Projekt Berlin - BICK Magazin. Mensch, Berlin
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ick<br />
ICH BIN BERLIN.<br />
AUSGABE 1 * 02/2008<br />
KOSTENLOS!<br />
LIES<br />
DOCH<br />
MAL<br />
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bick®
Lieber Leser,<br />
Du bist <strong>Berlin</strong> und bestens informiert,<br />
kennst dich aus und bewegst dich sicher<br />
durch die Stadt. Welcher Film läuft wo?<br />
Du hast den Überblick, weißt auch, welche<br />
Ausstellung sich lohnt, wann in den<br />
Clubs die Post abgeht und wo man<br />
etwas Tolles kaufen beziehungsweise<br />
essen kann. Eigentlich hast du schon<br />
fast die Qual der Wahl und eine Menge<br />
super Tipps aus vielen Quellen. Auf deinem<br />
Weg durch die Stadt und zu deinen<br />
Zielen begegnest du unzähligen Gestalten,<br />
siehst tausende von Gesichtern.<br />
Überall. Immer. Sie begleiten dich für ein<br />
paar Augenblicke und verschwinden<br />
dann.<br />
Hast du dich schon mal gefragt, wer sie<br />
eigentlich sind und was sie den lieben<br />
langen Tag so machen? Willst du wissen,<br />
was sie denken, wovon sie träumen<br />
und vielleicht Angst haben? Möchtest<br />
du einen kleinen Einblick in ihr Leben bekommen,<br />
vielleicht an etwas Besonderem<br />
teilhaben, dich inspirieren lassen<br />
oder dir einfach nur die Zeit vertreiben?<br />
Dann machen wir jetzt eine kurze Pause.<br />
Bleib ein paar Minuten sitzen, entspann<br />
dich und lies doch mal: ein paar Geschichten,<br />
die aus Gestalten und Gesichtern<br />
<strong>Mensch</strong>en wie du und ich<br />
machen. Spannend, oder? Und das<br />
Beste ist: Du brauchst dafür nirgendwo<br />
hin zu gehen und nichts zu bezahlen. Viel<br />
Spaß mit bick Nummer 1...<br />
Herausgeber<br />
binhaltet<br />
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Grenzgänger<br />
Start frei für Sarah El Bakri<br />
Franz Schulz, unwillkommener<br />
Aufsteiger mit Zukunft?<br />
Künstlerin<br />
Ingos Geschichte<br />
Wo ist Amerika? Biljana auf der Suche<br />
Ein lustiger Bösewicht? Jan Gebauer<br />
Ulrike Ehrlichmann,<br />
Behindertenbeauftragte<br />
Mia aus Oslo und die Farben der Magie<br />
bick girl Vanessa<br />
Erst mal abgeblitzt: Bangaluu Club<br />
Beobachter<br />
Kita St. Sebastian bekommt Geschenke<br />
Der Kältebus hält für jeden<br />
Usbekistan unverschleiert<br />
10 000 Demonstranten denken anders<br />
Sammler<br />
bick macht an<br />
Kolumne: Doktor Juri Bsüschow<br />
Impressum
GRENZGÄNGER<br />
MENSCHEN IN BERLIN<br />
Sarah, Franz, Stephanie, Ingo, Biljana, Jan, Ulrike, Mia und das Model.
START FREI FÜR SARAH EL-BAKRI<br />
MIT DEM STIPENDIENPROGRAMM DER<br />
HERTIE-STIFTUNG IN DIE ZUKUNFT<br />
Unsere Gesellschaft ist multikulti und nicht<br />
selten haben gerade die Kinder von Zuwanderern<br />
mit den unterschiedlichsten Schwierigkeiten<br />
zu kämpfen. Da ist die fremde Sprache,<br />
aber auch ganz neue Lebensumstände und andere<br />
Gewohnheiten sorgen für einige Herausforderungen<br />
im Alltag. Um besonders<br />
begabten und engagierten ausländischen Jugendlichen<br />
bessere Möglichkeiten, eine höhere<br />
Schulbildung und somit größere Chancen<br />
für eine gelungene Integration zu bieten, hat<br />
die Gemeinnützige Hertie-Stiftung das Stipendienprogramm<br />
START ins Leben gerufen. Es<br />
will den Kindern von Zuwanderern in Deutschland<br />
den Weg bereiten - als Ansporn zur Integration,<br />
als "Investition in Köpfe" und als<br />
positives Signal für die Gesellschaft. Sarah El-<br />
Bakri wurde in Deutschland geboren, vor 18<br />
Jahren. Ihre Familie stammt aus dem Sudan.<br />
Seit November 2006 wird die junge Frau von<br />
START gefördert. Ich treffe Sarah zu einem Interview...<br />
Was genau ist START? „Das Programm wurde<br />
vor vier Jahren in Hessen von der Gemeinnützigen<br />
Hertie - Stiftung gegründet. Es fördert uns<br />
Zuwandererkinder von der 8. bis zur 13. Klasse<br />
mit einem Stipendium. Ziel ist es, dass wir Abitur<br />
machen, um dann studieren zu können.<br />
Mittlerweile gibt es START in fast jedem Bundesland.<br />
Wir bekamen am Anfang einen Computer<br />
zum Arbeiten und erhalten nun jeden<br />
Monat 100 Euro Bildungsgeld für Bücher oder<br />
Arbeitsmaterialien. Das START Programm bietet<br />
auch regelmäßige Veranstaltungen und Exkursionen.<br />
Im November war ich zum Beispiel<br />
auf einem Seminar mit dem Titel ‚Mut zur Verantwortung’<br />
– das fand im Saarland statt und<br />
behandelte die Themen der Nachhaltigkeit, also<br />
Umweltschutz und Ökonomie. Davor gab es<br />
schon Seminare zu den Themen Rhetorik,<br />
06<br />
Knigge und auch Europa. Bei START lernt man<br />
eine ganze Menge, das finde ich toll. Es gibt<br />
einem mehr Selbstbewusstsein. Ich bin stolz<br />
darauf, dabei zu sein.“<br />
Wie bist du ins Programm gekommen? „Meine<br />
Biolehrerin Frau Zivny hat mir von START erzählt<br />
und ich war direkt begeistert. Also schickte<br />
ich meine Bewerbung ein, erhielt eine Einladung<br />
und musste mich vor einer Jury behaupten. Natürlich<br />
war ich total nervös – aber das hat wohl<br />
niemanden gestört und ich wurde angenommen.<br />
Im Moment gibt es in <strong>Berlin</strong> etwa 20 Stipendiaten.<br />
Mit den anderen habe ich mich<br />
schnell angefreundet. Wir treffen uns regelmäßig<br />
und unternehmen auch in unserer Freizeit<br />
viel zusammen, gehen zum Beispiel ins Kino<br />
oder Bowlen. Eigentlich sind wir so etwas wie<br />
eine Familie geworden und das ist super schön.“<br />
Was machst du denn sonst so? „Oh, mir wird<br />
eigentlich nie langweilig. Da gibt es einen Aktionskreis<br />
‚Kinder von Tschernobyl’, der es sich<br />
zum Ziel gemacht hat, jeden Sommer ein paar<br />
Kinder aus dem Gebiet der Reaktorkatastrophe<br />
nach Deutschland zu holen und ihnen ein paar<br />
schöne Wochen in einem Camp zu ermöglichen.<br />
Da helfe ich mit und bin auch als Betreuerin vor<br />
Ort. Außerdem arbeite ich an unserer Schülerzeitung<br />
‚Walters Wilde Welt’ mit. Das macht<br />
Spaß, an unserer Schule (Walter-Gropius-<br />
Schule) gibt es vieles, worüber man berichten<br />
kann. Die Lehrer sind sehr engagiert und unterstützen<br />
viele <strong>Projekt</strong>e. Ich mag die Schule und<br />
mit Neukölln komme ich auch klar. Es gibt allerdings<br />
ein paar Plätze, die ich meide und auch<br />
mit Ausländerfeindlichkeit komme ich ab und zu<br />
in Berührung - aber trotzdem ist mir der Bezirk<br />
ziemlich ans Herz gewachsen. Die <strong>Mensch</strong>en<br />
hier sind jedoch nicht so offen gegenüber Fremdem.<br />
Da ist es im Sudan ganz anders.“
Warst du schon mal dort? „Na klar! Gerade<br />
über Weihnachten und Silvester das letzte Mal.<br />
Ein Teil meiner Familie lebt ja im Sudan. Es gibt<br />
vieles, das mir dort unglaublich gut gefällt: Der<br />
Zusammenhalt zwischen den <strong>Mensch</strong>en ist viel<br />
größer, die <strong>Mensch</strong>lichkeit und auch die Gastfreundlichkeit.<br />
Man ist mehr füreinander da und<br />
wie eine große Familie. Natürlich gibt es auch<br />
Sachen, die mir überhaupt nicht gefallen: Die Infrastruktur<br />
ist sehr schlecht und die Obrigkeit,<br />
der Staat kontrolliert das Leben sehr stark. Außerdem<br />
sind alle viel zu unpünktlich, das kann<br />
ich überhaupt nicht haben.“<br />
Wie stellst du dir denn deine Zukunft vor? „Ich<br />
möchte zuerst mein Abitur mit einem möglichst<br />
guten Notendurchschnitt machen. Das dauert<br />
noch ein Jahr. Und danach würde ich gerne studieren.<br />
Ich weiß allerdings noch nicht genau, in<br />
welche Richtung ich gehen will. Auf der einen<br />
Seite würde ich gerne weiter mit Kindern arbeiten,<br />
auf der anderen Seite etwas mit Sprachen<br />
machen. Ich liebe Englisch! Vielleicht kann ich<br />
Nächster Halt:<br />
Zukunft<br />
07<br />
auch beides miteinander verbinden, mal sehen.<br />
Auf jeden Fall möchte ich ein oder zwei Semester<br />
im Ausland verbringen. Und bis dahin<br />
werde ich mich weiterhin im START–Programm<br />
beziehungsweise bei den Alumni – so nennt<br />
man dessen Absolventen - engagieren. Ich<br />
möchte mich an dieser Stelle übrigens noch einmal<br />
ganz herzlich bei der Hertie- Stiftung und all<br />
unseren Sponsoren bedanken!“<br />
Das hört sich doch richtig gut an! Wir wünschen<br />
Sarah und den übrigen Stipendiaten viel<br />
Erfolg! Mehr Infos zum Programm gibt’s im Internet<br />
unter www.start.ghst.de. Und wer den<br />
Kindern von Tschernobyl helfen möchte: Kirchliches<br />
Verwaltungsamt <strong>Berlin</strong>, Stadtmitte,<br />
EDG Kiel, Filiale <strong>Berlin</strong>, Konto: 63606, Bankleitzahl:<br />
21060237, Kennwort: “Kinder von<br />
Tschernobyl. (Bild & Text: J. Nord)
UNWILLKOMMENER AUFSTEIGER<br />
MIT ZUKUNFT UND GESTALTUNGSRAUM:<br />
DR. FRANZ SCHULZ<br />
08<br />
“Ich könnte mir nicht mehr vorstellen,<br />
woanders zu leben,”<br />
meint Dr. Franz Schulz
(Bild & Text: J. Nord). Herr Dr. Schulz, Ihr Lebenslauf<br />
ist ziemlich außergewöhnlich und voller<br />
Gegensätze. Sie haben Kunst studiert,<br />
anschließend Physik, dann promovierten Sie,<br />
machten sich mit einer Computerfirma selbständig,<br />
kamen zur Politik und sind jetzt Bürgermeister<br />
des Bezirks Friedrichshain-<br />
Kreuzberg. Klingt so, als hätten Sie viele Talente,<br />
oder? (Schulz schmunzelt) „Ich habe viele<br />
Dinge, die mich interessieren und herausfordern.<br />
Kunst mochte ich schon immer. Mein<br />
Vater war Malermeister. Dem habe ich öfters<br />
mal den Farbkeller geplündert und dann einfach<br />
drauflos gemalt. Am liebsten expressionistische<br />
Landschaftsbilder. Diesem Stil bin ich bis heute<br />
treu geblieben, obwohl ich nicht mehr so oft die<br />
Gelegenheit zum Malen finde. Damals gewann<br />
ich einen Wettbewerb und das war sozusagen<br />
meine Eintrittskarte zum Kunststudium in Darmstadt.<br />
Mein Studium fiel genau in die Zeit der Studentenrevolte<br />
- Ein Glücksfall, denn diese<br />
Erfahrungen brachten mir viele andere Sichtweisen<br />
auf Politik und Gesellschaft. Es war wie<br />
ein Ausbruch aus dem bürgerlichen Elternhaus<br />
und meist vorhersehbaren Lebenswegen.“<br />
Wie kam dann die Verbindung zwischen Kunst<br />
und Physik zustande? Da scheinen die Gegensätze<br />
doch erst Recht sehr groß zu sein. Wie<br />
passt das zusammen? „Nun: Ich legte einen<br />
Schwerpunkt meines Kunststudiums auf den Bereich<br />
der materialorientierten Ästhetik. Wir versuchten<br />
damals, verschiedene Kunstobjekte<br />
systematisch zu entschlüsseln. Die Idee war, den<br />
Prozess irgendwann umzukehren und Kunst bewusst<br />
zu generieren, auch und gerade mit Hilfe<br />
von neuer Technologie. Hierbei spielten Mathematik<br />
und Physik eine immer stärkere Rolle und<br />
irgendwann war mir klar: Das will ich weiter machen,<br />
da will ich noch mehr wissen! So kam eines<br />
zum anderen, ich absolvierte im zweiten Bildungsweg<br />
mein Abitur und wechselte anschließend<br />
nach Konstanz, zum Physikstudium. Nach<br />
dem Vordiplom ging es in meinem klapprigen<br />
2CV nach <strong>Berlin</strong>, ich bin in irgendwo in Wedding<br />
gelandet und habe mein Studium erfolgreich beendet.“<br />
Warum entschieden Sie sich für <strong>Berlin</strong>?<br />
(Schulz grinst) „Das ist eine lange Geschichte.<br />
09<br />
Nur so viel: Hier musste ich keinen Ersatzdienst<br />
leisten. Und ich wollte unbedingt in eine Großstadt.<br />
Die Zeit bisher war unbeschreiblich, ich<br />
wohnte später in Kreuzberg, direkt an der<br />
Mauer. Dort lebe ich übrigens heute noch. Denn<br />
Fall habe ich hautnah miterlebt. Das hat mich unwahrscheinlich<br />
stark geprägt. Zu diesem Zeitpunkt<br />
hatte ich den Glauben daran, dass man<br />
gesellschaftliche Veränderungen gemeinsam erreichen<br />
kann, schon fast verloren. Umso beeindruckender<br />
war der Mauerfall dann. Hier wurde<br />
Politik plötzlich greifbar und ich wollte mich unbedingt<br />
engagieren.“<br />
Also traten Sie 1990 erst in die Alternative<br />
Liste ein, wurden dann Mitglied der Bündnisgrünen,<br />
Fraktionsvorsitzender und schließlich<br />
1996 Bürgermeister von Kreuzberg. Sie blieben<br />
bis zur Bezirksreform Ende 2000 im Amt,<br />
waren 2001 bis 2006 Stadtrat von Friedrichshain-Kreuzberg<br />
und wurden vor zwei Jahren<br />
zum Bezirksbürgermeister gewählt. Sind<br />
Sie nach all den Jahren immer noch so engagiert<br />
wie am Anfang? „Ja! In den vergangenen<br />
Jahren habe ich viel erlebt. Das war eine unglaublich<br />
spannende Zeit! Als erster Grüner Bürgermeister<br />
in Kreuzberg war’s nicht einfach. Die<br />
Bündnisgrünen galten damals als unwillkommene<br />
Aufsteiger ohne Zukunft. Aber mit den<br />
zahlreichen Konflikten bin ich stärker geworden<br />
und mit der Zeit kamen dann auch Erfolge, auf<br />
die ich stolz sein kann.“<br />
Welche <strong>Projekt</strong>e liegen Ihnen heute besonders<br />
am Herzen, was bewegt Sie? “Die Stadtentwicklung<br />
- eine Aufgabe, bei der ich mit großen finanziellen<br />
Mitteln eine Menge Gestaltungsraum<br />
habe. Vor allem die Planung und Umsetzung der<br />
Parks am Spreeufer sowie die Umgestaltung<br />
des Gleisdreiecks hielten mich in den vergangenen<br />
Jahren ganz schön auf Trab. Ende dieses<br />
Jahres werden die Parks fertig sein. Eine weitere<br />
Sache, die ich gerne zu Ende bringen möchte, ist<br />
die unendliche Geschichte mit dem Objekt Bethanien,<br />
<strong>Berlin</strong>s letztem besetzten Haus. Da sollen<br />
bald Verträge aufgesetzt werden. Und was<br />
mich bewegt? Ganz einfach: Der Bezirk und die<br />
<strong>Mensch</strong>en. Ich könnte mir nicht mehr vorstellen,<br />
wo anders zu leben. <strong>Berlin</strong> ist wahnsinnig spannend<br />
und ich liebe es, hier zu sein...”
“LAUT WERDEN DURCH KUNST”<br />
ZU BESUCH BEI MALERIN STEPHANIE MAY<br />
„Schau mal, meine neueste Entdeckung: Gunpowder<br />
Tee!“. Stephanie streckt mir ihre Hand<br />
entgegen, in der ein paar zusammengerollte<br />
Teekügelchen liegen. Wir sitzen in der Küche<br />
ihrer kleinen Studenten-WG und trinken aus<br />
hübschen, zierlichen Tässchen den aromatischen<br />
grünen Tee. Aus ihrem Zimmer tönen<br />
rythmische, unaufdringlich sphärische Klänge:<br />
„Dead can dance“ heißt die Gruppe. Genau die<br />
Art Musik, bei der sich die Künstlerin am besten<br />
in eine kreative Stimmung versetzen<br />
kann, erzählt sie mir.<br />
Stephanie May wird im März 25 Jahre alt und<br />
studiert Kunstgeschichte, Prähistorische Archäologie<br />
und Geschichte an der Freien Univsersität<br />
in <strong>Berlin</strong>. Ihr Studium gefällt ihr. Doch<br />
am liebsten tut sie vor allem eines: Malen. Bis<br />
10<br />
zum Abitur war Stephanie ihrer Familie und Klassenkameraden<br />
gegenüber wenig mitteilsam. Sie<br />
zog sich in ihre eigene Welt zurück, interessierte<br />
sich für romantische, mystische Themen und<br />
träumte davon, Künstlerin zu werden. Schon mit<br />
13 Jahren versuchte die junge Frau, ihre Emotionen<br />
in Aquarellen abstrakt darzustellen. Die<br />
Malerei gab ihr die Möglichkeit, sich auszudrücken,<br />
„laut zu werden“. Anregung dafür fand<br />
sie in den Werken von Dali und Klimt, im Jugendstil<br />
und bei den Symbolisten.<br />
In <strong>Berlin</strong> zu leben war schon in der Schulzeit ihr<br />
großer Wunsch. Die Stadt wirkte im Kontrast zu<br />
ihrem pfälzischen Heimatdorf Lambsheim so<br />
faszinierend frei, gerade das etwas „gammelige,<br />
nicht so geleckte“ Flair von Friedrichshain und<br />
Kreuzberg zog die Malerin an. Mit 19 erfüllt sie<br />
Stephanie malt,<br />
seit sie 13 ist.
sich schließlich ihren Wunsch, verbringt die ersten<br />
beiden Jahre hauptsächlich mit der Malerei<br />
und dem Erkunden der Stadt.<br />
Stephanie zeigt mir nun ihre neuesten Arbeiten,<br />
die an den Wänden ihres Zimmers hängen und<br />
auf dem Boden verstreut liegen. Am liebsten<br />
malt sie in Öl auf Leinwand oder in Kreide und<br />
Tusche auf Papier. Für die Figuren in ihren Bildern<br />
verwendet sie als Vorlage Fotografien, die<br />
sie seit ihrer Kindheit in einem alten roten Koffer<br />
sammelt. Der liegt, von einem golden-lächelndem<br />
Buddha bewacht, neben ihrer Staffelei auf<br />
dem Fußboden.<br />
Durch ihre Vorliebe zur ostasiatischen Kunst<br />
sowie zu alten holländischen Meistern wie Vermeer,<br />
verbindet die junge Künstlerin in ihren aktuellen<br />
Bildern ganz unterschiedliche Malweisen:<br />
Gesichter werden detailliert ausgearbeitet<br />
und mit schnell dahingeworfenen Pinselstrichen<br />
und Flächen umrahmt. Dynamisch wirken<br />
ihre Bilder auch durch den Kontrast von<br />
Schwarz-/Weißtönen und sparsam verwen-<br />
11<br />
deten symbolischen Farben wie Rot und Gelb.<br />
Die Grundsubstanz ihrer Kunst sei die innere Gefühlswelt,<br />
der sie, so Stephanie, „ein Gesicht verleihen“<br />
möchte. Dabei sollen ihre Bilder weder<br />
nüchternes Abbild der Realität sein, noch provozieren<br />
oder bloßstellen. „Ich möchte die <strong>Mensch</strong>en<br />
und Dinge in ihrer Schönheit<br />
darstellen“, erklärt mir die Malerin. In ihrem<br />
neuesten Bild „Der Verlust der Unbeschwertheit“<br />
gelingt ihr das, so finde ich, besonders gut.<br />
Stephanies Traum ist es, nach ihrem Studium<br />
selbstständig zu arbeiten, vielleicht Kurse in Maltechniken<br />
zu geben und vom Malen leben zu können.<br />
„Und irgendwann“, zwinkert sie mir zu,<br />
„möchte ich einen Pool aus türkisfarbenen Mosaiken<br />
mitten im Wohnzimmer haben!“.<br />
Übrigens könnt ihr auch jetzt schon ihre Bilder<br />
erwerben oder ein Portrait oder Akt von<br />
euch malen lassen! Schreibt einfach eine Email<br />
an: Lesfleursdumal@gmx.de (Text: Undine Kunath,<br />
Bilder: Vitali Kunath).
Ingo auf dem Weg zum letzten<br />
Kapitel in seiner Geschichte<br />
“MICH HOLT ALLES WIEDER EIN!<br />
JEDEN TAG. JEDE NACHT.”<br />
INGOS GESCHICHTE.<br />
„Erzähl meine Geschichte!“ höre ich. Immer wieder: „Erzähl meine Geschichte!“ Mit jedem Mal<br />
wird die Stimme brüchiger, mit jedem Mal die Umarmung fester. Ich spüre Bartstoppeln an meiner<br />
rechten Wange, nicht meine eigenen, und sie kratzen. Ich spüre ein Zittern und die Konturen<br />
einer Flasche, die sich unter der Jacke von Ingo an meine Brust drückt. Eine Flasche mit<br />
Wodka, 40 % vol. und schon halb leer. Es ist die zweite an diesem Tag, aber das gehört schon<br />
zu Ingos Geschichte. „Erzähl sie allen!“ meint er. Mittlerweile schluchzt der schwere Mann in<br />
meiner Umarmung, hält mich aber immer noch wie festgeschraubt. Es ist eine Umarmung, die<br />
ich nicht lösen kann, obwohl sie mich erschüttert. Weil sie zu einer Geschichte gehört, deren<br />
Ende ich gerade vor mir sehe. Ingo ist fertig. Er war es eigentlich schon immer. Und jetzt möchte<br />
ich von ihm erzählen, seine Geschichte, die es viel zu oft gibt auf unseren Straßen, die so oder<br />
ähnlich immer wieder erzählt werden könnte.<br />
Es ist die Geschichte eines Mannes namens Ingo<br />
und ich glaube, es ist auch immer noch die eines<br />
kleinen Jungen. Ingo ist nie so richtig erwachsen<br />
geworden. Er konnte es nicht, weil ihn der Junge<br />
von damals nicht in Ruhe lässt, weil er ihn immer<br />
12<br />
noch Tag für Tag begleitet und an Früher erinnert,<br />
ihm Dinge ins Ohr schreit, die Ingo längst<br />
nicht mehr hören will, nicht mehr hören kann.<br />
Dinge von seinem Vater, „ein Bär von einem<br />
Mann, so breit, dass ich zweimal reinpassen
würde“ und von den Schlägen, die seine Mutter,<br />
die beiden Schwestern und er kassierten: „Nicht<br />
mit der flachen Hand, nein, mit der Faust! Immer<br />
rein.“ Ingos Vater war Grubenarbeiter, Alkoholiker.<br />
Ingo erzählt, die Worte brechen aus ihm heraus:<br />
„Er kam heim, griff nach der Flasche und<br />
schlug zu.“ Abend für Abend. Kein Entkommen.<br />
Tagsüber will Ingo flüchten, sein Zuhause vergessen.<br />
In der Schule wird er zum Kasper, der eigentlich<br />
nach Hilfe schreit. Einer, den anfangs alle lustig<br />
finden, weil er so laut und frech ist. Zu dem man<br />
aber nie eingeladen wird, der keine Ausflüge mitmachen<br />
kann und der Woche um Woche ein<br />
bisschen verschlossener, ein bisschen seltsamer<br />
wird. Schließlich verliert er auch die letzten<br />
Freunde und dann das bisschen Respekt vor<br />
sich selbst. Mit 12 fängt Ingo an, ab und zu mal<br />
einen Zug aus der Flasche zu nehmen. „Das war<br />
krass: Ich kam mir dann endlich groß und stark<br />
vor, fast so wie mein Vater. Wenn der was getrunken<br />
hat, haben alle auf ihn gehört, haben<br />
alle das getan, was er wollte“, erinnert sich der<br />
43-jährige. Ein Jahr lang trinkt sich Ingo Mut an.<br />
Dann stellt er sich dem Vater eines Abends in<br />
den Weg. An dieser Stelle seiner Geschichte<br />
sieht mich Ingo direkt an, aber trotzdem ist er<br />
Jahre weit weg. In einer anderen Zeit, etwa<br />
1978, an einem anderen Ort, nämlich in der kleinen<br />
Wohnung seiner Jugend. Wieder steht er<br />
vor dem Vater, dem Riesen, wieder sagt er die<br />
Worte, die er nicht vergessen kann, die ihn<br />
immer noch verfolgen, sie knallen aus ihm raus:<br />
„Wenn du noch einmal, noch einmal, einmal<br />
meine Mutter schlägst, dann bringe ich dich<br />
um.“ Seine Augen füllen sich mit Tränen, er blinzelt<br />
und kehrt ins Heute zurück, fragt mich:<br />
„Willst du wissen, was dann passiert ist?“ Widerwillig<br />
nicke ich, obwohl ich es mir denken<br />
kann.<br />
Und Ingo sagt tatsächlich: „Dann schlug er noch<br />
mal zu, ein einziges Mal, das letzte Mal.“ Er<br />
greift sich in den Mund, löst seine Zähne, oben<br />
und unten, spuckt das Gebiss in die Handfläche<br />
und öffnet eine Höhle zum Rachen, mit<br />
drei, vier Stummeln. Plötzlich ist sein Gesicht<br />
eingefallen, um Jahre gealtert. Es passt jetzt<br />
nicht mehr auf den riesigen, kräftigen Körper,<br />
13<br />
den eines Maurers „und Betonierers, vergiss<br />
das nicht, das ist mir wichtig!“ Genauso wichtig<br />
ist ihm, zu erklären, dass er „morgen zwischen<br />
zwei und halb drei“ seinen Führerschein wieder<br />
bekommt, „den großen, den für Lastwagen.“ Das<br />
fällt mir schwer zu glauben, schließlich hat Ingo<br />
keinen festen Wohnsitz, geht schon seit vier Jahren<br />
„auf Platte.“ Und er kann kaum mehr was<br />
sehen: „Das ist alles wegen dem verdammten Alkohol,<br />
glaubs mir, Digger, Alkohol ist schlimmer<br />
als Drogen. Alkohol ist das Schlimmste.“ Ingo<br />
stürmt jetzt durch seine Geschichte, hakt Kapitel<br />
um Kapitel ab, bei ihm vergehen die 12 Jahre<br />
Knast, Schwere Körperverletzung, wie im Fluge,<br />
auch die Zeit danach als Fahrer fliegt vorbei. Ingo<br />
erzählt und erzählt, die Worte sprudeln nur so<br />
aus ihm heraus. Selten hört jemand zu, „du hast<br />
keine Freunde mehr auf der Straße, keine<br />
Freunde mehr!“ meint Ingo. Wieder stehen ihm<br />
die Tränen in den Augen: „Ich hatte noch nie<br />
einen Freund, einen echten. Willst du mein<br />
Freund sein?“<br />
Ich bin sprachlos und Ingo rückt seine Flasche in<br />
der dicken Jacke zurecht. Die Kleider hat er neu<br />
bekommen, von der Mission: „Ich will nicht rumlaufen<br />
wie ein Penner, will ordentlich aussehen,<br />
will wieder jemand sein, will raus aus der Stadt.<br />
Die macht mich kaputt.“ Das weiß er schon lange<br />
und er hat auch schon versucht, auszubrechen.<br />
Von 1997 bis 2003 „war ich trocken, war ich<br />
clean, da war alles fast in Ordnung. Da hatte<br />
ich eine Freundin, aber, Junge, ich hab’s versaut.<br />
Ich versaue immer alles.“ Sagt das und<br />
wirft einen Zettel auf den nassen Asphalt. Den<br />
hat er in der Mission bekommen, gerade eben.<br />
Und darauf steht die Adresse einer Klinik, in der<br />
Ingo Entzug machen könnte. Aber er will nicht,<br />
schafft es nicht mehr. Wieder schimmern seine<br />
Augen feucht: „Mich holt alles wieder ein. Jeden<br />
Tag. Jede Nacht.“ Jetzt ist er am Ende, stolpert<br />
auf mich zu, umarmt mich, schluchzt und meint<br />
„Erzähl meine Geschichte!“ Immer wieder: „Erzähl<br />
meine Geschichte!“ Ich muss es ihm versprechen.<br />
Dann löst sich Ingo, dreht sich um und<br />
stolpert auf die Straße. Er „kann ich nicht in der<br />
Mission bleiben,“ weil er dann „ganz unten ist,<br />
ganz unten.“ Und das verkraftet Ingo nicht. Gleich<br />
darauf fällt ihm die Flasche Wodka auf den<br />
Asphalt. Sie zerbricht nicht... (Bild & Text: J. Nord)
“WO IST AMERIKA..?”<br />
KUNST AUF HI-8 UND BALD IN DER BOX...<br />
(Bild & Text: J. Nord). Ein wenig seltsam sind die drei Gestalten schon: Sie haben furchtbare<br />
Klamotten an, tragen reglose Gesichter zur Schau, sie laufen immer wieder im Kreis und scheinen<br />
den eisigen Wind am Frankfurter Tor, Ecke Warschauer Straße überhaupt nicht zu spüren.<br />
Grund genug für uns, mal nachzuhaken...<br />
Entschuldigung: Dürfen wir mal kurz stören?<br />
“Wo ist Amerika? Wo ist Amerika?”<br />
Wie bitte? “Na, so lautet der Titel des Clips, den<br />
wir hier gerade drehen. Es wird ein Musikvideo<br />
im Stile der 80er...”<br />
Und warum? Die sind doch Geschichte.<br />
“Genau. Aber das Video wird Teil einer Installation.”<br />
(Anmerkung der Redaktion: “Installation”<br />
ist in der zeitgenössischen Kunst die Bezeichnung<br />
für ein Kunstwerk, das nach einem bestimmten<br />
Konzept aus der Anordnung<br />
verschiedener oder gleicher Objekte und Materialien<br />
entsteht; Installationen können Einzelobjekte<br />
sein oder sich auf die Ausgestaltung<br />
ganzer Räume beziehen. Daneben gibt es unter<br />
anderem Licht- und Klang-Installationen)<br />
Das klingt verdächtig nach Kunst. Richtig? “Erfasst.<br />
Ich bin übrigens Biljana und studiere Freie<br />
Kunst. Meine Freunde hier sind Véronique und<br />
Friedemann. Die beiden helfen mir bei meiner<br />
Meisterarbeit, sie sind Schauspieler und Techniker<br />
zugleich. Das ganze <strong>Projekt</strong> trägt den Titel<br />
‘Wo ist Amerika?’ und wird Mitte Februar an der<br />
UDK (Universität der Künste) gezeigt. Kommt<br />
doch mal vorbei...”<br />
Und was gibt’s dort zu sehen? “Ich will eine Art<br />
Box bauen, in die man eintreten und den Film<br />
sehen kann. Sozusagen ein eigener Raum zur Interpretation.<br />
Der Titel ‘Wo ist Amerika’ stammt<br />
übrigens von einer jugoslavischen Band namens<br />
‘Idol’. Wir haben ihn neu gemixt und auch den<br />
Gesang selbst aufgenommen. War lustig.”<br />
Du hast selbst gesungen? Wow. “Ach, so<br />
schlimm war das gar nicht. Ich hatte zum Bei-<br />
spiel nur eine einzige Zeile. Der Text des Songs<br />
ist nicht so schwer...” (Biljana schmunzelt)<br />
Wie lautet die denn? “Und ich sage ‘A’ wie Amerika...<br />
Das wars.”<br />
Du weißt ja: wer “A” sagt, muss auch “B”<br />
sagen, oder? Also: Warum gerade dieser<br />
Song? “Meine Arbeit soll dazu anregen, sich Gedanken<br />
zu machen. Bei ‘Amerika’ fällt jedem<br />
etwas ein, jeder hat eine Meinung. Den Film kann<br />
man dann sehr gut selbst interpretieren.”<br />
Das klingt ziemlich frei. Was bedeutet für euch<br />
Kunst? “Die Möglichkeit, etwas Besonderes,<br />
etwas Leidenschaftliches auszudrücken und mit<br />
anderen <strong>Mensch</strong>en zu teilen. Kunst ist der<br />
Punkt, zu dem wir immer wieder zurück kehren.”<br />
Also auch nach dem Studium? “Klar. Wir suchen<br />
die ganze Zeit schon einen Arbeits- und<br />
Präsentationsraum. Wenn du was weißt, melde<br />
dich einfach.”<br />
?<br />
Okay. Dann noch viel Glück beim <strong>Projekt</strong>. Was<br />
kommt als nächstes? “Oh, es gibt eine Menge<br />
zu tun. Wir müssen 5 Stunden Rohmaterial vom<br />
kultigen Hi-8 Format digitalisieren und schneiden.<br />
Danach wird an der Box gearbeitet.”<br />
14<br />
?
BILJANA (30) VERONIQUE (28) FRIEDEMANN (21)<br />
15
BÖSEWICHTE SIND LUSTIG!<br />
JAN GEBAUER, GESCHICHTENERZÄHLER<br />
MIT HERZ UND SEELE<br />
Gibt gern den Geheimnisvollen:<br />
Jan Gebauer in seinem Element<br />
16
(Text: J. Nord, Bild: Agentur OMEN) Jan Gebauer<br />
ist Schauspieler mit Herz und Seele. Er<br />
studierte an der Bayerischen Theaterakademie<br />
in München bei Größen wie Hans-Magnus Enzensberger<br />
und Peter Zadek. Jan wurde über<br />
Hörspiele, Features und Erzählungen bei ARTE,<br />
dem Bayerischen Rundfunk und dem WDR bekannt.<br />
Der Saarländer stand unter anderem in<br />
München, Hamburg, Stuttgart, Darmstadt und<br />
Heidelberg auf der Bühne, war in Stücken wie<br />
„Der tollste Tag“ und „Comedian Harmonists“<br />
zu sehen. Auch das Fernsehen hat’s ihm angetan:<br />
Im vergangenen Jahr spielte Jan eine Rolle<br />
in der ProSieben - Produktion ‘Die Unbeugsamen’<br />
von Regisseur Dirk Regel. Wir trafen den<br />
<strong>Berlin</strong>er auf ein Interview.<br />
Wie fühlt man sich eigentlich als Theaterschauspieler<br />
beim Fernsehen? „Beides hat seine Vorund<br />
Nachteile. Beim Film muss man zum Beispiel<br />
genauer arbeiten und sich streng ans Drehbuch<br />
halten. Dafür kann man eine Szene wiederholen,<br />
wenn mal was schief geht. Im Theater geht das ja<br />
so gut wie nie! Dort stellt man einen intensiven<br />
Kontakt zum Publikum her, experimentiert stärker<br />
mit seinen heiteren und düsteren Seiten… Das ist<br />
eine echte Herausforderung! Da darf man den Augenblick<br />
nicht verpassen – sonst ist er womöglich<br />
vorbei. Authentischer bin ich eigentlich im Theater,<br />
aber durch Filme kann man das größere Publikum<br />
ansprechen. Ich mag auf jeden Fall beides.“<br />
Woran arbeitest du gerade? (Jan schmunzelt)<br />
„Ich spiele die Pflanze im Musical ‚Der kleine Horrorladen’<br />
– Audrey II heißt sie, und du weißt ja: Sie<br />
ernährt sich von Blut. Eine lustige Geschichte, ich<br />
mag die Rolle. Das Musical startet am 8. Februar<br />
in Görlitz und wird ein oder zwei Jahre laufen. Wir<br />
haben dann pro Monat zwei oder drei Vorstellungen.<br />
In der Zwischenzeit bin ich viel unterwegs, arbeite<br />
weiterhin als Sprecher für ARTE, dazu<br />
kommt noch ein Stück namens ‚Hamlet und der<br />
kleine Prinz von Dänemark’ in Halle sowie eine<br />
Rolle in einem saarländischen Filmprojekt für das<br />
Max Ophüls Festival. Da mime ich einen Bösewicht,<br />
so eine Rolle spiele ich gerne. Bösewichte<br />
sind lustig.“<br />
Lebst du die ganze Zeit aus dem Koffer? „Sozusagen.<br />
Meistens bin ich in einem Hotel unterge-<br />
17<br />
bracht oder bekomme ein Zimmer zur Verfügung<br />
gestellt. Ich habe kein Auto und fahre immer mit<br />
der Bahn zu meinen Terminen. Das finde ich auch<br />
ganz gut so, denn diese Zeit im Zug kann ich zur<br />
Vorbereitung nutzen. Das Lernen von Texten ist<br />
zum Beispiel ein notwendiges Übel für mich: Ich<br />
mag es überhaupt nicht, muss mir alles tausendmal<br />
durchlesen und bin dabei eigentlich am Liebsten<br />
in einem Café, wo ich immer mal wieder<br />
abschalten und mir die <strong>Mensch</strong>en um mich<br />
herum ansehen kann. Mit offenen Augen kann<br />
man eine Menge lernen, gerade als Schauspieler.“<br />
Du hast dich bewusst vor sieben Jahren für <strong>Berlin</strong><br />
als Wohnort entschieden. Warum? „Ich bin<br />
hier nicht, um zu arbeiten. Ich bin hier, um zu<br />
leben! In Friedrichshain fühle ich mich wahnsinnig<br />
wohl. Der ganze Bezirk ist eine wahre Fundgrube<br />
für mich, die <strong>Mensch</strong>en inspirieren meine Arbeit<br />
sehr stark. Man begegnet hier allen möglichen<br />
Kulturen und Persönlichkeiten auf dichtem Raum.<br />
Im Café sitze ich mal neben einem Banker, mal<br />
neben einem Punk. Das ist doch toll! Ich mag zum<br />
Beispiel den Boxhagener Platz, vor allem im Mai.<br />
Das ist ein geiler Monat, weil das Wetter meistens<br />
stimmt und die ganze Stadt noch bunter<br />
wird.“<br />
Was kannst du denn besonders empfehlen?<br />
(Jan grinst) „Das kommt ganz auf die Stimmung<br />
an. Aber zu meinen Favoriten gehören: Morgens<br />
in aller Ruhe im Intimes Zeitung lesen, mittags mal<br />
einen ‚Long Island Iced Tea’ in der Dachkammer<br />
trinken und abends auf dem Freischwimmer abhängen.<br />
Der perfekte Tag! Leider passiert das<br />
sehr selten, weil ich immer viel zu tun habe.“<br />
Wie siehst du die Zukunft? Was steht noch fest<br />
auf deinem Plan? “Ich bin ein Geschichtenerzähler!<br />
Und das will ich auch weiterhin machen. Da<br />
bin ich mit ganzem Herzen dabei, denn halbe Sachen<br />
haben keine Aussagekraft. Wenn ich etwas<br />
mache, dann richtig. Qualität wird sich letztendlich<br />
immer durchsetzen - das ist jedenfalls meine Vision.<br />
Neugier und Phantasie treiben mich an. Und<br />
vielleicht komme ich in diesem Jahr endlich dazu,<br />
einen alten Traum zu verwirklichen: Ich möchte<br />
gerne nach Neuseeland und fünf Klimazonen an<br />
einem Stück bereisen...”
VON BARRIEREFREIHEIT UND<br />
BAUHERREN<br />
EINE BEHINDERTENBEAUFTRAGTE ERZÄHLT<br />
Heutzutage sind etwa 19 % der Bürgerinnen<br />
und Bürger in Deutschland 65 Jahre oder<br />
älter. Dieser Anteil wird sich in den nächsten<br />
30 Jahren auf rund 30 % erhöhen. Da viele Erkrankungen<br />
und Behinderungen erst im Alter<br />
auftreten, wird die Zahl der <strong>Mensch</strong>en mit Behinderung<br />
proportional zur Altersentwicklung<br />
der Bevölkerung steigen. Dem Gesetz nach<br />
sind <strong>Mensch</strong>en behindert, wenn ihre körperliche<br />
Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische<br />
Gesundheit von dem für das jeweilige Lebensalter<br />
typischen Zustand abweichen und daher<br />
ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt<br />
ist. Allen <strong>Mensch</strong>en mit und ohne<br />
Behinderung soll jederzeit ermöglicht werden,<br />
gleichberechtigt am vielfältigen sozialen, wirtschaftlichen<br />
und kulturellen Leben in <strong>Berlin</strong><br />
teilzunehmen. Deswegen wurden 1987 zunächst<br />
für den Westteil der Stadt mit dem<br />
Programm "Behindertenfreundliches <strong>Berlin</strong>"<br />
die Weichen für ein behindertengerechtes<br />
Leben gestellt. Nach der Zusammenführung<br />
beider Stadthälften hat der Senat am 15. September<br />
1992 einige wichtige Leitlinien zum<br />
Ausbau <strong>Berlin</strong>s als behindertengerechte<br />
Stadt beschlossen. Gleichzeitig wurden in den<br />
Bezirksverwaltungen neue Stellen mit Ansprechpartnern,<br />
den so genannten Behindertenbeauftragten<br />
geschaffen.<br />
Ulrike Ehrlichmann ist seit Juni 2005 als Behindertenbeauftragte<br />
in der Bezirksverwaltung<br />
von Friedrichshain-Kreuzberg tätig. In dem Bezirk<br />
leben alleine über 39 000 <strong>Mensch</strong>en mit<br />
Behinderung. Zu Ulrikes Aufgaben gehören die<br />
Bereiche Barrierefreiheit, Beratung und natürlich<br />
<strong>Projekt</strong>arbeit. Gerade in Sachen Barrierefreiheit<br />
„steckt der Teufel oft im Detail,“ meint<br />
die <strong>Berlin</strong>erin. Der Bereich sei riesig. Ulrike arbeitet<br />
hier eng mit dem Gewerbe- und Bauaufsichtsamt<br />
zusammen, mit Architekten und<br />
Bauherren. Oft gibt es Besichtigungstermine,<br />
18<br />
Räumlichkeiten und Gegebenheiten müssen geprüft<br />
werden. Zum Beispiel: Ist ein barrierefreier<br />
Zugang möglich, können Rollstuhlfahrer ohne<br />
Probleme ins Gebäude? Oder: Gibt es behindertengerechte<br />
Toiletten, Aufzüge und gar Parkplätze?<br />
„Eigentlich existiert da eine ganz klare<br />
Gesetzgebung, die alles zu dem Thema beinhaltet!“<br />
sagt die Behindertenbeauftragte. Eigentlich.<br />
Denn die Wirklichkeit sieht oft ganz anders<br />
aus: „In den vergangenen Jahren wurde die Verwaltung<br />
mehr und mehr vereinfacht und ermöglicht<br />
nun viel größere Freiräume.“ Das heißt:<br />
Vieles ist jetzt nicht mehr Genehmigungspflichtig<br />
und und die Einhaltung der Vorschriften<br />
zur Barrierefreiheit liegt bei den<br />
Bauherren selbst. „Die vergessen das Thema<br />
dann oft. Das ist kein böser Wille – die Leute<br />
wissen es einfach nicht besser.“ Manchmal<br />
spielen auch die Gegebenheiten nicht mit. Ulrike<br />
Ehrlichmann erklärt: „Wir sind ein Bezirk mit vielen<br />
Altbauten. Diese Gebäude wurden damals<br />
nicht behindertengerecht gebaut und daran<br />
lässt sich nun nicht mehr viel ändern.“<br />
Bei Teilen der Infrastruktur sieht es ähnlich aus:<br />
„Das Ostkreuz ist ein Alptraum, die U5 ebenfalls.<br />
Da gibt es zurzeit nur Treppen und keinen einzigen,<br />
zur Oberfläche reichenden Aufzug. Aber wir<br />
arbeiten daran. Es braucht nur seine Zeit.“ Ende<br />
2008 sollen zwei Aufzüge entlang der U5 ihren<br />
Betrieb aufnehmen. Am Ostkreuz hingegen<br />
muss man sich noch weiter gedulden, weil der<br />
gesamte Bereich umgebaut werden soll. „Das<br />
Thema Barrierefreiheit reicht aber noch viel weiter<br />
und ich werde oft von Bürgern auf bestimmte<br />
Problembereiche hingewiesen“ sagt<br />
die Behindertenbeauftragte. Zum Beispiel auf<br />
die neuen, öffentlichen Sprechzellen ohne Kennzeichnung<br />
für Sehbehinderte. Oder die sperrigen<br />
Drehkreuze am Eingang von Supermärkten.<br />
„Wir versuchen dann natürlich alles, um das<br />
Problem möglichst schnell zu beseitigen. Die
Zusammenarbeit mit dem Tiefbauamt und externen<br />
Stellen ist sehr eng. Wenn der Problembereich<br />
nicht zur Verwaltung gehört,<br />
kontaktieren wir die betreffenden Betreiber<br />
oder Verantwortlichen. Da wird im Anschluss<br />
auch sehr oft etwas verändert!“ Ein überaus positives<br />
Beispiel sei die BVG. Dort gibt es schon<br />
lange eine Behindertenbeauftragte, die ihren<br />
Job sehr ernst nimmt: Viele Trams und Busse<br />
sind mittlerweile mit Niederflurtechnik ausgerüstet<br />
und leicht zu betreten – außerdem werden<br />
die S-Bahnhöfe nach und nach mit Rampen ausgestattet.<br />
„Wir sind da natürlich auch stark<br />
auf die Unterstützung von behinderten <strong>Mensch</strong>en<br />
angewiesen – denn oft sieht man den<br />
Wald vor lauter Bäumen nicht!“ meint Ulrike<br />
Ehrlichmann. Ein weiterer Arbeitsbereich der<br />
<strong>Berlin</strong>erin ist die Beratung, sowohl von Angehörigen<br />
als auch von Behinderten selbst: „Da geht<br />
es um alle möglichen Themen des alltäglichen<br />
Lebens: Vom Wohnungsumbau über Fragen zur<br />
Infrastruktur und dem Umgang mit Behörden<br />
bis hin zu Freizeitangeboten und natürlich Pro-<br />
Ulrike Ehrlichmann ist Behindertenbeauftragte<br />
im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg<br />
blemen bei der Jobsuche.“ Letztere gestaltet<br />
sich für <strong>Mensch</strong>en mit Behinderung ausgesprochen<br />
schwierig. Es gibt viel zu wenig Jobs,<br />
was „eine Katastrophe“ sei, denn „viele haben<br />
den starken Wunsch nach einer regelmäßigen<br />
Beschäftigung.“ Oft bessere sich auch der Gesundheitszustand<br />
im Arbeitsleben erheblich. Die<br />
Behindertenbeauftragte versucht natürlich<br />
auch hierbei zu helfen, sie will Arbeitssuchende<br />
in Maßnahmen oder Jobs zu vermitteln. Dazu<br />
und für andere Bereiche gibt es viele <strong>Projekt</strong>e,<br />
den Behindertenbeirat zum Beispiel oder auch<br />
mobidat.net – eine Plattform im Internet für<br />
<strong>Mensch</strong>en mit Behinderung. Ulrike Ehrlichmann<br />
hat also eine ganze Menge zu tun, aber sie mag<br />
ihren Job: „Er ist sehr abwechslungsreich und<br />
ich bin viel mit <strong>Mensch</strong>en in Kontakt.“<br />
Mehr Informationen zum Thema gibt es auf<br />
www.mobidat.net und bei den Behindertenbeauftragten<br />
der Bezirksverwaltungen. (Bild &<br />
Text: J. Nord).
Mia aus Oslo wäscht auch<br />
nur mit heißem Wasser<br />
MIA AUS OSLO, 40°C UND DIE<br />
FARBEN DER MAGIE<br />
SALONGEPLAUDER<br />
20<br />
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�����<br />
(Bild & Text: J. Nord). Freitagmittag in einem Friedrichshainer Waschsalon. Es ist kaum was<br />
los und nur zwei Maschinen laufen. Auf der Bank vor ihnen sitzt eine junge Frau namens Mia (27)<br />
und ist tief in ihr Buch versunken...<br />
Hi! Was liest du denn da?<br />
“Hm... das ist Terry Pratchett<br />
und ‘Die Farben der Magie’.”<br />
Aha. Und wie ist das Buch?<br />
“Ich weiß nicht.”<br />
Moment mal: Du hast schon<br />
die Hälfte gelesen, oder? “Ja.<br />
Aber ich kann die Geschichte<br />
nicht so gut verstehen. Es ist<br />
mein erstes Buch in Deutsch.”<br />
Wirklich? Wieso denn? “Nun:<br />
Ich komme aus Norwegen und<br />
bin für 3 Monate in <strong>Berlin</strong>. Um<br />
Deutsch zu lernen. Deswegen<br />
besuche ich auch Kurse am<br />
Goethe Institut. ‘Die Farben der<br />
Magie” lese ich, um meinen<br />
Wortschatz zu erweitern.”<br />
Und du konntest vorher kein<br />
Deutsch? Dann bist du ja ein<br />
echtes Naturtalent! Ich kann<br />
dich jedenfalls sehr gut ver-<br />
stehen. Was machst du denn<br />
in Norwegen so? “Ich studiere<br />
Soziologie in Oslo. Außerdem<br />
habe ich mal Philosophie und<br />
Sexualforschung gemacht. Das<br />
war echt interessant.”<br />
Wow. Dann kannst du mir ja<br />
bestimmt einiges über die<br />
<strong>Berlin</strong>er erzählen. Aus soziologischer<br />
Sicht sozusagen...<br />
“Oh: Hier gibt es viele merkwürdige<br />
Leute!” (sie schmunzelt)<br />
“Eine bunte Mischung mit<br />
unglaublichen Charakteren. Die<br />
<strong>Berlin</strong>er sind sehr kreativ und<br />
machen einfach ihr eigenes<br />
Ding. Das ist aufregend. Ich<br />
war auch eine Zeit lang in München,<br />
aber dort gefällt es mir<br />
gar nicht. Zu langweilig. Und<br />
selbst in Oslo ist man nicht so<br />
kreativ wie hier. Ich würde<br />
gerne bleiben.”<br />
Wann musst du denn wieder<br />
21<br />
heim? “Schon in ein paar<br />
Tagen. Leider.”<br />
Sag mal: Wie wascht ihr in<br />
Norwegen denn eure Wäsche?!<br />
Buntes bei 30 oder<br />
40°C? “Geht eigentlich beides.<br />
Aber ich mach’s immer mit<br />
40° und nehme möglichst<br />
kurze Programme. Man soll ja<br />
auch an die Umwelt denken...”<br />
Wie oft kommst du denn in<br />
den Salon? “Meistens einmal<br />
in der Woche. Aber nur tagsüber.<br />
Abends ist mir das nicht<br />
so geheuer.”<br />
Noch was philosophisches<br />
zum Abschied: Wenn du ein<br />
Teil deiner Wäsche wärst:<br />
Würdest du an Schicksal<br />
glauben? “Nein. Ich denke: Es<br />
gibt keine Vorherbestimmung.<br />
Man sollte einfach das Beste<br />
aus seinem Dasein machen.”
22<br />
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essa<br />
3)<br />
23<br />
Fotografiert von Manfred Halter, Zweibrücken. www.foto-halter.de
BANGALUU CLUB<br />
INVALIDENSTRASSE 30 | WWW.BANGALUU.COM<br />
19.01.08 | 104.6 RTL HITRADIO CLUBNIGHT<br />
24
25<br />
Fotos Dancefloor: J. Nord; Dinnerclub (2): Jan Benten, Nils Krüger: <strong>Berlin</strong>4fun.com
BEOBACHTER<br />
ALLES DREHT SICH UM BERLIN<br />
Gefangene machen Geschenke, der Kältebus ist eines und in Taschkent<br />
schenkt bestimmt auch mal irgend jemand irgendwem irgendwas,<br />
während in <strong>Berlin</strong> wieder demonstriert wird.
GESCHENKE VON GEFANGENEN<br />
JUNGE INHAFTIERTE BAUEN SPIELZEUG<br />
(Bild & Text: J. Nord). Paul ist vier Jahre alt und<br />
schon Lokführer. Begeistert schiebt er eine riesige<br />
Eisenbahn aus Holz durch den Aufenthaltsraum<br />
der Integrationskita St. Sebastian in<br />
Wedding. Es geht vorbei an ein paar Stühlen,<br />
unter einem Tisch durch und dann zum nächsten<br />
Halt: Einer großen Ranch mit unzähligen kleinen<br />
Holzfiguren, Pferden, Kühen und natürlich einer<br />
Menge Cowboys. Auf Pauls Fahrplan stehen danach<br />
eine verwinkelte Burg und am anderen<br />
Ende des Raumes ein Puppenhaus. Doch zuerst<br />
muss er den Zug sicher um ein paar Spielkameraden<br />
herumfahren, die sich auf dem Boden um<br />
ein Gesellschaftsspiel scharen. Paul ist begeistert.<br />
Genau wie die 50 anderen Kinder der Kita auch:<br />
Denn für sie gab’s zu Weihnachten eine besondere<br />
Überraschung: am 20. Dezember brachten fünf<br />
Angestellte der Jugendstrafanstalt eine ganze Wagenladung<br />
selbst gebautes Spielzeug vorbei. Hergestellt<br />
wurde es von jugendlichen und<br />
heranwachsenden Inhaftierten. “Das Spielzeug ist<br />
echt gut geworden! Unsere Jungs haben sich<br />
28<br />
große Mühe gegeben!” erklärte Jan Jakomowitsch,<br />
der Leiter in der “Berufsfindung” der Jugendstrafanstalt.<br />
Dort sollen die Inhaftierten im Alter von<br />
etwa 14 bis 20 Jahren ihre Fähigkeiten sowie Fertigkeiten<br />
finden und auf mögliche Berufe vorbereitet<br />
werden. Die Arbeit an den Spielzeugen dauerte<br />
mehr als drei Monate, 14 Jugendliche waren beschäftigt.<br />
Viele hatten zuvor “noch nie ein Werkzeug<br />
in der Hand”, waren aber am Ende zu Recht<br />
stolz auf ihr Werk. “Wir machen diese Aktion bereits<br />
seit über 30 Jahren und immer für andere<br />
Kindertagesstätten,” sagte Janina Deininger von<br />
der Öffentlichkeitsarbeit der Jugendstrafanstalt.<br />
Das Geld für die Materialien wird immer bei Fußballwohltätigkeitsturnieren<br />
gesammelt. 2007<br />
kamen so 240 Euro zusammen. Genug, um einen<br />
ganzen Haufen Spielzeug zu bauen und den Kindern<br />
der Kita ein unvergessliches Weihnachtsgeschenk<br />
zu machen. “Wir haben uns sehr gefreut!<br />
Das ist eine tolle Aktion,” lobte Maria Silbermann,<br />
die Leiterin der Kita St. Sebastian. Auch im nächsten<br />
Jahr wird es wieder Geschenke von der Jugendstrafanstalt<br />
geben, dann allerdings für die<br />
Kinder in einem anderen Bezirk...<br />
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29<br />
Lokführer Paul beim Spielen<br />
in der Kita St. Sebastian..<br />
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DER KÄLTEBUS HÄLT FÜR JEDEN<br />
NACHTS IN BERLIN - EINE REPORTAGE<br />
Ein Montagabend, irgendwo in der Stadt. Es ist<br />
kurz nach 22 Uhr. Heftiger Regen prasselt auf<br />
den Kleinbus der Stadtmission nieder, die<br />
Scheibenwischer schlagen im Takt und Wolfgang<br />
Gerhard lenkt den Wagen zielstrebig<br />
durch das Labyrinth dunkler Straßen in Richtung<br />
Hackesche Höfe. Wolfgang, der von vielen<br />
einfach „Wolle“ gerufen wird, unterhält sich<br />
leise mit seinem Beifahrer Christoph-Samuel<br />
Rottmann, kurz „Locke“ genannt. Die beiden<br />
sind ein eingespieltes Team, fahren im Kältebus<br />
regelmäßig durch die langen Winternächte und<br />
kümmern sich um die <strong>Berlin</strong>er, mit denen viele<br />
nichts zu tun haben wollen, die oft übersehen<br />
und vergessen werden. Wolfgang und Locke<br />
sind für die Obdachlosen da, besuchen sie, unterhalten<br />
sich ein bisschen, hören zu, bringen<br />
was Warmes, Decke oder Tee, und wollen sie<br />
am liebsten alle mitnehmen, in eine der Notübernachtungen.<br />
„Sonst erfrieren die doch da<br />
draußen!“ meint Wolfgang.<br />
Der gelernte Schriftsetzer weiß, wovon er spricht.<br />
Er selbst war mal eine kurze Zeit „auf Platte“, Drogensüchtig<br />
und am Rande der Gesellschaft. Mitte<br />
der 70er fand Wolle durch den Glauben zurück<br />
ins Leben und entschied sich für eine theologische<br />
Ausbildung. So kam er dann schließlich zur<br />
<strong>Berlin</strong>er Stadtmission und war von Anfang an<br />
beim <strong>Projekt</strong> Kältebus dabei. Das war im Winter<br />
1995. Wolfgang erinnert sich zurück: „Am Anfang<br />
haben wir jede Nacht zwischen 50 und 60<br />
Obdachlose eingesammelt!“ Aus Parks, unter<br />
Brücken, in alten Häusern, Bahnhöfen oder Parkhäusern<br />
beziehungsweise einfach von der Straße.<br />
Damals war das Angebot zur Notübernachtung<br />
von Stadtmission, Diakonie und ähnlichen Einrichtungen<br />
kaum bekannt, mittlerweile hat es<br />
sich jedoch rumgesprochen. Viele Obdachlose<br />
kommen nun von sich aus. Locke, Wolle und die<br />
anderen meist ehrenamtlichen Helfer bringen<br />
pro Nacht oft noch fünf bis sechs weitere in die<br />
Stationen, zu einem vollen Teller mit warmem<br />
Essen und einem Schlafplatz. „Es gibt viel mehr<br />
30<br />
Obdachlose als man denkt, über 4000 in der<br />
Stadt und nicht alle kann man gleich auf den ersten<br />
Blick erkennen. Es sind <strong>Mensch</strong>en wie du<br />
und ich!“ erzählt Christoph-Samuel. <strong>Mensch</strong>en<br />
mit Träumen, Zielen und Wünschen. Nicht „der<br />
Penner um die Ecke“, sondern eine Persönlichkeit,<br />
ein Schicksal. „Ich habe viele Freunde auf der<br />
Straße gefunden,“ meint Wolfgang. Freunde, die<br />
seine Hilfe nicht immer in Anspruch nehmen wollen<br />
oder können.<br />
So wie die Frau in der Nähe des Kottbusser<br />
Tores, die eingepackt in eine alte Decke im Regen<br />
an einem Hauseingang liegt. Schon seit Wochen<br />
versuchen Locke und Wolle, sie zum Mitkommen<br />
zu bewegen. Aber sie will nicht, sie kann nicht:<br />
„Diese Frau hat kein Vertrauen mehr, zu niemandem.“<br />
Manche Obdachlose können gar nicht<br />
glauben, dass sich jemand für sie interessiert und<br />
helfen will. An erster Stelle steht das Angebot, im<br />
Kältebus zu einer sicheren Notschlafstelle zu fahren,<br />
dort können weitere Hilfen vermittelt werden.<br />
Von der ärztlichen Untersuchung bis hin zum Entzug,<br />
zur festen Schlafstelle und der langsamen<br />
Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Die <strong>Berlin</strong>er<br />
Stadtmission verfügt über ein umfangreiches<br />
Netzwerk für Wohnungslose, dazu<br />
gehören sozialpädagogische Beratung und<br />
seelsorgerliche Begleitung, Wohnhilfen, eine<br />
Krankenstation und ein Übergangshaus. Grundvoraussetzung<br />
ist jedoch, dass der Betroffene -<br />
die Leute von der Mission sprechen von ihren<br />
„Gästen“ - die Hilfe auch in Anspruch nehmen<br />
möchte. „Manche wollen das nicht, wir werden<br />
sogar bisweilen beschimpft oder angegriffen,“<br />
meint Wolfgang. Deswegen sind die Helfer auch<br />
immer zu zweit im Kleinbus unterwegs, zwischen<br />
60 und 120 Kilometer fahren sie in einer Nacht.<br />
Christoph-Samuel erklärt: „Wir wollen nacheinander<br />
alle bekannten Plätze abfahren! Das schaffen<br />
wir meistens im Rhythmus von zwei Wochen.“<br />
In diesem Winter ist der Kältebus zum ersten<br />
Mal an sieben Tagen in der Woche unterwegs -<br />
auf der Straße gibt es kein Wochenende. Mitt-
lerweile sind Locke und Wolle an den Hackeschen<br />
Höfen angekommen und parken den<br />
Wagen in einer Seitenstraße. Wolfgang<br />
schnappt sich einen Schlafsack und erklärt: „Der<br />
ist für einen Freund, eine Spende, er hat darum<br />
gebeten.“ An diesem Abend kann Wolle das Geschenk<br />
jedoch nicht übergeben, sein Bekannter<br />
ist nicht zu sehen. Dafür treffen die beiden auf<br />
zwei junge Obdachlose, die im strömenden Regen<br />
an einen Laternenpfahl kauern und im Stillen eine<br />
Straßenzeitung verkaufen.<br />
Beide lassen sich überreden, mit ins Trockene zu<br />
kommen. Auf dem Weg zur Mission erzählt Daniel<br />
ein bisschen von seinem Schicksal: „Ich bin<br />
28 und Obdachlos, hatte noch nie eine Freundin.<br />
Aber vor einer Woche habe ich eine Nette<br />
kennen gelernt und sogar ihre Nummer bekommen.“<br />
Daniel ist schon seit 8 Jahren auf der<br />
Straße und gerade weiß er nicht so recht, wie es<br />
mit dem Mädchen weiter gehen soll. Ihm fehlt der<br />
Mut, ihr zu sagen, dass er kein festes Dach über<br />
dem Kopf hat, keine anderen Kleider außer denen<br />
an seinem Körper, ihm fehlt der Mut, ihr zu beich-<br />
32<br />
ten, dass er süchtig ist und jeden Tag Heroin<br />
braucht. Aber vielleicht wird er ihn finden, seinen<br />
Mut, vielleicht wird er eines Tages nicht mehr mit<br />
dem Kältebus zur nächsten Notübernachtung<br />
fahren, vielleicht wird er Wolfgang und Locke<br />
heute zum letzten Mal sehen.<br />
Die zwei sind schon wieder unterwegs zu einem<br />
neuen Ziel, am anderen Ende der Stadt. Jemand<br />
hat angerufen, einen Obdachlosen gemeldet.<br />
Das kann man jederzeit tun, unter der Nummer<br />
0178-52 35 838. Locke und Wolle kümmern<br />
sich jetzt um ihn.<br />
Mehr Informationen gibt es im Internet unter<br />
www.kaeltebus.de - Helfen Sie mit und spenden<br />
Sie, ihre Spende kann viel bewirken. Kontonummer:<br />
31 555 00, Bankleitzahl: 100 205<br />
00. Da reichen 15 Euro zum Beispiel schon<br />
aus, um die Wäsche von 15 Wohnungslosen zu<br />
waschen, 50 Euro kosten zwei gründliche medizinische<br />
Erstversorgungen, 100 Euro bringen<br />
50 Wohnungslosen eine warme Mahlzeit auf<br />
den Teller. (Bild & Text: J. Nord).
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Undine besuchte den Registan-Platz in Samarkand und reiste dann weiter nach Buchara.<br />
USBEKISTAN UNVERSCHLEIERT<br />
EIN REISEBERICHT VON UNDINE<br />
„Wooohin fährst du in Urlaub? Nach Taschkent?<br />
Ehhm, wo liegt das denn gleich nochmal...?“<br />
- “In Usbekistan.“ - „Ach so! Ja, klar.<br />
Usbekistan. Hmm.“<br />
Ja, mein Reiseziel klingt für viele Ohren ungewöhnlich.<br />
Ich muss gestehen, dass meine Kenntnisse über<br />
dieses Land, das einmal Teil der Sowjetunion war,<br />
ebenfalls recht spärlich sind: Schemenhaft erinnern<br />
mich Städtenamen wie Taschkent und Samarkand<br />
an die Erzählungen aus 1001 Nacht, ich weiß,<br />
dass ein Großteil der Bevölkerung islamischen<br />
Glaubens ist und ein Blick in den<br />
Atlas verrät mir, dass Usbekistan südlich<br />
an Kasachstan grenzt. Meine<br />
Freundin Angelika, die ich dort besuchen<br />
werde, rät mir, Klamotten für<br />
jede Wetterlage mitzunehmen – der<br />
November hält je nach Laune Temperaturen<br />
aus jeder Jahreszeit parat. Ich lasse<br />
mich also in jeder Hinsicht überraschen – und<br />
erlebe zwei unglaublich spannende Wochen in einem<br />
Wüstenland voller Oasen. Die erste davon ist Taschkent:<br />
Eine 2-Millionen-Metropole mit grünen Parkanlagen,<br />
Bananen- und Kakibäumen, wo jedes<br />
Fleckchen Grün künstlich bewässert werden muss.<br />
Das Stadtbild ist geprägt von Gebäuden aus der So-<br />
34<br />
wjetzeit, sogar eine Metro gibt es, die an Moskau erinnert,<br />
seinerzeit die erste in Zentralasien. Aber trotz<br />
der Ähnlichkeit mit russischen Städten besitzt die<br />
Stadt mit ihren Moscheen und Bazaren einen unverkennbar<br />
orientalischen Charakter. Besonders<br />
exotisch erscheinen mir die großen, an Doppelbetten<br />
erinnernde Holzgestelle, die überall im Land vor<br />
den Cafés und in den Innenhöfen zu sehen sind. In<br />
der Mitte dieser sogenannten Toptschane stehen<br />
niedrige Tischchen, auf denen die Speisen serviert<br />
werden. Wir bestellen wie die Einheimischen<br />
Tee und Plow, das nationale Reisgericht<br />
und lassen es uns dort gut gehen. Um<br />
einen richtigen Eindruck vom Orient<br />
zu bekommen, empfiehlt mir Angelika<br />
eine Reise nach Samarkand und<br />
Buchara: Hier schlendern wir durch<br />
die Altstädte mit ihren prachtvollen<br />
mittelalterlichen Moscheen und Medresen,<br />
von deren Schönheit ich überwältigt<br />
bin. Jedes Detail der mit Mosaiken<br />
überzogenen Mauern fasziniert mit seiner abwechslungsreichen<br />
Ornamentik und der Harmonie<br />
der Blau-, Gold- und Grüntöne. Die ehemaligen Schülerzimmer<br />
der alten Koranschulen werden nun als<br />
kleine Läden und Ateliers genutzt, in denen man wunderschöne<br />
handgearbeitete Holzschnitzereien, Tep-
piche und traditionelle, quietschbunte Kleidung erstehen<br />
kann. Immer wieder kommen wir hier auch<br />
mit den Einheimischen ins Gespräch, die uns offen<br />
und freundlich begegnen. Auch die Frauen zeigen<br />
sich in dem islamischen Land selbstbewusst in der<br />
Öffentlichkeit, nirgends sehen wir verschleierte Gesichter.<br />
Überhaupt gewinne ich den Eindruck, dass<br />
die Usbeken ein offenes, lebensfrohes Völkchen sind.<br />
Das erlebe ich auch bei einem Restaurantbesuch in<br />
der Taschkenter Innenstadt: Hier wird nicht nur gemeinsam<br />
gegessen, sondern auch getanzt und gefeiert,<br />
egal ob jung oder alt. Wir betreten einen<br />
gemütlichen, mit Strohmatten und bestickten Teppichen<br />
geschmückten Raum, der vor Leben sprudelt!<br />
Ein DJ (ja, im Restaurant!) beflügelt die gute Laune<br />
der Gäste mit lautstarkem orientalischem Pop, wir<br />
brüllen unsere Bestellung in das trainierte Ohr des<br />
Kellners und erhalten innerhalb kürzester Zeit die lekkersten<br />
Salate, Schaschlik, süßen Aprikosensaft und<br />
Wodka. Ja, so ein Fläschchen fehlt auch in Usbekistan<br />
nur selten auf den Tischen. Und da die Musik<br />
nunmal so schön im Gange ist, beginnen die ersten<br />
Gäste zu tanzen. Angelika und ich gesellen uns dazu,<br />
geben unser Bestes in orientalischen Schlangenbewegungen<br />
und ernten wohlwollende Blicke. So vergeht<br />
kein Tag ohne neue, interessante Erlebnisse: In<br />
Tashkent höre ich zum ersten Mal den mystischen<br />
Ruf des Muezzins zum Gebet und erlebe am Abend<br />
eine eindrucksvolle Bauchtanzshow. Im ehemaligen<br />
Fischerdorf Moynak, das einst am Ufer des riesigen<br />
Aralsees lag, stehe ich fassungslos an einer Steilküste,<br />
die nun auf über 100 Kilometer Wüste blickt. In<br />
Chiwa schauen wir den Teppichweberinnen bei ihrer<br />
geduldigen Arbeit über die Schulter und durchschreiten<br />
die ehemaligen Gemächer des Khans und<br />
seines Harems. Eines ist sicher: Usbekistan hat viel<br />
mehr zu bieten, als in meine zwei Urlaubswochen hineinpasst.<br />
Schon sitze ich wieder im Flieger, der gerade<br />
eine dicke, graue Wolkendecke über dem<br />
Tegeler Flughafen durchbricht, beiß in mein letztes<br />
Stückchen süße Honigmelone und träume von Angelikas<br />
Abschiedsworten: „Du musst unbedingt im<br />
Frühling wiederkommen, wenn in den Bergen die wilden<br />
Tulpen blühen...“<br />
Ihr wollt auch mal nach Usbekistan? Dann los,<br />
am besten mit airBaltic, direkt von <strong>Berlin</strong>! Den<br />
Hin- und Rückflug gibts schon ab 440 Euro.<br />
Die schönste Reisezeit ist im Frühling und im<br />
Herbst. (Text: Undine Kunath; Bilder: Vitali Kunath).<br />
35<br />
Ein Mosaik aus Mauern:<br />
Die Altstadt von Chiwa..<br />
AUCH WEG GEWESEN?<br />
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Reisebericht und ein paar Bilder an:<br />
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UNSER TIPP: FLIEGE MIT
10 000 DEMONSTRANTEN<br />
UND DIE FREIHEIT, ANDERS ZU DENKEN<br />
„Kommunismus, ich will ein Kind von dir!“ steht in<br />
dicken Lettern auf einem großen Plakat. Das wiederum<br />
wird von einem vermummten Typen wild<br />
durch die Gegend geschwenkt. Eigentlich bin ich<br />
nur auf dem Weg zur U5, als mir an der Kreuzung<br />
Samariterstraße und Frankfurter Allee am 13. Januar<br />
eine Großdemonstration dazwischen kommt.<br />
Ich finde das Plakat sehr eigenartig und will mehr<br />
wissen. Deswegen gehe ich dem Ganzen nach und<br />
frage seinen Schwinger: „Was soll das?“ Er sieht<br />
mich an als käme ich vom Mond und sagt:<br />
„Nichts.“ Das ist ziemlich wenig für einen Artikel.<br />
Also versuche ich es wieder und will wissen: „Wer<br />
bist du?“ Der Typ schüttelt den Kopf und meint:<br />
„Namen sind nicht wichtig.“<br />
Bevor ich noch etwas sagen kann, drückt mir jemand<br />
einen Zettel in die Hand. Darauf steht in großen,<br />
roten Buchstaben: „Gemeinsam gegen<br />
Zukunftskiller!“ Ich laufe ein bisschen mit der Masse<br />
und lese währenddessen. Da steht unter anderem<br />
geschrieben, dass es Zeit sei, „sich zu wehren,“ dass<br />
man „gemeinsam gegen Bildungsabbau und Ausbildungsplatzvernichtung“<br />
vorgehen müsse. Und dass<br />
es Zukunftskiller geben würde, die sogar „Namen<br />
und Adressen“ hätten. Aha! Also sind Namen wohl<br />
doch wichtig! Aber das klingt alles ziemlich seltsam<br />
und ich bekomme ein bisschen Angst. Trotzdem lese<br />
ich weiter. Einige der Zukunftskiller seien sogar bekannt:<br />
„Sie heißen z.B. Angela Merkel [...] oder Jürgen<br />
Rüttgers. [...] Oder sie heißen René Obermann,<br />
der als Chef der Telekom die Übernahme nach der<br />
Ausbildung in seinem Konzern eingestampft hat.“<br />
Also: Die Telekom kenne ich. Aber die anderen Zukunftskiller..?<br />
Das ist wohl Ansichtssache. Doch jeder<br />
hat ja schließlich das Recht auf freie Meinungsäußerung.<br />
So steht’s im Grundgesetz und ein berühmtes<br />
Zitat von Rosa Luxemburg lautet: „Freiheit ist<br />
immer auch die Freiheit der Andersdenkenden.“<br />
Überhaupt scheint es bei dieser Demonstration<br />
hauptsächlich darum zu gehen, anders zu denken.<br />
Denn davon ist vor allem auf den Plakaten die Rede.<br />
Da lese ich eine bunte Mischung an Parolen: Wohl<br />
so ziemlich alles, für oder gegen das man demon-<br />
37<br />
strieren kann, außer der Sache mit der Umweltzone.<br />
Ich sehe Sprüche über „Solidarität mit den Völkern<br />
Afrikas“ (und Kubas, Venezuelas, Ecuadors, Nicaraguas<br />
sowie Palästinas), ein Stück weiter steht was<br />
über Abscheu gegenüber „neokolonialistischen Machenschaften,“<br />
gegenüber der „aggressiven“ EU und<br />
NATO,“ der Bundeswehr und überhaupt, gegen<br />
Hartz IV. Man demonstriert hier natürlich auch<br />
gegen „Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus.“<br />
Das volle Programm und immer wieder tauchen<br />
die Namen Liebknecht beziehungsweise<br />
Luxemburg auf.<br />
Endlich weiß ich Bescheid: Ich bin in die alljährliche<br />
Großdemonstration zum Gedenken an die am 15.<br />
Januar 1919 ermordeten Sozialisten Karl Liebknecht<br />
und Rosa Luxemburg geraten. Zusammen<br />
mit mehr als 10 000 <strong>Mensch</strong>en laufe ich nun weiter<br />
zur Gedenkstätte der Sozialisten auf dem Zentralfriedhof<br />
Friedrichsfelde. Rosa Luxemburg war eine<br />
bedeutende Vertreterin der europäischen Arbeiterbewegung.<br />
Sie wirkte vor allem in der polnischen und<br />
deutschen Sozialdemokratie als marxistische Theoretikerin<br />
und engagierte Antimilitaristin. Gegen die<br />
Kriegsunterstützung der SPD gründete sie 1914 die<br />
„Gruppe Internationale“ und leitete dann mit Karl<br />
Liebknecht den daraus hervorgehenden Spartakusbund.<br />
Als politische Autorin verfasste sie zahlreiche<br />
zeitkritische Aufsätze und ökonomische Analysen:<br />
vor 1914 unter anderem in der „Leipziger Volkszeitung,“<br />
bis 1918 auch in der Haft und danach als Herausgeberin<br />
der Zeitung „Die Rote Fahne“. Ende<br />
1918 gehörte sie zu den Gründungsmitgliedern der<br />
KPD, deren erstes Parteiprogramm sie großenteils<br />
verfasste. Im Gefolge des gescheiterten Spartakusaufstands<br />
wurde sie unter nicht restlos geklärten<br />
Umständen zusammen mit Karl Liebknecht von Freikorps-Soldaten<br />
ermordet. Ich frage mich, ob „Kommunismus,<br />
ich will ein Kind von dir!“ nicht ein wenig<br />
zu anders gedacht ist.<br />
(Bild & Text: J. Nord. Quellen: „Jugend-Aktionsprogramm<br />
der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend“,<br />
Veranstalter: www.ll-demo.de und Wikipedia.)
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Winter sich nicht entscheiden kann, ob er gehen<br />
oder bleiben soll. Die Redaktion plädiert für gehen,<br />
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FÜR IHN.
Lieber Dr. Juri Bsüschow<br />
Mein grüner Nachbar wollte sich vor einigen Wochen<br />
ein Windrad in den Garten stellen. Aller Nachhaltigkeit<br />
und Umweltliebe zum Trotz, das ging entschieden<br />
zu weit! Achim und ich waren natürlich dagegen.<br />
Schließlich wollen wir unsere Sonntagszeitung im Wintergarten<br />
auch in Zukunft ohne summende Schattenspiele<br />
auf den Blättern genießen. Ich stelle mir ja<br />
auch keinen Reaktor in den Garten, nur weil ich für<br />
Atomkraft bin. Deswegen habe ich die besten Anwälte<br />
des Landes auf Trab gebracht. Die hätten auch nicht<br />
davor zurückgeschreckt, meinen Nachbarn und seine<br />
neongrünen Familie als neue Terrorzelle auszuweisen.<br />
Soweit ist es dann aber nicht gekommen, weil die Ökos<br />
von nebenan letzte Woche ausgezogen sind. Nun frage<br />
ich mich natürlich: Hab ich das alles ein wenig übertrieben?<br />
Angela<br />
Liebe Angela,<br />
es ist schön, dass Du Dir so viele Gedanken über<br />
nachbarschaftliche Beziehungen machst, wo Du<br />
doch eigentlich mehr als genug mit der Weltpolitik<br />
zu tun hättest. Leider ist es dafür jetzt zu spät<br />
und der Nachbar über alle Berge. Um Dein Gewissen<br />
zu beruhigen und meine Pressefreiheit zu<br />
wahren, werde ich versuchen, dir das Ganze<br />
schön zu schreiben. Also: Windräder verschan-<br />
IMPRESSUM<br />
Herausgeber & Chefredakteur (v.i.s.d.p.)<br />
Jan-Erik Nord, Diplom Designer<br />
Warschauer Straße 85 | 10243 <strong>Berlin</strong><br />
fon: 030.29772389 | fax: 030.29772390<br />
mail: redaktion@bick-magazin.de<br />
Anzeigenhotline | 0160.92162375<br />
Verbreitung | <strong>Berlin</strong>, alle Bezirke<br />
Redaktion (redaktion@bick-magazin.de)<br />
Julia Würtz (Dr. Juri Bsüschow), Undine und<br />
Vitali Kunath, Manfred Halter<br />
Konzept + Gestaltung | Jan-Erik Nord<br />
Druck | Saxoprint GmbH, Dresden<br />
42<br />
deln die Landschaft. Sie sind hässlich und machen<br />
Krach! So ein Windrad brummt gerne mal lauter<br />
als der Staubsauger im Keller... Natürlich sieht<br />
der Gesetzgeber da Ruhezeiten vor. Werden die<br />
nicht beachtet, spricht man von Lärmbelästigung.<br />
In Deinem Fall war stark davon auszugehen.<br />
Womit Deine rechtlichen Schritte also tatsächlich<br />
einigermaßen begründet waren. Außerdem kann<br />
man ja nie wissen, wer sich wirklich hinter dem<br />
ach so netten Nachbarn verbirgt. Terrorzelle<br />
schön und gut - aber was, wenn’s jemand von<br />
Greenpeace war? Oder noch schlimmer: Einer<br />
von der SPD?<br />
Du kannst ganz beruhigt sein: die Mehrheit der<br />
Wähler ist bestimmt auf Deiner Seite. Schließlich<br />
ist Klimaschutz nur solange toll, wie er nicht vor<br />
der eigenen Haustür stattfindet. Und wie heißt es<br />
doch so schön: Der Kun...Wähler ist König. Also<br />
bist Du auf dem richtigen politischen Weg. Nicht<br />
zu vergessen: Die Bibel. Schließlich bist Du Christdemokratin!<br />
Also solltest Du Dich auch ein wenig<br />
danach richten, was so in der Bibel steht. Zum<br />
Beispiel über das Verhältnis von <strong>Mensch</strong> und<br />
Natur: „Groß sind die Werke des Herrn; wer ihrer<br />
achtet, der hat eitel Lust daran“ (Altes Testament,<br />
Buch 5). Ist ein Windrad das Werk Gottes?<br />
Wohln eher nicht. Also: Windräder sind böse und<br />
Deine schwarze Weste wieder rein gewaschen.<br />
Der nächste Nachbar kommt bestimmt.<br />
Dein Dr. Juri Bsüschow<br />
Alle Veröffentlichungen sind urheberrechtlich geschützt.<br />
Dies gilt auch für speziell angefertigte Werbeanzeigen.<br />
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des Herausgebers möglich. Namentlich gekennzeichnete<br />
Artikel spiegeln nicht zwangsläufig die<br />
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Satzfehlern. Die Redaktion freut sich über eingesandte<br />
Beiträge, behält sich aber das Recht der Nichtveröffentlichung<br />
oder Kürzung vor.<br />
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02. April 2008. Nr 2 erscheint am 15. April.
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