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Das erste Kapitel der FELDBERICHTE: Psychonauten - Degenesis

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i n h a l tE I N L E I T U N GK A P I T E L 1 : R E F U G I U MB O R C A : B E S T A N D S A U F N A H M EA N S I C H T E NK A P I T E L 2 : B R U T S T Ä T T E NF R A N K AP O L L E NH Y B R I S PA N I AP U R G A R EB A L K H A N61 02 22 64 05 05 86 8K A P I T E L 3 : D I S K O R D A N ZB R E N N P U N K T E7 8K A P I T E L 4 : S P E R R Z O N EP H E R O M A N T E NB I O K I N E T E NP R Ä G N O K T I K E RP S Y C H O K I N E T E ND U S H A N IA B S C H L U S S B E R I C H T8 89 41 0 01 0 61 1 01 1 65


orcabestands-A U F n a h m eL A G E B E R I C H TDie Luft ist wie gefroren und hängt als Kristallwolke zwischenbleigrauen Wolken und blendendem Weiß. Wir befinden unsüber <strong>der</strong> Eisbarriere. Nordwind trägt Pulverschnee mit sich,wirft ihn über Gletscher und Ruinen aus. Etwas sticht uns insAuge: Ein roter Fleck dort unten, wie mit einem Pinsel aufeine riesige Leinwand gespritzt. Wir schweben näher heran.Der Schnee ist zu einem roten Matsch zertrampelt, Fellfetzenkleben an langen Knochen. Da! Eine weiße Fläche schiebtsich vor die Spritzer, zwei schwarze Murmeln blicken zu unsempor. Gliedmaßen heben sich vor dem roten Untergrund ab:wir erahnen zwei drahtige Arme, so angewinkelt wie bei diesenInsekten, diesen Gottesanbeterinnen. An den Gelenken sitzenWucherungen, o<strong>der</strong> Fühler. Jetzt verwischt es, kurz sehen wirdie Umrisse eines humanoiden Körpers, dann verschmilzt dasWesen wie<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Schneelandschaft.Wir streichen über Gletscher <strong>der</strong> Sonne entgegen. Eiswehen,die so genannten Sastrugis, breiten sich unter uns zu einemeingefrorenen See bei Wellengang aus. In <strong>der</strong> Ferne ein Blitzenwie von einem Spiegel, aber es ist zu weit entfernt, um etwas zuerkennen, und es liegt nicht auf unserem Weg. Möglicherweiseeine <strong>der</strong> seltenen Caterpillar-Plattformen <strong>der</strong> Chronisten auf<strong>der</strong> Suche nach überfrorenen Kellern des Urvolks.Die Luft wird wärmer, die Grate <strong>der</strong> Gletscher zerlaufen zusanften Hügeln. An Abbruchkanten glitzert Wasser. Wir sindjetzt über <strong>der</strong> Tundra, noch weit entfernt von je<strong>der</strong> menschlichenSiedlung. Wir halten Ausschau nach den verräterischen Ringwällen<strong>der</strong> Sporenfel<strong>der</strong>, finden aber nichts. Der Norden ist sauber.Justitian und <strong>der</strong> Staublunge droht von hierher keine Gefahr.Wir kommen gut voran, werden von warmen Luftströmenaus dem Südwesten in die Höhe gehoben. Unter uns ordnensich grau-rote Vielecke zu einem chaotischen Mosaik: einMosaik aus Ruinen. Rauchsäulen markieren Brennpunkte <strong>der</strong>Zivilisation. Justitian verschwindet unter Wolkenmassen. Eswird dort heute schneien. Wir gehen tiefer. Eine Landschaft,schwarz wie Pech, breitet sich vor uns aus. Kristalline Strukturenzwirbeln sich in den Himmel, schlucken Licht und Leben.Spitalier in Vollanzügen stapfen durch die Ödnis, ziehen langeWirbelschleppen aus schwarzem Staub hinter sich her. Siewerden Proben nehmen, Proben aus dem Zonenbrand. Wirerkennen mehrere ineinan<strong>der</strong> liegende Wälle in <strong>der</strong> Form vonHalbmonden, aber auch sie sind schwarz und zerfurcht. <strong>Das</strong>Spital hat hier ganze Arbeit geleistet. Zu welchem Raptusdieses Muttersporenfeld auch gehört haben mag, dem Landwurde die Erinnerung daran aus dem Fleisch gebrannt.Wir schwenken nach Westen, ziehen über Domstadt hinweg.An <strong>der</strong> Grenze zu Franka gleißen Leuchtpatronen am Himmel.Ein wogen<strong>der</strong> Schatten schwappt aus einem Tal in eine Ebene,umwallt einen Steinhaufen und zerfließt zu mehreren Armen,dann fressen sich Flammenlanzen hinein. Brandgräben zeichnenlo<strong>der</strong>nde Striche in die Landschaft. Es sieht so aus, als obSpitalier und Wie<strong>der</strong>täufer bestens auf diesen Schwarm vorbereitetwaren. Die Front im Westen hält.Der Mittagssonne entgegen. Die Alpen liegen blaugrauim Dunst vor uns. Die warmen Luftmassen aus dem Westenwerden von den frostigen Südwinden ordentlich durchgewalkt,und es wird wie<strong>der</strong> kälter. Nur für einen Augenblick meinenwir fünf in V-Formation marschierende Gestalten auszumachen,eine jede von weißen Tupfern überkrustet. Aber esbleibt ein Einzelbild, das bereits auf <strong>der</strong> Netzhaut verblasst.10


Wir sind an <strong>der</strong> Grenze zu Borca, und wir könnten hier undjetzt kehrt machen, denn solange die Hellvetiker die Passstraßenund –Tunnel kontrollieren, werden die Abson<strong>der</strong>lichenniemals die Alpen bezwingen. Nur noch einige Kilometer überdie Bergketten… Aber was ist das? Kristalline Wolken klebenan den Hängen, bewohnt von dunklen Schemen. Wir sind zuweit, das geht uns nichts an. Wir schwenken Richtung Sichelschlagund folgen seinem Verlauf nach Norden. Die aufgebrochenenErdschollen, zwischen denen zäh das Magma an dieErdoberfläche drängt; die kochend heißen Wasserfontänen;verbranntes Land, aufgeworfen zu einem verwirrenden Systemaus Canyons – das alles ist beruhigend. Die Abson<strong>der</strong>lichenwerden diese Barriere nicht überschreiten können.Quod erat demonstrandum: Borca ist sicher, Borca ist rein.D I E L I N I E N M Ü S S E NH A LT E NBorca mag als sicher gelten, und den Preis dafür zahlen Spitalierund Wie<strong>der</strong>täufer. O<strong>der</strong> zumindest lässt das Spital genaudas alle wissen. Aber wie ist es wirklich um Borca bestellt?N O R D E NDie Eisbarriere. Eine scheinbar endlose Region klirren<strong>der</strong> Kälte,beherrscht von Schneestürmen. Weiter im Norden türmen sichGletscher und zermalmen die Städte des Urvolks. Eingepackt inmehrere Lagen Felle wird ein Schrotter hier einige Tage überlebenkönnen, bevor ihm das Blut gefriert und <strong>der</strong> Schnee seinegefrorene Leiche zudeckt. Und wie sieht es mit den <strong>Psychonauten</strong>aus? Nun, es wurde noch nie ein Abson<strong>der</strong>licher gefunden,<strong>der</strong> durch Kälte zu Tode gekommen ist (angeblich gibt es Untersuchungengenau dazu im Danziger Spital). Trotzdem: DieEisbarriere ist sicher. Vielleicht gibt es dort oben nichts, was die<strong>Psychonauten</strong> anzieht, o<strong>der</strong> sie bevorzugen den direkten Wegvon Sporenfeld zu Sporenfeld. Der vorherrschende Nordwestwindlässt nicht einmal zu, dass sich Sporenwolken über <strong>der</strong>Eisbarriere türmen, um ihre Saat in die verschneiten Ruinen abzuregnen.Es gibt wohl kaum einen an<strong>der</strong>en Ort in Europa, andem sich Spitalier so angstfrei ohne Maske bewegen könnten.S Ü D E NDie Alpen und damit Hellvetika bilden die natürliche GrenzeBorcas im Süden. Eines muss man den Soldaten lassen: Siehalten ihre Berge sauber. Berichte über getötete Abson<strong>der</strong>licheliegen dem Spital nicht vor, aber <strong>der</strong> Grund dafür ist eher in<strong>der</strong> Nachrichtenpolitik <strong>der</strong> Hellvetiker zu suchen. Man bleibtdort lieber unter sich. Letztlich zählt das Ergebnis. <strong>Psychonauten</strong>aus Purgare? Nur über die Leichen <strong>der</strong> Hellvetiker, und daswird schwierig.O S T E NAn schlechten Tagen bricht die Erdkruste auf, lässt die Bergeerzittern. Kochendes Wasser zischt durch Felsspalten undsinkt als Dunst in die Täler. Magma frisst sich an die Oberfläche,eine rot glühende Blase, die zu schwarzem Basalt abkühlt.Gase wallen in Trichter, über ihnen greifen Rauchfahnen wiedas Astwerk eines toten Waldes in den Himmel. An gutenTagen, da regnet es. Der ganze Dreck plätschert gebundenzu Boden, in dunklen Schlieren fließt er über die Felsen undstürzt schließlich von den Bruchkanten <strong>der</strong> Erdschollen in dieTiefe. Aber selbst an diesen guten Tagen ist <strong>der</strong> Sichelschlagfür einen Menschen unpassierbar. Für <strong>Psychonauten</strong> nicht. Eswurden Biokineten in Borca gesichtet, und nahe Danzig sollendie Muschelträger <strong>der</strong> Prägnoktiker gesehen worden sein. Gutnur, dass die Zahl <strong>der</strong> Berichte gering ist. Der Sichelschlagbirgt scheinbar selbst für die Abson<strong>der</strong>lichen Gefahren.W E S T E NZwischen dem Grenzposten Nord und dem südlichen Stützpunktwestlich von Mulhouse erstrecken sich hun<strong>der</strong>te Kilometerraues Terrain. Selbst wenn die Spitalier alle einhun<strong>der</strong>tSchritt einen Turm in die Landschaft rammen und alle rundum die Uhr besetzt halten würden – in <strong>der</strong> Nacht wäre einaufgedunsener Pheromant, <strong>der</strong> sich durch die Tundra schleppt,ebenso unsichtbar wie <strong>der</strong> Stein, über den er stolpert. Nicht zuvergessen die Bedrohung durch den Schwarm. Wenn die Spitalierihre Truppen zusammenziehen, dann im Westen Borcas.P H E R O M O N M A R K E NSchauen wir uns die Grenze zu Franka auf einer Spitalierkartein Mulhouse an: <strong>Das</strong> Raintal schlängelt sich von Süden nachNorden durch ganz Borca und versandet irgendwo in <strong>der</strong>nördlichen Tundra (ab dort wird es nur noch als gestrichelteblaue Linie dargestellt). Westlich davon und ab <strong>der</strong> Höhe vonDomstadt erstrecken sich weite Ebenen. Rote Punkte und Liniensind hier nicht eingezeichnet. Wenn sich in dieser Gegendalso Spitalier aufhalten, so ist es Mulhouse nicht bekannt. Undselbst wenn Hygieniker dort Bodenproben entnehmen sollteno<strong>der</strong> Preservisten auf Pferden durch die Einöde traben, siesind dort nicht wegen des Schwarms. Nur einmal vor überzwanzig Jahren ergoss sich aus den Ardennen bei Liège dieInsektenflut und schwenkte Richtung Osten. Ein flirren<strong>der</strong>Teppich aus Chitinleibern wallte damals durch die Ruinenund hinaus auf die freie Fläche. Doch Schwaden aus Insektenrissen vom Hauptstrom ab und verloren sich im Umland – <strong>der</strong>Schwarm verlor seine Form und dünnte aus. Ein Fest für Rattenund Krähen, von denen sonst nur Fellfetzen und Fe<strong>der</strong>nblieben, wenn sie in seinen Weg gerieten. Die Rolle von Jägerund Beute waren vertauscht. Was war passiert?Blicken wir wie<strong>der</strong> auf die Karte: Graubraune Flächen deutenGebirge an – die Ardennen haben wir schon gesehen, dortsteht in feinen, hohen Lettern „Eifel“, weiter unten „Hunsrück“und an einer langgezogenen Wurst, die sich fest an dasRaintal schmiegt (dort führt es noch Wasser), „Vogesen“.Die Nahtstellen zwischen den Gebirgen wurden mit einemroten Stift nachgezogen. Diese Linien sind dick eingezeichnetentlang des Moseltals, westlich <strong>der</strong> Ramein-Region undStrasbourg, und sie verästeln sich tief nach Franka hinein. IhrWeg folgt immer Tälern o<strong>der</strong> Flussbetten. Es sind die Wegedes Schwarms, von den Spitaliern auf <strong>der</strong> Karte als Kanälevermerkt. Kanäle deshalb, weil sich <strong>der</strong> Schwarm wie eineFlüssigkeit verhält. Er brandet in Täler, strömt durch alte Tunnel,fließt als schwarzes Gewimmel durch Becken und durchverstaubte Wasserstraßen <strong>der</strong> Vorzeit. <strong>Das</strong> einzelne Insekt, seies ein Käfer mit seinen zappelnden sechs Beinchen o<strong>der</strong> eineWespe, die sich hoch erhebt, kann ausbrechen und die Bergflankenproblemlos überwinden, doch <strong>der</strong> Schwarm als Kollektivkann es nicht. Zerfasert er in <strong>der</strong> Ebene, ist er verloren.Im Spital wurden verschiedene Schwarminsekten untersuchtund Exemplare gefunden, die einen hohen Pheromonanteil amHinterleib trugen. Sie selbst besaßen keine Drüse, die dieses11


Sekret auszuscheiden in <strong>der</strong> Lage war (wer weiß, wo sie es herbekommen),doch scheinen diese Insekten essenziell für denZusammenhalt des Schwarms zu sein. In Experimenten zeigtesich, dass an<strong>der</strong>e Insekten sich hinter ihnen zusammenfandenund den gelegten Pheromonspuren folgten. <strong>Das</strong> Pheromon istdabei so erfolgreich, dass es die Tiere selbst bei <strong>der</strong> Nahrungsaufnahmeo<strong>der</strong> <strong>der</strong> Paarung einfängt und in den Schwarm einglie<strong>der</strong>t.Diese so genannten Trägerinsekten bilden die Front.Driften sie zu weit auseinan<strong>der</strong>, und das geschieht zwangsläufigin Ebenen, besteht die Gefahr, dass sie nicht mehr zueinan<strong>der</strong>finden. Der Schwarm zerreißt.Damals bei Liège muss er sich verirrt haben. O<strong>der</strong> er warlediglich ein abgestoßener Teil eines größeren Schwarms. <strong>Das</strong>ses die Insekten nicht bis in die Staublunge schafften, war alsonicht den Spitaliern zu verdanken, auch wenn <strong>der</strong> damaligeAngriff von <strong>der</strong> Propagandamaschine zu einem Sieg hochstilisiertwurde.Seitdem hatten die Ärzte genug Gelegenheiten, ihre Nützlichkeitzu beweisen. Die Forschung ist inzwischen weit fortgeschritten:Seit einigen Jahren platzieren Hygieniker in denrot markierten Tälern Pheromonmarken aus den Laboren desCors. Künstlich hergestellte Duftstoffe werden dazu in Fetteingespritzt, dieses dann auf Tücher geschmiert. Die Ärztedeponieren diese Lumpenballen an Abzweigungen im Wegenetzdes Schwarms und lenken ihn so um. <strong>Das</strong> ist <strong>der</strong> Plan. Schwadenwerden aus <strong>der</strong> Flut herausgerissen, erobern die Bergflankenund schwappen in benachbarte Täler. Täler, in denen Brandgräbengezogen o<strong>der</strong> Echein-Spinnen ausgesetzt wurden.Stücke aus einem großen Schwarm herausreißen, ja, aber ihnals Ganzes umlenken, das gelang noch nie.W E S T F R O N TBeobachten, registrieren, reagieren, das ist die Devise an<strong>der</strong> westlichen Front. Ist man hier Krieger, Arzt o<strong>der</strong> Wissenschaftler?Nachts heulen die Sirenen, lassen Spitalier ausihren Zelten stürmen, in eine Welt aus blassen Gesichtern undgrellen Karbidlampen. Angriff? Übung? O<strong>der</strong> doch nur wie<strong>der</strong>ein Tier, das in eine Fallgrube gestürzt ist und den Alarmausgelöst hat?Von den Ardennen bis hinunter zu den Vogesen ist die Regionsporadisch gespickt mit Grenzbefestigungen. O<strong>der</strong> nennenwir sie lieber Lager, solange „Befestigung“ etwas verspricht,das diese Orte nicht halten können.Die äußere Verteidigung bildet eine Reihe ins Erdreichgerammte Spreizer, alle mit dünnen Drähten verbunden, andenen Glöckchen hängen. Nähern sich Leperos o<strong>der</strong> <strong>Psychonauten</strong>,so krampfen die Mollusken und die Schwingungüberträgt sich auf die Drähte: Die Glöckchen bimmeln. Lei<strong>der</strong>hat Wind den gleichen Effekt, und so bleibt es nicht aus, dassWachen Tag und Nacht das Lager patrouillieren. AkustischeVerstärker an den Glöckchen und Sirenenanlagen mit Wackelkontaktmachen das Lagerleben nicht einfacher. Den Chronistensei dank.Wo es sich anbietet, greifen Famulanten zum Spaten undschachten einen Graben um das Lager herum aus, <strong>der</strong> Abraumwird innen zu einem Wall aufgetürmt. Als Behausung hält meistdas Standard-Zelt aus Alugestänge und geölten Leinenplanenher. Die Spreizer bitte draußen lassen, es gab schon unangenehmeUnfälle durch sich plötzlich entladende Kinetikspeicher.Befinden sich urvölkische Gebäude o<strong>der</strong> erhaltene Kellerräumeim Operationsgebiet, werden diese wie<strong>der</strong> hergerichtet:Hygieniker säubern die Gemäuer mit Pestiziden und Desinfektionsmitteln,dann stellen Schrotter (meist Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong>Seiler aus Justitian) Generatoren auf. Famulanten dürfen dieWände kalken.Die Lager sind oftmals in zwei Bereiche unterteilt, dieGrenze wird durch eine zentrale Straße gezogen: Zeltplätze,Labore und Kühlkammern <strong>der</strong> Spitalier auf <strong>der</strong> einen Seite, einFeldlager <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>täufer auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en. Die Famulantenjammern, die Orgiasten grinsen, so richtig finden die beidenSeiten nicht zusammen.I N F E K T I O NFlankiert von zwei Preservisten ritt am 15. Mai 2579 KonsultantHoltz in eine Befestigung etwa zwei Wegstunden nördlichvon Mulhouse ein. Er stieg ab, löste eine gekalkte Le<strong>der</strong>taschevom Sattel und stapfte durch die schlammige Rinne (genannt„die Allee“) zwischen Pfosten hindurch ans Ende des Lagers.Zu seiner Linken drückten sich Zelte in den Matsch (die rotenSpitalierkreuze auf den Planen waren fleckig und rissig), zuseiner Rechten reihten sich gedrungene Betonklötze ohneFenster o<strong>der</strong> Türen. Schnee türmte sich auf ihnen. Zwischenzweien ging es eine breite Rampe hinab in die Tiefe, Holtzbog dort ein. Es war glatt, aber die Lagerleitung hatte dafürgesorgt, dass <strong>der</strong> Schneeschlamm an den Rand gefegt wordenwar und so ein schmaler Weg geschaffen wurde. Unten an <strong>der</strong>Tür warteten bereits die Famulanten. Sie boten Holtz an, seineTasche zu tragen, doch er winkte ab und schritt voran. Es gingdurch hell erleuchtete Gänge, in denen <strong>der</strong> beißende Geruchvon Desinfektionsmittel hing. Der Beton war geschrubbt, dieWände gestrichen. Wo Spitalier sich nie<strong>der</strong>lassen, schaffen siesich ihr eigenes Spital: Mein Zuhause ist meine Festung, undin <strong>der</strong> will ich mich auf den Pott setzen können, ohne dassMilben mich erobern.An einer Kreuzung zögerte Holtz, und sofort schob sich einFamulant nach vorne und wies den Weg einen Gang hinunter.Die Schiebetür am Ende wurde von innen bereits aufgeschoben(lautlos: gut geölt, wie Holtz bemerkte), und da lag erschon auf dem OP-Tisch: Der Pheromant. Holtz ging näherheran, umrundete den Tisch. Ein junges gesundes, weiblichesExemplar, die Hand- und Fußgelenke in Eisenschellen. Holtzbeugte sich über einen Unterarm des Pheromanten und tasteteihn ab. Keine Knubbel, dafür vergrößerte Poren. Gut, dieserPheromant hatte sich bereits verausgabt und sein Pulver verschossen,wahrscheinlich bei <strong>der</strong> Gefangennahme. Er spürte,wie sich die Muskeln unter seinen Fingern strafften. Der Abson<strong>der</strong>lichewehrte sich noch immer. Für einen Augenblick sahHoltz ihm ins Gesicht: Breite Wangenknochen, kleine Augen,die in straffer Haut steckten. Ein paar Haare hätten dem Gesichtgut getan. Holtz stellte seine Tasche auf den Tisch undklappte sie auf. Zum Vorschein kamen mehrere Ampullen, diein einem roten Futteral steckten. Darunter eine Spritze mitStahlgriff und Stahlnadel.Die Famulanten versammelten sich um den Konsultantenund den Operationstisch, in <strong>der</strong> Hoffnung auf eine Operation,o<strong>der</strong> zumindest eine Unterweisung. Es gab keine Lektion.Holtz injizierte dem Pheromanten den Inhalt einer Ampulle,tauchte die Nadel in Desinfektionslösung und verstaute dieSpritze wie<strong>der</strong>. Die Tasche schloss er, dann machte er Anstalten,den Raum zu verlassen. Ein Famulant trat vor und fragte,12


was <strong>der</strong> Herr Konsultant injiziert habe. Holtz schaute denFamulant lange an, dann sagte er „Eine Botschaft“ und verließden Saal. Er blieb über Nacht, nahm am Morgen eine Blutprobevom Pheromanten und ordnete an, den Abson<strong>der</strong>lichen amNachmittag freizusetzen.Zwei Wochen später berichteten Späher <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>täufervon verlassenen Schlotbauten westlich <strong>der</strong> Ruinenstadt Épinal.Leichen hätten sie nicht gesehen, aber <strong>der</strong> süße Geruch vonVerwesung habe in <strong>der</strong> Luft gehangen. Etwa zeitgleich fielenin <strong>der</strong> nahegelegenen Befestigung fünf Famulanten durchLungenentzündung aus, fünf Tage später waren es bereitszwanzig. Wie<strong>der</strong> fünf Tage später sollen auch in den nördlichergelegenen Lagern <strong>erste</strong> Fälle beobachtet worden sein. DieKrankheit hängt seitdem wie ein Miasma über <strong>der</strong> Westfront,befällt Junge und Alte, Geschwächte wie auch Gesunde. Sieist selten tödlich, aber sie überdauert irgendwie im Schlamm,und die Inkubationszeit beträgt zwei und mehr Wochen, in <strong>der</strong>sie auf an<strong>der</strong>e Menschen überspringen kann. In den Lagernentkommt ihr keiner. Sie ist als die Frontgrippe bekannt, undbei manchem gilt sie als schlimmerer Feind als <strong>der</strong> Psychonaut.Die Moral ist auf ihrem Tiefstpunkt.R Ü C K Z U G U N D N E UG R U P P I E R E NDie Bedrohung durch den Schwarm ist weiterhin akut. TrotzVernichtung <strong>der</strong> Weichenstadt nahe Bassham durch die Wie<strong>der</strong>täuferist die Angriffslust <strong>der</strong> Pheromanten ungebrochen;das Niemandsland zwischen Franka und Borca ist ein Wespennest.Spitalier schreiten die Grenze tagtäglich ab, zerschlagenTermitenhügel und spicken die Täler mit Mollusken-Sprengminen,doch wir reden hier von einer Fläche von mehrerentausend Quadratkilometern. Selbst wenn wir unsere Einheitenaus Pollen und Purgare abziehen würden, eine lückenloseÜberwachung könnten wir schwerlich gewährleisten. Aberunsere Chancen, den einen Pheromanten zu erwischen, <strong>der</strong>jetzt noch unbemerkt durch unsere Reihen schlüpft und einSporenfeld in <strong>der</strong> Staublunge erschafft, würden zweifellossteigen. Einige Konsultanten vertreten deshalb die Meinung,Pollen und überhaupt alles östlich des Sichelschlags aufzugeben.Wenn die Gefahr auf unserer Seite <strong>der</strong> Verwerfung getilgtist, können wir wie<strong>der</strong> den großen Schritt wagen. Doch bis essoweit ist, müssen wir uns auf Borca konzentrieren.F R O N T G R I P P EDie Frontgrippe ist mit ihrem Krankheitsprofil von3W(8)[wöchentlich, 1 Traumaschaden] für verwundete, krankeo<strong>der</strong> alte Menschen gefährlich. Dem frischen Fleisch aus demSpital wird sie jedoch schwerlich etwas anhaben können. Nurim Notfall werden daher Medikamente verabreicht – diesereduzieren die Erschwernis beim wöchentlichen Aktionswurfauf Körper+Härte um 2.13


R E Q U I E MEs scheint, als setze die Sonne auf ihrem Weg in ihr Nachtquartierden Horizont in Brand. Rauchsäulen hängen schrägim Abendwind und greifen nach den Sternen. Famulant Piszkosteht auf einem hölzernen Gerüst, das die Kameraden untenim Lager vollmundig als Beobachtungsturm ausweisen. Erlehnt sich auf das Gelän<strong>der</strong> und blickt über die dünn gesetztenFichten gen Westen. Nur noch <strong>der</strong> obere Bogen <strong>der</strong> Sonneglimmt über den Bergen, <strong>der</strong> wabernde Schein eines sterbendenTages. Es gibt Schlimmeres, als hier zu stehen und Wachezu halten, denkt Piszko und verlagert das Gewicht. Die Holzbohlenknirschen. Beispielsweise dort drüben im Plagensturmzu stehen und Brände zu legen. Neue Lichter flammen auf,dann ein Blitz.„Scheiße.“ Piszko schiebt den Kopf vor, als könne er sobesser erkennen, was sich fünf Kilometer weiter zugetragenhat. Er atmet schneller. Famulantin Werheim ist da draußen.Die Bäume schütteln sich, als greife ein Sturm nach ihren Wipfeln.Donnergrollen erhebt sich. Jetzt spürt auch Piszko einenwarmen Lufthauch. Er richtet sich abrupt auf, starrt noch einenAugenblick auf den Flammenball, <strong>der</strong> sich aus dem Blitzentwickelt hat, dreht sich herum und macht einen Satz zumFeldtelefon, blickt auf die Kurbel, denkt „bis ich das Teil ansLaufen kriege“, beugt sich über das Gelän<strong>der</strong> und brüllt:„Brennerdetonation, Brennerdetonation!“Er eilt wie<strong>der</strong> zur an<strong>der</strong>en Seite <strong>der</strong> Beobachtungsplattform.Weitere Flammenbälle neben dem <strong>erste</strong>n blähen sich auf. Piszkofährt sich mit <strong>der</strong> Hand über die Stirn. Er glüht. Und seineFreundin brennt.Unten ruft jemand, aber Piszko v<strong>erste</strong>ht es nicht. Er hörtStiefelgetrampel, sieht zwei Lichtkegel in den Wald greifen. Siereißen Baumstämme aus dem Dunkel, malen Schlagschattenauf den Waldboden. Eine Wand aus Rauch erhebt sich dortdraußen und schiebt sich vor die funkelnde Perlenkette <strong>der</strong>Brände. Piszko schaut auf seine Hände. Sie umklammern dasGelän<strong>der</strong>, dass die Knöchel wie geschälter Knochen schimmern.Wenn er losließe, würde er fallen, denkt er, und schweiftmit seinem Blick wie<strong>der</strong> zum Horizont, sucht die Nähe zuFamulantin Werheim. Die Brände sind erloschen. Aber nein,die helle Linie in <strong>der</strong> Ferne, befeuert von <strong>der</strong> Sonne und durchstoßenvon Hügelketten, sie ist von <strong>der</strong> Schwärze geschlucktworden. Nacht? Zu früh.Die Luft vibriert. Piszko spürt die Schwingungen in seinenWangenknochen, schüttelt den Kopf, als wolle er ein lästigesInsekt verscheuchen und reibt sich die Augen. Es war ein langerTag – und für Werheim ein zu kurzes Leben. Ihr Gesicht,umrahmt von seidiger Schwärze, schleicht sich in sein Bewusstsein.Sie lächelt und zwinkert ihm zu, ihre Wangen sindgerötet, dann beißt sie sich auf die Unterlippe. Sie öffnet denMund, will etwas sagen, da rucken ihre Augen zur Seite. IhrGesicht glänzt. Sie hat Angst. Wächserne Perlen rinnen ihreStirn hinab, vermischen sich mit dem Strom von ihrer Nase,ihrem Kinn. <strong>Das</strong> Fleisch schmilzt. Es rinnt von ihrem Schädel;Haarbüschel sind Treibgut in einem blutigen Ozean. Piszkoschwankt und krallt sich am Gelän<strong>der</strong> fest. Er ist zurück imHier und Jetzt, riecht den Duft von Kiefernadeln (er wird ihnsein Leben lang hassen) und hört dieses Summen, das vomWaldboden zu ihm heraufschwingt. Die letzte Lichtquellesind jetzt die Strahler, die noch immer über die Bäume zittern,hin und her wie irrsinnige Giganten-Glühwürmchen. <strong>Das</strong>Summen schwillt an. Eine Masse drückt sich durch den Wald,dunkel und urtümlich, schluckt das Licht <strong>der</strong> Strahler. Untenbellt jemand Befehle, doch die Schreie sind nicht mehr als dasWimmern eines Welpen gegen das Getöse <strong>der</strong> Maschinen imTechnikcentrum.Dunkelheit schwappt über die Strahler, verschluckt die Besatzung.Piszkos Augen knistern. Sein Herz ist umschlungenvon Stahlbän<strong>der</strong>n. Beruhigend.Die Luftvibration verwandelt sich.Als stände er in einem Laubwald und ein Sturm käme auf.Um ihn herum ein Rascheln und Rauschen… Etwas tickt gegenseine Wange (sein Herz macht einen Satz, doch die Fesselnhalten), er fährt mit <strong>der</strong> Hand hoch, er hört ein Brummen seinOhr passieren, und was auch immer es war, es ist weg. DerTurm schwankt; Piszko ist sich sicher, dass die Balken undPfeiler knarren. Er beugt sich über das Gelän<strong>der</strong> und denkt,irgendwo sei ein Damm gebrochen und habe ihnen eineSchlammlawine geschenkt (was denkt er da?), damit sie sühnenfür… Er sieht Verwirbelungen und blitzende Lichtpunktein <strong>der</strong> Flut und weiß, dass sich seine Augen an die Dunkelheitgewöhnt haben. Will er das überhaupt? Wie<strong>der</strong> spürt er etwasgegen seine Wange prallen, spürt es auf <strong>der</strong> Kopfhaut kribbeln.Es sind Insekten. Sie umwogen seinen Turm, ergießen sich indie Zelte, strömen in Mün<strong>der</strong> und Nasen. Und inmitten desschillernden Chitinstroms sind diese Schemen. Sie brechen nurkurz an die Oberfläche, aber er sieht ihre Konturen, sieht wiesie auf allen Vieren vorpreschen. Ihre Bewegungen sind ruckhaftund schnell, die Koordination ihrer Gliedmaßen erinnertan einen Käfer, dem man das mittlere Beinpaar ausgerissenhat. Da ist einer: Insekten perlen von einem knotigen Kopf;einen Augenaufschlag lang starrt Piszko in vierfach facettierteAugen, dann taucht <strong>der</strong> Kopf wie<strong>der</strong> ab und lässt seinen Rückenin einer geschwungenen Bewegung folgen. Die Wogenbrechen über dem Wesen zusammen, und es ist weg.Piszko tastet nach seiner Gasmaske; es ist mehr eine angelernteReaktion als ein bewusster Prozess. Die Luft riecht nacherhitztem Zucker, durchwoben von Schwaden fauligen Fleischs.Kristallklarer Speichel strömt in Piszkos Mund zusammen,aber er weiß nicht, ob er würgen muss o<strong>der</strong> von unbändigemHunger heimgesucht wird. Zwischen seinen Fingern spürt erdas Gummi <strong>der</strong> Gasmaske, fühlt, wie es sich dehnt, wenn erdaran zieht. Ein Ruck, und es würde über seinen Schädel rutschenund den Gestank (Wohlgeruch) aussperren. Die Maskeentgleitet ihm (er wirft sie weg), er bückt sich nach ihr (da ist wasam Boden) und erblickt den kahlen Plankenboden (Wellen vonschwarz-glänzenden Käfern mit langen Fühlern). Die Insektenverwirbeln, fließen zu Linien und Kreisen zusammen (wo ist dieGasmaske?). Piszko glaubt, Schriftzeichen und Diagramme inden sich ständig verän<strong>der</strong>nden Formationen zu erkennen – eineLandkarte von Franka, Werheims Gesicht, das menschliche Innenohrmit lateinischen Bezeichnungen. Er setzt sich in den Insektenstrudelund weiß, dass sich Millionen Fühler zitternd nachihm recken. Jeden Luftzug bemerken sie, jede Schallwelle wehtwie ein Sturm über den Wald <strong>der</strong> Sinneshaare. Was weiß er?Er hat sich hingesetzt und seine Wachpflichten vernachlässigt.Wärme durchströmt ihn. Er gähnt. Etwas kitzelt ihn im Rachen,doch er hat es im gleichen Moment wie<strong>der</strong> vergessen. Piszko istmüde, aber sehr glücklich. Er sollte nach unten gehen und eineTasse Suppe essen, bevor er mit Werheim den Tag beschließt. Ja,das wäre schön.Piszko steht auf, geht zu <strong>der</strong> Leiter und setzt seinen Fuß aufdie <strong>erste</strong> Sprosse. Er lächelt. Werheim wartet bestimmt schonauf ihn.14


Von den Ardennen hinunter bis zu den Vogesen sind es etwa250km. Ziemlich viel für einen Haufen Reiter, wenn eine Or<strong>der</strong>vom Spital an alle Grenzposten ergehen soll. Daher greifendie Ärzte auf das Funknetz <strong>der</strong> Chronisten zurück. Über Relaisstationenin ganz Borca werden die Signale von den Lagernnach Justitian geleitet, dort im Cluster entgegengenommen,Kabel umgestöpselt und somit an ihr Ziel weitergeleitet.Ganz uneigennützig ist das nicht. Die Spitalier gleichenüber das Funknetz ihre Positionen ab, und die <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>täufer-Rotten.Die Chronisten notieren fleißig. Was <strong>der</strong> Clustermit diesen Informationen anfangen wird, das wissen dieÄrzte nicht. Aber sie wissen sehr wohl, dass sich Chronistenmanchmal wie rachsüchtige kleine Kin<strong>der</strong> aufführen – KinkopfgeldE X T E R N EEin Berghang neigt sich gegen den Wind, an die Abbruchkantekrallen sich zwei Tannen. Ihre Wurzeln hängen wie dieverfilzten Haare einer Verstorbenen in die Tiefe. Dreck rieseltauf die zwei Gestalten, die unten stehen und sich gerade dieHand geben. Einer trägt einen dunklen Anzug mit weißenStreifen an den Seiten; er blickt auf und macht einen Schrittzur Seite, wischt sich den Dreck mit <strong>der</strong> freien Hand vomkahlen Schädel. Der an<strong>der</strong>e ist ein Koloss von Mann: SeinKopf scheint in die Schulterlinie hineingeschlagen (die flacheStirn und <strong>der</strong> wirre Blick deuten tatsächlich darauf hin), seineHaare gehen übergangslos in den Gendofellumhang über. Metallplattenragen aus dem staubigen Gewirr wie die Schuppeneines urzeitlichen Giganten; trotzdem scheppert und knirschtnichts – überhaupt ist <strong>der</strong> Koloss sehr ruhig, seine Stimme,mit <strong>der</strong> er jetzt den Spitalier anspricht, ein Flüstern. Der Arztdiagnostiziert eine nicht ausgeheilte Kehlkopfentzündung imKindesalter, o<strong>der</strong> einen rituellen Eingriff. So o<strong>der</strong> so: Für denKoloss ist das gesprochene Wort gefährlich; die Stille ist seinFreund. Denn er ist ein Jäger.Der Spitalier weiß, dass sie hier nicht alleine am Fuße desHangs stehen. Die Jäger schicken zwar ihre größten Männervor, um die Geschäfte abzuschließen (eindrucksvoll gleichfähig, so die einfache Rechnung einfacher Menschen), aberwahrscheinlich hocken oben an <strong>der</strong> Kante schmalbrüstigeSipplinge und überwachen den Handel. Sie mögen allesamtausgemergelt sein, weil sie dem Ausstellungsstück <strong>der</strong> Sippedie Hälfte ihrer Ration abdrücken müssen (das fettige Fleischgeht an den Dicken mit <strong>der</strong> flachen Stirn), aber das macht sienicht ungefährlich.<strong>Das</strong> interessiert den Arzt alles nicht. Auch nicht, dass <strong>der</strong>Koloss niemals die vierzehn Pheromanten im Alleingang erlegthaben kann. Der Spitalier hat die Schädel gesehen, verzerrteFratzen von Männern, Frauen und Kin<strong>der</strong>n, hat sie mit einemSpaten geknackt und die Versporung <strong>der</strong> Hirnmasse überprüft.Bei einem o<strong>der</strong> zweien von ihnen hätte es auch eine Dosis Exgetan (hier ist sich <strong>der</strong> Arzt nicht sicher: Entbrannte sind von<strong>Psychonauten</strong> schwer zu unterscheiden, wenn das einzige medizinischeInstrument zur Hand ein geschliffener Spaten ist),doch alles in allem haben die Jäger ein gutes Auge bewiesen.Der Spitalier greift an seinen Gürtel, löst eine Tasche undreicht sie dem Jäger. Der nimmt sie mit beiden Händen entgegen,als sei sie ein Reliquiar. Er öffnet sie nicht, er vertrautseinem Gegenüber. Und seinen Brü<strong>der</strong>n und Schwestern auf<strong>der</strong> Abbruchkante. Sie würden den Spitalier finden, würde ersie betrügen.Es hat sich herumgesprochen, dass ein versporter Kopfan den Spitalierposten ein paar Wechsel o<strong>der</strong> Medikamenteeinbringt. Nun ist es ein enormer Aufwand und potenzielllebensbedrohlich, einen Pheromanten zu jagen und zu erlegen– dabei geht es nur um einen abgetrennten Schädel. Hier laufeneine Menge Schädel herum, Leperos und normale, sicher,aber wie unterscheiden die Ärzte denn jetzt einen <strong>Psychonauten</strong>-von einem Menschenkopf? Schauen wir genau hin: DerSpitalier stößt den Kopf mit dem Fuß in Position (die Ärztefassen die Schädel nie an) und wirft einen flüchtigen Blick darauf.Maske? Bolzen, Ringe o<strong>der</strong> Sporne, die durch Fett- o<strong>der</strong>Knorpelgewebe gezogen wurden? Zusammengefallene Drüsensäcke?Kahler Schädel, bestenfalls mit drahtigen Stoppelnbewachsen? Einigen Ärzten reicht das, sie zahlen den Jäger ausund winken einen Famulanten herbei, <strong>der</strong> die Sauerei beseitigt.Doch an<strong>der</strong>e sind misstrauischer, verteilen die Ressourcen desSpitals nicht so unbedacht an verlauste Sipplinge. Sie greifensich ihren Spreizer, pumpen die Kinetikpatrone auf, fixierenden Schädel mit dem Stiefel und stoßen die Klinge in dasblutige Bündel. Luft holen. Sitzt die Gasmaske richtig? Dannschnappen die Klingen zu, schneiden durch Fleisch, lassenKnochen krachen. Der Spitalier wischt sich Splitter und flockigeHirnmasse von den Augengläsern und beugt sich zu seinemWerk hinab. Wie eine Fettschwarte einen guten Schinkenausweist, sind die weißen Myzelfäden ein Indiz dafür, dass <strong>der</strong>Schädel einem Homo <strong>Degenesis</strong> gehörte. Die Fäulnis liegt alsFlaum in den Furchen <strong>der</strong> grauen Hirnmasse; verfolgt man miteinem Skalpell ihren Weg, so gelangt man bis zum Hirnstamm.Ein durchwachsener Schinken. Die Hirnflüssigkeit bildet inzwischeneinen dunklen Fleck im Erdreich. Ein wenig ist nochüber, schwappt aufgeschäumt in einer Schädelschale, die beimZertrennen abgesprungen ist: Eine trübe Brühe, die ebenfallsvon Fäulnis befallen ist.Der Spitalier richtet sich auf und bedeutet einem Famulanten,<strong>der</strong> vorsichtshalber etwas abseits steht, dem Jäger dieBelohnung auszuhändigen. Ein Psychonaut weniger.In Mulhouse und Umgebung scheint das Kopfgeld vieleJäger zu aktivieren. Die Spitalier können sich gratulieren.Jeden Tag werfen sie Dutzende Schädel in die Brandgruben,gießen Destillat darüber und zünden sie an. Die Flammenschlagen hoch, es riecht nach gegrilltem Fleisch. Man scherzt.Lagerfeueratmosphäre. Die <strong>Psychonauten</strong>-Population müssteinzwischen ordentlich ausgedünnt sein – aber es werden nichtweniger Köpfe. Dafür häufen sich Berichte von verlassenenDörfern, Schrotter wagen sich nicht mehr in die Ruinen. DieSippen haben die Jagd ausgeweitet, auf alles, was einen Kopfauf den Schultern trägt. Denn genau den wollen sie. In ihrenWerkstätten injizieren sie ihm Fäulnis, die sie vorher in Nährflüssigkeitangereichert haben. Die trübe Suppe erblüht in denSchädeln, und nach zwei Tagen ist ein solcherart behandelterKopf kaum von dem eines <strong>Psychonauten</strong> zu unterscheiden.Mit Knochennadeln stechen sie ihm dann noch größere Porenund rasieren ihn, um die Täuschung perfekt zu machen.Was als ambitioniertes Projekt <strong>der</strong> Spitalier begann, drohteine ganze Region auszurotten.U N T E R B E O B A C H T U N GF Ä L S C H E R W E R K S T Ä T T E N15


<strong>der</strong> mit langen Stäben, an <strong>der</strong>en Enden Funken tanzen. DieWie<strong>der</strong>täufer sind Verbündete, und das Spital muss sich aufsie verlassen können, was schwierig wird, wenn eine Rottein den Elektronetzen <strong>der</strong> Chronisten verreckt (während dieÄrzte auf Entsatz hoffen). In diesem Moment sind auch dieeigenen Truppen gefährdet. Lösung des Problems: Die überdas Funknetz versendeten Daten müssen verschlüsselt werden.„Wie<strong>der</strong>täufer-Rotte unter Orgiast Regus macht sich vonMulhouse in nördlicher Richtung auf den Weg“ ist einer vonvielen Sätzen, die ganz ähnlich, nur mit wechselnden Namenund Orten durch den Äther gemorst werden. Eines haben siealle gemein: Sie sind falsch. Die wahren Informationen sind inbotanischen Beobachtungsberichten kodiert. Von A<strong>der</strong>verästelungin Blättern ist dort die Rede, von schnellem o<strong>der</strong> langsamemWuchs (Bewegungsmuster); von Insektenzählungen proQuadratmeter (Truppenstärke); von knotigen Auswüchsenund verfärbtem Pflanzensekret (Sichtungen). Der Code istsimpel, aber die Chronisten sind naiv. Sind sie doch, o<strong>der</strong>?F U N K T U R MEine Relaisstation, das bedeutet: Ein Generator, <strong>der</strong> einmal amTag anspringt und Energie in die tonnenschweren Akkumulatorenpumpt; eine etwa zehn Meter hohe Sende- und eineEmpfangsantenne, beide mit Drahtseilen stabilisiert, und beideverbunden mit dem Herzstück <strong>der</strong> Anlage, dem Funkgerät.Der untere Teil steckt in einem abschließbaren, konischen Gitterkäfig,<strong>der</strong> wie ein Spitzzelt aussieht, und <strong>der</strong> wie<strong>der</strong>um mitWellblech ummantelt ist. Oben an <strong>der</strong> Spitze hängt ein Kranzaus Sensorien, die in die nähere Umgebung starren. KleineWindschaufeln drehen sich in <strong>der</strong> Brise und quietschen dabeileise; ein unterarmlanges Rohr richtet sich immer nach demWind aus. In ihm wird <strong>der</strong> Staubanteil in <strong>der</strong> Luft gemessen– das hat irgendwas mit Lichtschranken im Inneren des Rohrszu tun, die messen, wie stark <strong>der</strong> Lichtabfall durch Partikel ist.Kommt ein Sturm auf, <strong>der</strong> viel Dreck mit sich bringt, schnappendie Irisblenden <strong>der</strong> Sensorien zu, um die empfindlichenLinsen zu schützen.Eine Relaisstation ist ein Haufen Technik. Wertvolle Technik,die einen guten Preis bei den Chronisten erzielt – natürlichnur so lange nicht zu erkennen ist, dass sie aus einer solchenStation stammt.Die <strong>erste</strong>n Stationen überstanden keine zehn Tage.Die Chronisten stellten Schil<strong>der</strong> auf: „Achtung! Wer Eigentumdes Clusters stiehlt, wird mit dem Tode bestraft! Zutrittverboten!“ Die Relaisstationen wurden weiter ausgeschlachtet,die Schil<strong>der</strong> im Technikcentrum als Kuriosität verkauft. DieChronisten versuchten es weiter, diesmal mit einfacherer Sprache:„Achtung! Eigentum <strong>der</strong> Chronisten. Keine Demontage,sonst tot!“ Die Schrotter freuten sich. Die neuen Schil<strong>der</strong> warenauch sehr schön und ließen sich mit ein wenig Geschick zuansehnlichen Töpfen umschmieden. Schil<strong>der</strong>, die sie genausowenig lesen konnten wie die <strong>erste</strong>n. Jetzt dämmerte es auchden Chronisten: Die meisten Schrotter sind Analphabeten. DieSchnittstelle zwischen Cluster und <strong>der</strong> Welt da draußen mussteangepasst werden.Die Relaisstationen werden heute getarnt und an unzugänglichenStellen errichtet. Wo das nicht möglich ist, hebenChronisten Fallgruben aus, verbergen Fußangeln und legenElektronetze, die über gespannte Drähte ausgelöst werden.Und sie stellen wie<strong>der</strong> Schil<strong>der</strong> auf: Auf ihnen eine stilisierteFigur mit Schraubenschlüssel, die sich an einer ebenfalls stilisiertenRelaisstation zu schaffen macht. Im nächsten Bild liegtdiese Figur auf dem Boden, mit einem Loch im Kopf, vondem geschwungene Linien nach oben streben. Daneben stehteine Figur mit Überwurf und zwei großen weißen Kreisen alsAugen – ein Chronist.Der Cluster setzt seit jeher auf Abschreckung. Diesmalmacht er ernst. Die Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Sensorien kommen zwar verrauschtund in Schwarzweiß in <strong>der</strong> Funkzentrale an, aber aufihnen sind immer noch die Gesichter <strong>der</strong>jenigen zu erkennen,die sich zu nah an die Station herangewagt haben. Der Ausdruckeines solchen Bildes geht an einen Shutter, und <strong>der</strong> wirdin den kommenden Wochen die Schrotterviertel Justitiansnach dem Verdächtigen durchforsten. Wenn er ihn gefundenhat, dann… Nun, hier geht es schließlich um Abschreckung,o<strong>der</strong>?H E X E N J A G DSie stapfen durch das ausgetrocknete Flussbett des Rains, einelange Reihe Menschen. Ihre kahlen Schädel sind vorgereckt, siestemmen sich gegen das Gewicht ihrer Rucksäcke. Gasmaskenauf <strong>der</strong> Brust wippen im Takt des Gleichschritts. Links, rechts,links, rechts. Es sind Spitalier aus Pollen. Sie sind erschöpft,aber glücklich, endlich wie<strong>der</strong> den Fuß auf heimatlichen Bodenzu setzen. Sie freuen sich auf einige freie Tage, auf weiche Betten,auf Frieden. Aber sie sind hier unerwünscht. Sie watetendurch die Sporenwolken nahe Pandora, campierten nur wenigeKilometer von Sporenfel<strong>der</strong>n entfernt. Wer kann sicher sagen,dass sie die Fäulnis nicht bereits in sich tragen? O<strong>der</strong> in ihrerAusrüstung, o<strong>der</strong> unter den Sohlen? Wenn sie einkehren, umeine dünne aber warme Suppe zu schlürfen, wird dort morgeneine faule Oase <strong>der</strong> Abson<strong>der</strong>lichen sprießen?Die Propaganda des Spitals fällt auf die Ärzte zurück:Plötzlich kann je<strong>der</strong> Fremde ein Leperos sein. Und du weißt,was mit dir, deiner Familie und deinem Dorf passiert, wenneiner <strong>der</strong> deinen morgens weißen Flaum aushustet. Die Ärztebewegen sich bewusst in den gefährdeten Regionen. Ihr Risiko.Sicher, jemand muss gegen die Brut vorgehen, aber dannsollen sie gefälligst dort bleiben, wo <strong>der</strong> Feind ist, und nicht dieSaat nach Borca tragen.Die Fäulnis, in Borca ist sie eine Seuche in den Köpfen.F O R S C H U N G S G R U P P EE P I G E N E T I KWarum können genetisch identische Klone unterschiedlicheAugenfarben haben? Die konventionelle Genetik hat dafürkeine Antwort, sehr wohl aber die Epigenetik. Sie beschäftigtsich mit Schaltermolekülen und Eiweißen, die Gene ein- undausschalten. Entscheidend bei <strong>der</strong> Gen-Aktivierung ist dabei<strong>der</strong> so genannte Histon-Code, <strong>der</strong> eine Folge von Modifikationenin Zellkernproteinen ist, die für die Verpackung <strong>der</strong> DNAzuständig sind.Hier setzt <strong>der</strong> Primer an. Er bemächtigt sich <strong>der</strong> Schaltzentrale<strong>der</strong> Gene, aktiviert das, was einen <strong>Psychonauten</strong> ausmacht,und deaktiviert, was uns zu Menschen macht. Dieepigenetische Forschung ist umstritten, legt sie doch eineVermutung nahe: Mensch und Primer müssen sich in <strong>der</strong> Vergangenheitbereits begegnet sein, o<strong>der</strong> gar denselben Ursprung16


H Y P O T H E S E : V E R M E H R U N GVerhörte Abson<strong>der</strong>liche gaben von sich, dass das Erdenchakragleichsam ihre Mutter wie auch ihr Liebhaber sei. <strong>Das</strong> legtdie Frage nahe: Gibt es sexuelle Beziehungen zwischen <strong>Psychonauten</strong>?Und diese Frage wie<strong>der</strong>um wirft eine weitere auf:Gehen aus diesen Beziehungen Kin<strong>der</strong> hervor, und wodurchunterscheiden diese sich von sporengeborenen <strong>Psychonauten</strong>?Die Voraussetzungen für solcherlei Forschung sind in denDanziger Dependancen nahe <strong>der</strong> Ruinen von Pelplin hervorragend.Männliche und weibliche Probanden <strong>der</strong> Biokineten-Gattung wurden über Wochen in den Labyrinthen gehaltenund von Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Forschungsgruppe Epigenetik beobachtet.Je stärker die Probanden versport waren, desto geringerfiel die sichtbare Interaktion aus: Während mit Ex behandelteBiokineten noch miteinan<strong>der</strong> redeten und die Nähe des An<strong>der</strong>ensuchten, schienen sich dieselben Wesen bei hohen Sporendosen(Histon-Abweichung von 40 und mehr Prozent) kaummehr wahrzunehmen. Sie hockten am Boden, die Unterarmeauf die Knie gestützt und den Kopf in den Nacken gelegt.Gelegentlich wechselten sie die Position und wiegten sich. DieForscher an den Noumenon-Vocalizern registrierten allerdingsTonschwankungen, die meist in dumpfes Plockern übergingen.Bei keiner Versuchsanordnung kam es zu sexuellem Kontakt.Sicherlich beweist das nichts, aber es gestattet uns, eine einhaben.Der Fäulnis würde sonst nicht gelingen,subtile Än<strong>der</strong>ungen im Histon-Codezu verursachen; Krebs und Zellatrophiewären weit wahrscheinlicher. Einezufällige Kompatibilität ist nahezuausgeschlossen.Die Forschungsgruppe Epigenetikbefasst sich mit diesen Phänomenen.Sie arbeitet daran, die <strong>Psychonauten</strong>und damit auch den Primer auf <strong>der</strong> biochemischenEbene zu v<strong>erste</strong>hen undmit den gewonnenen ErkenntnissenGegenmittel zu entwickeln.H Y P O T H E S E :H I S T O N - A B W E I C H U N GDie Histon-Abweichung gilt laut ForschungsgruppeEpigenetik als Grad <strong>der</strong> Entmenschlichung.Draußen in <strong>der</strong> Tundra kann sie schwerlichgemessen werden, wenn man nur ein Feldkitauf dem Schoß hat und sich gegen Wind,Wetter und Dreck zur Wehr setzenmuss. Es bedarf eines Labors, in demGewebeproben des Probandeneiner aufwändigen Testreiheunterzogen werden können.Unter den Famulanten hatsich dennoch die Unsittebreitgemacht, die Muskelkontraktions-FrequenzeinerMolluske mit <strong>der</strong> Histon-Abweichunggleichzusetzen. Zwar gibt es Zusammenhänge(eine hohe Versporung verän<strong>der</strong>t den Histon-Code), aberes sind auch Lebewesen mit einer hohen Histon-Abweichungbekannt, bei denen Mollusken nicht anschlagen: So liegt dieAbweichung bei Spaltenbestien weit über 50%, nur dass dasdie Mollusken nicht interessiert – sie treiben wie totes Fleischin ihrer Nährflüssigkeit, wenn sich Spaltenbestien nähern.Die Forschungsgruppe wird noch Aufklärungsarbeit leistenmüssen.E X<strong>Das</strong> Medikament Ex ist die Allzweckwaffe gegen Fäulnis. Esist ein einfaches, aber hoch konzentriertes Breitband-Antimykotikum,das Pilze im Blutkreislauf erfolgreich abtötet. AlsNebenwirkungen können Nierenschäden, Übelkeit und Anämieauftreten, aber wer nimmt das nicht gerne in Kauf, wenndie Alternative ist, dass einem ein Säugling aus dem Leib gekrochenkommt, <strong>der</strong> sich eine Maske mit Schläuchen aufsetztund zu einer Musik tanzt, die nur er hört?Wenn die Epigenetiker Erfolg haben, wird niemand mehr daseine gegen das an<strong>der</strong>e Übel abwägen müssen. Je nach Histon-Abweichung wird es abgestimmte epigenetische Medikamentegeben: Ein Fruchtwasser-Surrogat, in die Embryonalhülle <strong>der</strong>Schwangeren gespritzt, verhin<strong>der</strong>t die Keimung <strong>der</strong> Fäulnis;ein Ex-Ersatz schaltet die für Psychonautik verantwortlichenHistone auf Menschsein. Noch ist das Zukunftsmusik. Dochje<strong>der</strong> Tag kann den Durchbruch bringen.17


fache Hypothese aufzustellen: <strong>Psychonauten</strong> vermehren sichnicht untereinan<strong>der</strong>. <strong>Das</strong> Erdenchakra behält es sich vor, seineBrut nach den aktuellen Erfor<strong>der</strong>nissen zu schaffen – im Augenblick<strong>der</strong> Geburt ist ein Psychonaut bereits ein Auslaufmodell,das alsbald durch eine neue Version ersetzt wird.V E R S U C H : K Ü N S T L I C H ED I S K O R D A N ZT A G 1Wer hätte das gedacht: Schwarze Teufel im Nest <strong>der</strong> Krähe– Neolibyer im Botschafterviertel (Botschafter? In Drangpanzernund bewaffnet mit Maschinenpistolen? Dann sind wir einePutzkolonne!), eifersüchtig gehütet von den Richtern. Nur habendie Schlapphüte jetzt scheinbar eingesehen, dass die Africanerschlechte Partner abgeben, und sie an uns verwiesen. Ob unsdas etwas bringt, wird sich in den nächsten Wochen zeigen; imMoment liegen nur vierzehn pechschwarze Kügelchen in meinerHand: Psychovorensamen. Sie fühlen sich warm und rau an,sind leicht, aber sehr hart. Ich kann sie nicht zwischen meinenFingern zerdrücken. Der Africaner meinte, dass sie bei <strong>der</strong> geringstenFeuchtigkeit austreiben – wenn ihre Zeit gekommen ist.Wann das ist, das bestimmen sie selbst. Sagt er. Wahrscheinlichsollen wir uns über die Samen beugen, selig lächeln und beruhigendeWorte sprechen, bevor wie sie ins pisswarme Erdreichdrücken. Die Schwarzen verarschen uns.Morgen werden wir die Samen in <strong>der</strong> Schutzzone aussäen– vierzehn Quadranten zu je einem Quadratmeter, mit unterschiedlichenKalium-, Phosphor- und Stickstoff-Konzentrationen.Ein Rohrsystem versorgt das Feld mit konstantemTropfwasser, und das darüber aufgespannte Zelt mit doppelterPlane wird eventuellen Pollenflug eindämmen.T A G 8Ich stehe in dem Zelt, atme feuchte Luft und rieche den Schimmelin <strong>der</strong> Erde. Durch die trübe Plane ist die Sonne ein kleinerweißer Punkt mit einem weiten Lichthof – ein Leuchtfeuer indieser Welt aus Schemen und verwaschenen Flächen. Hier drinherrscht Halblicht, nichts hat einen wirklichen Schatten, aberauch nichts erhebt sich aus <strong>der</strong> Dämmerung. Tropfen glitzernauf dem Röhrensystem. Es knistert, wenn sie vom Metallgleiten und auf die Erde fallen. Ich knie mich hin und betasteden Boden: Fühlt sich feucht an. <strong>Das</strong> Geräusch irritiert mich.Knistern würde es vielleicht, wenn die Krume trocken wäreund von <strong>der</strong> Nässe gesprengt werden würde, aber so…Vier mal vier Fel<strong>der</strong>, schwarz wie Teer. Keine Pflanze. Siegehen nicht an, und ich werde mich verantworten müssenfür den Misserfolg. Aber ich bin Arzt und kein Gärtner, verdammt!T A G 1 2Nur ein aufgebrochener Samen, <strong>der</strong> ein grünes Blättchen in dieHöhe reckt. Nur einer! Aber wer weiß, was die Africaner unsda als Psychovoren verkauft haben: Ziegendreck!Dann das Zelt: Eine Stange steht schief nach innen, als obirgendein besiffter Famulant dagegengetorkelt ist und sie nichtwie<strong>der</strong> zurechtgerückt hat.Wie jeden Tag befühle ich den Boden. <strong>Das</strong> ist mein kleinespersönliches Ritual, um mir nicht völlig unnütz vorzukommen.Und er ist feucht, wie er sein sollte. Und er knistert. Was ernicht soll, aber trotzdem macht. Ich bin genervt und gehe...T A G 1 3Knister knister. Lufttemperatur: 24 Grad Celsius. Ich hängedas Thermometer wie<strong>der</strong> an den Fleischerhaken am Zeltgestell;ein bisschen moosig inzwischen, das Gerät, obwohl esextra einen Tropfschutz über <strong>der</strong> Anzeige hat. Mal ehrlich:Niemand hat ernsthaft damit gerechnet, dass <strong>der</strong> was bringt.Die Zeltplane flattert. Ich gehe am Rande des Felds entlang,betaste die Plane: Sie ist feucht und kühl. Und hängt locker wieein Handtuch über <strong>der</strong> Stange. Die beiden Stangen, zwischendenen sie aufgespannt sein sollte, sind abgesackt und neigensich an den Spitzen nach innen. Gestern dachte ich noch anSchlamperei, jetzt spüre ich mein Herz in <strong>der</strong> Brust rasen. DieVerankerungen sind an Ort und Stelle, ich rüttele daran – dieGummis sind straff gespannt und die Stahlheringe sitzen festim Erdreich. <strong>Das</strong> Knistern macht mich verrückt, es klingt,als kippe jemand hinter mir einen Sack voller Käfer aus. Ichhetze nach draußen (ah, Ruhe! Aber sie beruhigt mich nicht)und überprüfe das Zelt von hier; einen fragend blickendenFamulanten verscheuche ich mit einer Handbewegung. Alles inOrdnung. Wie<strong>der</strong> rein. Nichts ist in Ordnung! Ich lasse michauf die Knie fallen, beuge mich hinunter, bis ich die dunkleNässe <strong>der</strong> Erde am Kinn spüre, und sehe es. Der Boden, er istabgesackt, unmerklich nur, aber unbestreitbar abgesackt. Ichkralle meine Finger in den Boden und stoße auf Wi<strong>der</strong>stand.Wie irre kratze ich die Krume beiseite, wische dabei über eineunebene Fläche: Wurzeln. Dichtes, weißes Wurzelwerk. Ich zuckezurück. Es sieht aus wie A<strong>der</strong>n, und sie vibrieren, treibenfeine zitternde Härchen aus. Sie knistern.Ich schreie.<strong>Das</strong> Zelt haben wir fortgerissen, das Gestänge klappert,als <strong>der</strong> Wind unter die Plane greift und es ein paar Schrittemit sich trägt. Zu fünft stehen wir um das Feld, je<strong>der</strong> von unsbewaffnet mit einem Spaten. Kartuschen wurden angefor<strong>der</strong>t,nur welche sollen wir nehmen? Insektizide werden kaum wasbringen, und Herbizide – haben wir so etwas?Ich ramme meinen Spaten tief in das Geflecht, schneide mitmehreren Hieben einen unförmigen Block heraus. Ein Famulanttritt neben mich und schlägt einen Haken in meinen Block,wuchtet ihn heraus. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass diedurchtrennten A<strong>der</strong>n wie<strong>der</strong> austreiben und nach außen greifen,aber da packe ich den Spaten bereits fester und hole zumnächsten Schlag aus. Wie durch einen Fettblock schneidet er.Jemand schreit nach Brennpaste. Wir hacken bis zum Umfallen,dann werde ich von an<strong>der</strong>en weggedrängt. Jemand hatmeinen Platz eingenommen, doch ich will wie<strong>der</strong> nach vorne.Will weiterhacken. Will zerstören, was ich geschaffen habe.T A G 1 4Die Luft schmeckt verbrannt, Ascheflocken torkeln vor meinenAugen auf und ab. Meine Hände sind voller Blasen, meinRücken und mein Nacken schmerzen.Die Truppe ist immer noch dran. Ich packe einen Famulantenan <strong>der</strong> Schulter und drehe ihn zu mir um. Er sagt, dass siedie Kernwurzel entfernt und die Mulde ausgebrannt hätten,jetzt würden sie überall Probebohrungen vornehmen. SeinBlick ist eine einzige Schuldzuweisung. In einer Betonwannehätte ich das verdammte Zeug säen sollen. Ich stoße ihn fortund gehe zurück ins Spital. Ich werde mich hinlegen, und ichweiß schon jetzt, dass mich das Knistern in den Schlaf begleitenwird.18


U N T E R S U C H U N G :N A H R U N G S A U F N A H M ENiemand hat jemals einen <strong>Psychonauten</strong> mit einer Hacke aufeinem Weizenfeld stehen sehen o<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Jagd beobachtet.Wie ernähren sie sich also? Sie können kaum in das nächsteDorf gehen und nach einem Laib Brot fragen.Tatsächlich scheint je<strong>der</strong> Raptus auf seine ganz eigene Artund Weise zu überleben. In den Danziger Aufzeichnungen istdie Rede davon, dass Biokineten aus <strong>der</strong> Fäulnis selbst Energiebeziehen. Eine Art Osmose soll es sein. Blättern wir durch dieDokumente, entdecken wir eine mit roter Tinte an den Randgekritzelte Notiz: Biokineten absorbieren Spaltenbestien. ReineSpekulation. Die Berichte über Dushani sind um einigesvager: Die Abson<strong>der</strong>lichen schlucken Seewasser, ihr Körperfiltert Mikroben und Mineralien heraus, um die dann nährstoffloseBrühe zu erbrechen. Psychokineten? Sie entsendenihre Plage und verschlingen sie, wenn die Zecken aufgeblähtvom Blut <strong>der</strong> purgischen Dorfbevölkerung zurückkehren.Machen wir einen Sprung über den Sichelschlag: Pheromantensaufen Zellsekrete und zersetztes Fleisch. Hierbei wird jedochvermutet, dass junge Pheromanten, die an den Drüsen ältererAbson<strong>der</strong>licher saugen, eher Informationen entgegennehmen,als sich ernähren. Sekrete scheinen eine wichtige Rolle zuspielen, wenn es um Kommunikation und Koordination geht.Bleiben nur die Prägnoktiker. Wenn man das Wort „normal“in Zusammenhang mit <strong>Psychonauten</strong> nutzen will, so ist es jetztangebracht: Prägnoktiker essen Opferspeisen, die ihnen vonHybrispaniern dargebracht werden. Allerdings nur die reinstenund frischsten. Du kannst sie nicht verarschen. Sie schauen indie Zukunft und sehen, dass sie nicht mehr aus dem Gebüschrauskommen. Vergiften scheidet also aus. Bei den an<strong>der</strong>en Raptiensicherlich auch. Denn wenn sie das Zeug nicht umbringt,das sie sich normalerweise reinziehen (verdammt, dieses Bildvom Pheromant, <strong>der</strong> an einem Riesenpickel nuckelt, lässt michnicht mehr los), bringt sie nichts um. Wir werden uns nocheine ganze Weile auf unsere Spreizer verlassen müssen.N O U M E N O N - V O C A L I Z E RDer Noumenon-Vocalizer wandelt den Ätherruf <strong>der</strong> <strong>Psychonauten</strong>und ihrer Erdenchakren in Tonfolgen um. VieleVocalizer sind allerdings inzwischen dank <strong>der</strong> Hilfe <strong>der</strong> Chronistenmit Displays o<strong>der</strong> Plottern ausgerüstet (oft auch Visualizergenannt), um so die Amplituden sichtbar zu machen.<strong>Das</strong> Kernstück <strong>der</strong> Geräte ist ein Mollusk, über den dieÄther-Schwingungen empfangen werden (ähnlich <strong>der</strong> Spreizer-Variante,nur dass in den Noumenon-Mollusk Elektrodengestochen wurden). Eine Verstärker-Einheit leitet die Impulsedann an die Schwingmembran und die Visualisierungshilfenweiter.Famulanten erhalten während ihrer Studienzeit eine Einführungin die Funktionsweise <strong>der</strong> Vocalizer und sind in <strong>der</strong>Lage, einfache Signaturen zu bewerten und zu bekennen. Dieanerkannten Experten auf diesem Gebiet sind allerdings dieMitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Forschungsgruppe Noumenon.S I G N A T U R E NUm eine Signatur zu identifizieren bedarf es eines erfolgreichenWurfs auf PSY+Wahrnehmung. Eine Spezialisierung aufNoumenon senkt die natürliche Erschwernis.Welche Informationen lassen sich aus den aufgezeichnetenAmplituden o<strong>der</strong> Tonfolgen gewinnen?• <strong>Psychonauten</strong>aktivität: Es wird vermutet, dass einegesteigerte Erregung unter den Abson<strong>der</strong>lichen in einererhöhten Zahl an Ätherrufen resultiert – je<strong>der</strong> Ruf hat seineeigene Schwingung, die sich auf die an<strong>der</strong>en Rufe addiert.Es wird faktisch lauter.Regeln: Eine stark ausgepräge Amplitude kann zweierleibedeuten: Viele <strong>Psychonauten</strong> sammeln sich in <strong>der</strong>Entfernung o<strong>der</strong> ein o<strong>der</strong> mehrere <strong>Psychonauten</strong> befindensich in <strong>der</strong> Nähe. Durch einen erfolgreichen Aktionswurfvermag <strong>der</strong> Spitalier dies abzuschätzen. Will <strong>der</strong> Arzt dieAbson<strong>der</strong>lichen anpeilen, fällt eine Erschwernis von 6 an (dieNoumenon-Spezialisierung kann hier angerechnet werden,wie auch bei den zwei folgenden Einsatzmöglichkeiten desVocalizers).• Chakren-Zugehörigkeit und Raptus-Varianten: JedesChakra hat sein eigenes individuelles Amplitudenmuster,und innerhalb dieser Tonfolgen gibt es weitere aufgeprägteund leicht variierende Signaturen, die auf Raptus-Variantenhindeuten. Ein erfahrener Spitalier kann so einenbiokinetischen Migrant von einem biokinetischen Resident,o<strong>der</strong> einen Dushani-Mokosch von einem Dushani-Vodjanoiunterscheiden.Regeln: Ein erfolgreicher Wurf auf PSY+Wahrnehmungmit einer Erschwernis von 8 gibt dem Arzt Aufschlussdarüber, was sich in welcher Richtung und Entfernungaufhält. Die Entfernung kann nur in 100 Meter-Schrittenangegeben werden.Es gibt jedoch Einschränkungen: Stößt das Erdenchakraeines seiner Geschöpfe ab, so emitiert es kein Noumenonmehr und ist mit den Vocalizern nicht zu orten.• Sporenfeld-Position: Sporenfel<strong>der</strong> kommunzierenuntereinan<strong>der</strong> – sie sind verantwortlich für das, was unterden Spitaliern als Walgesänge bekannt ist. Die Intensität <strong>der</strong>Gesänge steigert sich, je näher man dem Sporenfeld kommt,und dadurch ist es möglich, ein Sporenfeld mit einemVocalizer zu orten.Regeln: Die Entfernung zum Sporenfeld in Kilometernwird als Erschwernis auf den Aktionswurf angerechnet.Gelingt <strong>der</strong> Wurf, kann <strong>der</strong> Arzt das Sporenfeld exaktanpeilen.D I S P U TDie offizielle Lehrmeinung des Spitals über die Natur <strong>der</strong>Fäulnis und <strong>der</strong> <strong>Psychonauten</strong> lässt sich auf wenige Sätze reduzieren:So wie Menschen von Viren und Bakterien befallenwerden, kann auch ein Ökosystem erkranken. Ob <strong>der</strong> Erregerdabei aus dem Weltall kommt o<strong>der</strong> vom System selbst gezeugtwird, spielt hierbei keine Rolle. Ende <strong>der</strong> Diskussion! <strong>Das</strong> Wissenum die Gründe für die Infektion ist nur insofern wichtig,als es für die Genesung entscheidend ist. Man weiß, von wodie Bedrohung ausgeht (Krater) und wie sie sich ausbreitet(Sporen, Fäulnis, Leperos), das sind Variablen, mit denen sicharbeiten lässt. Die Erde ist in Bedrängnis, und die Menschheithat jetzt die Gelegenheit, sich für die Schöpfung zu bedanken,indem sie wie ein Immunsystem funktioniert und den Primerund seine Auswüchse bekämpft.<strong>Das</strong> befriedigt nicht alle. Junge Spitalier denken, hinter den19


...disputhohen Mauern des Spitals werde das endgültige Wissen gehortet,und sie liegen damit gar nicht so falsch. Aber sie dürfennicht daran partizipieren. Später werden viele von ihnen zwareiner Forschungsgruppe zugeordnet und können auf das spezialisierteWissen ihrer Gruppe zugreifen, doch das kompletteBild erschließt sich ihnen nicht. Wenn es überhaupt eines gibt,maulen die Skeptiker. Als Folge entzünden sich Dispute überdie Natur des Primers, die teils öffentlich, aber meist innerhalb<strong>der</strong> Gruppen ausgetragen werden. Spitalier sind Wissenschaftler(proklamieren die Konsultanten), und wer wilde Spekulationenin Umlauf bringt, disqualifiziert sich. Die Hippokratensorgen dafür, dass niemand das vergisst. Und wer es dennochvergessen sollte, <strong>der</strong> wird zu Besinnung kommen, wenn erin einer entfernten Exklave den Wilden die Zecken aus denHaaren sucht.Einige Hypothesen lassen sich jedoch nicht ausrotten:G A I A I N Q U A L E NNehmen wir einen Globus – dieser hier ist verstaubt und anmehreren Stellen eingedellt, aber er wird reichen – und versetzenihn in Rotation. Schlieren von Blau und Grün wechselnsich ab, immer wie<strong>der</strong> durchbrochen von roten Flecken. Haltenwir ihn an. Mein Finger zieht eine Furche in den Staub undbleibt schließlich auf einem fernen Land östlich von Pollenstehen. Ich wische über eine <strong>der</strong> roten Flächen und sehe jetztdeutlich eine urbane Ansiedlung: Eine Stadt namens Shanghai.Unter dem Dreck war sie ein Schemen, befreit davon einleuchten<strong>der</strong> Fleck, <strong>der</strong> sich deutlich vom Umland abhebt. Wasin <strong>der</strong> Natur des Menschen liegt: Seine Bauten, sein ganzesBenehmen stechen hervor. Und die Fäulnis deckt sie heutzutagezu.Frage: Wird <strong>der</strong> Mensch von Flöhen befallen (ich rede hiervon Spitaliern, nicht Schrottern o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>em Gesindel), wasmacht er? Er pu<strong>der</strong>t sich mit allerlei Mittelchen ein, und dasViechzeug fällt tot von ihm ab. Jetzt sagen die Konsultanten,dass die Menschheit das Immunsystem des befallenen Ökosystemssei. Was ist, wenn es genau an<strong>der</strong>sherum ist und wir dieKrankheit sind, und die Fäulnis das Medikament ist?Unserer Theorie nach war das Eshaton nur ein letzter Anstoß,<strong>der</strong> die Agonie Gaias auf eine neue Stufe hob und so denGegenangriff auslöste. Bleiben wir doch bitte am Boden: <strong>Das</strong>hat nichts mit mystischer Materie von den Sternen zu tun. Hiergeht es um eine Immunreaktion auf hohem Niveau, die in <strong>der</strong>Urgeschichte <strong>der</strong> Menschheit nicht beobachtet werden konnte,weil die Vorbedingungen nie gegeben waren!Was sollen wir dagegen unternehmen? Uns tilgen zulassen, ist natürlich Unsinn. Denn manchmal irrt sich dasImmunsystem, das beobachten wir täglich bei unseren Patienten:Rheuma und Allergien sind Beispiele dafür. Wir gebenMedikamente, um die Immunantwort abzuschwächen, undsolche Medikamente müssen wir auch unserem Patienten Gaiaangedeihen lassen. V<strong>erste</strong>hen Sie mich nicht falsch: Wir wollenkeine kilometertiefen Löcher graben, um dort Antihistaminikahineinzukippen. Wir müssen zuerst lernen, auf die Erde zuhören. Die Noumenon-Frequenzen – sie sind <strong>der</strong> HilfeschreiGaias – müssen ausgewertet und nutzbar gemacht werden.Wenn wir v<strong>erste</strong>hen, wie <strong>der</strong> Planet mit seinem Immunsystemkommuniziert, können wir dort ansetzen, vielleicht unterbrecheno<strong>der</strong> unsererseits beruhigende Sequenzen abspielen.Sicher müssen wir Borca schützen, mit allen Mitteln, dieuns zu Gebote stehen, um unsere Forschung fortsetzen zukönnen, doch <strong>der</strong> Vielfrontenkrieg in Franka, Hybrispania,Pollen, Purgare und im Balkhan ist unnütz und bindet unsereLeute. Viele gute Ärzte sind dort draußen gestorben, Ärzte,die jetzt in Laboren forschen könnten, hätte man ihnen keinenSpreizer in die Hand gedrückt und einen Arschtritt RichtungOsten verpasst.Der Sichelschlag ist in dieser Angelegenheit unser Freund:Er bildet eine natürliche Barriere im Osten; Danzig undDutzende Stützpunkte in <strong>der</strong> pollnischen Tundra könntenaufgegeben werden. Die Alpen schützen uns vor Sporen ausPurgare. Die Befestigungen an <strong>der</strong> Grenze zu Franka könntengroßzügig ausgebaut werden, doch wahrscheinlich ist daskaum nötig, denn die Pheromanten sind lethargische Wesen,und <strong>der</strong> Schwarm lässt sich mit geschickt gezogenen Brandgräbenin die Hölle schicken.Die größten Kritiker unserer Theorie sind jene, die dasTrauma des Spitals pflegen wie einen lieben Verwandten undvor den „Vergesst nicht!“ in den Gängen wohlig erschauern.Als die Spitalier sich 2079 verbarrikadierten und Leid undTod ausschlossen, hatten sie einen guten Grund. Wir habenüberlebt. Und wir werden wie<strong>der</strong> überleben, wenn wir den zukontrollierenden Bereich möglichst klein halten. Keine Sorge:Niemand will eine Mauer um das Spital ziehen.Z W E I T E I T E R A T I O NWir halten uns an Fakten. Fakt ist: Trilobiten und Ammonitensind uralte Lebensformen, die vor Jahrmillionen ausgestorbensind. In urvölkischen Fachzeitschriften und -Büchern über Paläontologiesieht man Fossilien, die den in Franka gefangenenTieren bis auf wenige Details ähneln, und die Bildunterschriftbesagt: „Trilobit“. Die Bezeichnung wurde also von uns übernommen,und zwar von Spitaliern, die die alten Schriften kennen.Halten wir fest: Die Konsultanten wissen, dass wir es mitlebenden Fossilien zu tun haben. Daraus lässt sich folgern, dass(1) Trilobiten niemals ausgestorben sind, o<strong>der</strong> dass sie (2) nachdem Einschlag <strong>der</strong> Kometen plötzlich auftauchten. Nummer 1lässt sich ausschließen, denn die Bücher lassen keinen Zweifel,also bleibt nur (2). Was weitreichende Konsequenzen hat.Fächern wir die Möglichkeiten auf, die sich daraus ergeben:• Trilobitenkeime lagerten in <strong>der</strong> Erdkruste und wurden durchden Impakt an die Oberfläche getrieben, wo sie erwachten.• Die Trilobiten waren in den Kometen eingeschlossen undkamen so auf die Erde.• Eine neue Schöpfung durch den Primer.Die <strong>erste</strong>n beiden Punkte sind unwahrscheinlich. Wer den Pandora-Kratergesehen hat, dieses Gebirge aus zerschmolzenenGraten, kann die Zerstörungskraft des Kometen ermessen.Was Berge versetzt, gibt dem Leben keine Chance.Also Schöpfung durch den Primer. Die essenzielle Frage istjetzt: Sind die Baupläne <strong>der</strong> Trilobiten neben zahllosen an<strong>der</strong>enalten Spezies im Primer gespeichert, o<strong>der</strong> ist <strong>der</strong> Primer <strong>der</strong>Startpunkt einer jeden Schöpfung? Hier driften wir ab in diedunklen Gefilde <strong>der</strong> Spekulation. Betrachten wir stattdessendie Folgen, die beide Punkte gemein haben: Diese Form <strong>der</strong>Schöpfung hat bereits einmal stattgefunden – die Fossilienbezeugen das. Ist <strong>der</strong> Psychonaut eine Art Urmensch? Was bedeutetdas für uns? Müssen wir uns um unsere degenerierten(falsch, sie sind nicht degeneriert, sie hatten nie die Perfektiondes Homo Sapiens) Vorfahren kümmern?Zwei Strömungen gibt es in unseren Diskussionsgruppen:Diejenigen, die den Homo <strong>Degenesis</strong> als Auslaufmodell sehen20


und mit einer schneidenden Arroganz dessen Vernichtungpropagieren; auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite hat sich die Meinung verfestigt,dass eine Schöpfung, aus <strong>der</strong> auch wir in einer früherenIteration hervorgegangen sind, nicht schlecht sein kann. Die<strong>Psychonauten</strong> seien also nicht zu bekämpfen, son<strong>der</strong>n mansolle sich um ein friedliches Beieinan<strong>der</strong> kümmern. Baueauch du dem netten Pheromanten von nebenan ein Heim.Man sieht, dass auch unsere Reihen nicht vor Schwachköpfengefeit sind.An den Fakten lässt sich jedoch nicht rütteln.Und je mehr sich die Konsultanten gegen diese logischeKette sperren, umso deutlicher wird, dass wir im Recht sind.Nicht umsonst wird <strong>der</strong> so genannte Prophet, <strong>der</strong> eine ganzähnliche Lehre wie die unsere vertritt, seit Jahren gejagt.Wir müssen warten und beobachten, Fakten sammeln, Verbündeteschaffen. Die Hippokraten können nicht jeden vonuns in die Tundra schicken.21


A N S I C H T E N<strong>Psychonauten</strong> haben sich in die Mythen <strong>der</strong> Menschen geschlichen,sie beherrschen die Albträume o<strong>der</strong> wie bei den Spitaliernden Alltag. In Hybrispania lenken sie das Volk im Kampfgegen die africanischen Invasoren. Freund o<strong>der</strong> Feind? O<strong>der</strong>etwas ganz an<strong>der</strong>es? So unklar auch ist, wie <strong>der</strong> Homo <strong>Degenesis</strong>zum Homo Sapiens steht, so deutlich ist die Position, diedie Kulte beziehen.S P I T A L I E RDie Position <strong>der</strong> Spitalier ist unverän<strong>der</strong>t: <strong>Psychonauten</strong> undFäulnis sind Symptome einer Krankheit namens Primer – einerKrankheit, die mit allen Mitteln erforscht werden muss, umsie schließlich zu besiegen. Es geht um nicht weniger als denErhalt <strong>der</strong> Menschheit; dass <strong>der</strong> Luxus von Ethik und Moral an<strong>der</strong> Gar<strong>der</strong>obe zu diesem Schauspiel abgegeben wurde, ist geradeunter den Ärzten <strong>der</strong> mittleren Hierarchieebenen akzeptiert.Den Spreizer, den trägt <strong>der</strong> Famulant nicht zum Spaß.C H R O N I S T E NFür die Chronisten sind Schrotter, die Funk-Relaisstationenauseinan<strong>der</strong>nehmen, um die Einzelteile stumpf in die nächsteWechselstube zu schleppen, ein größeres Übel als die Abson<strong>der</strong>lichen.Taucht ein Mittler in die bernsteinfarbene Datenweltdes Clusters ein, findet er keine Informationen über einenBiokineten, <strong>der</strong> Schrott gehortet hat. O<strong>der</strong> einen Pheromanten,<strong>der</strong> einen Außenposten ausgeraubt hat. Sehr wohl stößter aber auf pulsierende Warndreiecke vor Datensätzen überWie<strong>der</strong>täufer o<strong>der</strong> Nadeltürme.Tatsächlich existieren Chronisten und <strong>Psychonauten</strong> in zweiWelten, und die Berührungspunkte sind an einer Hand abzuzählen.Einer dieser Berührungspunkte liegt in Aquitaine, undselbst dort gelingt es den Chronisten, die Schlotbauten nebendem Cluster zu ignorieren. Keine Technik, kein Interesse.H E L L V E T I K E RDie <strong>Psychonauten</strong> sind Feinde, wenn sie ein von den Hellvetikernbeschütztes Dorf angreifen. Was selten vorkommt,denn zwischen Bern und den Pheromanten liegt immer nochdie westlichen Alpen. Die Territorialregionen sind sicher. AlsoSoldaten, umgeht die Biester und spart Munition, außer dieSpitalier bezahlen euch.R I C H T E RDie Richter machen an<strong>der</strong>er Leute Probleme zu ihren Problemen.O<strong>der</strong> lassen sich von den Spitaliern <strong>der</strong>en Problemeaufladen, was selbstverständlich in Verträgen festgehaltenwird. Die bei den Advokaten in <strong>der</strong> Richthalle gut aufgehobensind – und darauf warten, in mundgerechte Sinnphrasenverwandelt Eingang in den Kodex zu finden. Die Stadtrichtersind verunsichert, denn die rechtliche Lage ist unklar wie nie:Sind <strong>Psychonauten</strong> innerhalb des Stadtgebiets zu jagen, undwenn die Patrouille sie aufgegriffen hat, wie wird mit ihnenverfahren? Wie unterscheidet ein einfacher Schöffe einen Abson<strong>der</strong>lichenvon einem Burner? Ist das nicht das Gleiche? DieFolge ist, dass je<strong>der</strong> Richter sein eigenes kleines <strong>Psychonauten</strong>-Regelwerk im Kopf mit sich trägt. Eine gemeinsame Linie istnicht zu erkennen.S I P P L I N G EWenn <strong>der</strong> Alte abends am Feuer die Geschichte des Landesund seiner Menschen erzählt, eröffnet sich für die Zuhörereine Welt <strong>der</strong> Mythen und Legenden. <strong>Psychonauten</strong> und Spitalierübernehmen darin abwechselnd die Rolle <strong>der</strong> Dämoneno<strong>der</strong> <strong>der</strong> Heiligen. Im westlichen Franka werden die Abson<strong>der</strong>lichenals gnädige Muttergeschöpfe gesehen, selbst wenneine <strong>der</strong> gefürchteten Pheromanten-Ammen ein Kind raubt.Die Prägnoktiker in Hybrispania sind verehrte Seher, die denGuerilleros einen Weg in die siegreiche Zukunft weisen. Wennjemand im Urwald verschwindet? Nun, überall verschwindenMenschen. Ein Blick nach Pollen: Die Propaganda <strong>der</strong> Spitalierverweht in <strong>der</strong> weiten Tundra des Landes, die Stämmehaben ihre eigenen Ansichten über die Biokineten. Sie kennendie Wan<strong>der</strong>pfade <strong>der</strong> Abson<strong>der</strong>lichen und wissen, wo diesezusammenlaufen, also können sie ihnen aus dem Weg gehen.Und den Spitaliern am besten auch gleich, denn Burn fachtbei ihnen allen das innere Feuer an, das sie zum Überlebenin Pollen benötigen. In Purgare sieht das an<strong>der</strong>s aus: Spitalierund Wie<strong>der</strong>täufer haben das Land fest im Griff; wer hier nichtgegen die Abson<strong>der</strong>lichen wettert, kann ja mal sehen, ob diePsychokineten ihn freudig empfangen werden. Die Sippensind überzeugt, dass hier <strong>der</strong> Endkampf zwischen Menschheitund dem Demiurgen ausgetragen wird. Balkhan: DunkleWäl<strong>der</strong> und schroffe Gebirge waren von jeher die Bühne fürGeschichten über Geisterwesen, und die Dushani passen dahervorragend hinein. Frag einen Balkhaner, und er wird dirvon uralten Mythen berichten, die nur einen Schluss zulassen:Die Dushani waren schon immer Teil des Landes.S C H R O T T E R„Die <strong>Psychonauten</strong>, die scheißen Burn aus. <strong>Das</strong> ist gut. Waswillst du von mir, Spitalier?“N E O L I B Y E RKrieg belebt das Geschäft, sagen die alten Neolibyer. Die neuenMagnaten sehen das an<strong>der</strong>s: Die Frontstädte können sichnicht etablieren, locken keine Zivilisten an, die Infrastrukturaufbauen und somit Handel ermöglichen. Stattdessen kauernsich Geißler hinter Wehrmauern und setzen die Wäl<strong>der</strong> inBrand – und vernichten damit das Wenige, was Hybrispania anRessourcen zu bieten hat. Wer o<strong>der</strong> was ist für den schlechtenKriegsverlauf verantwortlich? Selbst wenn die Neolibyer denGeißlern misstrauisch gegenüb<strong>erste</strong>hen, an <strong>der</strong>en Kampfkraftzweifeln sie nicht. Da ist etwas in den Wäl<strong>der</strong>n, das den Weißenzur Seite steht. Die Handelsbank hat reagiert: Sie lobtmehrere 10.000 Dinare aus auf Informationen über die seltsamenVorgänge in Hybrispania.G E I S S L E RDie Africaner haben die Hogon, warum sollten sich unter denHybrispaniern nicht auch Schamanen befinden, die die Bäumeund den Wind zu befragen vermögen? O<strong>der</strong> sind es Naturgeister,die sich gegen die Geißler erhoben haben, wie diese Dushanio<strong>der</strong> die Psychokineten? Ein Kampf ist entbrannt, aberes liegt nicht an Geißlern, ihn zu führen. <strong>Das</strong> ist das mythischeSchlachtfeld <strong>der</strong> Ahnen und ihrer Wi<strong>der</strong>sacher.22


A N U B I E RSeelenlose Wesen, gebunden an ein Mutterbewusstsein. Trenntman sie davon, trägt <strong>der</strong> Wind sie davon.J E H A M M E D A N E R<strong>Psychonauten</strong> sind Ungläubige, und damit sind sie nicht geradeeine Ausnahme in Europa. Die Jehammedaner sehen sieals Menschen, die an<strong>der</strong>s sind, aber An<strong>der</strong>ssein allein rechtfertigtkeine Feindschaft. Der letzte Prophet hat sie in seinenSchriften nicht erwähnt, also haben sie auch keinen Platz imGlaubensgerüst.A P O K A L Y P T I K E R<strong>Psychonauten</strong> sind an<strong>der</strong>s, sie unterwerfen sich nicht <strong>der</strong>Menschen-Norm <strong>der</strong> Spitalier. Sie sind gefährlich, keineFrage, aber viele wanden sich nun mal aus dem Uterus einerApokalyptikerin. <strong>Das</strong> macht sie zu Kin<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Zugvögel. DieSchar wird sie behandeln wie jeden ihrer Söhne o<strong>der</strong> jede ihrerTöchter, bis zu dem Tag, an dem das Chakra die Mutterrolleübernimmt. Vögel werden flügge, <strong>Psychonauten</strong> gehen imKollektiv auf. Und sollten sie irgendwann zurückkehren, nun,sie geben hervorragende Spielzeuge ab.W I E D E R T Ä U F E RDie <strong>Psychonauten</strong> sind <strong>der</strong> Feind. Ihre Existenz alleine hältden Kult zusammen und gibt ihm sein Ziel – eben die Vernichtungdes Feindes. Einige Asketen werden jetzt Einsprucherheben, denn sie wollen sich vom Fleischlichen lösen, umschließlich eins zu werden mit dem göttlichen Pneuma. Dazumuss man nicht zwangsläufig mit einem Stück geschliffenenStahls versporte Leiber zerteilen. Sicher, sicher.Sagen wir es so: Der dämonengesichtige Feind namens Psychonautstößt auch denen die Portale zum Kult auf, die denreligiösen Unterbau nicht v<strong>erste</strong>hen.B L E I C H E RDushani sind interessante Wesen. Ihr Gesang kann sich mitdem <strong>der</strong> Demagogen messen, nur dass ihre Stimme… an<strong>der</strong>swirkt. Man v<strong>erste</strong>ht die Wörter nicht, aus denen sie ihre Sätzebilden, und trotzdem erschließt sich einem <strong>der</strong> Sinn. FaszinierendeGeschöpfe.Solange die <strong>Psychonauten</strong> die Götter nicht herausfor<strong>der</strong>n,werden die Bleicher sie in Ruhe lassen.23

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