Handeln nicht<br />
von dem organisierter Krimineller zu unterscheiden<br />
war. Über eine Repräsentantin<br />
dieser Clique von Oligarchen, der immer<br />
noch von vielen als Freiheitsikone verehrte<br />
Julia Timoschenko, meinte Günther Verheugen<br />
einmal, der Skandal sei nicht, dass<br />
sie im Gefängnis sitze sondern, dass sie<br />
allein im Gefängnis sitze.<br />
Solchermaßen herunterge<strong>wir</strong>tschaftet<br />
bot die Ukraine beste Voraussetzungen,<br />
im Schachspiel globaler Interessen hin <strong>und</strong><br />
hergeschoben zu werden, wie der frühere<br />
amerikanische Sicherheitsberater Zbigniew<br />
Brzezinski in seinem Buch „The Grand<br />
Chessboard“ angekündigt hatte. Wie Kronauer<br />
zeigt, war die weitgehende Einbeziehung<br />
der Ukraine in die NATO, um damit ein<br />
jederzeit verfügbares Druckmittel gegen<br />
Russland in der Hand zu haben, seit langem<br />
Ziel vor allem der amerikanischen Politik.<br />
In diesem Punkt vertrat die deutsche<br />
B<strong>und</strong>esregierung in Sorge um die Beziehungen<br />
zu Russland <strong>und</strong> wohl auch in der<br />
Absicht, die USA nicht zu sehr in Osteuropa<br />
zu involvieren, eine andere Haltung. Wie<br />
eng die Beziehung der Kiewer Herrschaft<br />
zu den USA sich entwickelte zeigt die Stationierung<br />
von zeitweise mehr als 1.600<br />
ukrainischen Soldaten als Verbündete der<br />
USA im Irak. Dies stand dennoch nicht im<br />
Widerspruch zu weiterhin engen Beziehungen<br />
zu Russland. Die Kiewer Regierungen<br />
egal welcher politischen Couleur pflegten<br />
gegenüber den Aspirationen Russlands<br />
<strong>und</strong> der Westmächte eine Schaukelpolitik,<br />
die durchaus im eigenen Interesse lag.<br />
Ein wichtiges Instrument der Einflussnahme<br />
auf die politischen Verhältnisse der<br />
Ukraine sind die Stiftungen. Sie schossen<br />
nach 1992 wie Pilze aus dem Boden. Über<br />
sie wurden Millionenbeträge weitergeleitet,<br />
vor allem in Gruppierung, die sich<br />
später im „Prawy Sektor“, dem rechten<br />
Sektor wiederfinden. So erklärt sich die<br />
rasche Ausbreitung rechter <strong>und</strong> ultrarechter<br />
Organisationen, die auf dem Majdan<br />
2014 durch eine zweckmäßige technische<br />
Ausrüstung <strong>und</strong> Waffen auffallen. Der politische<br />
Einfluss der Rechten ist daher wesentlich<br />
stärker, als ihr Stimmenanteil bei<br />
Wahlen zum Ausdruck bringt. Eine wachsende<br />
Radikalisierung <strong>und</strong> Gewalttätigkeit<br />
der ukrainischen Gesellschaft im Bürgerkrieg<br />
ist die Folge.<br />
Kronauer hat eine faktenreiche Erzählung<br />
zur Geschichte der ukrainischen Krise vorgelegt.<br />
Er benutzt zahlreiche Quellen <strong>und</strong><br />
zeichnet Entwicklungen über längere Zeiträume<br />
nach. Seine Schlussfolgerung, die<br />
herrschenden Zustände in der Ukraine seien<br />
das Produkt einer mutwillig betriebenen<br />
Interventionspolitik, möchte man allerdings<br />
entgegen halten, dass die postsowjetische,<br />
nationalistische Ukraine im Würgegriff superreicher<br />
Oligarchen kaum eine andere<br />
Entwicklung hätte nehmen können. Die<br />
zunehmende Militanz der ukrainischen Gesellschaft<br />
ist sicher nicht von außen importiert<br />
worden. Der Westen hat lange nicht<br />
wahrhaben wollen, dass die Bemühungen,<br />
die Ukraine aus ihrer Bindung an Russland<br />
herauszulösen solche gewaltsamen Folgen<br />
haben könnte. Vielleicht sind ja Merkels<br />
<strong>und</strong> Hollandes diplomatische Bemühungen<br />
um einen Waffenstillstand erste Anzeichen<br />
für eine realistische Bewertung der Lage.<br />
<br />
Peter Strutynski (Hg.): Spiel mit dem Feuer.<br />
Die Ukraine, Russland <strong>und</strong> der Westen. PapyRossa-Verlag<br />
Köln. 2014. 213 S. 12,90 €.<br />
Jörg Kronauer: Ukraine über alles. Ein Expansionsprojekt<br />
des Westens. Mit einem<br />
historischen Überblick von Erich Später.<br />
Konkret Literatur Verlag. Hamburg. <strong>2015</strong>.<br />
216 S. 19,80 €<br />
<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />
23
DEUTSCH-POLNISCHE GRENZE<br />
Leben im deutschen Speckgürtel von Stettin<br />
Am Anfang der Welt<br />
Von Oliver Dietrich<br />
Eine gute Nachbarschaft sieht anders<br />
aus: Vor etlichen Jahren tauchten Deutsche<br />
in Polen vor Häusern auf, sie <strong>wir</strong>kten<br />
vorwurfsvoll, geradezu herrisch: „Das war<br />
mal unser Eigentum, also behandeln Sie<br />
es bitte pfleglich! Wir kommen nämlich<br />
wieder!“ Als Polen 2004 der EU <strong>und</strong> dem<br />
Schengener Abkommen beitrat, war die<br />
Angst davor so groß, dass eine Zusatzklausel<br />
ausgehandelt wurde: Deutschen<br />
Staatsbürgern war es verboten, in Polen<br />
Land zu kaufen. Seit 2009 dürfen sie es<br />
zwar, aber nicht als Dauerwohnsitz.<br />
Der Dokumentarfilm „Nur der Pole bringt<br />
die Kohle“ von Markus Stein beginnt in<br />
Stettin, polnisch Szczecin, einer Großstadt<br />
mit 400.000 Einwohnern an der Grenze<br />
zu Deutschland. Nein, eigentlich beginnt<br />
er ganz in der Nähe von Stettin, auf deutscher<br />
Seite: Hier befindet sich die Gemeinde<br />
Löcknitz, 3.000 Menschen wohnen<br />
hier <strong>und</strong> in den Dörfern r<strong>und</strong>herum, eine<br />
idyllische Gegend, in der nur noch wenige<br />
leben. Es gibt kaum Arbeit, die Infrastruktur<br />
ist dörflich, die jungen Menschen hat<br />
es längst in die Ferne gezogen, nach Berlin<br />
oder nach Hamburg etwa, viele Häuser<br />
sind verfallen. Dennoch ziehen Menschen<br />
dorthin, der Pole Krzysztof Pyrka etwa, der<br />
im Dorf Bergholz ein Dolmetscherbüro betreibt:<br />
„Viele Menschen sagen, das ist doch<br />
am Ende der Welt. Und ich sage dann: Ach,<br />
das ist am Anfang der Welt! Hier entsteht<br />
was.“<br />
Wie in anderen Großstädten auch, zieht<br />
es die Stettiner Bewohner hinaus aus der<br />
Stadt, Wohnraum ist knapp <strong>und</strong> teuer, irgendwo<br />
muss ja auch Platz für die Kinder<br />
sein. Und keine 15 Kilometer weiter verfallen<br />
die Häuser, ab 30.000 Euro ist schon<br />
eins zu haben, eine Win-win-Situation,<br />
wenn man es so betrachtet. Regisseur<br />
Stein, der im polnischen Lodz studiert hat<br />
<strong>und</strong> fließend Polnisch spricht, hat die neuen<br />
Nachbarn mit seiner Kamera begleitet<br />
– <strong>und</strong> dabei festgestellt, dass es nicht ganz<br />
so einfach ist.<br />
„In Polen werden die Häuser weiter übertragen“,<br />
sagt Agnieszka Horn, die mit ihrem<br />
Mann eine Immobilienfirma betreibt.<br />
„Das ist sehr selten, dass da mal ein altes<br />
Haus auf dem Markt ist.“ Das Geschäft mit<br />
den deutschen Immobilien floriert, in den<br />
letzten fünf, sechs Jahren haben sie 140<br />
Häuser an polnische Familien verkauft. In<br />
24 <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />
dem kleinen Dorf Rosow etwa ist die Hälfte<br />
der Einwohner polnisch – Familien, Künstler,<br />
Wissenschaftler sind auf der deutschen<br />
Seite auf der Suche nach etwas Neuem.<br />
Oft werden die Häuser nur als Schlafzimmer<br />
genutzt: Gearbeitet <strong>wir</strong>d weiterhin in<br />
Stettin. Annexion andersherum.<br />
Und wie gehen die Bewohner mit der<br />
neuen Nachbarschaft um? „Wenn die Polen<br />
Häuser kaufen, dann stehlen sie nicht<br />
mehr“, heißt es lapidar – Vorurteile gibt es<br />
natürlich auf beiden Seiten: Klar, der Pole<br />
klaue Autos <strong>und</strong> sei schlampig, der Deutsche<br />
pedantisch <strong>und</strong> ein humorloser Nazi.<br />
Krzysztof Pyrka kennt das: „Zu viele Vorurteile<br />
zu haben, ist nicht gut, aber manche<br />
helfen ein bisschen, manche schützen“,<br />
sagt er. Es gebe ja auch positive Vorurteile:<br />
dass Polinnen schön seien <strong>und</strong> der Pole<br />
gut improvisieren könne. Und mit dem<br />
Vorurteil, klebrige Finger zu haben, <strong>wir</strong>d<br />
sogar in Polen gescherzt: „Ich hatte noch<br />
nie Lust, in Deutschland etwas zu klauen“,<br />
sagt ein Friseur auf der polnischen Seite.<br />
„Aber manche halten es ja für einen patriotischen<br />
Akt, dort ein Auto zu stehlen.“<br />
Markus Stein gelingt es gerade mit diesen<br />
Zitaten, dass man oft lachen muss. Obwohl:<br />
Worüber lacht man jetzt eigentlich?<br />
Über den Polen, den Deutschen? Über das<br />
Vorurteil? Oder lacht man nicht eigentlich<br />
über sich selbst? Dazu passt das Porträt<br />
der scheinbaren Idylle, die die Kamera<br />
einfängt, ohne jemanden dabei vorzuführen:<br />
die freiwillige Feuerwehr etwa, der in<br />
einer Nacht das komplette Feuerwehrauto<br />
geklaut wurde, oder der Bademeister<br />
im Löcknitzer Freibad, das nur von Polen<br />
besucht <strong>wir</strong>d. „Wenn <strong>wir</strong> nicht hier wären,<br />
könntet ihr dichtmachen“, habe ihm ein<br />
Pole gesagt. „Seit ihr hier seid, kommen die<br />
Löcknitzer gar nicht mehr her“, konterte er.<br />
Für Regisseur Stein seien die ganzen Vorurteile<br />
ein schmerzhaftes Thema gewesen:<br />
„Ich wollte nicht losrennen <strong>und</strong> die Deutschen<br />
<strong>und</strong> Polen nach ihren Vorurteilen fragen“,<br />
erzählt er im Filmgespräch. Das sei<br />
aber falsch gewesen: Man kann sie nicht<br />
einfach ignorieren. Auch Marta Szuster ist<br />
zum Gespräch geladen. Die 34-Jährige ist<br />
gebürtige Stettinerin, hat in Hamburg gelebt,<br />
ist jetzt zurückgekehrt – <strong>und</strong> sitzt im<br />
uckermärkischen Gartz im Gemeinderat:<br />
Das Amt Gartz hat zwölf Prozent polnische<br />
Einwohner, in den Kindergärten sind<br />
15 Prozent polnische Kinder. „Ja, es sind<br />
schon die Polen, die klauen, da brauchen<br />
<strong>wir</strong> nicht herumzureden. Aber es sind nicht<br />
die Nachbarn: Die kaufen kein Haus, um<br />
nebenan zu klauen“, sagt sie. Sie habe es<br />
sich zur Aufgabe gemacht, die Menschen<br />
zusammenzubringen. Viele wohnen seit<br />
Jahrzehnten dort, waren aber nicht einmal<br />
im polnischen Gryfino – <strong>und</strong> das liegt direkt<br />
gegenüber, nur die Oder ist dazwischen.<br />
Über die Zukunft entscheidet wohl die<br />
nächste Generation, etwa die, die auf das<br />
zweisprachige deutsch-polnische Gymnasium<br />
in Löcknitz geht. Am Ende des Films<br />
sitzen drei 13-Jährige zusammen <strong>und</strong> können<br />
sich nicht entscheiden, welche Nationalität<br />
sie denn haben. Woran macht man<br />
das fest? Geht es darum, wie man sich<br />
fühlt? Zunächst herrscht Ratlosigkeit. „Ich<br />
fühle mich wie eine rein Deutsche“, sagt<br />
Natalie. „Nur mein Opa hat etwas dagegen,<br />
wenn ich das sage.“ Wenn es also noch<br />
eine Grenze gibt, dann ist es die Sprache.<br />
Und eigentlich ist die höchstens eine Barriere.<br />
<br />
Vorstehender Beitrag erschien in den Potsdamer<br />
Neueste Nachrichten. Wir danken für<br />
die Nachdruckerlaubnis.<br />
Ländliche Regionen im deutschen Grenzgebiet zu Polen sind gekennzeichnet durch eine Entvölkerung,<br />
die durch den Zuzug polnischer Bürger teilweise wieder ausgeglichen <strong>wir</strong>d.<br />
Foto: arte
GESCHICHTE<br />
Fortentwicklung der deutsch-polnischen Schulbuchkommission<br />
Europäische Geschichte aus neuen Blickwinkeln<br />
Das deutsch-polnische Projekt eines gemeinsamen Geschichtsbuches<br />
Von Thomas Strobel<br />
„Mit diesem Projekt können <strong>wir</strong> Deutsche<br />
deutlich machen“, so B<strong>und</strong>esaußenminister<br />
Frank-Walter Steinmeier 2006 über<br />
die Idee für ein gemeinsames Geschichtsbuch,<br />
„dass <strong>wir</strong> offen sind für polnische<br />
Sichtweisen auf die Geschichte. Ich bin<br />
sicher, dass viele Deutsche es als Bereicherung<br />
empfinden, diese Sichtweisen<br />
besser kennen zu lernen <strong>und</strong> mehr aus der<br />
polnischen Geschichte zu erfahren.“ In<br />
der Rückschau war dies der Startschuss<br />
für das 2008 offiziell ins Leben gerufene<br />
Projekt, ein Schulbuch zu entwickeln, das<br />
in der Sek<strong>und</strong>arstufe I beider Länder <strong>wir</strong>d<br />
eingesetzt werden können. Es ist von hoher<br />
politischer Symbolik, da es nicht als<br />
Zusatzmaterial zu den deutsch-polnischen<br />
Beziehungen verwendet werden soll, sondern<br />
als reguläres Lehrwerk in der Konkurrenz<br />
zu anderen lehrplankonformen<br />
Schulbüchern konzipiert ist, in dem die<br />
klassischen Lehrplaninhalte (von der Urgeschichte<br />
bis zur Gegenwart) unter besonderer<br />
Berücksichtigung deutsch-polnischer<br />
Perspektiven behandelt werden. Beide<br />
Länder gestatten es sich somit gegenseitig,<br />
an dem historischen Wissen, der der<br />
jungen Generation vermittelt werden soll,<br />
mitzuschreiben.<br />
Wurzeln <strong>und</strong> Genese des Projektes<br />
Das Projekt eines gemeinsamen deutschpolnischen<br />
Geschichtsbuches hat seine<br />
Wurzeln in einem jahrzehntelangen fachwissenschaftlichen<br />
Dialog der Fächer<br />
Geschichte <strong>und</strong> Geographie, der Schulbuchinhalte<br />
als Ausgangspunkt nahm. Die<br />
Arbeit der 1972 im Rahmen der UNESCO<br />
gegründeten Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission<br />
war über viele Jahre<br />
hinweg ausgerichtet auf die Analyse <strong>und</strong><br />
Verbesserung bestehender Lehrwerke in<br />
beiden Ländern sowie auf die Vertiefung<br />
der Wissenschaftskooperation. Der Schulbuchdialog<br />
war zugleich politischen Ansprüchen<br />
ausgesetzt <strong>und</strong> stand in starker<br />
Wechsel<strong>wir</strong>kung mit den Öffentlichkeiten<br />
beider Länder. Das verstärkte sich, als die<br />
Schulbuchkommission die in den Jahren<br />
1972-1976 erarbeiteten „Empfehlungen“<br />
vorlegte, in denen sie den Versuch unternahm,<br />
zu einer für beide Seiten tragbaren<br />
Darstellung der gesamten deutsch-polnischen<br />
Beziehungsgeschichte zu kommen<br />
<strong>und</strong> Schulbuch¬autoren <strong>und</strong> Lehrkräften<br />
in beiden Ländern Orientierung zu geben.<br />
Nachdem die Schulbuchkommission ab<br />
1977 auf Fachkonferenzen wissenschaftliche<br />
Spezialthemen der Empfehlungen vertieft<br />
behandelt hatte, <strong>wir</strong>kte sie seit dem<br />
Ende der 1980er verstärkt nicht nur bei der<br />
Korrektur bestehender, sondern auch bei<br />
der Produktion neuer ergänzender Lehrmaterialien<br />
mit. Ein Schulbuch zu erarbeiten,<br />
das regulär im Geschichtsunterricht beider<br />
Länder würde eingesetzt werden können,<br />
ist allerdings erst ein Projekt der vergangenen<br />
Jahre, zumal dafür während der deutschen<br />
Teilung <strong>und</strong> des Blockgegensatzes<br />
die politischen Voraussetzungen nicht vorhanden<br />
gewesen waren.<br />
Die von B<strong>und</strong>esaußenminister Steinmeier<br />
im Herbst 2006 in zwei Reden vorgeschlagene<br />
Idee, Deutsche <strong>und</strong> Polen könnten ein<br />
gemeinsames Geschichtsbuch konzipieren,<br />
war stark von der seit 2004 erarbeiteten<br />
deutsch-französischen Schulbuchreihe inspiriert.<br />
Ein ähnliches deutsch-polnisches<br />
Projekt schien in dieser Zeit angespannter<br />
deutsch-polnischer Beziehungen allerdings<br />
kaum umsetzbar. Ein erschwerender Faktor<br />
schien auch die Tatsache zu sein, dass<br />
deutsche Geschichte, wie eine Machbarkeitsstudie<br />
des Georg-Eckert-Instituts<br />
2008 zeigte, zwar ein zentraler Bestandteil<br />
des polnischen Geschichtsunterrichts ist,<br />
aber polnische Geschichte in den meisten<br />
deutschen Lehrplänen nur eine marginale<br />
Rolle spielt. Gerade bei den jeweiligen Nationalgeschichten<br />
gibt es teilweise deutliche<br />
Abweichungen der deutschen <strong>und</strong> polnischen<br />
Lehrpläne, dennoch aber, so die<br />
Bilanz der Studie, ausreichende Schnittmengen<br />
für ein in beiden Ländern einsetzbares<br />
Geschichtsbuch.<br />
Die Anbahnung des Projekts in den Jahren<br />
2006-2008 zeigt das Zusammen<strong>wir</strong>ken<br />
zivilgesellschaftlicher <strong>und</strong> politischer<br />
Akteure: Nach dem Regierungswechsel<br />
in Polen im Herbst 2007 änderte sich die<br />
politische Großwetterlage <strong>und</strong> die beiden<br />
Außenminister Steinmeier <strong>und</strong> Sikorski<br />
vereinbarten in einer gemeinsamen Initiative<br />
die Entwicklung eines gemeinsamen Geschichtsbuches.<br />
Unterstützung erhielten<br />
sie unter den deutschen B<strong>und</strong>esländern<br />
besonders vom Land Brandenburg. Der<br />
Schulbuchkommission, die 2007 bereits<br />
konzeptionelle Vorüberlegungen getroffen<br />
hatte, gelang es, ihre prominente Rolle<br />
auch in diese nächste Phase des Projektes<br />
zu transferieren. Bei dem im Mai 2008<br />
vollzogenen offiziellen Start wurde eine<br />
zweigliedrige Projektstruktur etabliert:<br />
Während der von Fachwissenschaftlern<br />
<strong>und</strong> Schulpraktikern besetzte binationale<br />
Expertenrat die wissenschaftliche Expertise<br />
sichert, verantwortet der aus Vertretern<br />
der in beiden Ländern zuständigen<br />
Ministerien bestehende Steuerungsrat die<br />
politischen <strong>und</strong> finanziellen Rahmenbedingungen<br />
des Projekts.<br />
Phasen des Projektes<br />
In den Jahren 2008-2010 erarbeitete der<br />
Expertenrat das Konzept der Schulbuchreihe<br />
– bestehend aus einem didaktischen<br />
Rahmenkonzept <strong>und</strong> Leitlinien für die Behandlung<br />
der einzelnen Epochen (Ur-/<br />
Frühgeschichte, Antike, Mittelalter, Frühe<br />
Neuzeit, 19. Jahrh<strong>und</strong>ert, 20. Jahrh<strong>und</strong>ert).<br />
Die sich anschließende Verlagsfindung im<br />
Jahr 2011 gestaltete sich in beiden Ländern<br />
schwierig, da die Verlage Aufwand<br />
<strong>und</strong> ökonomischen Erfolg des Projektes<br />
zu wenig vorhersagen konnten. Die Politik<br />
reagierte darauf damit mit der Schaffung<br />
entsprechender Rahmenbedingungen:<br />
Während das Auswärtige Amt bereits seit<br />
2008 die organisatorische Umsetzung des<br />
Buches fördert <strong>und</strong> nach dem Erscheinen<br />
des Buches für deutsche Auslandsschulen<br />
Klassensätze anschaffen <strong>wir</strong>d, fördert<br />
die Kultusministerkonferenz die Arbeit des<br />
deutschen Verlages.<br />
2012 ist das Projekt mit dem Eintritt<br />
zweier Schulbuchverlage – den Wydawnictwa<br />
Szkolne i Pedagogiczne aus Warschau<br />
<strong>und</strong> der Eduversum GmbH aus Wiesbaden<br />
– in seine nächste Phase eingetreten.<br />
Das Verlagstandem arbeitet seitdem – im<br />
Unterschied zum sich an die Oberstufe<br />
richtenden deutsch-französischen Geschichtsbuch<br />
– an der Produktion einer<br />
vierbändigen Schulbuchreihe für die Sek<strong>und</strong>arstufe<br />
I (in Polen für das Gimnazjum<br />
<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />
25
GESCHICHTE<br />
<strong>und</strong> die erste Klasse des Liceum), um einen<br />
möglichst breiten Kreis an Schülern<br />
zu erreichen. Deren erster Band zur Ur-/<br />
Frühgeschichte, Antike <strong>und</strong> zum Mittelalter<br />
soll Ende <strong>2015</strong> erscheinen, die Bände 2<br />
bis 4 (Frühe Neuzeit, 19. Jahrh<strong>und</strong>ert, 20.<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert) in den Folgejahren. Folgende<br />
Arbeitsweise wurde etabliert: Die Schulbuchkapitel<br />
werden in deutsch-polnischen<br />
Autorentandems erarbeitet. Im Wechsel<br />
erarbeitet zuerst ein polnischer oder deutscher<br />
Autor den Erstentwurf eines Kapitels,<br />
der vom Autor aus dem Nachbarland<br />
überarbeitet <strong>wir</strong>d. Im Anschluss daran<br />
kommentieren die für die jeweilige Epoche<br />
zuständigen Mitglieder des Expertenrates<br />
diese gemeinsam erarbeiteten Manuskripte.<br />
Ein weiteres Moment der Qualitätssicherung<br />
<strong>und</strong> Rückkopplung an die Schulpraxis<br />
sind Workshops mit Lehrkräften aus<br />
beiden Ländern, in denen Beispielkapitel<br />
getestet werden.<br />
Konzeptionelle Rahmungen<br />
Die Projektgruppe stellt in der von ihr<br />
derzeit produzierten Schulbuchreihe die<br />
Geschichte Europas sowie themenabhängig<br />
auch anderer Teile der Welt ins Zentrum.<br />
Sie erarbeitet also explizit nicht, wie<br />
es die Bezeichnung „deutsch-polnisch“<br />
nahelegen würde, ein Buch zur deutschpolnischen<br />
Beziehungsgeschichte. Durch<br />
die Arbeit deutsch-polnischer Autorentandems<br />
sollen den Schülern bislang unbekannte<br />
Perspektiven auf die Geschichte<br />
Europas aufgezeigt werden, die besonders<br />
den Blick der deutschen Schüler deutlich<br />
stärker als bis dato auf die Geschichte Mittel-<br />
<strong>und</strong> Osteuropas lenken soll. Gleichzeitig<br />
sollen polnische Schüler kennenlernen,<br />
wie Geschichte in Deutschland erzählt <strong>und</strong><br />
gewertet <strong>wir</strong>d. Gr<strong>und</strong>voraussetzung dafür<br />
ist es, dass unterschiedliche Deutungen<br />
der Geschichte auch offengelegt <strong>und</strong> thematisiert,<br />
aber nicht zu Kompromissnarrativen<br />
zusammengeführt werden. Vor<br />
diesem Hintergr<strong>und</strong> <strong>wir</strong>d das Schulbuch<br />
besondere Akzente im Bereich der Erinnerungskultur<br />
setzen.<br />
Herausforderungen<br />
War bereits die Schaffung eines konzeptionellen<br />
F<strong>und</strong>aments für das Projekt sehr<br />
aufwändig, so zeichnet sich ab, dass sich<br />
die Produktion der Schulbuchreihe selber<br />
<strong>und</strong> im Anschluss ihre Implementation in<br />
die Schulpraxis noch schwieriger gestalten.<br />
Bei der Erarbeitung des Buches <strong>wir</strong>d deutlich,<br />
dass die binational besetzten Teams<br />
von Verlagsredakteuren, Autoren, Experten<br />
<strong>und</strong> Koordinatoren großen Abstimmungsbedarf<br />
implizieren, nicht zuletzt vor dem<br />
Hintergr<strong>und</strong> einer nur bei einem Teil der<br />
Akteure vorhandenen Zweisprachigkeit.<br />
Ein zweiter Aspekt ist die Frage danach, inwiefern<br />
sich die ambitionierten Vorstellungen<br />
der Experten in die Schulbuchpraxis<br />
übersetzen lassen – konkret, ob die Akteure<br />
Zwängen widerstehen können, Themen<br />
der Nationalgeschichte stark zu machen,<br />
proportional einander gegenüberzustellen<br />
<strong>und</strong> das Buch dadurch binational zu verengen,<br />
ob die Autorentandems es vermögen,<br />
Narrative beider Länder sinnvoll miteinander<br />
zu verflechten <strong>und</strong> ob es den Verlagen<br />
gelingt, die Schulbuchkulturen so miteinander<br />
zu kombinieren, dass beiden Seiten<br />
ein Mehrwert dadurch entsteht, ohne Abstriche<br />
an nationalen Standards machen<br />
zu müssen. Hintergr<strong>und</strong> für die sich daraus<br />
ergebenden schwierigen Aushandlungsprozesse<br />
ist nicht zuletzt der Versuch beider<br />
Seiten, traditionellen Erwartungshaltungen<br />
„ihrer“ Lehrer gerecht zu werden zu<br />
versuchen, um das Buch in die Schulpraxis<br />
bringen zu können <strong>und</strong> zu einem Markterfolg<br />
werden zu lassen. Damit ist auch schon<br />
der zweite Bereich von Herausforderungen<br />
angesprochen, der sich im Zusammenhang<br />
mit der Implementation des Lehrbuches in<br />
die Schulpraxis ergeben <strong>wir</strong>d. Geschichtslehrer<br />
in beiden Ländern werden das Buch<br />
nicht nur an seiner methodischen <strong>und</strong> inhaltlichen<br />
Qualität messen, sondern auch<br />
daran, ob es die entsprechenden Lehrplaninhalte<br />
ihres (B<strong>und</strong>es)Landes ausreichend<br />
berücksichtigt. Ein weiterer Aspekt, der<br />
Produktions- <strong>und</strong> Implementationsphase<br />
miteinander verbindet, sind die Faktoren<br />
von Politik <strong>und</strong> Öffentlichkeit. Zwar haben<br />
die politischen Akteure beider Länder das<br />
Projekt durch politische Würdigung aufgewertet<br />
<strong>und</strong> für die Schaffung adäquater<br />
Rahmenbedingungen gesorgt, den beteiligten<br />
Verlagen <strong>und</strong> Wissenschaftlern in<br />
inhaltlichen Fragen aber freie Hand gelassen.<br />
Die Tatsache, dass das gemeinsame<br />
Geschichtsbuch von der Politik in hohem<br />
Maße symbolisch aufgeladen wurde <strong>und</strong><br />
dass mit seinem Erscheinen jedes Detail<br />
des Buches einer kritischen Analyse unterzogen<br />
werden <strong>wir</strong>d, führt zu einer besonders<br />
behutsamen, aber deshalb auch<br />
zeitaufwändigen Erarbeitung des Buches.<br />
Das Projekt sieht sich also konfrontiert<br />
mit dem Dilemma, einerseits neue Wege<br />
in der Konzeption von Geschichtsbüchern<br />
beschreiten zu wollen, andererseits durch<br />
seine symbolische Aufladung vielfältigen<br />
<strong>und</strong> sich widersprechenden Ansprüchen<br />
aus Politik, Wissenschaft <strong>und</strong> Schule ausgesetzt<br />
zu sein, die es nicht alle <strong>wir</strong>d erfüllen<br />
können.<br />
<br />
Unser Autor Dr. des. Thomas Strobel studierte<br />
Mittlere <strong>und</strong> Neuere Geschichte <strong>und</strong> Politikwissenschaft<br />
an den Universitäten Heidelberg,<br />
Krakau <strong>und</strong> Leipzig. Seit 2005 ist er wissenschaftlicher<br />
Mitarbeiter am Georg-Eckert-Institut<br />
– Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung<br />
in Braunschweig. Dr. Strobel ist seit<br />
2008 Wissenschaftlicher Sekretär des deutschpolnischen<br />
Projektes „Schulbuch Geschichte“<br />
<strong>und</strong> der Gemeinsamen Deutsch-Polnischen<br />
Schulbuchkommission.<br />
Jerzy Holzer †<br />
Am 14. Januar <strong>2015</strong> starb im Alter von 84<br />
Jahren der renommierte polnische Historiker<br />
Professor Jerzy Holzer. Mit seinen Publikationen<br />
zur Geschichte Deutschlands in<br />
der Weimarer Zeit <strong>und</strong> während des Ersten<br />
<strong>und</strong> Zweiten Weltkriegs wie auch mit seinem<br />
herausragenden Werk über das Europa<br />
des Kalten Krieges (2013) gehörte er<br />
zur Riege der bedeutendsten europäischen<br />
Historiker.<br />
Über viele Jahre hinweg war er Mitglied<br />
des Präsidiums der Gemeinsamen<br />
Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission.<br />
Er unterstützte nicht nur die Idee<br />
eines polnischen historischen Instituts in<br />
Berlin, sondern <strong>wir</strong>kte nach dessen Gründung<br />
– zuerst als Wissenschaftliches Zentrum,<br />
später als Zentrum für Historische<br />
Forschung der Polnischen Akademie der<br />
Wissenschaften (2006) – auch aktiv an<br />
Projekten mit <strong>und</strong> brachte dabei stets sein<br />
Wissen <strong>und</strong> seine Erfahrung mit ein. Im<br />
Frühjahr 2014 ernannte das Präsidium der<br />
Schulbuchkommission Professor Jerzy Holzer<br />
einstimmig zu seinem Ehrenmitglied.<br />
26 <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong>
Gewinnen Sie<br />
das besondere<br />
Kochbuch<br />
In der letzten Ausgabe unserer Zeitschrift<br />
hatten <strong>wir</strong> Ihnen das besondere Kochbuch<br />
„Kandierte Orangen - Eine kulinarische Reise<br />
durch das winterliche Polen“ vorgestellt.<br />
Heute können Sie eines dieser tollen Bücher<br />
gewinnen.<br />
Schicken Sie uns einfach eine e-mail an<br />
die Adresse polen-<strong>und</strong>-<strong>wir</strong>@online.de <strong>und</strong><br />
schreiben Sie als Betreff: Kochbuch. In die<br />
Mail schreiben Sie Ihre Anschrift. Einsendeschluss<br />
ist der 15. Juni <strong>2015</strong>.<br />
Das Buch können Sie auch im Buchhandel<br />
zum Preis von 36 Euro erwerben. <br />
Orden für Prof. Bingen<br />
Der Staatspräsident<br />
der<br />
Republik Polen,<br />
Bronisław Komorowski,<br />
hat<br />
den Direktor<br />
des Deutschen<br />
Polen-Instituts,<br />
Prof. Dr. Dieter<br />
Bingen (Foto),<br />
mit dem Offizierskreuz<br />
des<br />
Verdienstordens der Republik Polen in<br />
Anerkennung seiner Verdienste um die<br />
Entwicklung der deutsch-polnischen Zusammenarbeit<br />
<strong>und</strong> der Förderung des Ansehens<br />
Polens im Ausland ausgezeichnet.<br />
Bingen leitet seit 1999 das von Karl Dedecius<br />
gegründete Polen-Institut.<br />
DAS VORLETZTE<br />
Vorankündigung:<br />
Tagung 70 Jahre nach „Potsdam“<br />
Im August <strong>2015</strong> jährt sich die Bekanntgabe der Beschlüsse der Potsdamer<br />
Konferenz der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, die die Nachkriegsgeschichte<br />
des besiegten Deutschlands entscheidend bestimmen sollten, zum<br />
70. Mal. Aus diesem Anlass findet vom<br />
1. - 4. September <strong>2015</strong><br />
in Potsdam eine von der Landeshauptstadt Potsdam, der Berlin-Brandenburgischen<br />
Auslandsgesellschaft e.V. <strong>und</strong> der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der B<strong>und</strong>esrepublik<br />
Deutschland e. V. organisierte wissenschaftliche Konferenz zum Thema statt, die<br />
Völkerrechtler <strong>und</strong> Historiker aus allen an der Konferenz beteiligten Nationen, dazu<br />
aus den beiden deutschen Nachkriegsstaaten <strong>und</strong> aus Polen vereint. Gegenstand der<br />
Beiträge ist der rechtliche Charakter <strong>und</strong> die rechtliche Verbindlichkeit der Beschlüsse<br />
<strong>und</strong> ihre Aus<strong>wir</strong>kungen auf beide deutsche Staaten <strong>und</strong> ganz Europa bis heute.<br />
Veranstaltungsort ist das Potsdam-Museum, Am Alten Markt, 14467 Potsdam.<br />
Die Tagung beginnt am Dienstag, 1. September nachmittags <strong>und</strong> endet am Mittag des<br />
Freitag, 4. September. Am 3. September findet nachmittags für die Teilnehmer eine<br />
Stadtr<strong>und</strong>fahrt <strong>und</strong> ein Besuch der Gedenkstätte des Potsdamer Abkommens statt.<br />
Die Teilnahmegebühr beträgt 20 Euro. Kosten für Anreise, Unterkunft <strong>und</strong> Verpflegung<br />
sind selbst zu tragen. Detaillierte Angaben, Programm, Referenten etc. finden Sie voraussichtlich<br />
ab Juni im Internet unter www.polen-<strong>und</strong>-<strong>wir</strong>.de .<br />
Voranmeldung für die Tagung ist ab sofort unter dombrowsky@bbag-ev.de möglich.<br />
Sie erhalten dann das genaue Programm nach Fertigstellung per Mail zugestellt. Wir<br />
bitten um Verständnis, dass die Teilnehmerzahl aus Platzgründen auf 80 Personen<br />
begrenzt ist.<br />
<br />
11 Jahre Teatr Studio in Berlin<br />
Pfannkuchen, Schweine, Heiligenscheine<br />
Von Karl Forster<br />
Nein, es war keine Karnevalsveranstaltung,<br />
auch wenn das ungewöhnliche Jubiläum<br />
„11“ Jahre, darauf hindeuten würde.<br />
Aber humorvoll ging es doch zu, beim Jubiläumsstück<br />
„Pfannkuchen, Schweine,<br />
Heiligenscheine“ von der deutsch-polnischen<br />
Schriftstellerin Dr. Brigitta Helbig-<br />
Mischewski. Sie hat schon mit mancherlei<br />
Texten für Unterhaltung <strong>und</strong> Nachdenken<br />
gesorgt, so mit ihrem Prosaband „Enerdowce<br />
i inne ludzie” („Ossis <strong>und</strong> andere<br />
Leute“) Im „Teatr Studio am Salzufer - Tadeusz<br />
Różewicz Bühne” in Berlin, das nun<br />
zum 11. Jubiläumstag lud, wurde das auf<br />
ihren Texten basierende Stück „Pfannkuchen,<br />
Schweine, Heiligenscheine” unter<br />
der Regie der Theaterleiterin <strong>und</strong> Chefin<br />
der Transform Schauspielschule, Dr. Janina<br />
Szarek aufgeführt.<br />
Akteure des Stücks sind Schüler der<br />
Schauspielschule, denen die schwere Aufgabe,<br />
Zuschauer zum Lachen zu bringen,<br />
durchaus glänzend gelingt. Das Stück ist<br />
einerseits eine Satire auf das polnische<br />
Emigrationsmilieu in Deutschland, aber<br />
auch eine Satire der gegenseitigen Wahrnehmung<br />
der Deutschen <strong>und</strong> Polen. Noch<br />
immer spielen nationale Stereotypen auch<br />
in der Kommunikation zwischen Deutschen<br />
<strong>und</strong> Polen eine Rolle <strong>und</strong> führen mitunter<br />
zu grotesken Situationen. Ein Stück, das<br />
gerade im multikulturellen, grenznahen<br />
Berlin absolut am richtigen Platz ist. Wer<br />
ebenfalls einen humorvoll-nachdenklichen<br />
Abend mit dem Stück (gespielt in deutscher<br />
Sprache mit Elementen der polnischen)<br />
erleben möchte, hat dazu im Teatr<br />
Studio, Salzufer 13/14 (im Hof) in Berlin<br />
am 25. <strong>April</strong>, 6. Mai <strong>und</strong> 23. Mai <strong>2015</strong>, jeweils<br />
20:00 Uhr, Gelegenheit. <br />
<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong><br />
27
K 6045<br />
DPAG Pressepost Entgelt bezahlt<br />
Verlag Deutsch-Polnische Gesellschaft<br />
der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland<br />
c/o Manfred Feustel<br />
Im Freihof 3, 46569 Hünxe<br />
Liebe Leserin, lieber Leser<br />
Wenn an dieser Stelle kein Versandetikett klebt,<br />
sind Sie vielleicht noch kein Abonnent<br />
unserer Zeitschrift. Das sollte sich ändern.<br />
Für nur 12 Euro pro Jahr erhalten Sie<br />
<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> frei Haus.<br />
Bestellung an nebenstehende Anschrift.<br />
Einladung zur Hauptversammlung<br />
der Deutsch-Polnischen Gesellschaft<br />
der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland e.V.<br />
Das Jahr <strong>2015</strong> ist wieder ein Jahr der deutsch-polnischen Gedenktage. Da war am 27. Januar der 70. Jahrestag der Befreiung<br />
des KZ-Auschwitz, der deutsche Gedenktag der Opfer des Faschismus <strong>und</strong> internationaler Holocaust-Tag, da ist am 8.<br />
Mai der 70. Jahrestag der Befreiung Europas vom Faschismus, <strong>und</strong> im Juli jährt sich ebenfalls zum 70. Mal die Potsdamer<br />
Konferenz.<br />
65 Jahre Deutsch-Polnische Gesellschaft<br />
Aber <strong>wir</strong> wollen in diesem Zusammenhang auch an zwei andere wichtige Termine erinnern: Vor 65 Jahren wurde in Düsseldorf<br />
unsere Deutsch-Polnische Gesellschaft der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland, damals unter dem Namen „Hellmut-von-<br />
Gerlach-Gesellschaft“ gegründet. Und vor 25 Jahren entstand in der „Wendezeit“ der DDR die „Gesellschaft für gute Nachbarschaft<br />
zu Polen“, die heute der Regionalverband Ost unserer Gesellschaft ist. Nicht zuletzt können <strong>wir</strong> auf ein Jubiläum<br />
zurückblicken, das eigentlich schon im vergangenen Jahr war, das 30jährige Bestehen unserer Zeitschrift „<strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong>“.<br />
Am Wochenende 4./5. Juli <strong>2015</strong> laden <strong>wir</strong> Sie/Euch aus diesem Gr<strong>und</strong> zu einer<br />
besonderen Hauptversammlung unserer Gesellschaft in Berlin ein.<br />
Für die Berliner <strong>und</strong> die schon am Samstag anreisenden Gäste beginnen <strong>wir</strong> am Samstag, 4. Juli, um 16.30 Uhr mit einem<br />
historisch-politischen Stadtr<strong>und</strong>gang durch „SO36 – Berlin Kreuzberg“. Treffpunkt ist vor der Wilhelm-Liebknecht-/Namik-<br />
Kemal-Bibliothek Adalbertstraße. Verkehrsgünstig direkt am U-Bahnhof Kottbusser Tor (Ausgang Adalbertstraße) gelegen.<br />
Der Spaziergang <strong>wir</strong>d auch für Berlin-Kenner Interessantes <strong>und</strong> Unbekanntes zeigen, auf die Geschichte der türkischen<br />
<strong>und</strong> polnischen Zuwanderung eingehen, die ersten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen aus dem 19. Jahrh<strong>und</strong>ert vorstellen,<br />
überraschende Mauergeschichten zeigen, zum polnischen Sozialrat sowie zu einer neuen Moschee führen <strong>und</strong> nach r<strong>und</strong><br />
2,5 St<strong>und</strong>en an einem türkischen Restaurant enden, wo man erlebt, dass türkische Küche nicht nur Döner ist.<br />
Matinee Benefiz-Kulturveranstaltung<br />
Am Sonntag, 5. Juli um 10 Uhr beginnt die Hauptversammlung mit einer öffentlichen Matinee als Benefiz-Kulturveranstaltung<br />
gemeinsam mit dem Kulturring in Berlin e.V. im Kulturforum Berlin-Hellersdorf. Neben Musik- <strong>und</strong> Literaturbeiträgen<br />
werden <strong>wir</strong> kurz auf das Gedenkjahr eingehen. Außerdem hoffen <strong>wir</strong> auf einige Gratulanten. Nach einer Mittagspause <strong>wir</strong>d<br />
sich um 13 Uhr der formale Teil der Hauptversammlung mit Rechenschaftsbericht <strong>und</strong> Neuwahl des Vorstands anschließen.<br />
Der geführte Spaziergang am Samstag ist nach vorheriger Anmeldung für Mitglieder der Gesellschaft kostenlos. Die Teilnehmerzahl ist<br />
begrenzt. Die Benefizveranstaltung ist öffentlich bei freiem Eintritt, Spenden für die Arbeit der Gesellschaft werden ausdrücklich erbeten.<br />
Anmeldungen per Mail unter hauptversammlung<strong>2015</strong>@polen-news.de oder per Post an Karl Forster, Neue Grottkauer Str. 38, 12619<br />
Berlin. Bitte geben Sie Ihre Adresse <strong>und</strong> eine Rückrufnummer an. Die Mitglieder der Gesellschaft erhalten noch per Post eine formelle<br />
Einladung mit Anmeldeformular.<br />
Deutsch-Polnische Gesellschaft der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland e.V.<br />
28 <strong>POLEN</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 2/<strong>2015</strong>