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Amartya K. Sens Entwicklungsethik zwischen Universalismus und ...

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96Scholtes, F.: „<strong>Amartya</strong> <strong>Sens</strong> <strong>Entwicklungsethik</strong>“benötigt Ziele <strong>und</strong> Gründe für diese. Ein großer Teil entwicklungspolitischerVeränderungsbemühung betrifft die Ökonomie einer Gesellschaft, so dasswirtschaftsethischen Konzeptionen hierbei große Bedeutung zukommt. Eineliberale wirtschaftsethische Konzeption wurde in den vergangenen Jahren von<strong>Amartya</strong> K. Sen vertreten. Jedoch erfahren liberale Gesellschaftsethiken imentwicklungspolitischen Kontext Kritik, weil sie der Tatsache kulturellerPluralität – v.a. in nichtwestlichen Zielländern – nicht gerecht würden. Imvorliegenden Artikel wird daher gefragt, wie sich <strong>Sens</strong> Konzeption zu demProblem verhält, das unter dem Titel <strong>Universalismus</strong> / Relativismus diskutiertwird <strong>und</strong> aus dem Spannungsfeld <strong>zwischen</strong> Anerkennung von partikularenLebenspraxen <strong>und</strong> Moralsystemen einerseits <strong>und</strong> partikularitätsübergreifenderLegitimation entwicklungspolitischer Eingriffe andererseits erwächst.Hierzu wird zunächst (1) der wirtschaftsethische Orientierungsbedarf vonEntwicklung dargestellt, einschließlich einer kurzen Darstellung von <strong>Sens</strong>Konzeption, die sich als Alternative zur dominanten wohlfahrtsökonomischenOrientierung verstehen lässt. Dann wird (2) das erwähnte Spannungsfeld<strong>Universalismus</strong> / Relativismus skizziert <strong>und</strong> in diesem Zusammenhang (3) dieKritik an liberaler Sozialethik aufgegriffen. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> erfolgt(4) die Darstellung <strong>und</strong> Einordnung von <strong>Sens</strong> Konzeption. Im Fazit (5) wirdeine Stellungnahme zu Geltungsanspruch <strong>und</strong> Eignung der Konzeption imKontext von Entwicklungspolitik <strong>und</strong> <strong>Universalismus</strong> / Relativismusvorgenommen.2. Entwicklungspolitik: mit welchem Ziel?Der Begriff der ‚Entwicklung’ hat in seiner politischen Geschichte derartzahlreiche unterschiedliche Verwendungen erfahren, dass ihm zeitweisejeglicher Inhalt abgesprochen wurde: „’Entwicklung’ ist ausgehöhlt bis aufein leeres Plus“ (Sachs 1992: 32). Doch bleibt das, was durch diesen Begriffzu bezeichnen versucht wird, aufgr<strong>und</strong> seiner existentiellen Bedeutungvirulent. Die in den letzten Jahren wieder stärker hervortretenden Ambitionender Vereinten Nationen <strong>und</strong> ihrer Unterorganisationen, etwa in Form der


Scholtes, F.: „<strong>Amartya</strong> <strong>Sens</strong> <strong>Entwicklungsethik</strong>“ 97Millenium Goals (UNO 2000), sowie die allenthalben zitierten Daumenmaße39 für globale Armut deuten darauf hin, dass zumindest dasgr<strong>und</strong>sätzliche Vorhaben internationaler Entwicklungspolitik noch nichtvollständig einer Konzentration auf ausschließlich ureigenste Interessen zumOpfer gefallen ist. 40In der Theorie der Entwicklungspolitik hat zwar das Verständnis davon,was Entwicklung ist, unruhige Wandlungen durchgemacht. Doch die Praxiswar, wie Menzel (1993) lapidar feststellt, stets die gleiche: 40 JahreEntwicklungsstrategie = 40 Jahre Wachstumsstrategie. Weiterhin wurde zwarin politologischer Entwicklungstheorie etwa mit einem „Magischen Fünfeck“(Nohlen/Nuscheler 1993b, erstmals 1974) versucht, aus der Praxis herausexplizit mehrdimensionale Zielkataloge für Entwicklung zu generieren. 41Doch überwiegt das moderne ökonomische Verständnis von Entwicklung,welches sich theoriegeleitet eindimensional auf Wohlfahrtswachstumbeschränkt: Institutionell verankert in „neoliberaler“ Strukturpolitik, wie siesich v.a. in den 1990er Jahre (etwa im sog. Washington-Konsensus 42 ) alsglobale Entwicklungsrezeptur empfahl, dominiert die wohlfahrtsökonomischePerspektive die Orientierung von Entwicklungspolitik.Die genannte Eindimensionalität bedeutet nicht, dass rechtsstaatlicheInstitutionen wie innere Sicherheit oder intakte Natur nicht als Öffentliche39 „More than 1 billion people still live on less than 1 US$ a day“ (UNDP 2004). Dass durchdiese Zahl das Elend der Betroffenen kaum greifbarer wird, beeinträchtigt ihren Gebrauchoffenbar nicht.40 Die Anteile der Entwicklungshilfe an jährlichen Haushalten suggerieren in den letzten Jahrenallerdings eine immer geringere Priorität, selbst bei den größten Gebern wie Deutschland, wodie angestrebten 0,7% des BIP seit einigen Jahren, etwa 2002 mit 0,27%, nicht einmal zurHälfte erreicht wurden (vgl. B<strong>und</strong>esfinanzministerium 2004: 42).41 Ähnlich mehrperspektivisch angelegt ist der berühmtere Human Development Index desUNDP (1990). Dieser aggregiert reale Pro-Kopf-Kaufkraft, Lebenserwartung bei Geburt <strong>und</strong>Alphabetisierungsrate. Kritik entfaltete sich unter anderen daran, dass Lebenserwartungnichts über Lebensqualität <strong>und</strong> Alphabetisierung nichts über reale Chancen im Arbeitsmarktbesagt (vgl. Nohlen/Nuscheler 1993a: 92 f.).42 Dieses Prinzipienset liegt den in den 1980er <strong>und</strong> 1990er Jahren durch den InternationalenWährungsfond <strong>und</strong> die Weltbank von Kreditnehmern geforderten Strukturanpassungsprogrammenzugr<strong>und</strong>e <strong>und</strong> beruht vornehmlich auf Vertrauen in die heilsame (Wachstums-)Wirkung von Marktliberalisierung, Privatisierungen, Deregulierungen etc. (vgl.Taylor/Pieper 2001: 252).


98Scholtes, F.: „<strong>Amartya</strong> <strong>Sens</strong> <strong>Entwicklungsethik</strong>“Güter (Söllner 2001: 141 ff.; Cansier/Bayer 2003: 109 ff.) in einemgesellschaftlichen Wohlfahrtsaggregat als weitere Dimensionen untergebrachtwerden könnten. Aber sie sind nicht automatisch darin enthalten, denn dertheoretische Vorteilsbegriff 43 der modernen Wohlfahrtsökonomik alsnormativer Disziplin der Wirtschaftswissenschaften ist konzeptionell <strong>und</strong>programmatisch unterbestimmt (vgl. auch Weikard 1999: 27 ff.): Wohlfahrtwird unterstellt sowohl als Motivation hinter menschlichen Handlungen, wieauch als Ergebnis von diesen. 44 Den Handlungen wird ihrerseits wiederumunterstellt, sie erfolgten nutzenmaximierend entlang einer Präferenzstruktur,die zumeist als gegeben gedacht wird. Konzeptionell ist Wohlfahrt somit einformaler Sammelbegriff für etwas, weswegen Menschen vermutlich handeln –was ihnen aber innerlich, <strong>und</strong> damit von außen gesehen unbestimmt bleibt.Programmatisch ist dies insofern, als in der modernen Ökonomik 45 freieKonsumenten ihre Wahlhandlungen nicht rechtfertigen müssen.Es zeigt sich damit erst nachträglich, welche Handlungen, Güterbündel o.ä.offenbar (da sie ja gewählt wurden) nutzenstiftend bzw. -maximierend sind:Wohlfahrt wird nur ex post konkretisiert. Die potentielle inhaltlicheMultidimensionalität dieses formal eindimensionalen Begriffs ist daher nichtim Vorhinein explizierbar. Zusammen mit dem tradierten utilitaristischenAuftrag, diese Wohlfahrt gesamtgesellschaftlich zu maximieren, ergibt sichEntwicklung konzeptionell bedingt als eine Zunahme des (monetarisierten)Umfangs der von Menschen getätigten Wahlhandlungen, wie sie u.a. in43 Hiermit ist der Begriff gemeint, in den eine Disziplin, Theorie o. ä. ihr Verständnis davonfasst, was Entwicklung – zunächst im allgemeinen Sinn einer positiven gesellschaftlichenVeränderung – dann konkreter ausmacht. Dieser Vorteilsbegriff wird damit gemäß derjeweiligen Theorie zur zentralen Zielgröße von Entwicklungspolitik: hierin sind Menschenbesser zu stellen, damit Entwicklung vorliegt.44Hierin unterscheidet sich die paretianische Wohlfahrtsökonomik vom (klassischen)Utilitarismus, da sie Nutzen nicht als mentalen Zustand (z.B. Glücksempfindung) konzipiert.45 Gemeint ist Wirtschaftswissenschaft in Abgrenzung zu Ökonomie als einer gesellschaftlichenSphäre (analog zu economics/economy). Die starke Interdependenz von Theorie (Ökonomik)<strong>und</strong> Wirklichkeit (Ökonomie) spricht m.E. gegen eine synonyme Verwendung der beidenBegriffe, die diese Interdependenz nicht mehr aufzeigen würde.


Scholtes, F.: „<strong>Amartya</strong> <strong>Sens</strong> <strong>Entwicklungsethik</strong>“ 99volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen abgebildet werden. Entwicklung istalso formal als Wohlfahrtswachstum, jedoch inhaltlich nicht bestimmt. 46Vor allem seitdem der indische Ökonom <strong>Amartya</strong> K. Sen 1998 denNobelpreis für Ökonomik erhielt, finden sich allerorten Bezugnahmen aufseinen entwicklungsökonomischen Ansatz, den sog. capability approach (Sen1992; 1993; 2000 sowie ODI 2001; Robeyns 2005). Als kritischeGegenposition zum soeben dargestellten dominierenden welfarism stelltdieser für die Bewertung eines gesellschaftlichen Arrangements nicht aufrealisierte Wohlfahrtsergebnisse ab, sondern auf die darin gewährleistetereale 47 Freiheit der Menschen zur Verwirklichung von „Dingen“, welche zutun oder zu sein sie begründet wertschätzen können. Diese Freiheit wird beiSen operationalisiert durch den Begriff der Fähigkeiten (capabilities): dertatsächlichen Möglichkeiten von Menschen zur Realisierung von sog.Funktionen wie Ernährung, Ges<strong>und</strong>heit etc.Hieraus ergeben sich analytische Konsequenzen: Die Wertbasis zurMessung von Entwicklung muss dem Ansatz zufolge erweitert werden. Esgeht etwa um Indikatoren von Rechtstaatlichkeit, politischer Teilhabe <strong>und</strong>ähnlicher demokratischer Gr<strong>und</strong>freiheiten. Auch verfügbares Einkommen hatdabei eine nicht zu unterschätzende Bedeutung, insofern es den MenschenFreiheit bzw. Fähigkeiten eröffnet. Allerdings ist Einkommen nicht per se,sondern in dieser Funktionalität relevant. Im Gegensatz zur wohlfahrtsökonomischenkonzeptionellen Eindimensionalität ist hier die expliziteVielseitigkeit der Perspektive auf Entwicklung programmatisch. 48 Weiterhinmüssen Messmethoden differenzsensitiv berücksichtigen, dass Menschenäußerlich gleich verteilte Ausstattungen sehr unterschiedlich in individuelle46 Ob diese Konzeption wegen „Materialismus“ (welcher nur insofern damit verb<strong>und</strong>en ist, alsProduktion immer in irgendeiner Form mit materiellen Transformationen einhergeht),„Verteilungsindifferenz“ (um die das Konzept ja erweitert werden kann), Wachstumszwango.ä. zu kritisieren ist, möchte ich hier ausdrücklich offen lassen.47 „Real“ verweist dabei auf die Notwendigkeit, formale (Abwehr-)Rechte um materielleAusstattungen zu ergänzen, um eine tatsächliche Chance zur Erreichung eines Ziels – etwades Überlebens – zu gewährleisten. Wer in formaler Freiheit verhungert, ist nicht real frei.48 Die gesamte „Human Development“-Programmatik, einschließlich des erwähnten HD-Index,geht maßgeblich auf Einflüsse von <strong>Sens</strong> Konzeption zurück.


100Scholtes, F.: „<strong>Amartya</strong> <strong>Sens</strong> <strong>Entwicklungsethik</strong>“Freiheiten transformieren können. Außerdem gilt es zumindest theoretisch,bei der umfassenden Bewertung der Position einer Person auch die„intrinsische Bedeutung der Freiheit“ (Sen 1993: 39) zu erfassen.Die Perspektive enthält neben ihrem – keinesfalls leicht einlösbaren –analytischen Anspruch der Messung der Position von Menschen in einemSetting zudem einen normativen Anspruch: Gute Politik, eine gerechteGesellschaft etc. sind jene, welche die so gedachte <strong>und</strong> geforderte Freiheitbieten <strong>und</strong> ermöglichen. Zwar stellt „Entwicklung als Freiheit“ 49 keinengeschlossenen Gegenentwurf gegenüber der mainstream-Ökonomik dar,sondern ist vor allem als offener Argumentationsrahmen zu verstehen. Jedochist ein durchweg kennzeichnendes Merkmal des Konzepts, dass reale Freiheitzum zentralen normativen Vorteilsbegriff von Entwicklung als einer politischgesteuerten Verbesserung des Zustands einer Gesellschaft wird: Mit demAnalyseparameter (-vektor) der personalen Fähigkeiten <strong>und</strong> weiterenfreiheitsrelevanten Parametern erhält die gesellschaftliche Organisation desWirtschaftens eine f<strong>und</strong>amentale Zielvorgabe, welche dann auchEntwicklungspolitik orientieren soll. 50 Gängige Strategien wie Märkte bzw.deren Liberalisierung o.ä. werden hiermit keinesfalls obsolet, müssen sichaber nun gegenüber diesem anderen Ziel Freiheit rechtfertigen.3. Entwicklungspolitik <strong>und</strong> kulturelle PluralitätEntwicklungspolitik agiert mit ihren Strategien nicht auf einer kulturellentabula rasa. Gerade bei einer auf internationaler Zusammenarbeit basierendenEntwicklungspolitik stellt sich sowohl hinsichtlich der Mittel der Umsetzungals auch hinsichtlich der eigentlichen Zielsetzungen der Politik (<strong>und</strong> damit daszugr<strong>und</strong>e liegende Entwicklungsverständnis) folgendes Problem: LangfristigeVerbesserungen im Sinne des jeweiligen Vorteilsbegriffs sind nur durch eine49 So der Titel von <strong>Sens</strong> opus magnum von 1999, Development as Freedom, welcher insDeutsche mit „Ökonomie für den Menschen“ (Sen 2000) übersetzt wurde.50 Das unterscheidet diese von anderen liberalen Konzeptionen, die Freiheit nur als (ordnungs-)politisches Ziel verstehen, wie dem klassischen Wirtschaftsliberalismus, für den Freiheit einepolitisch zu schaffende Rahmenbedingung des Wirtschaftens darstellt.


Scholtes, F.: „<strong>Amartya</strong> <strong>Sens</strong> <strong>Entwicklungsethik</strong>“ 101Veränderung von Strukturen zu erreichen, die während der Ausgangslagebestanden <strong>und</strong> diese mit geprägt haben. Entwicklungspolitik ist letztlich ein,so sei hier unterstellt 51 , zumindest gut intendierter Eingriff in eine bestehendeLebenswelt. ‚Modernisierung’ etwa vermittelt den Anspruch, etwas Veraltetesdurch etwas Besseres zu ersetzen. Wenn jedoch in diesem Sinne neue, andereLebensformen bewirkt werden sollen, wenn also andere Institutionen inGeltung gesetzt <strong>und</strong> gesellschaftliche Prozesse dauerhaft in Gang gebrachtwerden sollen, so muss sich diese verändernde Politik nach der Legitimitätdieses Eingriffs fragen lassen. Unterschiede <strong>zwischen</strong> ‚Kulturen’ 52 sind dabeinicht nur vielfältig, sondern auch weit reichend. Insbesondere wennAusgangs- <strong>und</strong> Zielbeschreibung hinsichtlich gr<strong>und</strong>legender Werte <strong>und</strong>Normen divergieren, es also im Zielland nicht um ein reinesUmsetzungsproblem ähnlicher Ziele etwa aufgr<strong>und</strong> fehlender Ressourcengeht, dann steht die Zielbeschreibung in einer Begründungspflicht. Es geht umFragen wie: Was ist eine gute bzw. bessere, anzustrebende Gesellschaft,welche Gesellschaft ist durch ein „gutes Leben“ ihrer Mitgliedergekennzeichnet? Und: Welches Urteil hierüber soll warum gelten? DarfEntwicklungspolitik auf die Gleichberechtigung von Frauen hinwirken, wenndies mit dem in einer Gesellschaft aktuell gültigen Normensystem kollidiert?Darf Demokratisierung konditional sein für die Versorgung mitMedikamenten? Darf Entwicklungspolitik sich aktuell gängiger Korruptionanschließen?51 Hier kann nicht ausführlich diskutiert werden, ob die Interessen beispielsweise vonGeberländern an einer Entwicklungszusammenarbeit wirklich als „gut gemeint“ geltenkönnen. Die hier getroffene Unterstellung folgt aus dem eingangs benannten Verständnis vonEntwicklung als einer Politik zur Verbesserung einer Gesellschaft.52 Hier wird ein naiver Kulturbegriff verwendet, der für die Ausführungen an dieser Stelleallerdings ausreicht. Trotzdem sei schon darauf hingewiesen, dass er in zweifacher Hinsichtproblematisch ist. Erstens ist das Verständnis von Kultur als einem stabilen Komplex vonWerten, Normen, Symbolen etc. nicht mehr unumstritten. „Kultur“ ist ständig inVeränderung begriffen, sie inkorporiert selektiv externe Einflüsse. Zweitens <strong>und</strong> hiermitverb<strong>und</strong>en scheint die Vorstellung von einer perfekt homogenen „Kultur“ nicht sinnvoll.Pluralität existiert inter- wie intrakulturell, <strong>und</strong> letztlich stellt jede Person mit ihremindividuellen Wertesystem eine eigene Kultur dar.


102Scholtes, F.: „<strong>Amartya</strong> <strong>Sens</strong> <strong>Entwicklungsethik</strong>“Eine normative Ethik des Wirtschaftens muss ihre Orientierungsleistunghinsichtlich Zielen (<strong>und</strong> Mitteln) von Entwicklungspolitik also immer unterBerücksichtigung der Pluralität von Wertvorstellungen <strong>und</strong> kulturellen Praxenerbringen. Eine anything goes-Akzeptanz jeder kulturellen Praxis <strong>und</strong> eineErhebung der Pluralität über alles ist dabei ebenso kontraintuitiv wie ein naivevolutionistisch gedachter Ansatz „nachholender“ Entwicklung, der dieÖkonomien <strong>und</strong> Praxen der Industrieländer pauschal idolisiert. PolitischerPluralismus als alles gleich berechtigende Haltung gegenüber kulturellerPluralität ist zwar politisch praktisch <strong>und</strong> salonfähig. Jedoch zeigt diephilosophische Debatte über <strong>Universalismus</strong> <strong>und</strong> (ethischen) Relativismus(vgl. Steinmann/Scherer 1998; Schroth 2002; Rippe 2002; Freudenberger1999, Kirk 1999; Krausz 1989), dass die Problematik komplexer ist:Im Gegensatz zum <strong>Universalismus</strong> gibt es gemäß der Gr<strong>und</strong>these ethischrelativistischerPositionen keine Möglichkeit, über die Partikularität einesMoralsystems hinaus zu gehen <strong>und</strong> diesem allgemeine Gültigkeit zuverschaffen. 53 Es kann demzufolge keine Standards geben, „die über die bloßlokalen Verbindlichkeiten einer bestimmten Kultur hinausweisen“ (Habermas,vgl. Steinmann/Scherer 1998: 48). Normen bzw. die ihnen zugr<strong>und</strong>eliegenden Wertvorstellungen können also nur in ihrem jeweiligen KontextGültigkeit beanspruchen. Soweit dies zutrifft, kann es auch kein allgemeingültiges Verständnis von Entwicklung geben. Dann steht dieentwicklungspolitische Zielfindung vor drei Optionen: (1) Die bereitsvorhandenen Wertvorstellungen einer Gemeinschaft im Status Quo alsRahmen hinzunehmen; (2) andere, etwa ‚westliche’, gegen die bestehendeneinfach durchzusetzen 54 ; oder (3) in einem näher zu bestimmenden Prozess53 Vgl. einführend Freudenberger 1999, Rippe 2002. Hier können nicht alle Argumente für <strong>und</strong>gegen die darunter gefassten Positionen erwähnt werden, daher seien nur folgende Einwändegegen extreme Formen des Relativismus erwähnt: Der Relativist widerspreche sich selbst,wenn er generell die Unmöglichkeit allgemein gültiger Werte <strong>und</strong> Urteile konstatiere, weildieses Urteil selbst ein allgemeines ist/sei (vgl. Krausz 1989: 2). Und: Wenn Moral nur nochrelativ – in letzter Konsequenz also individuell-relativ <strong>und</strong> damit völlig subjektiv – ist, dannverliert sie ihren intersubjektiven Sinn. Moral als gelebtes System würde zusammenbrechen,weil niemand mehr Gr<strong>und</strong> hat, sich an sie geb<strong>und</strong>en zu fühlen. Moralische Urteile wie „gut“oder „richtig“ würden ihren Sinn verlieren, wenn sie nur noch „gut für A“ hießen.54 Also ohne Berufung darauf, dass diese universal seien <strong>und</strong> ihre Durchsetzung daher legitim.


Scholtes, F.: „<strong>Amartya</strong> <strong>Sens</strong> <strong>Entwicklungsethik</strong>“ 103mit den Betroffenen die relevanten Werte auszuhandeln <strong>und</strong> hierauf basierendZiele zu entwickeln – auf die Gefahr hin, dass das Ergebnis nicht das von derEntwicklungspolitik ‚erwünschte’ ist. 55 Im letzten Fall würde dieZielbestimmung von vornherein als partikulare <strong>und</strong> vorläufige, nur lokal <strong>und</strong>historisch gültige vorgenommen.Eine universalistisch angelegte Bestimmung entwicklungspolitischer Zieleginge hingegen davon aus, dass die zugr<strong>und</strong>e liegenden Werte allgemeinerNatur, also nicht nur gegenüber einer konkreten Gemeinschaft, sondernkontextunabhängig begründbar sind. Vorgef<strong>und</strong>ene kulturelle Pluralität wirddabei verstanden als diverser Ausdruck eines im Gr<strong>und</strong>e genommenallgemeinen Menschseins. Die angestrebte Allgemeingültigkeit kann sich aufmehr oder weniger substantielle Aussagen beziehen: Alle Menschen habenbestimmte gleiche (Abwehr-) Rechte; ein menschenwürdiges Leben verlangtallgemein eine bestimmte materielle Ausstattung; für alle Menschen könnenWerte bzw. Ziele gelten, die in einem bestimmten kulturinvarianten(Diskurs-) Verfahren zustande gekommen sind; etc. Eine an universalistischenEthiken angelehnte entwicklungspolitische Zielfindung kann zwar immernoch Raum für partikulare Entwicklungspfade lassen. Doch wird auf Kriterienfür diese Pfade rekurriert, die als allgemein gültig verstanden werden, <strong>und</strong>resultierende Ziele werden nicht als „für diesen Kontext“, sondern alsallgemein richtig erachtet.55 Ein solches Vorgehen wird von Seiten des deutschen wissenschaftstheoretischen bzw.methodischen Konstruktivismus als Strategie zur Entwicklung gemeinsamer normativerOrdnung (<strong>und</strong> insofern in gr<strong>und</strong>sätzlich universalisierender Absicht) in interkulturellenDissenssituationen auf eine (hierfür gegebenenfalls erst herzustellende) gemeinsameLebenspraxis aufgesetzt (vgl. Steimann/Scherer 1998: 48; 61f). Im Zusammenhang mitEntwicklungspolitik ist jedoch das Problem möglicherweise ein weiter reichendes: Es gehtnicht nur um friedliche Koexistenz von Fremden <strong>und</strong> Einheimischen, sondern um dieErmittlung politischer Ziele, die mit guten Gründen, v.a. für die Betroffenen, Entwicklungheißen können.


104Scholtes, F.: „<strong>Amartya</strong> <strong>Sens</strong> <strong>Entwicklungsethik</strong>“4. „Westlicher Liberalismus“ in der <strong>Universalismus</strong>kritikKersting (2001) konstatiert, dass der ethische Relativismus als„Reaktionsphänomen“ auf einen sich derzeit abzeichnenden „neuenInterventionismus“ mit universalistischem Anspruch, etwa zur allgemeinenEtablierung universeller Menschenrechte, zu sehen ist. Weiterhin macht erden westlichen Liberalismus als zentrales Objekt von <strong>Universalismus</strong>kritikaus. Dies überrascht nicht: Als Gr<strong>und</strong>lage westlicher Gesellschaftsordnungen<strong>und</strong> mit moderner Ökonomie untrennbar verflochten, verfügt die liberaleGesellschaftsauffassung über starke Vertreter <strong>und</strong> weit reichende Wege derVerbreitung. Der liberalen Gr<strong>und</strong>idee zufolge haben subjektiv-formaleFreiheitsrechte jedes Einzelnen Vorrang vor konkreten, gar kollektivenEntwürfen des guten Lebens. Dieser Vorrang des Rechten vor dem Guten hateinen universalistischen Gr<strong>und</strong>zug, wie bei Kant (1793/1968) – einem demLiberalismus <strong>und</strong> der Universalisierungsidee gemeinsamen philosophischenAhnherrn – deutlich wird: „Niemand kann mich zwingen auf seine Art (wie ersich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein, sondern einjeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gutdünkt, wenn er nur der Freiheit Anderer, einem ähnlichen Zweckenachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichenallgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, (d.i. diesem Recht desAndern) nicht Abbruch tut.“ (Kant 1968: 290, zit. n. Reese-Schäfer 2001: 16)<strong>Universalismus</strong>kritik am Liberalismus erfolgt v.a. aus zwei Lagern:Poststrukturalistische Ansätze (vgl. etwa Lyotard 1986) gehen generell, alsonicht auf den Liberalismus spezifisch bezogen, davon aus, dass es keineuniversale Vernunft geben kann, weil „moralische Systeme gr<strong>und</strong>sätzlich daskontingente Ergebnis von ‚Sprachspielen’ <strong>und</strong> mit diesen verknüpftenLebensformen darstellen“ (Rosa 2002: 219), also immer partikular sind.


Scholtes, F.: „<strong>Amartya</strong> <strong>Sens</strong> <strong>Entwicklungsethik</strong>“ 105Die Partikularität speziell des Liberalismus wird auch vonkommunitarischer Seite 56 unterstrichen: Die vertragstheoretische F<strong>und</strong>ierungvon Rawls’ liberaler Theorie der Gerechtigkeit (1975) wurde etwadahingehend kritisiert, dass die in dessen Gedankenmodell generiertenNormen kontextunabhängig universale Geltung erhalten sollten (vgl. Dietrich1998), dass sie letztlich aber eben nur vor dem Hintergr<strong>und</strong> abendländischerKultur zustimmungsfähig erschienen. 57 Hieraus wurde auch (z.B. vonMacIntyre 1988: 345) der Schluss gezogen, dass daher der Liberalismus selbstdas „Rechte“ mit einer partikularen <strong>und</strong> ihm voran gestellten Idee des ‚Guten’– eben der freien individuellen Selbstbestimmung, dem Vorrang subjektiverFreiheitsrechte (vgl. Forst 1999: 780) – begründe <strong>und</strong> somit keineswegs alsneutrale Konzeption Allgemeingültigkeit beanspruchen könne.Diese Kritik wird im praktischen Kontext der Entwicklungspolitik umsorelevanter, als ‚westlicher Liberalismus’ über mit ihm assoziierte Elementewie politische Menschenrechte, marktwirtschaftliche Konzepte, über eineökonomische Dominanz westlicher Industriestaaten etc. als zentral fürmoderne Entwicklungspolitik gesehen werden kann wie keine anderepolitische Ethik. Hinzu kommt, dass über die zunehmende ökonomischeVerflechtung das liberale Wirtschaftsmodell eine ethisch kaum gesteuertereale Globalisierung erfährt.Liberalismus gerät so in die Legitimationspflicht gegenüber lokalvorgef<strong>und</strong>enen Lebensweisen, insbesondere da seine Neutralität fragwürdigscheint. Nicht weniger fragwürdig erscheint aber auch eine kulturkonservativeHaltung, die jegliche vorgef<strong>und</strong>ene Praxis unkritisch akzeptiert oder schützt:Nicht nur die verändernde Einführung von Gleichberechtigung von liberalerSeite, sondern auch die Beibehaltung von Ungleichberechtigung erscheintbegründungsbedürftig.56 Vgl. einführend Forst 1999: 781 ff. Ich ziehe die Bezeichnung „kommunitarisch“ (vgl.Reese-Schäfer 2001) parallel zu Liberalismus/liberal vor, weil „kommunitaristisch“ einStärke dieses -ismus suggeriert, die sein eher nur korrektives Verhältnis zum Liberalismusüberzeichnen würde.57 In späteren Schriften hat Rawls (z.B. 1998: 266 ff.) seine Konzeption ausdrücklicher alspolitische, partikulare gekennzeichnet.


106Scholtes, F.: „<strong>Amartya</strong> <strong>Sens</strong> <strong>Entwicklungsethik</strong>“Hier ist ein Zusammenhang wichtig, welcher dem Vorwurf des<strong>Universalismus</strong> am Liberalismus eine Gr<strong>und</strong>lage entzieht: Wer demLiberalismus auf globaler Ebene eine Überformung <strong>und</strong> Gefährdungpartikularer Lebensformen (‚Kulturen’) vorwirft, muss sich auf innergesellschaftlicher,etwa nationaler Ebene – auf welcher dem Liberalismus jagerade Pluralismusfähigkeit attestiert wird (vgl. etwa Kersting 2001) – fragenlassen, ob die Herrschaft einer partikularen, nicht liberalen Kultur gegenüberihren Dissidenten nicht dem gleichen Vorwurf ausgesetzt ist. Denn sobald einMensch als Dissident innerhalb dieser Kultur eine individuell partikulareLebensform anstrebt, würde auf ihn die verbindliche Erhaltung der nichtliberalen Kultur ebenso gefährdend wirken wie ein global durchgesetzterLiberalismus auf diese. Diesem Vorwurf wäre nur zu entgehen durch diestarke Annahme einer monolithischen Kultur 58 , die ihre Mitgliederumfassend, ausschließlich <strong>und</strong> definitiv bestimmt <strong>und</strong> in der daher keinDissens auftritt.Wie verhält sich vor diesem Hintergr<strong>und</strong> <strong>Sens</strong> prinzipiell liberale, Freiheit<strong>und</strong> Selbstbestimmung privilegierende Konzeption in ihrer normativethischenOrientierung von Entwicklungspolitik zur Pluralität von konkretenLebensweisen? Wie ist sie mit Blick auf die angeführte Kritik einzuordnen,<strong>und</strong> welchen Ausweg nimmt sie aus dem Dilemma <strong>zwischen</strong> der – lautrelativistischer Kritik – Unmöglichkeit einer universal-allgemeinen Bestimmungvon Entwicklungszielen <strong>und</strong> einer relativistischen Kapitulation vorvorgef<strong>und</strong>enen Realitäten in entwicklungspolitischen Feldern?58Im ethischen Relativismus gibt es verschiedene Positionen hinsichtlich dieser sog.Dependenzthese: In einer schwächeren Form wird dem einzelnen immerhin eine gewisse(wenn auch nicht vollständige) Möglichkeit der Emanzipation von der tradierten Moral derGemeinschaft unterstellt (vgl. Rippe 2002: 483). Der Human Development Report 2004 stellthierzu fest, dass unerfreulicher- <strong>und</strong> paradoxerweise in Zeiten, in denen die Kulturtheorienvon einem monolithisch-homogenen Kulturkonzept abgekommen sind, ausgerechnet einsolches politisch verstärkt instrumentalisiert wird (vgl. UNDP 2004a: 5).


Scholtes, F.: „<strong>Amartya</strong> <strong>Sens</strong> <strong>Entwicklungsethik</strong>“ 1075. Entwicklung als Freiheit: Einordnung von <strong>Sens</strong> KonzeptionGr<strong>und</strong>legende Annahme <strong>Sens</strong> ist, dass das Leben von Menschen sich alsKombination verschiedener sog. doings and beings beschreiben lässt (Sen1993: 31, 1992: 39) Diese Beschreibung erfolgt über den Begriff der„Funktionen“ (etwa die Funktion gr<strong>und</strong>legender Ernährung): Aspektemenschlichen Lebens, die ‚zu tun oder zu sein’ jemand in einem bestimmtenAusmaß erreicht hat. Was jemand erreicht hat, besagt jedoch noch nicht, waser hätte erreichen können. Der Begriff der „Fähigkeiten“ beschreibtdementsprechend im Unterschied zu den Funktionen, in welchem Ausmaßeine Person real frei ist, bestimmte Funktionen zu verwirklichen (Sen 1993:39). Um diesen Aspekt einer positiven Freiheit zu’ wird bei Sen die negativeKonzeption einer ‚Freiheit von’ (Beeinträchtigung durch andere etwa), die inliberalen Positionen dominiert, erweitert.Die Perspektive ist streng am Individuum orientiert: Es stehen dietatsächlichen Möglichkeiten einer Person, die ihr aus ihrer Ausstattung mit(materiellen) Mitteln erwachsen, im Vordergr<strong>und</strong>. Damit werden individuelleFaktoren berücksichtigt, welche die Konversion von Gütern in dieseMöglichkeiten bestimmen. Solche Faktoren können persönliche wie sozialeCharakteristika sein, etwa eine körperliche Behinderung, gesellschaftlicheNormen, die Frauen die Konversion von Bildung in qualifizierte Arbeiterschweren, o.ä. 59 Die Differenz <strong>zwischen</strong> Erreichungsmöglichkeit <strong>und</strong>Erreichung stellt dann zwar ungenutzte, aber intrinsisch 60 wertvolle Freiheitdar. Dadurch wird der (Sen zufolge von Menschen geschätzte) Wert derFreiheit jenseits ihrer Instrumentalität erfasst, die sich bereits in den durch sie59 Hierdurch erhält der Ansatz eine starke Differenz- <strong>und</strong> Kontextsensitivität: PersönlicheUnterschiede darin, wie Menschen Güter in Fähigkeiten umwandeln können, werden imsozialen Kontext gesehen. Diese Kontextsensitivität ist auch bei Martha C. Nussbaum (1993,1999) programmatisch. Sie ist nicht zu verwechseln mit Kontextualität in dem Sinn, dasseine Forderung gr<strong>und</strong>sätzlich nur in bestimmten Kontexten gilt. Gerade Nussbaum vertritteinen weitgehend kontextunabhängigen Essentialismus, wenn sie ein gutes menschlichesLeben explizit <strong>und</strong> mit universalem Geltungsanspruch konkretisiert.60 Intrinsisch meint bei Sen im Gegensatz zu instrumentell den („Eigen“-)Wert, den Menschender Freiheit vor bzw. unabhängig von einer Nutzung beimessen.


108Scholtes, F.: „<strong>Amartya</strong> <strong>Sens</strong> <strong>Entwicklungsethik</strong>“erreichten Zielen widerspiegelt (Sen 2000: 30). Würde nur auf Erreichtesabgestellt, könnte die Position eines Hungernden nicht von der einesFastenden unterschieden werden.5.1 Programmatische Offenheit <strong>und</strong> Allgemeinheit des AnsatzesStellenweise gibt Sen Hinweise darauf, dass manche konkreten Funktionenbzw. Freiheiten für ein gelingendes menschliches Leben f<strong>und</strong>amentaler seienals andere. So kann die Freiheit in einem Bereich der Ges<strong>und</strong>heit als wichtigererachtet werden als die Freiheit in der Wahl einer bestimmtenWaschmittelmarke. Auch führt er durch den Begriff der basic capabilitieseine Idee von Fähigkeitsausmaßen bzw. -aspekten ein, die für einmenschliches Leben minimal gewährleistet sein müssen (Sen 1993: 41). Mitdiesen kann zum Beispiel mit Blick auf die capability, Ges<strong>und</strong>heit zuerreichen, <strong>zwischen</strong> dem Zugang zu Trinkwasser <strong>und</strong> dem Zugang zu einemFitnessstudio differenziert werden. Doch er grenzt sich explizit ab vonVersuchen, durch eine konkrete Liste bestimmter Fähigkeiten, die etwa auseinem „menschlichen Leben erst ein gutes menschliches Leben machen“ (vgl.etwa Martha C. Nussbaum, vgl. Pauer-Studer 2004 61 ), seine Konzeption aufbestimmte Vorstellungen guten Lebens festzulegen. Sen will seinem Ansatznicht nur eine Multifunktionalität erhalten, mit der sowohl Fragen der Armutals auch etwa des gender-Bereichs zu bearbeiten sind. Es soll auch dieDiversität menschlichen Lebens generell erfassbar bleiben: Diese zeigt sichnicht nur interpersonal in der unterschiedlichen Kapazität, Güter in Freiheitenumzuwandeln, sondern auch „interkulturell“ in der Vielzahl jener Zweckebzw. Werte, welche in einer Bewertung eines gesellschaftlichenArrangements eine Rolle spielen können. Gerade durch <strong>Sens</strong> Anerkennungder Notwendigkeit, diese Zwecke kontextuell zu explizieren (vgl. Sen 1985,61 Allerdings ist diese Liste als vage <strong>und</strong> unter Revisionsvorbehalt zu lesen. Auch bekennt sichNussbaum trotz ihrer essentialistischen Position letztlich zur Nähe zum politischenLiberalismus von Rawls <strong>und</strong> zur gemeinsamen Idee von Menschen als freien Entscheidernüber ihr Leben (vgl. Sturma 2000: 286).


Scholtes, F.: „<strong>Amartya</strong> <strong>Sens</strong> <strong>Entwicklungsethik</strong>“ 109Kap. 5-7; 1992: 44f.) erweist sich der Ansatz als offen hinsichtlich derkonkreten Funktionen, bezüglich derer ein Arrangement zu bewerten ist.Zu dieser programmatischen Offenheit gegenüber partikularenLebenswelten steht im Widerspruch, dass Sen häufig zusammen mitessentialistischen Ansätzen rezipiert wird (etwa bei Rosa 2002: 218),Ansätzen also, die eine Vorstellung guten menschlichen Lebens überbiologische Gr<strong>und</strong>bedürfnisse hinaus kulturinvariant konkretisieren.Tatsächlich liegt der dergestalt substantiellen, nicht mehr nur formalen Ethikdes guten Lebens von Nussbaum (1993, 1999) <strong>und</strong> <strong>Sens</strong> Ansatz einegemeinsame Wurzel 62 zugr<strong>und</strong>e: Beide stellen in (neo-)aristotelischerTradition die „Entwicklung von spezifisch menschlichen Fähigkeiten“ in denVordergr<strong>und</strong> von normativer politischer Ethik (Sturma 2000: 260). DieBefähigung zu einem guten menschlichen Leben wird zum Kriterium einergerechten Gesellschaft. Sen (1993: 46 ff.) verweist selbst auf diese„aristotelian connections and contrasts“ seines Ansatzes. Doch er unterstreichtauch, dass die Nussbaum’sche konkretisierte Variante des capabilityapproach eine mögliche, aber eben nicht zwingende Lesart des aristotelischenAnsatzes ist. Tatsächlich distanziert er sich insofern von „the full Aristotelianway“ (a.a.O.: 47), als er die Kompatibilität seines allgemeinen Ansatzes, dernoch nicht mit substantiellen Vorstellungen des guten Lebens gefüllt ist, mitbereits substantiellen Theorien als Vorteil bewertet. 63Trotz dieser Offenheit bleibt jedoch als Allgemeingültigkeitbeanspruchende Position <strong>Sens</strong>, dass zur Bewertung der Position vonMenschen in einem Arrangement – <strong>und</strong> damit auch zur Bewertung vonEntwicklungspolitik – eben die reale Freiheit in ihrem instrumentellen (zurErreichung von Zielen) <strong>und</strong> ihrem intrinsischen (von der Erreichung62 Sen <strong>und</strong> Nussbaum haben über Jahre hinweg den capability approach gemeinsam entwickelt.Sie stellen bis heute, wenn auch in eben unterschiedlicher Weise, den Kern der damitverknüpften akademischen Gemeinde dar.63 <strong>Sens</strong> Ansicht nach ist es auch von Vorteil, einem policy maker gerade nicht die Mühe einerbegründeten Entscheidung abzunehmen, indem der Ansatz von sich aus bereits operationaleEmpfehlungen für konkrete Politik liefert. Dies wird jedoch auch als Problem gesehen (vgl.etwa Deneulin 2002: 500 f.).


110Scholtes, F.: „<strong>Amartya</strong> <strong>Sens</strong> <strong>Entwicklungsethik</strong>“unabhängigen) Wert den individuell zu erfassenden bzw. politischanzustrebenden Vorteilsbegriff darstellt.Liegt daher <strong>Sens</strong> Konzeption eine Ein-Gut-Axiologie wie etwa in derutilitaristischen Ethik (vgl. Birnbacher 2002: 96) zugr<strong>und</strong>e, die eineneindimensionalen Wert als Vorteilsparameter verwendet <strong>und</strong> hiermit imWiderspruch stünde zu menschlicher, also kultureller Diversität? Kurz gesagt:Nein. Denn Ein-Gut-Axiologien transformieren alle von Menschenerfahrenen Güter in eine einheitliche Währung – etwa Nutzen, z.B. alsWunscherfüllung, Lust oder Glück. Daraus folgt normativ, dass nur dieseWährung als Zielparameter gesellschaftlicher Organisation, z.B. desWirtschaftens, resultiert. Von solchen „Monismen“ distanziert sich Sen (1993:48; 2000: 98) jedoch ausdrücklich. Die verschiedenen Dimensionen realerFreiheit sollen demnach nicht in eine Art Gesamt-capability als eineneindimensionalen Vorteilsparameter transformiert werden. Sondern dieOrientierung an Freiheit bedeutet, dass die Position der Menschen hinsichtlichdieses Vorteilsbegriffs in verschiedenen Dimensionen zu bewerten ist. DieseMultidimensionalität erhält die Offenheit gegenüber kultureller Diversität.5.2 Notwendige Kontextualisierung des allgemeinen Ansatzes<strong>Sens</strong> Perspektive strebt also trotz aller damit verb<strong>und</strong>enen methodischenSchwierigkeiten bewusst inhaltliche Offenheit an. Allerdings müssen impraktischen Rahmen staatlich organisierter Politik Entscheidungen darübergetroffen werden, für welche konkreten Funktionen (bzw. Befähigungen derMenschen hinsichtlich derselben) ein Gemeinwesen mit öffentlichen Mittelnschließlich aufkommen soll. Die konzeptionelle Allgemeinheit <strong>und</strong> Offenheitdes Ansatzes wird hierdurch auf der Umsetzungsebene eingeschränkt.Statt hierzu konkrete menschliche Fähigkeiten essentialistisch als dieallgemein relevanten apriorisch festzulegen 64 , ordnet Sen dies einer64 Insofern liegt der Unterschied <strong>zwischen</strong> Nussbaum <strong>und</strong> Sen weniger in der Anerkennung derNotwendigkeit, dass eine Entscheidung über eine solche Liste von bestimmten capabilitiesirgendwann getroffen werden muss. Vielmehr besteht er in der jeweils als legitimierend


Scholtes, F.: „<strong>Amartya</strong> <strong>Sens</strong> <strong>Entwicklungsethik</strong>“ 111gesellschaftlichen Entscheidung unter. 65 So wird die durch ein Gemeinwesenzu leistende Befähigung der Menschen demokratisiert <strong>und</strong> partikular gemäßden jeweiligen „<strong>und</strong>erlying concerns and values“ (vgl. Sen 1993: 32)bestimmt. Konkret muss man sich hierunter die Auswahl <strong>und</strong> Priorisierungjener Leistungen vorstellen, die von öffentlicher Seite etwa im Rahmen vonGes<strong>und</strong>heits-, Bildungs-, etc. -einrichtungen erbracht werden sollen. Eskommt somit zumindest teilweise zu einer partikularen kollektivenEntscheidung auch darüber, was ein gutes Leben der einzelnen Dazugehörigenausmacht. Denn es ist ja ein gutes Leben, welches die näher bestimmtenBefähigungen gemäß der aristotelischen Wurzel von <strong>Sens</strong> Konzeption denMenschen ermöglichen sollen. Sturma zufolge (2000: 286) liegt der Gewinnneoaristotelischer Konzepte gegenüber liberalen Konzepten gerade darin, dassdiese Fragen des guten Lebens wieder über rein formale, ‚kontextblinde’Verfahren hinaus problematisiert werden. Diese Kontextualisierung erfülltdabei die folgenden wichtigen Funktionen: Sie ermöglicht eine liberaleGesellschaft <strong>und</strong> individuelle Selbstbestimmung.Kontextualität als Bedingung einer liberalen GesellschaftVon den Debatten, die mit einer solchen gesellschaftlichen Entscheidungverb<strong>und</strong>en sind, erwartet Sen auch die Herausbildung bzw. Erneuerung vonsozialen Werten (vgl. Sen 2000: 311 ff.). 66 In diesen sieht er ein moralischesF<strong>und</strong>ament, ohne welches eine kapitalistische, individualistisch-liberaleGesellschaft gar nicht funktionieren würde (Sen 2000: 312ff., 332). Hiermitberücksichtigt er die Befürchtung, dass eine Gesellschaft, in der Moral <strong>und</strong>Vorstellungen des Guten privat sind, keine soziale Bindung durch geteiltefavorisierten Herkunft dieser Listen: Kurz gesprochen zieht Nussbaum argumentativeRichtigkeit, Sen dagegen gesellschaftliche Öffentlichkeit vor.65 Hinsichtlich der Bewertung eines vorliegenden Settings gilt laut Sen: „There is no escapefrom the problem of evaluation in selecting a class of functionings in the description andappraisal of capabilities. The focus has to be related to the <strong>und</strong>erlying concerns and values“(Sen 1993: 32, Herv. F.S.). Sen geht von durchaus kontroversen Ansichten hierzu aus, für diees öffentlicher Diskussion <strong>und</strong> eines demokratischen Verständnisses bedürfe (2000: 95 ff.).66 Sozial meint sowohl überindividuelle als auch überindividuell orientierte Werte. Konkretnennt Sen etwa sympathy, generosity, public spirit.


112Scholtes, F.: „<strong>Amartya</strong> <strong>Sens</strong> <strong>Entwicklungsethik</strong>“Werte mehr aufbringen kann <strong>und</strong> erodiert: Gerade liberale Kommunitarierhatten auf diese Notwendigkeit von sozialen Werten <strong>und</strong> öffentlicher Moralhingewiesen, um eine liberale Gesellschaft der individuellenSelbstbestimmung dauerhaft zu ermöglichen (vgl. etwa Taylor 2002).Die Berücksichtigung dieser gemeinschaftlichen Komponente ist also beiSen kein Selbstzweck. Stattdessen geht es als letzte Instanz immer um diereale Freiheit des Einzelnen in einer freien Gesellschaft, ein individuellselbstbestimmtes Leben zu führen. Die Einschränkung der Selbstbestimmung,die durch eine zwar demokratisierte, aber dann überindividuell wirksamepartielle Bestimmung eines guten Lebens vorgesehen ist, ist also keinZugeständnis eines Liberalen an einen Vorrang von kollektiven Vorstellungendes Guten vor individuellen Rechten. Vielmehr stellt sie eine Bedingung füreine langfristig freie Gesellschaft dar.Kontextualität als Bedingung für individuelle SelbstbestimmungIndividuelle Selbstbestimmung ist neben einer intakten freien Gesellschaftauch auf Wertvorstellungen angewiesen, die Menschen nicht losgelöst voneinem sozialen Kontext ausbilden: „Individuen gewinnen ihre je eigeneVorstellung des Guten bzw. des guten Lebens durch Sozialisation in solchekulturelle Praxiszusammenhänge, die ihnen einen Horizont bedeutungsvollerLebensoptionen erst eröffnen, <strong>und</strong> sodann natürlich auch inAuseinandersetzung mit <strong>und</strong> teilweise in Abgrenzung von ihnen, aber nichtdurch eine autonome ‚Wahl’ <strong>zwischen</strong> Lebensformen.“ (Rosa 2002: 220)Die explizite Berücksichtigung von Wertgemeinschaften als Bedingung fürdie Selbstbestimmungsfähigkeit der Einzelnen stellt einen wichtigenUnterschied dar zur gängigen wohlfahrtsökonomischen Perspektive: Wenndort den Prämissen zufolge Menschen exogene Präferenzen – also ihreWertvorstellungen – bereits ungeachtet einer sozialen Eingeb<strong>und</strong>enheit haben,bleibt die Herkunft der Präferenzen im Dunkel. Dann wird dem


Scholtes, F.: „<strong>Amartya</strong> <strong>Sens</strong> <strong>Entwicklungsethik</strong>“ 113ökonomischen Akteur mit der Konsumentenfreiheit eine innere 67 Wahlfreiheitunterstellt, die ohne eine zugr<strong>und</strong>e liegende Kulturalität der Lebensweltüberhaupt nicht denkbar ist: Dort erst wird im Rahmen der Sozialisation eineHeranbildung von Wertvorstellungen ermöglicht.Wenn Sen also eine kultivierte öffentliche Ausbildung von „sozialenWerten“ vorsieht, wird dadurch berücksichtigt, dass die reale Freiheit derMenschen nicht nur auf materielle Ausstattungen, sondern auch auf geteilteWertvorstellungen angewiesen ist, entlang – oder auch entgegen derer –Menschen sich in ihren individuellen Wahlentscheidungen orientierenkönnen. Selbstbestimmung ermöglichende Kultur wird in dieser Perspektiveaus dem Bereich handlungstheoretischer Prämissen in den Bereich politischzu gewährleistender Rahmenbedingungen gezogen. Erst auf eine solchekulturelle Gr<strong>und</strong>lage kann eine Ökonomie als soziale Praxis aufsetzen.5.3 Reversibler Status der Kontextualisierung des allgemeinen AnsatzesEine partikulare Wertegemeinschaft findet also mit einer gewissenüberindividuellen Vorstellung des guten Lebens Eingang in die(entwicklungspolitische) Kontextualisierung bzw. Konkretisierung. Damit istjedoch nicht von vornherein die Akzeptanz dieses aktuell geltendenWertgerüsts verb<strong>und</strong>en: Sen erachtet Menschen nicht nur als sowohl„egoistisch“ als auch „sozial“ eingestellt (worauf die soziale F<strong>und</strong>ierung einerliberalen Gesellschaft ruht), sondern er unterstellt in seinem Menschenbildauch menschliche agency: eine soziale Gr<strong>und</strong>haltung aktiver politischerPartizipation <strong>und</strong> gesellschaftlicher Veränderung (Sen 2000: 30 f.). Menschensind demnach weder übersozialisierte Produkte eines stabil-homogenengemeinschaftlichen Wertebestands, noch untersozialisierte Atome eines mitEigennutzmaximierung betriebenen Netzwerks ökonomisch-funktionalerBeziehungen. Sie unterliegen nicht einer kulturell spezifischen öffentlichen67 Hier sei darauf hingewiesen, dass die mainstream-Ökonomik häufig auch eine äußereHandlungsfreiheit unterstellt, die in der realen Welt keineswegs immer als gewährleisteterachtet werden kann. Dabei handelt es sich jedoch um ein Problem institutionellerRahmenbedingungen. Hier ist dagegen eine kulturelle Rahmenbedingung angesprochen.


114Scholtes, F.: „<strong>Amartya</strong> <strong>Sens</strong> <strong>Entwicklungsethik</strong>“Moral, sondern gestalten diese. Die kritische Haltung von Menschengegenüber dem eigenen Wertesystem, so sehr dieses auch einen „essentiellenReferenzpunkt“ (Nussbaum/Sen 1989: 300) für sie selbst <strong>und</strong> für dieOrientierung von Entwicklung darstellt, wird Bürgern dabei sowohl zugetrautals auch zugesprochen: Nussbaum/Sen sehen einen „need for internalcriticism and rational assessment of the values of a culture“ (a.a.O.).Wertegemeinschaften werden also in ihrer funktionalen Bedeutunganerkannt, aber eben als dynamisch <strong>und</strong> nicht als dem gestaltenden Zugriffihrer Mitglieder entzogen gedacht. Dies qualifiziert den Status aktuellerkultureller Normen mit Blick auf entwicklungspolitische Zielsetzungen infolgender Weise: Wenn Menschen aufgr<strong>und</strong> von agency <strong>und</strong> als„Öffentlichkeit schöpferisch an gesellschaftlichen Veränderungen beteiligt“(Sen 2000: 334) sind, dann darf weder (1) der kulturelle Status Quokulturkonservativ vor Kritik <strong>und</strong> Veränderung geschützt sein, noch können (2)andere Werte bzw. Funktionen essentialistisch auf Dauer festgeschriebenwerden, noch darf (3) Moral in formal-liberaler Weise privatisiert werden <strong>und</strong>dem öffentlichen Raum, den sie ja in ihrer stetigen Erneuerung mitträgt,entzogen werden. <strong>Sens</strong> kontext- <strong>und</strong> pluralitätssensitiv angelegte Konzeptionsteht somit jenseits von Kulturkonservatismus, universalistischemEssentialismus <strong>und</strong> streng formalistischem Liberalismus.Wenn nun in diesem Sinne bestimmte soziale Werte im Rahmenöffentlicher Auseinandersetzungen gemeinschaftlich aktualisiert werden <strong>und</strong>Bestand haben, entgeht eine solche Bewahrung partikularer Kultur auch eherdem in Teil 3 erwähnten Herrschaftsvorwurf gegenüber den Mitgliedern.Bedingung hierfür ist jedoch, dass die Menschen die reale Freiheit haben, sichim agency-Sinne kulturverändernd zu betätigen. Die Legitimität kulturellerPartikularität ist an diese Freiheit der Mitglieder geb<strong>und</strong>en.Bei aller Berücksichtigung gemeinschaftlicher Aspekte bleibt also dieliberale Gr<strong>und</strong>haltung <strong>Sens</strong> bestehen: dass eine so konstituierte Gesellschaftindividueller Selbstbestimmung, die mit moralisch-kultureller Gemeinschaftunterfüttert ist, eine universal wünschenswerte Gesellschaft ist. Dies begrenztdie ansonsten offen gedachte Konzeption insofern, als individuelle Freiheitbestimmte kulturelle Praxis <strong>und</strong> Moral intuitiv schlechterdings ausschließt. So


Scholtes, F.: „<strong>Amartya</strong> <strong>Sens</strong> <strong>Entwicklungsethik</strong>“ 115zurückhaltend Sen seine Konzeption anbietet, erkennt er seine Prämissen dochals universalistische an (2000: 292).6. Fazit <strong>und</strong> AusblickWie stellt sich nun die Konzeption von Sen mit Blick auf das dem Artikelzugr<strong>und</strong>e liegende (entwicklungspolitische) Problemfeld dar? Das zentraleProblem hatte sich in der Vereinbarkeit des Anspruchs positiver Veränderung– ‚Entwicklung’ – mit vorgef<strong>und</strong>ener, partikularer Normativität gezeigt.Indem Sen sowohl Entwicklung als auch den kulturellen Status Quo auf denVorteilsbegriff der individuellen realen Freiheit zu einem selbstbestimmtenLeben als Referenz ausrichtet, löst sich sozusagen der Zielkonfliktkonzeptionell auf: Status Quo wie Veränderung sind öffentlicherQualifizierung untergeordnet, beide stehen in ihren Inhalten zur Disposition.Solange eine stärker als westlich-liberale Gesellschaften gemeinschaftlichstrukturierte <strong>und</strong> regulierte Gesellschaft ihren Menschen Freiheit in <strong>Sens</strong>Verständnis bietet – einschließlich der Freiheit zu ihrer Veränderung – sprichtkonzeptionell nichts gegen sie. Auf diese Freiheitsfunktionalität hin wären derKonzeption zufolge bestehende Strukturen zu hinterfragen.Dabei ist natürlich zu beachten, dass tradierte Normen „internal criticism“erschweren können: Es mag schwierig sein, kulturelle Standards, die daseigene Bewusstsein samt Wertvorstellungen geprägt haben, selbst zuhinterfragen. Doch bleibt der Anspruch bestehen, dass die partikulareWertegemeinschaft von ihren Mitgliedern immer wieder neu hervorgebrachtwird, <strong>und</strong> zwar als eine, die im doppelten Sinne die individuelle Partikularitätermöglicht: ihr Raum in einer freien Gesellschaft gibt <strong>und</strong> das kulturelle,orientierende F<strong>und</strong>ament individueller Selbstbestimmung darstellt.Der Ansatz zeigt sich in der Darstellung als ‚soziologisch attraktiv’ in demSinne, dass die Eingeb<strong>und</strong>enheit des Individuums (einschließlich seinerSelbstbestimmung) in kulturelle, normative Kontexte weder vernachlässigtnoch als unveränderlich über das Individuum erhoben wird: DieKonstituierung von Personen in Gemeinschaften sowie die dynamische,


116Scholtes, F.: „<strong>Amartya</strong> <strong>Sens</strong> <strong>Entwicklungsethik</strong>“kritisch aktualisierte Konstituierung von Gemeinschaften durch Personen wirderfasst. Als ‚normativ-ethisch attraktiv’ stellt der Ansatz sich insofern dar, alser Menschen ein hohes Maß an eigener Gestaltung dessen zumisst, was einefür sie gute Gesellschaft <strong>und</strong> somit Ziel von Entwicklung ist. Sieht man alsonormativ-individualistisch den Sinn <strong>und</strong> Zweck von Gesellschaft <strong>und</strong> ihrerGestaltung beim Menschen, bietet <strong>Sens</strong> Perspektive einen integrativenUmgang mit der Problemlage <strong>Universalismus</strong>-Relativismus an.So bleibt letztlich die Frage, wie es um die universale Geltungsfähigkeitder normativen Referenz ‚Freiheit’ (im Sinne <strong>Sens</strong>) <strong>und</strong> den darin enthaltenennormativen Individualismus bestellt ist. Als Ausblick möchte ich einArgument, dessen mitschwingender ‚Unwiderlegbarkeitsanspruch’ mirallerdings bewusst ist, zugunsten von <strong>Sens</strong> Konzeption spekulativ in denRaum stellen. Diesem zugr<strong>und</strong>e liegt ein bereits in Teil 3 verwendeterGedanke: Wenn eine nach innen unfreie partikulare Gemeinschaft, die etwasystematisch Gruppen unterdrückt, kulturelle Freiheit von einer (z.B.entwicklungspolitischen) im Sinne <strong>Sens</strong> freiheitsorientierten Überformungeinfordert, dann tut sie dies als eine Partikularität, die von anderen einExistenzrecht einfordert.Akzeptiert man nun die These, dass Partikularität auch innergemeinschaftlichexistiert <strong>und</strong> jeder Mensch in seiner Individualität imVerhältnis zu seiner Gemeinschaft immer noch selbst partikular ist, dann wärediese Forderung nach Freiheit zu Partikularität letztlich auf das Individuumübertragbar. Der Einzelne kann gleichfalls unter Berufung auf seinePartikularität innerhalb einer Gemeinschaft die individuelle Selbstbestimmungeinfordern.Zwar mag sich eine solche Gemeinschaft statt auf Freiheit auf eine‚gef<strong>und</strong>ene universale Wahrheit’ berufen <strong>und</strong> die eingeforderte kulturelleFreiheit als Mittel beanspruchen, um ihre Wahrheit universal (<strong>und</strong>möglicherweise Individuen unfrei machend) durchzusetzen. 68 Und es mag ihrschwer fallen, sowohl den anderen die Freiheit zu gewähren, in Unwahrheit68 Für diesen <strong>und</strong> weitere Hinweise bin ich Dieter Birnbacher dankbar.


Scholtes, F.: „<strong>Amartya</strong> <strong>Sens</strong> <strong>Entwicklungsethik</strong>“ 117zu leben, als auch die Übertragung dieser Freiheit nach unten zu denEinzelnen weiter zu reichen. Doch was sie nach außen einfordert, ist letztlicheine Freiheit zur partikularen Selbstbestimmung, ganz gleich, ob sie diese nunals Mittel für innere Unterdrückung will oder in Anerkennung des Werts vonFreiheit. M.E. ist damit jede Gemeinschaft, wenn sie kulturelle Freiheit nachaußen hin einfordert, auch mit dem Anspruch individuell-kultureller Freiheitvon innen konfrontiert. Das heißt gerade nicht, dass damit liberaleGesellschaften resultieren müssen, wie sie bisher existieren. Welchepartikulare Gestaltung der Gesellschaft freie Menschen jeweils vornehmen,wird in dieser Perspektive nicht – auch nicht zugunsten spezifisch westlicherAusprägungen des liberalen Gr<strong>und</strong>gedankens – vorgeschrieben.LiteraturverzeichnisBirnbacher, D. (2002): Utilitarismus/Ethischer Egoismus, in:Düwell/Hübenthal/Werner (Hrsg.), 95-107.B<strong>und</strong>esfinanzminsterium (2002): Der Finanzplan des B<strong>und</strong>es 2003-2007,http://www.b<strong>und</strong>esfinanzministerium.de/Finanz-<strong>und</strong>-Wirtschaftspolitik/Der-Finanzplan-des-B<strong>und</strong>es-.436.htm, 15.04.2004.Cansier, D./Bayer, S. (2003): Einführung in die Finanzwissenschaft. Gr<strong>und</strong>funktionendes Fiskus, München: Oldenbourg.Deneulin, S. (2002): Perfectionism, paternalism and liberalism in <strong>Sens</strong> andNussbaum’s Capability Approach, Review of Political Economy, Vol. 14 No. 4,497-518.Dietrich, F. (1998): Die kommunitaristische Kritik an John Rawls’ Theorie desGesellschaftsvertrags, http://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/sowi/lsi/vortraeg/kommun.htm, 28.03.2003.Düwell, M./Hübenthal, C./Werner, M. (2002): Handbuch Ethik, Stuttgart u. a.:Metzler.Forst, R. (1999): Liberalismus/Kommunitarismus, in: Sandkühler et al. (Hrsg.), 780-784.Freudenberger, S. (1999): Relativismus, in: Sandkühler et al. (Eds.), 1378-1384.Kant, I. (1793): Über den Gemeinspruch: das mag in der Theorie richtig sein, taugtaber nicht für die Praxis, in: ders., Werke, Akademie Textausgabe Bd. VIII,Berlin.Kersting, W. (2001): Plädoyer für einen nüchternen <strong>Universalismus</strong>,http://www.information-philosophie.de/philosophie/kersting.html, 15.04.2004.


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