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Herwarth Waldens »sturm« und die Architektur

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Leseprobe<br />

Robert Hodonyi<br />

<strong>Herwarth</strong> <strong>Waldens</strong> »Sturm«<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Architektur</strong><br />

Eine Analyse zur Konvergenz der Künste<br />

in der Berliner Moderne<br />

AISTHESIS VERLAG<br />

–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––<br />

Bielefeld 2010


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet <strong>die</strong>se Publikation<br />

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische<br />

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />

© Aisthesis Verlag Bielefeld 2010<br />

Postfach 10 04 27, D-33504 Bielefeld<br />

Satz: Germano Wallmann, www.geisterwort.de<br />

Druck: docupoint GmbH, Magdeburg<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

ISBN 978-3-89528-779-4<br />

www.aisthesis.de


Inhalt<br />

Vorwort .........................................................................................<br />

Einleitung ......................................................................................<br />

1. Quellen- <strong>und</strong> Forschungsüberblick ......................................<br />

2. Methodische <strong>und</strong> theoretische Vorüberlegungen ..................<br />

3. Materialität <strong>und</strong> Medialität der <strong>Architektur</strong> um 1900.<br />

Kontext <strong>und</strong> Gliederung der Arbeit .....................................<br />

I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />

<strong>Architektur</strong> im Verein für Kunst (1904-1911) .....................<br />

1. Individualität <strong>und</strong> Sozialität ................................................<br />

2. Historische Synopse: Kurze Me<strong>die</strong>ngeschichte des Sturm<br />

<strong>und</strong> seiner Vorläufer ............................................................<br />

2.1 Teloplasma (1901) ...............................................................<br />

2.2 Verein für Kunst. Nietzsche-Kult .........................................<br />

3. <strong>Architektur</strong> im Verein für Kunst ..........................................<br />

3.1 Henry van de Velde: Die Linie ............................................<br />

3.2 Hermann Muthesius: Die Einheit der <strong>Architektur</strong> ...............<br />

3.3 <strong>Architektur</strong>publizistik in Morgen <strong>und</strong> Das Theater .............<br />

3.4 »Baumeister Solness«: Ludwig Hoffmann ...........................<br />

3.5 Einfachheit <strong>und</strong> Sachlichkeit. Der Wertheim-Bau .................<br />

3.6 Moderne Theaterarchitektur. Richard Wagner als Vorbild ...<br />

II Im Zeichen von »Ornament <strong>und</strong> Verbrechen«.<br />

Adolf Loos <strong>und</strong> Der Sturm ..................................................<br />

1. »Potemkin’sche Stadt«: Wiener Ringstraße ..........................<br />

1.1 Adolf Loos <strong>und</strong> Gottfried Semper ........................................<br />

1.2 Wien um 1900 .....................................................................<br />

2. Brückenschläge. Wiener <strong>und</strong> Berliner Moderne ...................<br />

2.1 Publizistische <strong>und</strong> logistische Kooperationen .......................<br />

2.2 Interdisziplinäre Sprachkritik um 1900 ...............................<br />

2.3 Loos-Referenzen vor 1910: Alfred Döblin ...........................<br />

2.4 Tradition <strong>und</strong> kultureller Aufbruch .....................................<br />

2.5 »Ornament <strong>und</strong> Verbrechen« im Kontext<br />

der Gründung des Sturm .....................................................<br />

3. Irritation <strong>und</strong> Aneignung. Die Ökonomie der Ornamentik<br />

4. Das Haus am Michaelerplatz ..............................................<br />

5. Ins Leere gesprochen? Die 1920er Jahre ..............................<br />

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III Dialog der Künste. Die Glasarchitektur im Sturm ...............<br />

1. Phase I: Scheerbart im Verein für Kunst ...............................<br />

2. Kritik am Städtebau ............................................................<br />

3. Dramatische <strong>und</strong> lyrische Kunst-Welten: Glas-Theater ........<br />

4. Erkenntnistheoretische Gr<strong>und</strong>lagen .....................................<br />

4.1 Der Autor in der ästhetischen Moderne um 1900 ................<br />

4.2 Sprachskepsis <strong>und</strong> das »Kalt-Konstruirende« ......................<br />

4.3 Konstruktive Poetik:<br />

Lesabéndio. Ein Asteroidenroman (1913) ...........................<br />

5. Phase II: Scheerbart <strong>und</strong> Der Sturm ....................................<br />

5.1 Phantastik, Exotismus <strong>und</strong> Glaskultur ................................<br />

5.2 Kapitän Junker auf der Insel Tamuso (1911):<br />

Beschreibung einer phantastischen Lichtstadt ......................<br />

5.3 Das Ozeansanatorium für Heukranke.<br />

Telegramm-Novelette (1912): Die Utopie<br />

der schwimmenden Glasarchitektur ....................................<br />

5.4 Hymnische Evokationen .....................................................<br />

5.5 Ethik <strong>und</strong> Ästhetik ..............................................................<br />

5.6 Umwandlung von Literatur in <strong>Architektur</strong>:<br />

Bruno Tauts Glashaus .........................................................<br />

5.7 Vermittlung <strong>und</strong> Rezeption: Die Glasarchitektur <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> Künste ...........................................................................<br />

IV <strong>Architektur</strong> als Metapher ....................................................<br />

1. Joseph August Lux: Ingenieur-Ästhetik ................................<br />

2. Exkurs: Vorüberlegungen zur Funktion von Metaphern ......<br />

3. »Der Wille des neuen Weltalters ist architektonisch, nicht<br />

malerisch«: Architektonisches Denken <strong>und</strong> Avantgarde .......<br />

4. Ikonoklastische Kunstrevolution <strong>und</strong> Konstruktion .............<br />

4.1 Kraus <strong>und</strong> Loos ...................................................................<br />

4.2 Der italienische Futurismus .................................................<br />

4.2.1 Phasen der Futurismus-Rezeption ........................................<br />

4.2.2 Futuristische (Bild-) <strong>Architektur</strong> ..........................................<br />

5. Kairologisches Zeitbewusstsein ...........................................<br />

6. <strong>Architektur</strong> <strong>und</strong> Abstraktion: Wassily Kandinsky ................<br />

7. Das Musikalische in der <strong>Architektur</strong> ...................................<br />

8. Der tschechische Kubismus ..................................................<br />

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V <strong>Architektur</strong> <strong>und</strong> Sturm-Kunsttheorie(n) I ............................<br />

1. Allgemeine Vorüberlegungen zum Theoriebegriff ................<br />

2. Adolf Behne <strong>und</strong> <strong>Herwarth</strong> Walden:<br />

Erste Konturen der Sturm-Kunsttheorien 1912-1914/15 ......<br />

3. Zur neuen Kunst (1915) – »Kunstwende« <strong>und</strong><br />

»neue Renaissance« .............................................................<br />

4. Konzentrierte <strong>und</strong> dezentrierte »Wortgebäude«:<br />

<strong>Architektur</strong> <strong>und</strong> Literatur in der Wortkunsttheorie ..............<br />

4.1 Einleitung <strong>und</strong> Forschungsstand ..........................................<br />

4.2 »Dichtung ist Verdichtung«: Die Entstehung<br />

der Wortkunsttheorie <strong>und</strong> <strong>die</strong> Bedeutung August Stramms ...<br />

4.3 »Wir schmücken nicht aus«: Konstruktive Wortreihen<br />

<strong>und</strong> <strong>Architektur</strong>analogien ....................................................<br />

5 »Einwortprosaplan«: Franz Richard Behrens’<br />

konstruktivistische Lyrik .....................................................<br />

5.1 Lied in Lazienki (1917) .......................................................<br />

5.2 Expressionist Artillerist (1915) ............................................<br />

VI <strong>Architektur</strong> <strong>und</strong> Sturm-Kunsttheorie(n) II: Lothar Schreyer<br />

1. Dimensionen des Architektonischen ....................................<br />

2. Mitarbeiter des Sturm 1916-1928, Multifunktionär<br />

<strong>und</strong> Theoretiker ..................................................................<br />

3. Das »Menschenhaus« als ekstatischer Kultbau ....................<br />

3.1 Schreyer im Kontext der Theaterreform ..............................<br />

3.2 Keine Stätte bürgerlicher Öffentlichkeit ...............................<br />

3.3 Das Theater als »Einheitskunstwerk« ..................................<br />

3.4 Neuer Mensch <strong>und</strong> »Haus der Ekstase« ..............................<br />

3.5 Vitalisierung der <strong>Architektur</strong> ...............................................<br />

3.6 »Menschenhaus« <strong>und</strong> Bau-Rhetorik<br />

im Erneuerungsdiskurs der Künste um 1918 ........................<br />

3.7 Max Bergs Breslauer Jahrh<strong>und</strong>erthalle (1911-1913):<br />

Modell des »Menschenhauses« ............................................<br />

4. Die Totenhäuser ..................................................................<br />

4.1 »Kultwert« <strong>und</strong>/oder »Ausstellungswert« ............................<br />

4.2 Die <strong>Architektur</strong> der Totenhäuser .........................................<br />

4.3 Das Totenhaus in Briefen an Walden (1920) ........................<br />

4.4 Die Verdrängung des »Ausstellungswertes« .........................<br />

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VII Die <strong>Architektur</strong> im Sturm zwischen 1919/20 <strong>und</strong> 1932.<br />

Ein Überblick ......................................................................<br />

1. Analysekategorien ...............................................................<br />

2. Formen absoluter <strong>Architektur</strong>:<br />

Kurt Schwitters »Haus Merz« (1920) im Sturm ...................<br />

3. »Zwingburgen des Kapitalismus«:<br />

Konstruktive Profanarchitektur <strong>und</strong> Wirkungsästhetik ........<br />

Zusammenfassung <strong>und</strong> Ausblick ...................................................<br />

Abkürzungsverzeichnis ..................................................................<br />

Literaturverzeichnis .......................................................................<br />

1. Quellen ................................................................................<br />

1.1 Archivalien ..........................................................................<br />

1.2 Primärquellen ......................................................................<br />

1.3 Kataloge der Galerie Der Sturm (chronologisch, im Original<br />

größtenteils ohne Nennung d. Verlags) ................................<br />

1.4 Weitere verwendete Ausstellungskataloge ............................<br />

1.5 Briefe <strong>und</strong> Briefwechsel .......................................................<br />

1.6 Quellensammlungen, Anthologien <strong>und</strong> Autobiografisches<br />

2. Sek<strong>und</strong>ärliteratur zum Sturm ...............................................<br />

3. Sonstige verwendete Literatur ..............................................<br />

Abbildungsverzeichnis ...................................................................<br />

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Personenregister ............................................................................ 477


Einleitung<br />

Gegenstand <strong>die</strong>ser Arbeit ist <strong>die</strong> exemplarische Analyse der <strong>Architektur</strong><br />

in der von <strong>Herwarth</strong> Walden (1878-1941) vor 100 Jahren gegründeten<br />

Zeitschrift Der Sturm (1910-1932). Ab März 1910 mit dem Untertitel<br />

»Wochenschrift für Kultur <strong>und</strong> <strong>die</strong> Künste« in Berlin erscheinend, gilt<br />

Der Sturm als eines der bedeutsamsten Organe der avancierten europäischen<br />

Kunstbewegungen im ersten Drittel des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts, als<br />

entscheidender Wegbereiter <strong>und</strong> Schrittmacher der ›historischen Avantgarde‹,<br />

mit kunst-, me<strong>die</strong>n-, <strong>und</strong> diskursübergreifendem Charakter. Mit<br />

dem Sturm <strong>und</strong> seinen Institutionen werden bis heute in erster Linie <strong>die</strong><br />

Durchsetzung verschiedener Strömungen, Bewegungen <strong>und</strong> Ismen in der<br />

bildenden Kunst – Expressionismus, Kubismus, Futurismus <strong>und</strong> Konstruktivismus<br />

– assoziiert, <strong>und</strong> zum anderen <strong>die</strong> Profilierung <strong>und</strong> Etablierung<br />

zahlreicher Autoren der ›literarischen Moderne‹ um 1910 verb<strong>und</strong>en;<br />

genannt seien stellvertretend für viele andere: Alfred Döblin, Else<br />

Lasker-Schüler, August Stramm <strong>und</strong> Kurt Schwitters. 1<br />

Meine Arbeit wählt einen neuen Zugang. Untersucht wird <strong>die</strong> <strong>Architektur</strong><br />

im Sturm, <strong>und</strong> zwar von der Baumetapher bis zum Gesamtkunstwerk.<br />

Die Spannweite <strong>die</strong>ses Fragehorizonts kann auf den ersten Blick<br />

überraschen. Zwar hat sich sowohl <strong>die</strong> literaturwissenschaftliche als auch<br />

<strong>die</strong> kunst- <strong>und</strong> baugeschichtliche Forschung vereinzelt mit architekturalen<br />

Phänomenen im Sturm auseinandergesetzt. Diese Erkenntnisse <strong>und</strong><br />

Ergebnisse sind jedoch jeweils auf einzelne Aspekte beschränkt geblieben<br />

<strong>und</strong> nicht in einen gemeinsamen Diskussionsrahmen gebracht worden.<br />

Die in <strong>die</strong>ser Arbeit vorgeschlagene interdisziplinäre Perspektive integriert<br />

<strong>die</strong> unterschiedlichen fachlichen Sichtweisen <strong>und</strong> zeigt unter Einbeziehung<br />

bislang unbeachtet gebliebener Quellen <strong>und</strong> Archivalien eine<br />

neue intermediale Perspektive auf den Sturm auf.<br />

Aus dem Sturm soll in <strong>die</strong>ser Arbeit keine <strong>Architektur</strong>fachzeitschrift,<br />

kein Medium der <strong>Architektur</strong>publizistik gemacht werden 2 , was ein<br />

1 Zu den hier verwendeten Begrifflichkeiten ›historische Avantgarde‹ <strong>und</strong> ›literarische<br />

Moderne‹ vgl. Einleitung, S. 25f. (FN 48 + 49).<br />

2 Einen guten Überblick über <strong>die</strong> europäischen <strong>und</strong> amerikanischen <strong>Architektur</strong>zeitschriften<br />

zwischen 1890 <strong>und</strong> 1970 gibt der Band: Annette Ciré<br />

<strong>und</strong> Haila Ochs (Hgg.), Die Zeitschrift als Manifest. Aufsätze zu architektonischen<br />

Strömungen im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert. Basel-Berlin-Boston: Birkhäuser<br />

1991 (Birkhäuser-<strong>Architektur</strong>-Bibliothek). – Zu Literaturangaben <strong>und</strong>


12<br />

Einleitung<br />

hoffnungsloses, ja fragwürdiges Unterfangen wäre. Ziel kann es auch<br />

nicht sein, eine wie auch immer geartete, möglichst kuriose Alternativgeschichte<br />

abzufassen. Stattdessen wird <strong>die</strong> Historiografie des Sturm<br />

ergänzt, korrigiert <strong>und</strong> eine neue Gegenstandsbestimmung vorgenommen,<br />

<strong>die</strong> den Stellenwert der <strong>Architektur</strong> im System der Künste auslotet<br />

<strong>und</strong> berücksichtigt. Zur Untersuchung der »Verbindung der Künste<br />

untereinander« 3 , wie sie von Richard Brinkmann angeregt <strong>und</strong> auch von<br />

Hermann Korte im Sinne einer umfassenderen »Kulturgeschichte des<br />

Expressionismus« 4 als Forschungsdesiderat formuliert wurde, will <strong>die</strong>se<br />

Arbeit einen Teil beitragen.<br />

Der sich in jüngster Zeit im Zuge des topographical bzw. spatial turn 5<br />

abzeichnende architectonic turn in den Literatur- <strong>und</strong> Kulturwissenschaften<br />

hat, <strong>und</strong> hieran kann angeknüpft werden, vor allem den Einfluss der<br />

<strong>Architektur</strong> auf Denk- <strong>und</strong> Empfindungsweisen <strong>und</strong> ebenso ihre diskurs-<br />

<strong>und</strong> vorstellungsprägende Kraft in unterschiedlichen historischen<br />

Kontexten <strong>und</strong> an Epochenschwellen der Modernisierung akzentuiert.<br />

Der spatial turn vollzieht eine dezi<strong>die</strong>rte Hinwendung zur Kategorie des<br />

geographischen <strong>und</strong> geopolitischen Raumes, jedoch werden Aspekte des<br />

architektonischen Raumes als Figurationen <strong>und</strong> Strukturation von Wissen<br />

<strong>und</strong> Wahrnehmung kaum behandelt. Unter anderem auf Gr<strong>und</strong>lage<br />

historischer Landkarten <strong>und</strong> Reisedarstellungen wird danach geforscht 6 ,<br />

wie zu verschiedenen Zeiten ›Umwelt‹ <strong>und</strong> ›Landschaft‹ »im Sinne<br />

Zitiertechnik: In <strong>die</strong>ser Arbeit wird bei der ersten Nennung des Titels eine<br />

ausführliche bibliographische Angabe gegeben. Bei der Wiederaufnahme<br />

eines Titel erfolgt <strong>die</strong>s nach dem Muster: Nachname des Autors oder Herausgebers,<br />

Kurztitel, Seitenangabe. Alle Quellenzitate der Arbeit folgen der<br />

originalen Rechtschreibung. Kursivsetzungen finden sich, falls nicht anders<br />

vermerkt, ebenfalls im Original.<br />

3 Richard Brinkmann, Expressionismus. Internationale Forschung zu einem<br />

internationalen Phänomen. Stuttgart: Metzler 1980, S. 282 (Deutsche Vierteljahrsschrift<br />

für Literaturwissenschaft <strong>und</strong> Geistesgeschichte; Sonderbd.).<br />

4 Hermann Korte, Abhandlungen <strong>und</strong> Stu<strong>die</strong>n zum literarischen Expressionismus<br />

1980-1990. In: IASL 19 (1994), Sonderheft 6, S. 225-279, hier S. 276.<br />

5 Zum spatial bzw. topographical turn vgl. Doris Bachmann-Medick, Cultural<br />

Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg:<br />

Rowohlt 2006, S. 284-328; Sigrid Weigel, Literatur als Voraussetzung<br />

der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin. München:<br />

Fink 2004, S. 233-247.<br />

6 Vgl. Karl Schlögel, Terror <strong>und</strong> Traum. Moskau 1937. München: Hanser<br />

2008.


Einleitung<br />

sozialer <strong>und</strong> natürlicher Lebensbezüge« 7 beobachtet <strong>und</strong> wahrgenommen<br />

werden. 8 Als Korrektiv dazu betont <strong>und</strong> ruft der architectonic turn in das<br />

kulturelle Gedächtnis, wie sehr <strong>die</strong> »Ästhetik des umbauten Raumes« 9 als<br />

»Dispositiv« <strong>und</strong> »Ordnungsprinzip« in den ästhetischen Debatten des<br />

19. <strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert vernachlässigt wurde. 10 Rückte in den letzten<br />

Jahren zunehmend <strong>die</strong> fiktionale Präsenz von <strong>Architektur</strong> in der Literatur<br />

in den Fokus eines transdisziplinären wissenschaftlichen <strong>und</strong> kuratorischen<br />

Interesses 11 , verfährt <strong>die</strong>se Arbeit in Anschluss an <strong>die</strong> Postulate<br />

des architectonic turn <strong>und</strong> dessen Bestreben, <strong>die</strong> Bedeutung <strong>und</strong> Wirkung<br />

der <strong>Architektur</strong> in der Geschichte der Rhetorik, Poetik <strong>und</strong> Ästhetik<br />

zu rekonstruieren <strong>und</strong> zu verifizieren, ebenfalls mehrdimensional. Wie<br />

unter einem Brennglas wird <strong>die</strong> Relation zwischen der <strong>Architektur</strong> <strong>und</strong><br />

den Künsten in einem eingegrenzten historischen Zeitrahmen <strong>und</strong> einem<br />

empirischen Untersuchungsobjekt von mehreren Seiten her verfolgt.<br />

7 Stefan Jordan, Theorien <strong>und</strong> Methoden der Geschichtswissenschaft. Paderborn<br />

u. a.: Schöningh 2009, S. 212 (UTB 3104, Geschichte).<br />

8 Vgl. Karl Schlögel, Im Raume lesen wir <strong>die</strong> Zeit. Über Zivilisationsgeschichte<br />

<strong>und</strong> Geopolitik. München-Wien: Hanser 2003. Niels Werber, Die Geopolitik<br />

der Literatur. Vermessungen einer medialen Weltraumordnung, München:<br />

Hanser 2007.<br />

9 Unter dem Titel »Literatur <strong>und</strong> <strong>Architektur</strong> – Zur Ästhetik des umbauten<br />

Raumes« fand vom 6. bis 8. Oktober 2005 ein internationales Symposium<br />

an der TU Dresden statt, an dem Literaturwissenschaftler, Kunsthistoriker,<br />

Soziologen, Politikwissenschaftler <strong>und</strong> <strong>Architektur</strong>historiker <strong>und</strong> -theoretiker<br />

beteiligt waren. Für den Tagungsbericht vgl. Robert Hodonyi, Raumbilder<br />

sind Träume der Gesellschaft. Thomas Bernhards Wohnkegel, Franz<br />

Kafkas Schloss oder Wolfgang Koeppens Treibhaus: Wie viel <strong>Architektur</strong> in<br />

der Literatur steckt, fragte ein Symposium in Dresden. In: <strong>die</strong> tageszeitung,<br />

13.10.2005.<br />

10 Detlev Schöttker, Das Zimmer im Kopf. Wann kommt eigentlich der »architectonic<br />

turn«? In: Merkur 59 (2005), H. 12, S. 1191-1195.<br />

11 Vgl. u. a. Carlpeter Braegger, Baustellen. Von Algabal bis Wolkenbügel. Ein<br />

Enzyklopädisches Glossarium zur <strong>Architektur</strong> wie sie im Buche steht. Baden:<br />

Müller 1991; Heinz Brüggemann, Das andere Fenster: Einblicke in Häuser<br />

<strong>und</strong> Menschen. Zur Literaturgeschichte einer urbanen Wahrnehmungsform.<br />

Frankfurt/M.: Fischer 1989; Winfried Nerdinger (Hg.), <strong>Architektur</strong> wie sie<br />

im Buche steht. Fiktive Bauten <strong>und</strong> Städte in der Literatur. [Begleitbuch zur<br />

gleichnamigen Ausstellung in der Pinakothek der Moderne München vom<br />

8. Dezember 2006 bis 11. März 2007] Salzburg: Pustet 2006; Christian W.<br />

Thomsen, Liter<strong>Architektur</strong>. Wechselwirkungen zwischen <strong>Architektur</strong>, Literatur<br />

<strong>und</strong> Kunst im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert. Köln: DuMont 1989.<br />

13


14<br />

Einleitung<br />

Diese Herangehensweise fokussiert, wie <strong>die</strong> <strong>Architektur</strong> als gesellschaftliche<br />

Theorie <strong>und</strong> Praxis in eine kommunikative Spannung mit den<br />

bildenden Künsten <strong>und</strong> der Literatur tritt, <strong>und</strong> wie multilateral <strong>die</strong> »revolutionären<br />

Kunstbewegungen um 1910« 12 insgesamt von <strong>Architektur</strong> <strong>und</strong><br />

architektonischen Ideen geprägt sind. Beobachtet wird einerseits <strong>die</strong> produktive<br />

Aneignung architektonischer Ideen <strong>und</strong> Metaphern durch Künstler<br />

<strong>und</strong> Schriftsteller <strong>und</strong> ihre Verschränkung mit anderen Kunst- <strong>und</strong><br />

Denkbereichen innerhalb der kunstphilosophischen, theatertheoretischen<br />

<strong>und</strong> poetologischen Programmatiken des Sturm bzw. der »veritable[n]<br />

Sturm-Ästhetik« 13 . Andererseits wird auch nach allen Formen der Präsenz<br />

von <strong>Architektur</strong> im Sturm gefragt <strong>und</strong> deren visuelle, materielle oder<br />

imaginäre Ausformung im Gesamtzusammenhang der Geschichte der<br />

Zeitschrift <strong>und</strong> verschiedener zeitgenössischer ästhetischer, politischer<br />

<strong>und</strong> kultureller Diskursstränge analysiert.<br />

1. Quellen- <strong>und</strong> Forschungsüberblick<br />

Für <strong>die</strong> vorliegende Arbeit wurde <strong>die</strong> Reprint-Ausgabe des Sturm von<br />

1970 herangezogen 14 , <strong>die</strong> das empirische F<strong>und</strong>ament der Untersuchung<br />

bildet. Da <strong>die</strong> Originale im Sturm-Archiv der Handschriftenabteilung der<br />

Staats- <strong>und</strong> Universitätsbibliothek Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz,<br />

in sehr schlechtem Zustand sind, eine Arbeit mit Microfiches sich<br />

aus unterschiedlichen Gründen als problematisch herausstellte, scheint<br />

der Rückgriff auf den Nachdruck angemessen. 15 Weiteres Quellenmaterial<br />

wurde im Sturm-Archiv gesichtet, insbesondere <strong>die</strong> Briefwechsel<br />

zwischen <strong>Herwarth</strong> Walden <strong>und</strong> Adolf Behne, Adolf Loos, Peter Behrens,<br />

Alfred Messel, Lothar Schreyer <strong>und</strong> Henry van de Velde. Daneben finden<br />

ebenfalls <strong>die</strong> Briefe von Hermann Muthesius an Walden Beachtung, <strong>die</strong><br />

im Werkb<strong>und</strong>archiv – Museum der Dinge (Berlin) aufbewahrt werden.<br />

Der Briefwechsel zwischen Walden <strong>und</strong> Elisabeth Förster-Nietzsche gibt<br />

12 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie. Hrsg. v. Gretel Adorno <strong>und</strong> Rolf<br />

Tiedemann. (14. Aufl.) Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 9.<br />

13 Klaus von Beyme, Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst <strong>und</strong> Gesellschaft<br />

1905-1955. München: Beck 2005, S. 113.<br />

14 Der Sturm. Hrsg. v. <strong>Herwarth</strong> Walden. Berlin 1910-1932. Reprint. Nedeln/<br />

Lichtenstein: Kraus 1970.<br />

15 Werden in <strong>die</strong>ser Arbeit Artikel aus dem Sturm zitiert, erfolgt <strong>die</strong>s nach der<br />

Reihenfolge: Autor, Artikel, Jahrgang, Jahreszahl, Heftnummer <strong>und</strong> Seitenangabe.


Einleitung<br />

Einblicke in neue Aspekte der Vorgeschichte des Sturm, besonders was<br />

<strong>die</strong> Gründungsphase des Vereins für Kunst <strong>und</strong> <strong>die</strong> Nietzsche-Rezeption<br />

<strong>Waldens</strong> anbelangt, wie <strong>die</strong> Briefe im Goethe- <strong>und</strong> Schiller-Archiv der<br />

Klassik Stiftung Weimar belegen.<br />

Herangezogen wurden ebenfalls Archivalien aus dem Nachlass Lothar<br />

Schreyers im Deutschen Literaturarchiv Marbach, dem Baukunstarchiv<br />

der Akademie der Künste Berlin (Paul Scheerbart <strong>und</strong> Bruno Taut), dem<br />

Nachlass des Sturm-Mitarbeiters Kurt Liebmann in der Sächsischen<br />

Landesbibliothek – Staats- <strong>und</strong> Universitätsbibliothek Dresden sowie<br />

Teile des Nachlasses Adolf Behnes in der McCormick Library of Special<br />

Collection der Northwestern University Library Evanston/Illinois in den<br />

USA. Hierbei waren besonders einige der von Behne gesammelten Ausstellungskataloge<br />

der Kunstgalerie Der Sturm von Interesse, welche einen<br />

neuen Blick auf <strong>die</strong> Präsentation von <strong>Architektur</strong> in der kontinuierlichen<br />

Ausstellungsarbeit <strong>Waldens</strong> ermöglichen. In Bezug auf <strong>die</strong> äußerst kurzlebige,<br />

erst im Jahre 1921 gegründete Sturm-Bauabteilung, in persona<br />

des weitgehend unbekannten Berliner Kunstmalers Walter Krug (1880-<br />

1950), wurden schließlich auch Archivalien aus dem Landesarchiv Berlin<br />

berücksichtigt, wobei zu <strong>die</strong>sem Künstler auch weitere lokalgeschichtliche<br />

Recherchen vor Ort, etwa im Heimatmuseum Berlin-Wilmersdorf,<br />

nur wenige verwertbare Erkenntnisse zur Biografie <strong>und</strong> Wirkung zu Tage<br />

förderten. Auch <strong>die</strong> Nachfrage bei ausgewiesenen Experten expressionistischer<br />

<strong>Architektur</strong> oder Sturmforschern wie Wolfgang Pehnt, Volker<br />

Pirsich oder Brian Keith-Smith sowie der Abteilung Künstler-Archive<br />

der Berlinischen Galerie <strong>und</strong> dem Universitätsarchiv der Universität<br />

der Künste Berlin brachten keine Ergebnisse. Somit wird <strong>die</strong> Sturm-<br />

Bauabteilung <strong>und</strong> mit ihr Walter Krug nicht separat in einem eigenen<br />

Kapitel behandelt, sondern in der Darstellung der allgemeinen Institutionalisierungsprozesse<br />

bei der Ausdifferenzierung des Sturm lediglich<br />

kurz erwähnt <strong>und</strong> <strong>die</strong> zu ihr zusammengetragenen Fakten <strong>und</strong> Bef<strong>und</strong>e<br />

präsentiert.<br />

Die große Bedeutung des Sturm bei der Durchsetzung, Etablierung<br />

<strong>und</strong> Institutionalisierung ästhetischer Innovationen auf dem Gebiet der<br />

avantgardistischen Literatur <strong>und</strong> Kunst wurde in der zweiten Hälfte<br />

des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts in zahlreichen Monografien, wissenschaftlichen<br />

Aufsätzen, Zeitungsartikeln, Erinnerungsschriften <strong>und</strong> viel beachteten<br />

Ausstellungen gewürdigt. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit<br />

dem Sturm reicht dabei bis in <strong>die</strong> 1920er Jahre zurück. Es ist festzuhalten,<br />

dass <strong>die</strong> <strong>Architektur</strong> seitdem kaum ein Gegenstand der Forschung<br />

gewesen ist <strong>und</strong> dass das Interesse an Literatur, bildender Kunst <strong>und</strong> den<br />

15


16<br />

Einleitung<br />

Theaterexperimenten der Zeitschrift <strong>und</strong> der angegliederten Institutionen<br />

überwiegt. 16 Im Gegensatz zu anderen literarisch-künstlerischen Zeitschriften<br />

um 1910, wie Die Aktion oder Die Weißen Blätter, fällt aber<br />

schon auf den ersten Blick eine Fülle von Beiträgen auf zur <strong>Architektur</strong><br />

im Sturm bis Ende der 1920er Jahre. 17<br />

In einer der ersten kritischen Überblicksdarstellungen zur Geschichte<br />

des Sturm von Albert Soergel wird <strong>die</strong> Ausgrenzung der <strong>Architektur</strong><br />

schon allein dadurch deutlich, dass wichtige Beiträger zur <strong>Architektur</strong>theorie<br />

wie der Wiener Architekt Adolf Loos oder der Berliner <strong>Architektur</strong>-<br />

<strong>und</strong> Kunstkritiker Adolf Behne in der Aufzählung der Mitarbeiter<br />

keine Erwähnung finden. 18 Werner Rittich konstatiert in seiner Dissertationsschrift<br />

Kunsttheorie, Wortkunsttheorie <strong>und</strong> lyrische Wortkunst<br />

im ›Sturm‹ (1933) zwar einen übergreifenden Charakter der ästhetischen<br />

Begriffs- <strong>und</strong> Theoriebildung, der alle einzelnen Disziplinen umschließe. 19<br />

Die <strong>Architektur</strong> wird jedoch in der Untersuchung ausgeklammert. Erst<br />

<strong>die</strong> von Paul Raabe <strong>und</strong> Ludwig Greve konzipierte <strong>und</strong> 1960 stattgef<strong>und</strong>ene<br />

Ausstellung des Schiller-Nationalmuseums »Expressionismus.<br />

Literatur <strong>und</strong> Kunst. 1910-1923« widmete sich unter anderem auch in<br />

knapper Präsentation der <strong>Architektur</strong> im Sturm anhand der Beiträger<br />

16 Vgl. u. a. Barbara Alms, Der Sturm – corporate identity eines internationalen<br />

Kunstkonzerns. In: »<strong>Herwarth</strong> <strong>Waldens</strong> ›Sturm‹ in Berlin«. Ausst.-Kat. Galerie<br />

Art Focus. Mit Texten von Barbara Alms <strong>und</strong> Freya Mülhaupt. Zürich:<br />

Galerie Art Focus 2002, S. 7-11; Sven Arnold, Das Spektrum des literarischen<br />

Expressionismus in den Zeitschriften Der Sturm <strong>und</strong> Die Weissen Blätter.<br />

Frankfurt/M. u. a.: Lang 1998 (Forschungen zur Literatur- <strong>und</strong> Kulturgeschichte,<br />

Bd. 64); Mary Rachel Shields, A Study of the Periodical »Der<br />

Sturm« with special reference to its situation within literary Expressionism.<br />

East Anglia: Univ. Diss 1978; Ingo Wasserka, Die Sturm- <strong>und</strong> Kampfbühne.<br />

Kunsttheorie <strong>und</strong> szenische Wirklichkeit im expressionistischen Theater<br />

Lothar Schreyers. Wien: Univ. Diss. 1965; Hans-Maria Wingler (Hg.), Der<br />

Sturm. Zeichnungen <strong>und</strong> Graphiken. Feldafing: Buchheim 1955 (Buchheim-<br />

Bücher).<br />

17 Vgl. Paul Raabe, Index Expressionismus. Bibliographie der Beiträge in den<br />

Zeitschriften <strong>und</strong> Jahrbüchern des literarischen Expressionismus. 1910-<br />

1925. 18. Bde. Bd. 5: Serie B. Systematischer Index, 1. Nedeln: Klaus-Thomson<br />

1972, S. 486-505.<br />

18 Vgl. Albert Soergel, Dichtung <strong>und</strong> Dichter der Zeit. Neue Folge. Im Banne<br />

des Expressionismus. (2. Aufl.) Leipzig: Voigtländer 1926, S. 585-623, hier<br />

S. 588.<br />

19 Werner Rittich, Kunsttheorie, Wortkunsttheorie <strong>und</strong> lyrische Wortkunst im<br />

›Sturm‹. Greifswald: Adler 1933, S. 7 (zgl. Diss.).


Einleitung<br />

Paul Scheerbart <strong>und</strong> Bruno Taut. 20 Ein Jahr später folgte in der Orangerie<br />

des Charlottenburger Schlosses in Berlin <strong>die</strong> Ausstellung »Der Sturm.<br />

<strong>Herwarth</strong> Walden <strong>und</strong> <strong>die</strong> Europäische Avantgarde. Berlin 1912-1932«.<br />

Zum Ausstellungskonzept erklärte Leopold Reidemeister, dass versucht<br />

worden sei, der Vielfältigkeit der verschiedenen Künste im Sturm gerecht<br />

zu werden. 21 Doch überwogen in <strong>die</strong>ser Ausstellung vor allem musikalische<br />

Darbietungen, bildende Kunst <strong>und</strong> Literatur. Hinsichtlich der <strong>Architektur</strong><br />

wurde, wie schon ein Jahr zuvor in Marbach, lediglich auf <strong>die</strong><br />

Glasarchitektur (1914) Scheerbarts verwiesen. 22<br />

Dies ist fast <strong>die</strong> einzige ›architektonische Spur‹ geblieben, <strong>die</strong> von<br />

der Forschung zum Sturm weiter verfolgt wurde, so etwa in Malcom<br />

S. Jones’ Arbeit Der Sturm. A Focus of Expressionism (1984), <strong>die</strong> ein<br />

ausführliches Kapitel über Scheerbart beinhaltet, jedoch nicht nach der<br />

Rezeption der Glasarchitektur im Sturm selbst fragt. 23 Ebenso isoliert<br />

<strong>und</strong> punktuell beschränkt wie bei Jones bleibt <strong>die</strong> <strong>Architektur</strong>betrachtung<br />

in Maurice Godés Monografie Der Sturm de <strong>Herwarth</strong> Walden.<br />

L’utopie d’un art autonomie (1990). Erwähnung findet bei Godé in erster<br />

Linie Loos, dessen architekturtheoretische Postulate stark verkürzt <strong>und</strong><br />

ohne eine weitere Prüfung ihrer Relevanz für <strong>die</strong> Geschichte des Sturm<br />

vorgestellt werden. 24<br />

In der Arbeit Kurt Mösers Literatur <strong>und</strong> <strong>die</strong> »Große Abstraktion«.<br />

Kunsttheorien, Poetik <strong>und</strong> »abstrakte Dichtung« im »Sturm« 1910-1930<br />

(1983), welche <strong>die</strong> kunsttheoretischen <strong>und</strong> poetologischen Positionen des<br />

20 Vgl. Expressionismus. Literatur <strong>und</strong> Kunst 1910-1923. Ausst.-Kat. des Deutschen<br />

Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach a. N. Hrsg. v.<br />

Paul Raabe <strong>und</strong> Heinz Ludwig Greve. Marbach: Dt. Literaturarchiv 1960,<br />

S. 162-165.<br />

21 Vgl. Leopold Reidemeister, Zum Geleit. In: Der Sturm. <strong>Herwarth</strong> Walden<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Europäische Avantgarde. Berlin 1912-1932. Ausst.-Kat. Nationalgalerie<br />

Berlin. Hrsg. v. Leopold Reidemeister. Berlin: Hartmann 1961, S. 5-7,<br />

hier S. 6.<br />

22 Ebd., S. 68.<br />

23 Malcom S. Jones, Der Sturm. A Focus of Expressionism. South Carolina:<br />

Camden House 1984, S. 104-115. Zu Scheerbarts Glasarchitektur <strong>und</strong> der<br />

Zusammenarbeit mit Bruno Taut liegen umfangreiche kunst- <strong>und</strong> baugeschichtliche<br />

Untersuchungen vor. Auf <strong>die</strong>se Arbeiten wird zu Beginn von<br />

Kapitel III verwiesen, da sie den Sturm meist nur beiläufig in den Blick nehmen<br />

<strong>und</strong> nicht zur Sturm-Forschung im engeren Sinne zu rechnen sind.<br />

24 Maurice Godé, »Der Sturm« de <strong>Herwarth</strong> Walden: l’utopie d’un art autonome.<br />

Nancy: Presses Univ. de Nancy 1990, S. 29-31.<br />

17


18<br />

Einleitung<br />

Sturm-Kreises zu rekonstruieren sucht, werden architektonische Fragen<br />

am Rande erwähnt. So stellt Möser fest, dass es seit Mitte der 1920er<br />

Jahre in der Zeitschrift zu einer erhöhten Gewichtung von <strong>Architektur</strong>,<br />

Typografie <strong>und</strong> Fotografie kommt. 25 Doch eine Einordnung <strong>und</strong> Auswertung<br />

<strong>die</strong>ses Umstandes wird nicht vorgenommen, so dass <strong>die</strong> Thematisierung<br />

von <strong>Architektur</strong> in <strong>die</strong>sen ›späten‹ Sturm-Jahrgängen bei Möser als<br />

singuläres Phänomen erscheint <strong>und</strong> mögliche Kontinuitäten <strong>und</strong> Kohärenzen<br />

unsichtbar bleiben.<br />

In Georg Brühls Monografie <strong>Herwarth</strong> Walden <strong>und</strong> »Der Sturm«<br />

(1983) wird <strong>die</strong> <strong>Architektur</strong> etwas differenzierter betrachtet. Im Abschnitt<br />

»›Sturm‹, <strong>Architektur</strong> <strong>und</strong> Bauhaus« 26 schreibt Brühl, dass der Sturm<br />

»zu Fragen der <strong>Architektur</strong> immer wieder Stellung bezogen« 27 habe. In<br />

der kurzen Abhandlung geht der Autor aber über eine stichwortartige<br />

Aufzählung nicht hinaus, eine inhaltliche Analyse wird nicht geleistet.<br />

Erwähnt wird neben Scheerbarts Glasarchitektur wiederum Loos.<br />

Außerdem merkt Brühl an, dass im Jahr 1914 <strong>Architektur</strong>-Projekte des<br />

tschechischen Kubisten Vlastislav Hofman in der Zeitschrift reproduziert<br />

wurden. Hinzu kommt der Hinweis, dass Walden langjährig mit dem<br />

Architekten Henry van de Velde befre<strong>und</strong>et war. Des Weiteren schreibt<br />

Brühl ohne Angabe der entsprechenden Quelle, dass während des Ersten<br />

Weltkriegs enger Kontakt zwischen Walden <strong>und</strong> Walter Gropius bestanden<br />

habe. Anschließend schildert der Autor personelle Kontinuitäten <strong>und</strong><br />

Überschneidungen zwischen Sturm <strong>und</strong> Bauhaus in der Nachkriegszeit.<br />

Es wird ausgeführt, dass sich ein wichtiger Teil der Bauhausmeister aus<br />

dem Umfeld des Sturm rekrutierte. Allerdings ist <strong>die</strong> Aufzählung von<br />

Brühl als unvollständig zu betrachten. Lothar Schreyer, der von allen<br />

Bauhausmeistern <strong>die</strong> engste Verbindung zum Sturm hatte, wird von<br />

Brühl gar nicht erwähnt. 28<br />

25 Kurt Möser, Literatur <strong>und</strong> <strong>die</strong> »Große Abstraktion«. Kunsttheorien, Poetik<br />

<strong>und</strong> »abstrakte Dichtung« im »Sturm« 1910-1930. Erlangen: Palm & Enke<br />

1983, S. 140 (Erlanger Stu<strong>die</strong>n, Bd. 46).<br />

26 Vgl. Georg Brühl, <strong>Herwarth</strong> Walden <strong>und</strong> »Der Sturm«. Köln: DuMont<br />

1983, S. 113-119.<br />

27 Ebd. S. 113.<br />

28 So nennt Brühl Willi Baumeister, Lyonel Feininger, Ludwig Hilberseimer,<br />

Johannes Itten, Wassily Kandinsky, Paul Klee, Lászlò Moholy-Nagy, Georg<br />

Muche, Oskar Schlemmer. Allerdings kann bei den genannten Persönlichkeiten<br />

zum Teil nur (noch) von einer sehr losen Assoziation mit dem Sturm<br />

gesprochen werden.


Einleitung<br />

In seinem Standardwerk Der Sturm. Eine Monographie (1985) erschließt<br />

Volker Pirsich <strong>die</strong> Geschichte der Zeitschrift <strong>und</strong> der ihr angegliederten<br />

Institutionen in ihrem Verhältnis zu den zentralen literarischen<br />

<strong>und</strong> künstlerischen Gruppen <strong>und</strong> Strömungen der 10er <strong>und</strong> 20er Jahre<br />

des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts. Um Entwicklungsphasen der Zeitschrift <strong>und</strong> ihrer<br />

Institutionen kenntlich zu machen, gliedert der Autor <strong>die</strong> Geschichte des<br />

Sturm in mehrere Phasen, <strong>die</strong> von der Zeit des Aufstiegs (1910-1912),<br />

der Blütezeit (1912-1919), einer Übergangsphase (1919-1921) <strong>und</strong> dem<br />

Abstieg (1921-1932) handeln. Pirsich gesteht der <strong>Architektur</strong> erst in der<br />

letzten Phase eine gewisse Bedeutung zu. Er kann sie aber in der Logik<br />

seines entwicklungsgeschichtlichen Modells damit nur noch als Versuch<br />

lesen, <strong>die</strong> Verfallserscheinungen der Zeitschrift aufzuhalten, <strong>und</strong> zwar als<br />

»Modernismus um jeden Preis« 29 . In seiner Analyse der programmatischen<br />

Auseinandersetzung zwischen Sturm <strong>und</strong> Bauhaus kommt Pirsich<br />

zu dem Ergebnis:<br />

Wesentliche Interessengebiete des Bauhauses, vor allem <strong>die</strong> <strong>Architektur</strong>,<br />

daneben u. a. <strong>die</strong> Typographie, rücken in immer stärkerem<br />

Maße in das Blickfeld des Sturm-Interesses. Es ist allerdings zumindest<br />

zweifelhaft, ob (<strong>und</strong> wenn ja, inwieweit) <strong>die</strong>se neuen Interessengebiete<br />

sich in den ›Expressionismus‹-Begriff des Sturm einfügen<br />

lassen – von Seiten der Sturm-Künstler wird – <strong>und</strong> das ist durchaus<br />

symptomatisch – ein derartiger Eingliederungsversuch nicht<br />

unternommen. 30<br />

Diese gr<strong>und</strong>skeptische Haltung Pirsichs gegenüber der <strong>Architektur</strong> im<br />

Sturm muss bei erneuter Prüfung der Quellen <strong>und</strong> auf Gr<strong>und</strong>lage bisher<br />

unbeachtet gebliebener Archivalien korrigiert werden. Zum einen ist <strong>die</strong><br />

Auseinandersetzung mit <strong>Architektur</strong> schon lange vor der Entstehung des<br />

Bauhauses ein zentrales Thema im Sturm. Zum anderen gab es dezi<strong>die</strong>rte<br />

Versuche, <strong>die</strong> <strong>Architektur</strong> in <strong>die</strong> Sturm-Kunsttheorie(n) zu integrieren.<br />

Während Pirsich in seiner Monografie feststellt, dass <strong>die</strong> <strong>Architektur</strong> »im<br />

Sturm immer ein Schattendasein geführt« 31 habe, vertreten Peter Sprengel<br />

<strong>und</strong> Michael Siebenbrodt eine gegenteilige Auffassung.<br />

29 Volker Pirsich, Der Sturm. Eine Monographie. Herzberg: Traugott Bautz<br />

1985, S. 76.<br />

30 Ebd., S. 429.<br />

31 Ebd., S. 76.<br />

19


20<br />

Einleitung<br />

In dem Aufsatz Von der Baukunst zur Wortkunst: Sachlichkeit <strong>und</strong><br />

Expressionismus im ›Sturm‹, an den auch Sabina Becker mit ihren Überlegungen<br />

zur Sachlichkeit um 1910 anknüpft 32 , zeigt Sprengel ausgehend<br />

von den Bauten <strong>und</strong> Schriften Alfred Messels <strong>und</strong> Adolf Loos’, wie <strong>die</strong><br />

architektonische Ornamentkritik <strong>und</strong> das Sachlichkeitspostulat von Karl<br />

Kraus, <strong>Herwarth</strong> Walden <strong>und</strong> Alfred Döblin auf <strong>die</strong> Ebene der ästhetischliterarischen<br />

Theoriebildung übertragen <strong>und</strong> in der Gründungsphase der<br />

Zeitschrift als Instrument der Kritik gegen das diffuse Pathos des literarischen<br />

Frühexpressionismus’ ins Feld geführt wurde. Im Sturm spiele, so<br />

Sprengel, »<strong>die</strong> Baukunst eine erhebliche Rolle« 33 .<br />

Die vorliegende Arbeit schließt sich Sprengels These an <strong>und</strong> möchte<br />

sie erweitern, denn <strong>die</strong> Funktion der <strong>Architektur</strong> im Sturm kann nicht<br />

nur auf <strong>die</strong> Übertragung in poetologische Konzepte begrenzt werden. Siebenbrodt<br />

analysiert in dem Aufsatz STURM <strong>und</strong> Bauhaus ansatzweise<br />

<strong>die</strong> Gesamtkunstwerkskonzeption beider Institutionen. Dabei versucht<br />

Siebenbrodt anhand des Aufbaus der Sturm-Kunstschule nachzuweisen,<br />

dass Walden entschieden für <strong>die</strong> Vereinigung <strong>und</strong> Erneuerung aller<br />

Künste eingetreten sei, wie sie später auch im Bauhaus anvisiert wurde.<br />

»Bildende Künste <strong>und</strong> <strong>Architektur</strong>, Dichtkunst, Musik <strong>und</strong> Bühne sollten<br />

zusammengeführt <strong>und</strong> einem möglichst breiten Publikum nähergebracht<br />

werden. Dieses ganzheitliche Kunstverständnis spiegelte sich auch in der<br />

STURM-Schule, <strong>die</strong> von 1916 bis 1932 bestand.« 34 In den folgenden Ausführungen<br />

zur Sturm-Kunstschule erwähnt Siebenbrodt zwar, dass Walden<br />

Dichtung <strong>und</strong> Musik unterrichtete, Schreyer für Bühnenkunst <strong>und</strong><br />

Pantomime verantwortlich war <strong>und</strong> Georg Muche Malerei <strong>und</strong> Drucktechniken<br />

vermittelte. Bezeichnenderweise bleibt <strong>die</strong> <strong>Architektur</strong> aber<br />

in Siebenbrodts Aufzählung ausgespart; einfach auch aus dem Gr<strong>und</strong>,<br />

weil Baukunst – bei allen organisatorischen Parallelen – im Gegensatz<br />

zum späteren Bauhaus im Sturm nie unterrichtet worden ist. Die Frage<br />

bleibt also unbeantwortet, auch mit Hinblick auf <strong>die</strong> skizzierte disparate<br />

32 Vgl. Sabina Becker, Neue Sachlichkeit. 2 Bde. Bd 1: Die Ästhetik der neusachlichen<br />

Literatur (1920-1933). Köln-Weimar-Wien: Böhlau 2000, S. 82-91.<br />

33 Peter Sprengel, Literatur im Kaiserreich. Stu<strong>die</strong>n zur Moderne. Berlin:<br />

Erich Schmidt 1993 (Philologische Stu<strong>die</strong>n <strong>und</strong> Quellen 125). (Darin: Von<br />

der Baukunst zur Wortkunst. Sachlichkeit <strong>und</strong> Expressionismus im Sturm,<br />

S. 179-200, hier S. 179.)<br />

34 Michael Siebenbrodt, STURM <strong>und</strong> Bauhaus. In: Barbara Alms <strong>und</strong> Wiebke<br />

Steinmetz (Hgg.), Der Sturm im Berlin der zehner Jahre. Chagall, Feininger,<br />

Jawlensky, Kandinsky, Klee, Kokoschka, Macke, Marc, Schwitters <strong>und</strong> viele<br />

andere. Delmenhorst-Bremen: Hauschild 2000, S. 76-81, hier S. 77.


Einleitung<br />

Forschungslage, wo <strong>und</strong> wie im Kunstverständnis des Sturm <strong>die</strong> <strong>Architektur</strong><br />

angesiedelt war, welche Bedeutung ihr zukam <strong>und</strong> ob es Versuche<br />

gab, sie institutionell zu verankern.<br />

Der Blick auf <strong>die</strong> <strong>Architektur</strong> im Sturm ist durch vereinzelte Analysen<br />

<strong>und</strong> Postulate der Erinnerungsliteratur vorstrukturiert. Diese müssen<br />

kritisch examiniert werden. Besonders Schreyer hat retrospektiv <strong>die</strong><br />

Bedeutung der <strong>Architektur</strong> für <strong>die</strong> europäische »Kunstwende« betont,<br />

<strong>die</strong> in der Baukunst einen prägnanten Ausdruck erfahren habe. Andererseits<br />

benennt er in dem von Alfred Döblin herausgegebenen Sammelband<br />

Minotaurus. Dichtung unter den Hufen von Staat <strong>und</strong> Industrie<br />

(1953) nur vereinzelte architektonische Sachverhalte <strong>und</strong> Phänomene,<br />

<strong>die</strong> für den Sturm Relevanz besessen hätten. Die <strong>Architektur</strong> im Sturm<br />

wird daher in <strong>die</strong>ser Arbeit mit Schreyer gelesen – ihm ist ein eigenes<br />

Kapitel gewidmet –, aber auch in kritischer Distanz <strong>und</strong> Erweiterung zu<br />

dem folgenden postulatorischen Resümee betrachtet:<br />

<strong>Herwarth</strong> Walden hat im Sturm für <strong>die</strong> neue Baukunst nur am<br />

Rande gewirkt, da er der Ansicht war, <strong>die</strong> neue Baukunst würde<br />

sich ohne Schwierigkeiten rasch durchsetzen im Zuge des sozialen<br />

<strong>und</strong> technischen Umschwungs unserer Zeit. So ist es auch geschehen.<br />

Selbstverständlich hat sich der Sturm von Anfang an klar zur<br />

neuen Baukunst bekannt. Die Zeitschrift Der Sturm bringt schon im<br />

ersten Jahrgang sozusagen eine Huldigung an den grossen Architekten<br />

Adolf Loos. 1914 zeigt <strong>die</strong> Zeitschrift <strong>die</strong> bedeutenden Bauprojekte<br />

von Vlatislav Hofman in grossen Holzschnitten des Künstlers.<br />

In der Mitte der Sturm-Jahre veröffentlicht <strong>Herwarth</strong> Walden das<br />

berühmt gewordene Buch »Die Glasarchitektur« [sic!] von Paul<br />

Scheerbart, dessen Erkenntnisse, Prophetien <strong>und</strong> Anregungen <strong>die</strong><br />

zeitgenössischen Baukünstler tief bewegt <strong>und</strong> noch lange nicht ausgeschöpft<br />

sind. Und schließlich war es der Architekt Walter Gropius,<br />

der mit acht Sturm-Künstlern das Bauhaus schuf. 35<br />

Deutlich wird, dass fast <strong>die</strong> gesamte Forschung nach 1945 in Bezug auf<br />

<strong>die</strong> <strong>Architektur</strong> nur zu einzelnen Axiomen von Schreyer Stellung bezogen<br />

hat, ein umfassender Gesamtüberblick hinsichtlich ihrer Bedeutung<br />

<strong>und</strong> Funktion im Sturm jedoch fehlt. Die Anschauung Schreyers, dass<br />

35 Lothar Schreyer, Das war »Der Sturm«. In: Alfred Döblin (Hg.), Minotaurus.<br />

Dichtung unter den Hufen von Staat <strong>und</strong> Industrie. Wiesbaden: Franz<br />

Steiner 1953, S. 112-130, hier S. 127f.<br />

21


22<br />

Einleitung<br />

<strong>die</strong> <strong>Architektur</strong> im Sturm <strong>und</strong> besonders bei Walden als ausgesprochen<br />

technische Disziplin verstanden worden sei, deren Neuerungen sich quasi<br />

ohne Zutun von außen ihren Weg bahnen würden, war der wissenschaftlichen<br />

Auseinandersetzung mit der Baukunst im Sturm zweifellos nicht<br />

förderlich.<br />

2. Methodische <strong>und</strong> theoretische Vorüberlegungen<br />

Um das breite Spektrum <strong>und</strong> <strong>die</strong> Komplexität architekturaler Phänomene<br />

im Sturm angemessen beurteilen <strong>und</strong> interpretieren zu können, nimmt<br />

<strong>die</strong>se Arbeit eine intermediale Perspektive ein. Der Begriff der Intermedialität,<br />

der Wechselwirkungen, Konvergenzen <strong>und</strong> Komplementaritäten<br />

verschiedener Me<strong>die</strong>n <strong>und</strong> Künste beschreibt 36 , wird dabei folgerichtig<br />

zum archimedischen Punkt, von dem aus sich <strong>die</strong> Gesamtbetrachtung<br />

einrahmen lässt. Bei Intermedialität handelt es sich um kulturelle Phänomene,<br />

welche Me<strong>die</strong>n- <strong>und</strong> Kunstgrenzen überschreiten <strong>und</strong> bei denen<br />

wenigstens zwei als distinkt wahrgenommene Ausdrucks- oder Kommunikationsme<strong>die</strong>n<br />

involviert sind. 37 Oder anders formuliert: Von Intermedialität<br />

kann man dann sprechen, wenn eine multi-mediale Koexistenz<br />

medialer Zitate <strong>und</strong> Elemente in ein konzeptionelles Miteinander<br />

überführt wird <strong>und</strong> dessen »(ästhetische) Brechungen <strong>und</strong> Verwerfungen<br />

neue Dimensionen des Erlebens <strong>und</strong> Erfahrens eröffnen« 38 . Die Untersuchungen<br />

der Intermedialitätsforschung beschränken sich dabei nicht<br />

allein auf technische Me<strong>die</strong>n. Sie begreifen ebenfalls <strong>die</strong> traditionellen<br />

Kunstarten als solche, deren Wechselwirkungen beschrieben <strong>und</strong> erfasst<br />

werden können. Die Debatten um den Begriff der Intermedialität haben<br />

deutlich gemacht, dass sich <strong>die</strong>ser gewissermaßen in eine poetologische<br />

Tradition einschreibt, da er – frei nach dem Horazschen ut pictura poesis<br />

– auf <strong>die</strong> Rekonstruktion der Interaktion zwischen den Künsten <strong>und</strong><br />

künstlerischen Produktionsprozessen rekurriert. Zugleich werden <strong>die</strong><br />

36 Yvonne Spielmann, Intermedialität: Das System Peter Greenaway. München:<br />

Fink 1998; Peter V. Zima (Hg.), Literatur intermedial. Musik – Malerei<br />

– Photographie – Film. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1995.<br />

37 Irina O. Rajewsky, Intermedialität. Tübingen-Basel: Francke 2002, S. 13<br />

[Schema 1] (UTB 2261, Me<strong>die</strong>n- <strong>und</strong> Kommunikationswissenschaft).<br />

38 Jürgen E. Müller, Intermedialität als poetologisches <strong>und</strong> me<strong>die</strong>ntheoretisches<br />

Konzept. Einige Reflexionen zu dessen Geschichte. In: Jörg Helbig (Hg.),<br />

Intermedialität. Theorie <strong>und</strong> Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebietes.<br />

Berlin: Schmidt 1998, S. 31-40, hier S. 31f.


Einleitung<br />

Wechselwirkungen mit <strong>und</strong> zwischen den analogen technisch-apparativen<br />

sowie den digitalen Me<strong>die</strong>n berücksichtigt, wobei <strong>die</strong> Intermedialitätsforschung<br />

auch soziale <strong>und</strong> technologische Einflüsse, Entwicklungen<br />

<strong>und</strong> Faktoren untersucht. 39<br />

Als <strong>die</strong> drei großen Themenfelder intermedialer Forschung gelten 40 :<br />

(a) <strong>die</strong> Untersuchung von Phänomenen der Me<strong>die</strong>nkombination, das<br />

heißt zum Beispiel der Kopplung von Texten <strong>und</strong> Bildern (barocke Emblematik,<br />

Fotoroman), Text <strong>und</strong> Ton (Hörspiel) <strong>und</strong> Text, Bild <strong>und</strong> Ton<br />

(Oper <strong>und</strong> Film); (b) <strong>die</strong> Untersuchung von Phänomenen des Me<strong>die</strong>nwechsels,<br />

wobei insbesondere alle Aspekte <strong>und</strong> Prozesse des Me<strong>die</strong>ntransfers<br />

<strong>und</strong> der Me<strong>die</strong>ntransformation in den Blick rücken. Erfasst <strong>und</strong><br />

analysiert werden so zum Beispiel Verfilmungen von Romanen, <strong>und</strong> zwar<br />

unter Berücksichtigung der performativen Umsetzung <strong>und</strong> Inszenierungsstrategien,<br />

<strong>die</strong> mit neuen Verkörperungsbedingungen des einen Mediums<br />

(Literatur) in ein anderes (Film) einhergehen. Außerdem gehört zu den<br />

Gegenstandsbereichen der Intermedialitätsforschung – für <strong>die</strong> Literaturwissenschaft<br />

unter Anbindung an das maßgeblich von Julia Kristeva <strong>und</strong><br />

Michail Bachtin entwickelte Konzept der Intertextualität von ebensolchem<br />

Interesse 41 – (c) <strong>die</strong> Kategorie der intermedialen Bezüge. In <strong>die</strong>sen<br />

letzten Bereich fallen alle Phänomene, <strong>die</strong> – ohne das eigene semiotische<br />

System zu wechseln oder zu verlassen – auf ein anderes Medium verweisen,<br />

wie etwa zum Beispiel <strong>die</strong> »›filmische Schreibweise‹ bzw. ›Filmisierung<br />

der Literatur‹, <strong>die</strong> ›Literarisierung des Films‹, <strong>die</strong> ›Musikalisierung<br />

literarischer Texte‹, <strong>die</strong> ›Narrativisierung der Musik‹« 42 . Sodann<br />

gilt es zunächst, <strong>die</strong> spezifische Medialität von <strong>Architektur</strong> zu bestimmen<br />

39 Vgl. Jürgen E. Müller, Intermedialität <strong>und</strong> Me<strong>die</strong>nhistoriographie. In:<br />

Joachim Paech <strong>und</strong> Jens Schröter (Hgg.), Intermedialität. Analog/Digital.<br />

Theorien – Methoden – Analysen. München: Fink 2008, S. 31-46, hier<br />

S. 35.<br />

40 Bei der folgenden Gegenstandsabgrenzung beziehe ich mich auf <strong>die</strong> Überlegungen<br />

von Rajewsky, Intermedialität, S. 15-18 <strong>und</strong> Uwe Wirth, Intermedialität.<br />

In: Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen.<br />

3 Bde. Bd. 1: Gegenstände <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>begriffe. Hrsg. v. Thomas<br />

Anz. Stuttgart-Weimar: Metzler 2007, S. 254-264, hier S. 255.<br />

41 Julia Kristeva, Probleme der Textstrukturation. In: Heinz Blumensath (Hg.),<br />

Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Köln: Kiepenheuer & Witsch<br />

1972, S. 243-262 (Neue wiss. Bibliothek; 43); Michail Bachtin, Die Ästhetik<br />

des Wortes. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979.<br />

42 Rajewsky, Intermedialität, S. 17.<br />

23


24<br />

Einleitung<br />

<strong>und</strong> den in <strong>die</strong>ser Arbeit verwendeten Intermedialitätsbegriff näher zu<br />

erläutern.<br />

Der weitläufige Me<strong>die</strong>n-Begriff in der Intermedialitätsforschung er-<br />

laubt es, auch <strong>die</strong> <strong>Architektur</strong> als Einzelmedium zu definieren <strong>und</strong> zu<br />

anderen ›Me<strong>die</strong>n‹ wie Literatur, Kunst oder Film in Beziehung zu setzen.<br />

Denn in der Intermedialitätsforschung wird ›Medium‹ weniger im<br />

Sinne eines rein technisch-materiell definierten Übertragungskanals von<br />

Informationen verstanden, sondern vielmehr als ein konventionell als<br />

distinkt angesehenes Kommunikationsdispositiv vorgestellt. 43 Das heißt,<br />

dass sowohl formale oder informierende inhaltliche Vermittlungsträger<br />

als auch konstruierende <strong>und</strong> aktionale Gegenstandsbereiche als ›Me<strong>die</strong>n‹<br />

gelten. Die letzteren ›Me<strong>die</strong>n‹ erzeugen <strong>und</strong> beeinflussen, nach einer Definition<br />

Manfred Faßlers, verschiedene Arten der Raum-, Gegenstands-<br />

<strong>und</strong> Zeitwahrnehmung, da sie »selbst allmählich gewonnene, gefestigte,<br />

verworfene oder differenzierte menschliche Ausdrucksweisen« 44 darstellen.<br />

Dies trifft auch auf <strong>die</strong> <strong>Architektur</strong> zu, sowohl was <strong>die</strong> materielle<br />

Ausformung gebauter Objekte anbelangt als auch auf alle Formen der<br />

imaginären oder literarischen Ausprägungen. <strong>Architektur</strong> kann in <strong>die</strong>ser<br />

Lesart selbst als ein ›Medium‹ begriffen werden, welches Wirklichkeit<br />

<strong>und</strong> deren Bedeutung einerseits vermittelt, verarbeitet <strong>und</strong> speichert,<br />

andererseits aber genauso auch hervorbringt oder interpretiert. 45<br />

Als eine Kulturtechnik, <strong>die</strong> zwischen Funktion, Technik <strong>und</strong> Kunst,<br />

zwischen gesellschaftlichem Gebrauchswert <strong>und</strong> künstlerisch-symbolischem<br />

Ausdrucksmedium oszilliert 46 , erscheint daher eine Untersuchung<br />

der <strong>Architektur</strong> im Sturm aus intermedialer Perspektive sinnvoll. Wesentliche<br />

Erkenntnisziele einer intermedialen Fragestellung <strong>und</strong> Analyse<br />

43 Vgl. ebd., S. 7.<br />

44 Manfred Faßler, Was ist Kommunikation? München: Fink 1997, S. 99 (UTB<br />

1960, Soziologie, Me<strong>die</strong>nwissenschaften).<br />

45 Friedrich Rogge, Olaf Weber, Gerd Zimmermann, <strong>Architektur</strong> als Kommunikationsmittel.<br />

Eine Untersuchung ideeller Aneignung baulich-räumlicher<br />

Umwelt unter informationellem, semantischem <strong>und</strong> psychologischem<br />

Aspekt. Weimar: Inst. f. Städtebau u. <strong>Architektur</strong> 1973; Renato de Fusco,<br />

<strong>Architektur</strong> als Massenmedium. Anmerkungen zu einer Semiotik der gebauten<br />

Formen. Gütersloh: Bertelsmann Fachverl. 1972 (Bauwelt-F<strong>und</strong>amente;<br />

33).<br />

46 Vgl. Heike Delitz, <strong>Architektur</strong>, Artefakt, Kreativität. Herausforderungen<br />

soziologischer Theorie. In: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), »Die Natur der<br />

Gesellschaft«. Verhandlungsband des 33. Kongresses der DGS. Frankfurt/M.<br />

2008, 5827-5836 (CD-Rom), hier S. 5827.


Einleitung<br />

liegen dabei unter anderem in der Untersuchung von Interferenzen <strong>und</strong><br />

Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Künsten <strong>und</strong> der <strong>Architektur</strong>,<br />

der damit einhergehenden Hybridisierung medialer <strong>und</strong> ästhetischer<br />

Diskurse <strong>und</strong> den daraus resultierenden neuen Verfahren von<br />

Bedeutungskonstitution. Gefragt wird also, inwiefern <strong>die</strong> »Vielschichtigkeit<br />

der <strong>Architektur</strong>« 47 als umbauter Raum, als Kulturtechnik <strong>und</strong> als<br />

Idee mit anderen Denkbereichen <strong>und</strong> Künsten fusioniert, <strong>und</strong> in welchem<br />

Maße <strong>die</strong>se Interdependenzen als Teil des gesamtkulturellen Prozesses<br />

der radikalen Erneuerung der Künste um 1910 zu lesen sind.<br />

Intermediale Grenzüberschreitungen <strong>und</strong> Konfigurationen sind da-<br />

bei im Zeitalter der ›historischen Avantgarde‹ 48 <strong>und</strong> der literarischen Moderne,<br />

in deren Horizont sich <strong>die</strong> »expressionistische Avantgarde« 49 des<br />

47 Kristiana Hartmann, Neugier auf <strong>die</strong> Moderne. In: Trotzdem modern. Die<br />

wichtigsten Texte zur <strong>Architektur</strong> in Deutschland 1919-1933. Ausgew. <strong>und</strong><br />

kommentiert von Kristiana Hartmann. Braunschweig-Wiesbaden: Viehweg<br />

1994, S. 7-49, hier S. 9 (Bauwelt F<strong>und</strong>amente; 99).<br />

48 Die hier verwendete Bezeichnung ›historische Avantgarde‹ lehnt sich, trotz<br />

notwendiger Einschränkungen hinsichtlich ihrer Praktikabilität in Bezug auf<br />

den Sturm <strong>und</strong> den engeren Sturm-Kreis (s. u.), an Peter Bürgers viel diskutierte<br />

Schrift Theorie der Avantgarde an. Kernthese von Bürger ist, dass Futurismus,<br />

Dadaismus <strong>und</strong> Surrealismus eine epochale Sprengung der (bürgerlichen)<br />

Institution Kunst anstrebten <strong>und</strong> Kunst in eine »neue Lebenspraxis« überführen<br />

wollten. Peter Bürger, Theorie der Avantgarde. Frankfurt/M.: Suhrkamp<br />

1974, S. 67. Anknüpfend an Bürger hat Walter Fähnders den Versuch unternommen,<br />

vier Bestimmungen der ›historischen Avantgarde‹ herauszuarbeiten<br />

<strong>und</strong> sie gleichsam auch auf andere künstlerische Bewegungen zwischen 1910<br />

<strong>und</strong> 1930 zu übertragen, da etwa der Expressionismus <strong>und</strong> Konstruktivismus<br />

von Bürger ausgespart blieben. Fähnders betont in seiner Abgrenzung der<br />

›historischen Avantgarde‹ gegenüber der ›selbsternannten Moderne‹ in den<br />

intellektuellen Milieus um 1900 deren (a) Gruppen- <strong>und</strong> Bewegungscharakter,<br />

(b) <strong>die</strong> Aufhebung der künstlerischen Autonomie, (c) <strong>die</strong> Überführung<br />

von Kunst in Leben <strong>und</strong> (d) <strong>die</strong> tendenzielle Auflösung des Werkbegriffs. Vgl.<br />

Walter Fähnders, Avantgarde <strong>und</strong> Moderne 1890-1933. Stuttgart-Weimar:<br />

Metzler 1998, S. 7. Der Sturm besitzt vielfältige Verflechtungen mit der ›historischen<br />

Avantgarde‹ in bildender Kunst <strong>und</strong> <strong>Architektur</strong>, er stellt sich jedoch<br />

auch als ein Podium für heterogene Strömungen der literarischen Moderne<br />

um 1910 dar, welche in den Konzepten Bürgers <strong>und</strong> Fähnders nicht aufgehen,<br />

da sie zum Beispiel am Werkbegriff <strong>und</strong> künstlerischer Autonomie festhalten<br />

(vgl. Kapitel V zu den Kunsttheorien des Sturm).<br />

49 In den Thesen zur expressionistischen Moderne hat Thomas Anz den Expressionismus<br />

auf der einen Seite zur literarischen Moderne, auf der anderen<br />

25


26<br />

Einleitung<br />

Sturm-Kreises bewegt, auf vielfältige Weise nachweisbar. Man denke<br />

etwa an <strong>die</strong> Verbindung von bildender Kunst <strong>und</strong> Schrift in der Buch-<br />

Seite zur ›historischen Avantgarde‹ in Beziehung gesetzt. Wie <strong>die</strong> literarische<br />

Moderne allgemein, ist auch der Expressionismus als ein Phänomen<br />

gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse zu begreifen. Der Expressionismus<br />

partizipiert, wie <strong>die</strong> literarische Moderne insgesamt, an Prozessen der<br />

Technisierung, Verwissenschaftlichung, Medialisierung, Industrialisierung<br />

<strong>und</strong> Urbanisierung, <strong>die</strong> inhaltlich <strong>und</strong> formalästhetisch aufgenommen werden.<br />

Er ist ein »Phänomen der Ausdifferenzierung <strong>und</strong> Pluralisierung von<br />

Systemen« (330), d. h., er ist Teil einer komplexen, in unterschiedliche Wertsphären<br />

ausdifferenzierten Gesellschaft. Das Kunstsystem selbst ist ebenfalls<br />

durch Ausdifferenzierung <strong>und</strong> ein Nebeneinander bzw. einen simultanen Stilpluralismus<br />

gekennzeichnet, in dem keine verbindlichen Kunstnormen mehr<br />

existieren. Durch seinen »Innovationspathos« <strong>und</strong> <strong>die</strong> Verwendung von<br />

»Metaphern des Kampfes« (332) drückt sich zugleich eine avantgardistische<br />

Gr<strong>und</strong>haltung des Expressionismus aus, <strong>die</strong> ihr Verhältnis zur Tradition <strong>und</strong><br />

zur Zukunft mittels ihrer Programme <strong>und</strong> Werke radikal neu zu bestimmen<br />

sucht, was teilweise eine revolutionäre Erneuerung der Lebenspraxis im<br />

Sinne Bürgers inten<strong>die</strong>rt. Vgl. Thomas Anz, Thesen zur expressionistischen<br />

Moderne. In: Literarische Moderne. Begriff <strong>und</strong> Phänomen. Hrsg. v. Sabina<br />

Becker <strong>und</strong> Helmuth Kiesel unter Mitarbeit von Robert Krause. Berlin-New<br />

York: de Gruyter 2007, S. 329-346. In der Selbstbeschreibung <strong>und</strong> Selbstbeobachtung<br />

zentraler Protagonisten des Sturm wird kenntlich, dass <strong>die</strong>se sich<br />

als ›expressionistische Avantgarde‹ verstanden, da sich Künstler <strong>und</strong> Schriftsteller<br />

wie <strong>Herwarth</strong> Walden, Adolf Behne, Lothar Schreyer oder Rudolf<br />

Blümner bei der Bestimmung expressionistischer Literatur, Kunst <strong>und</strong> <strong>Architektur</strong><br />

ganz im Sinne der militärischen Konnotation des Begriffs ›Avantgarde‹<br />

als ›Vorhut« begriffen. Im ›Expressionismus‹ wurde eine epochale Transformation<br />

<strong>und</strong> der Beginn eines neuen Zeitalters in den Künsten erblickt (vgl.<br />

Kapitel IV, V <strong>und</strong> VI), an deren Spitze, so <strong>die</strong> Selbstwahrnehmung, der Sturm<br />

selber stand. Rudolf Blümner schreibt: »Gegenüber dem deutlichen Bestreben<br />

einiger malerischer <strong>und</strong> literarischer Kreise, sich <strong>die</strong> Bezeichnung des<br />

siegenden Expressionismus ohne künstlerische Berechtigung anzumassen,<br />

liegt es im Interesse einer reinen Scheidung der künstlerischen Werte <strong>und</strong> der<br />

künstlerischen Entwicklung, darauf hinzuweisen, dass alle Künstler, <strong>die</strong> eine<br />

führende Bedeutung für den Expressionismus haben, an einer Stelle vereint<br />

sind. Diese ist Der Sturm.« Rudolf Blümner, Der Sturm. Eine Einführung.<br />

Berlin: Verlag Der Sturm 1917, S. 1. So wird in <strong>die</strong>ser Arbeit von historischer<br />

Avantgarde gesprochen, wenn es um <strong>die</strong> Repräsentation verschiedener<br />

künstlerischer Strömungen im Sturm geht, von expressionistischer Avantgarde<br />

hingegen, wenn vom Sturm-Kreis selbst <strong>die</strong> Rede ist.


Einleitung<br />

illustration von Verlagen wie Kurt Wolf oder Paul Cassirer 50 , <strong>die</strong> neue<br />

Zuordnung von Bild <strong>und</strong> Text in der avantgardistischen Zeitschriftenkultur,<br />

an <strong>die</strong> Bedeutung der Mündlichkeit bzw. der Stimme für <strong>die</strong> Lesebühnen<br />

des frühexpressionistischen Neopathetischen Cabarets in Berlin,<br />

der Sturm-Kunstabende oder dem dadaistischen Cabaret Voltaire<br />

in Zürich. Zu nennen wäre aber auch <strong>die</strong> Filmkunst. In Fortsetzung der<br />

gesamtkünstlerischen <strong>und</strong> synästhetischen Bestrebungen auf dem Gebiet<br />

des Theaters, zum Beispiel Wassily Kandinskys Bühnenkomposition Der<br />

gelbe Klang (1912), wird in Filmen wie Der Golem – wie er in <strong>die</strong> Welt<br />

kam (1920; Regie: Paul Wegener <strong>und</strong> Carl Boese) eine enge Wechselwirkung<br />

der Künste evident, wie etwa <strong>die</strong> Filmarchitekturen Hans Poelzigs<br />

zeigen. 51<br />

Die Spannweite intermedialer Phänomene im Sturm ist im Hinblick<br />

auf <strong>die</strong> Wechselwirkungen der Künste <strong>und</strong> der <strong>Architektur</strong> als sehr weit<br />

aufzufassen. Es finden sich Phänomene der Me<strong>die</strong>nkombination; so zum<br />

Beispiel <strong>die</strong> Veröffentlichung von <strong>Architektur</strong>skizzen <strong>und</strong> -modellen in<br />

der Zeitschrift <strong>und</strong> Kunstgalerie Der Sturm (Kapitel VII), der schon<br />

erwähnte Scheerbart arbeitet eng mit dem Architekten Bruno Taut zusammen,<br />

dessen berühmtes Glashaus auf der Kölner Werkb<strong>und</strong>ausstellung<br />

im Jahr 1914 emblematisch mit Aphorismen des Dichters ausgestattet<br />

wurde (Kapitel III). Auch sind Ideen einer synästhetischen Bühnenkunst<br />

bei Lothar Schreyer anzutreffen, <strong>die</strong> <strong>die</strong>ser zu einer architektonischen<br />

Gesamtkunstwerkskonzeption verdichtete, <strong>die</strong> in engem Zusammenhang<br />

mit der Ikonografie der um 1918 in den Künsten virulenten Sinnbild der<br />

gotischen Kathedrale diskutiert wird (Kapitel VI). Ebenso kann <strong>die</strong> Merzarchitektur<br />

von Kurt Schwitters im Kontext der Phänomene der Me<strong>die</strong>nkombination<br />

betrachtet werden (Kapitel VII). Zu Phänomenen des Me<strong>die</strong>nwechsels<br />

sind zum Beispiel <strong>die</strong> Applikation architekturtheoretischer<br />

Annahmen <strong>und</strong> Prinzipien in <strong>die</strong> Wortkunst (Kapitel V) oder <strong>die</strong> Bau-<br />

<strong>und</strong> Konstruktionsmetaphoriken in kunst- <strong>und</strong> literaturprogrammatischen<br />

Manifesten im Sturm zu zählen (Kapitel IV). Intermediale Bezüge<br />

können ebenso nachgewiesen werden, etwa in der expressiven Ekphrasis<br />

des Straßburger Münster von John Wolfs <strong>und</strong> natürlich wiederum in der<br />

Literatur Scheerbarts (Kapitel III <strong>und</strong> IV). Vor allem <strong>die</strong> Phänomene des<br />

Me<strong>die</strong>nwechsels <strong>und</strong> <strong>die</strong> intermedialen Bezüge führen im Sturm partiell<br />

50 Vgl. Lothar Lang, Expressionistische Buchillustration in Deutschland 1907-<br />

1927. Frankfurt/M. u. a.: Bucher 1975.<br />

51 Zur Interdependenz der Künste im expressionistischen Film vgl. Thomas Anz,<br />

Literatur des Expressionismus. Stuttgart-Weimar: Metzler 2002, S. 153f.<br />

27


28<br />

Einleitung<br />

zu einer ›<strong>Architektur</strong>alisierung der Künste‹, wie in den erwähnten Kapiteln<br />

dargestellt wird.<br />

Im Sinne eines synthetisierenden Vorgehens wird hierbei kein einseitiges<br />

Theoriedesign angewandt, sondern ein absichtsvoll praktizierter Methodenpluralismus,<br />

wie er seit einigen Jahren in den Literatur- <strong>und</strong> Kulturwissenschaften<br />

anzutreffen ist. Dieser legt sich weder ausschließlich auf<br />

eine einzige Methode fest noch liegt er intradisziplinären Beschränkungen<br />

auf. 52 Bis heute existieren allerdings auch keine originäre <strong>und</strong> kanonisierte<br />

Methode <strong>und</strong> keine operablen Instrumente, auf deren Gr<strong>und</strong>lage<br />

architekturale Phänomene <strong>und</strong> ihre Wechselwirkungen mit anderen<br />

Künsten umfassend beschrieben werden könnten. Um der Gefahr einer<br />

einseitigen Lektüre <strong>und</strong> Interpretation der Quellen <strong>und</strong> Archivalien zu<br />

entgehen, aber auch um architekturale Phänomene im Sturm möglichst<br />

umfangreich zu erfassen <strong>und</strong> dabei für bisher unentdeckte <strong>und</strong> unerwartete<br />

Bef<strong>und</strong>e offen zu bleiben, müssen folgerichtig <strong>die</strong> theoretischen <strong>und</strong><br />

methodischen Ansätze verschiedener Disziplinen einbezogen werden.<br />

So besteht <strong>die</strong> Notwendigkeit, Überlegungen aus den Bereichen der<br />

<strong>Architektur</strong>-, Technik-, Sozial- <strong>und</strong> Kulturgeschichte ebenso zu integrieren<br />

wie Ansätze der hermeneutischen <strong>und</strong> ikonographischen Interpreta-<br />

tionspraxis. Gleiches gilt für rezeptions- <strong>und</strong> wirkungsästhetische<br />

Zugänge, <strong>die</strong> ebenso Berücksichtigung finden, wie sich <strong>die</strong> Analyse metapherntheoretischen<br />

<strong>und</strong> intertextuellen Betrachtungsweisen nicht verschließt.<br />

Jedes Kapitel der Arbeit enthält eine kurze Einleitung, in der<br />

<strong>die</strong> erkenntnisleitenden Fragen eingegrenzt sowie auf <strong>die</strong> entsprechende<br />

Sek<strong>und</strong>ärliteratur verwiesen wird. Das methodische <strong>und</strong> theoretische Vorgehen<br />

der einzelnen Kapitel wird dabei im Folgenden in der allgemeinen<br />

Einleitung entwickelt. Nur mit methodischem Pluralismus, so <strong>die</strong> Überzeugung,<br />

lässt sich das breite Spektrum <strong>und</strong> <strong>die</strong> Komplexität architekturaler<br />

Phänomene im Sturm angemessen beurteilen <strong>und</strong> interpretieren.<br />

Die Bedeutung, Wirkung <strong>und</strong> Rezeption der <strong>Architektur</strong> im Sturm, ihre<br />

intermedialen Verschränkungen mit anderen Kunst- <strong>und</strong> Denkbereichen,<br />

kann nicht getrennt von den sozialen, gesellschaftlichen, historischen,<br />

medialen <strong>und</strong> kulturellen Bedingungen <strong>und</strong> Umbrüchen sowie urbanen<br />

Transformationsprozessen des ausgehenden 19. Jahrh<strong>und</strong>erts betrachtet<br />

52 Vgl. Sabina Becker, Literatur- <strong>und</strong> Kulturwissenschaften. Ihre Methoden <strong>und</strong><br />

Theorien. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2007, S. 16f.; Oliver Jahraus,<br />

Literaturtheorie. Theoretische <strong>und</strong> methodische Gr<strong>und</strong>lagen der Literaturwissenschaft.<br />

Tübingen-Basel: Francke 2004, S. 11f. (UTB 2587, Literaturwissenschaft).


Einleitung<br />

werden, wie im nächsten Schritt gezeigt wird, der <strong>die</strong> Gliederung der<br />

Arbeit <strong>und</strong> ihre einzelnen Kapitel kontextualisiert <strong>und</strong> in den größeren<br />

Zusammenhang der zivilisatorischen <strong>und</strong> ästhetischen Moderne hebt.<br />

3. Materialität <strong>und</strong> Medialität der <strong>Architektur</strong> um 1900.<br />

Kontext <strong>und</strong> Gliederung der Arbeit<br />

Wie oben schon angedeutet wurde, geht es in <strong>die</strong>ser Arbeit nicht nur<br />

um eine Analyse diskursrelevanter gebauter oder geplanter Objekte, <strong>die</strong><br />

im Sturm abgebildet oder ausgestellt wurden. Vielmehr wird auch der<br />

Einfluss von <strong>Architektur</strong> als ›Medium‹ auf kulturelle Austausch- <strong>und</strong><br />

Aneignungsprozesse der europäischen Avantgarden im ersten Drittel des<br />

20. Jahrh<strong>und</strong>erts untersucht. Denn der kommunikativen Streuung neuer<br />

ästhetischer Ideen, Theorien <strong>und</strong> Auffassung via <strong>Architektur</strong> kommt im<br />

Sturm <strong>und</strong> seinen institutionellen Vorläufern eine besondere Bedeutung<br />

zu, wie <strong>die</strong> Rezeption, Popularisierung <strong>und</strong> Verteidigung der Reformarchitektur<br />

im Verein für Kunst <strong>und</strong> der <strong>Architektur</strong> der Wiener Moderne<br />

in der Gründungsphase der Zeitschrift deutlich machen.<br />

Die ersten beiden Kapitel haben somit <strong>die</strong> Vorgeschichte <strong>und</strong> <strong>die</strong> Gründungsphase<br />

des Sturm zum Gegenstand, wobei immer nach Bezügen zur<br />

<strong>Architektur</strong> gefragt wird. Denn <strong>Herwarth</strong> Walden konnte bei der Entstehung<br />

des Sturm im Frühjahr 1910 auf ein fast zehnjähriges kultur- <strong>und</strong><br />

kunstpolitisches Engagement in Berlin zurückblicken. Den wichtigsten<br />

institutionellen Vorläufer des Sturm bildet der Verein für Kunst (1904-<br />

1911). Die Geschichte des Vereins für Kunst wird organisations- <strong>und</strong><br />

gruppensoziologisch skizziert <strong>und</strong> analysiert. In <strong>die</strong>sen Verein werden,<br />

wenn auch nicht sehr häufig, moderne Architekten zu Vorträgen eingeladen,<br />

wie <strong>die</strong> Aufgliederung <strong>und</strong> <strong>die</strong> Rekonstruktion des ›baukünstlerischen<br />

Profils‹ ergibt. Neue Aufschlüsse <strong>und</strong> erste Ansätze bieten <strong>die</strong> Briefwechsel<br />

zwischen Walden <strong>und</strong> modernen Architekten. Sie offenbaren<br />

bereits in der ersten Dekade des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts ein spezifisches, wenn<br />

auch nicht sehr ausgeprägtes Interesse des späteren Sturm-Gründers an<br />

zeitgenössischen Baufragen. Walden stand mit prominenten Vertretern<br />

funktionaler Baukunst, Erneuerern des Kunstgewerbes <strong>und</strong> Reformarchitekten<br />

in Deutschland <strong>und</strong> Österreich um 1900 in vielseitigem Austausch<br />

<strong>und</strong> pflegte Kulturbeziehungen, <strong>die</strong> allerdings oftmals einen sehr sporadischen<br />

<strong>und</strong> kurzzeitigen Charakter besaßen. Zu Korrespondenzpartnern<br />

<strong>Waldens</strong> oder Referenten im Verein für Kunst zählten: Peter Behrens,<br />

Max Berg, Adolf Loos, Alfred Messel, Hermann Muthesius, Bruno Paul<br />

29


30<br />

Einleitung<br />

<strong>und</strong> Henry van de Velde. Die wichtigsten Ideen zur <strong>Architektur</strong> <strong>die</strong>ser<br />

Persönlichkeiten, soweit sie im Verein für Kunst zu Wort kamen, werden<br />

deskriptiv vorgestellt, da sie einen wichtigen Referenzrahmen für <strong>die</strong><br />

<strong>Architektur</strong> im Sturm bilden. 53 Desgleichen werden <strong>die</strong>jenigen Zeitschriften<br />

einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen, für <strong>die</strong> Walden vor dem<br />

Sturm als Schriftleiter amtierte, <strong>und</strong> <strong>die</strong> parallele Arbeit zum Verein für<br />

Kunst in Hinsicht auf veröffentlichte <strong>Architektur</strong>publizistik ausgewertet.<br />

Ausgesucht wurden hierzu <strong>die</strong> Zeitschriften Morgen. Wochenblatt<br />

für deutsche Kultur <strong>und</strong> Das Theater, weil für <strong>die</strong>se beiden Blätter eine<br />

etwas längerfristige Anstellung <strong>Waldens</strong> vorliegt <strong>und</strong> er somit <strong>die</strong> redaktionelle<br />

Linie inhaltlich am stärksten nach individuellen Vorstellungen<br />

<strong>und</strong> Maßgaben gestalten konnte. Die Inhaltsanalyse wird durch exemplarisches<br />

close reading einzelner Beiträge zur <strong>Architektur</strong> in den von<br />

Walden redaktionell betreuten Zeitschriften ergänzt. Mittels der Inhaltsanalyse<br />

<strong>die</strong>ser Beiträge <strong>und</strong> der daraus ersichtlichen ›Blattpolitik‹ können<br />

Prozesse <strong>und</strong> Diskursstrategien beobachtet werden, <strong>die</strong> einen Aufschluss<br />

über <strong>Waldens</strong> Positionierung in Hinsicht auf Fragestellungen der zeitgenössischen<br />

<strong>Architektur</strong>- <strong>und</strong> Stildebatte kenntlich machen. Deutlich wird<br />

immer wieder eines: Walden besaß ein ausgeprägtes Gespür für architektonische<br />

Aspekte im Zusammenhang mit dem Erneuerungsdiskurs der<br />

Künste um 1900. Er selbst äußerte sich ebenfalls sukzessive zu baukünstlerischen<br />

Fragen <strong>und</strong> Problemstellungen (Kapitel I).<br />

Als ein nicht-sprachliches Zeichensystem generiert <strong>die</strong> Baukunst<br />

durch <strong>die</strong> Verwendung plastischer <strong>und</strong> räumlicher Bilder Signale, Informationen<br />

<strong>und</strong> Botschaften, <strong>die</strong> eine große Anzahl von Rezipienten erreichen.<br />

Die Kommunikation zwischen Sendern (Architekten, Künstlern)<br />

<strong>und</strong> Empfängern (Publikum, Gesellschaft) ist um 1910 als ›gestört‹ zu<br />

bezeichnen, wie <strong>die</strong> Debatte um das Haus am Michaelerplatz (1909-<br />

1911) des Wiener Architekten <strong>und</strong> Kulturtheoretikers Adolf Loos erkennen<br />

lässt, <strong>die</strong> breiten Eingang in den Sturm gef<strong>und</strong>en hat. Gerade <strong>die</strong><br />

<strong>Architektur</strong> erscheint somit in der Frühphase des Sturm als geeigneter<br />

›Kampfplatz‹ für eine moderne Kunst <strong>und</strong> Kultur. Denn durch <strong>die</strong> Situierung<br />

im öffentlichen Raum vermag <strong>die</strong> Baukunst viel stärker als <strong>die</strong><br />

53 Peter Behrens <strong>und</strong> Bruno Paul haben trotz zum Teil mehrfacher Einladung<br />

nicht im Verein für Kunst referiert. Zur Bedeutung von Behrens <strong>und</strong> Loos für<br />

den Sturm vgl. Kapitel 2. Max Berg, seit 1909 Stadtbaumeister von Breslau<br />

<strong>und</strong> Architekt der »Jahrh<strong>und</strong>erthalle«, eines epochemachenden Stahlbetonbaus,<br />

nahm 1912 mit Walden Kontakt auf. Oskar Kokoschka sollte das neue<br />

Breslauer Krematorium mit Fresken ausgestalten. Vgl. Kapitel 6.


Einleitung<br />

anderen Künste für mediales Aufsehen, Provokationen <strong>und</strong> Debatten zu<br />

sorgen. Auch Sichtbarkeiten neuer ästhetischer Paradigmen kann <strong>Architektur</strong><br />

ganz anders herstellen als Bilder, Literatur oder Musik. Ein Gr<strong>und</strong><br />

hierfür liegt darin, dass <strong>die</strong> Formen der <strong>Architektur</strong> viel augenscheinlicher<br />

in <strong>die</strong> allgemeinen Lebenszusammenhänge der Menschen inklu<strong>die</strong>rt<br />

sind, als es in den übrigen, vom Alltag abgehobenen autonomen Teilbereichen<br />

ästhetischer Praxis der Fall ist. 54 »Bilder, Poesie, Musik lassen<br />

sich ignorieren, Raum <strong>und</strong> Baukörper nicht.« 55 Die radikale Ornamentkritik,<br />

<strong>die</strong> Loos sowohl theoretisch als auch praktisch begründet,<br />

wird im Sturm umfassend rezipiert <strong>und</strong> nicht nur auf programmatischer<br />

Ebene produktiv angeeignet.<br />

Die Überlegungen in Ornament <strong>und</strong> Verbrechen (1908) sind einerseits<br />

auf poetologische <strong>und</strong> feuilletonkritische Überlegungen appliziert worden.<br />

Die Gedanken von Loos lieferten andererseits aber auch der <strong>Architektur</strong>-<br />

<strong>und</strong> Stadtkritik im Sturm zentrale Stichworte <strong>und</strong> Theoreme.<br />

›Sachlichkeit‹ <strong>und</strong> ›Einfachheit‹ wurden zu bedeutsamen ästhetischen<br />

Kategorien, <strong>die</strong> bei Walden noch in den 1920er Jahre nachweisbar sind.<br />

Ausgehend von der Kulturtheorie von Loos entwickelte sich im Sturm ein<br />

<strong>Architektur</strong>diskurs, der in <strong>die</strong>ser Arbeit in Zusammenhang mit der Gründung<br />

<strong>und</strong> Profilierung der Zeitschrift gestellt wird. Viel stärker als bisher<br />

angenommen müssen <strong>die</strong> Gründungsphase des Sturm <strong>und</strong> <strong>die</strong> baukünstlerischen<br />

Aktivitäten der Wiener Moderne um 1910 aufeinander bezogen<br />

werden. Loos steht dabei für <strong>die</strong> Überführung von Kunst in eine neue<br />

Lebenspraxis. Diese Tendenz im Bereich der <strong>Architektur</strong> hat Michael<br />

Müller in Anschluss an <strong>die</strong> Kategorien von Peter Bürger analysiert: »In<br />

ihrem Versuch, <strong>Architektur</strong> in Lebenspraxis zu überführen, sie aus der<br />

tra<strong>die</strong>rten Vorstellung, <strong>Architektur</strong> müsse Kunst sein, herauszulösen« 56 ,<br />

entspricht, so Müller, <strong>die</strong> <strong>Architektur</strong>avantgarde von ihrer Zielsetzung<br />

her – angefangen bei Loos bis zum Neuen Bauen in der Weimarer Republik<br />

– der ›historischen Avantgarde‹ in der bildenden Kunst.<br />

54 Vgl. Michael Müller, <strong>Architektur</strong> als ästhetische Form oder ästhetische Form<br />

als lebenspraktische <strong>Architektur</strong>. In: Werner Martin Lüdke (Hg.), ›Theorie<br />

der Avantgarde‹. Antworten auf Peter Bürgers Bestimmung von Kunst <strong>und</strong><br />

bürgerlicher Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976, S. 268-319, hier<br />

S. 270.<br />

55 Wolfgang Pehnt, <strong>Architektur</strong> des Expressionismus. (Vollst. neu bearb. Aufl.)<br />

Ostfildern-Ruit: Hatje 1998, S. 8.<br />

56 Michael Müller, <strong>Architektur</strong> <strong>und</strong> Avantgarde. Ein vergessenes Projekt der<br />

Moderne? Frankfurt/M.: Syndikat Autoren- u. Verl.-Ges. 1984, S. 43.<br />

31


32<br />

Einleitung<br />

Somit ist auch zu fragen, in welcher Form sich <strong>die</strong> Protagonisten des<br />

Sturm an den Auseinandersetzungen um <strong>die</strong> Definition einer zeitgemäßen<br />

respektive modernen urbanen Kultur beteiligten. In Kapitel II wird<br />

ebenfalls dokumentiert, inwieweit der öffentliche Raum in der wilhelminischen<br />

Ära als konkretes Handlungsfeld verstanden wurde, in dem es<br />

galt, nicht mehr nur eine neue Literatur <strong>und</strong> Kunst zu proklamieren <strong>und</strong><br />

zu repräsentieren, sondern auch gegen den »Militarismus in der <strong>Architektur</strong>«<br />

(Paul Scheerbart) zu agieren <strong>und</strong> für eine avancierte Baukunst zu<br />

aktivieren. Hierbei geraten besonders <strong>die</strong> Bauten des Berliner Stadtbaurates<br />

Ludwig Hoffmann in das Blickfeld der Kritik, <strong>die</strong> vom Sturm-Kreis als<br />

Symbol für Historismus <strong>und</strong> damit einer zutiefst verachteten künstlerischen<br />

Haltung bekämpft werden. Die Überwindung historistischer Überzeugungen,<br />

wie sie nicht nur von Loos 57 , sondern auch von Architekten<br />

wie Messel, van de Velde, Muthesius aber auch von Kunstkritikern wie<br />

Ernst Schur oder Joseph August Lux im Rahmen der kulturpolitischen<br />

Aktivitäten <strong>Waldens</strong> vor der Gründung des Sturm postuliert werden,<br />

gewinnen gleichsam eine praktische Qualität, da sie in erster Linie auf<br />

Funktionalität <strong>und</strong> Zweckmäßigkeit ausgerichtet sind.<br />

Die Bauten Ludwig Hoffmanns hatten, so <strong>die</strong> These in <strong>die</strong>ser Arbeit,<br />

für <strong>die</strong> Berliner Moderne einen ähnlich hohen ästhetischen Reizwert wie<br />

<strong>die</strong> Ringstraße für <strong>die</strong> Wiener Moderne. Das durch Friedrich Nietzsche<br />

geschulte Zeitbewusstsein von Modernisten <strong>und</strong> Avantgardisten in Berlin<br />

<strong>und</strong> Wien richtet sich gegen <strong>die</strong> als falsch erkannte Normativität eines<br />

aus der Nachahmung von Vorbildern geschöpften Geschichtsverständnisses<br />

58 , wie es insbesondere der Historismus <strong>und</strong> Eklektizismus des ausgehenden<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>erts repräsentieren. Die Wiener Ringstraße <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> <strong>Architektur</strong> Hoffmanns wurden so zu symbolischen Zentren <strong>die</strong>ser<br />

intellektuellen Kritik an der bürgerlichen <strong>und</strong> adligen Kultur <strong>und</strong> ihren<br />

kulturellen <strong>und</strong> urbanen Repräsentationsformen.<br />

Der <strong>Architektur</strong>diskurs im Sturm besitzt ebenso ambivalente Züge,<br />

wie sie Werner Frick ausführlich für <strong>die</strong> anderen Künste in der Zeit der<br />

klassischen Moderne insgesamt beobachtet hat. Denn so sehr auch <strong>die</strong><br />

expressionistische Avantgarde den Vergangenheits- <strong>und</strong> Traditionsbruch<br />

inszeniert, kann sie doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sich<br />

57 Vgl. Dirk Niefanger, Produktiver Historismus. Raum <strong>und</strong> Landschaft in der<br />

Wiener Moderne. Tübingen: Niemeyer 1993, S. 37.<br />

58 Jürgen Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. In: ders., Die<br />

Moderne – ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze<br />

1977-1990. Leipzig: Reclam 1990, S. 32-54.


Einleitung<br />

dabei auf ältere »kulturelle Formationen als Vehikel <strong>und</strong> Präfiguration<br />

zur Etablierung des Allerneusten« 59 beruft. Die Tabula-rasa-Szenarien<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Rhetoriken der Überbietung besitzen Anschluss an kanonisierte<br />

Prätexte <strong>und</strong> stellen sich dar als eine »Koalition aus Vorzeitigkeit <strong>und</strong><br />

Präsenz« 60 . Die gotische Kathedrale <strong>und</strong> deren Rezeption <strong>und</strong> Beschreibung<br />

bilden beispielsweise einen solchen kulturellen Korpus, auf den <strong>die</strong><br />

expressionistische Avantgarde zurückgreifen kann. Die Gleichzeitigkeit<br />

des Ungleichzeitigen, <strong>die</strong> rückwärtige Kontinuität auf der einen, der futuristische<br />

»Blick vom Wolkenkratzer« 61 auf der anderen Seite, verschränken<br />

sich auf spezifische Art <strong>und</strong> Weise im <strong>Architektur</strong>diskurs des Sturm,<br />

wie <strong>die</strong> Auseinandersetzung mit Ludwig Hoffmann <strong>und</strong> <strong>die</strong> Rezeption<br />

der gotischen Kathedrale durch unterschiedliche Autoren der Zeitschrift<br />

kenntlich macht.<br />

Damit ist auch angedeutet, dass sich intermediale architektonische<br />

Phänomene im Kontext des Sturm nicht allein auf den Schriftsteller Paul<br />

Scheerbart beschränken lassen. Dieser hat <strong>die</strong> gotische Kathedrale als<br />

»Präludium« 62 der Glasarchitektur (1914) bezeichnet. In einer rezenten<br />

synoptischen Darstellung zur Intermedialität im Expressionismus wird<br />

Scheerbart eigens hervorgehoben. Auch wenn Thomas Anz zu Recht<br />

schreibt, dass Scheerbart seine »architektonischen Ideen mit erzählerischen<br />

Mittel« dargestellt habe <strong>und</strong> <strong>die</strong> Glasarchitektur »rasch zum Kultbuch<br />

der <strong>Architektur</strong>avantgarde« 63 avancierte, sollen <strong>die</strong> Wechselwirkungen<br />

zwischen der <strong>Architektur</strong> <strong>und</strong> den anderen Künsten im Sturm,<br />

wie bereits aufgeworfen, weiter gefasst werden – gleichwohl <strong>die</strong> ›<strong>Architektur</strong>dichtungen‹<br />

von Scheerbart auch in <strong>die</strong>ser Arbeit einen wichtigen<br />

Gegenstand der Analyse bilden:<br />

Denn wenn Walter Benjamin notiert, dass Bauten auf doppelte Art<br />

rezipiert werden, nämlich »durch Gebrauch <strong>und</strong> durch Wahrnehmung«<br />

59 Werner Frick, Avantgarde <strong>und</strong> longue durée. Überlegungen zum Traditionsverbrauch<br />

der klassischen Moderne. In: Literarische Moderne. Begriff <strong>und</strong><br />

Phänomen, S. 97-112, hier S. 98.<br />

60 Ebd. S. 99.<br />

61 Vgl. Wolfgang Asholt <strong>und</strong> Walter Fähnders (Hgg.), Der Blick vom Wolkenkratzer.<br />

Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung. Amsterdam-<br />

Atlanta: Rodopi 2000.<br />

62 Paul Scheerbart, Glasarchitektur. Hrsg. v. Helmut Geisert <strong>und</strong> Fritz Neumeyer.<br />

Mit einem Nachw. zur Neuausgabe von Mechthild Rausch. Berlin:<br />

Gebr. Mann 2000, S. 81.<br />

63 Anz, Literatur des Expressionismus, S. 154.<br />

33


34<br />

Einleitung<br />

beziehungsweise »taktil <strong>und</strong> optisch« 64 , so kann man hinzufügen, dass<br />

im Sturm eine literarisch vermittelte Rezeption von Baukunst eine wichtige<br />

Rolle spielt, eine Buchstäblichkeit der <strong>Architektur</strong> existiert. Scheerbarts<br />

Gedanken zur Glasarchitektur erfahren im Kontext des Sturm vielfältige<br />

Fortschreibungen <strong>und</strong> eine produktive Anverwandlung, wie <strong>die</strong><br />

kunstphilosophischen, architekturtheoretischen <strong>und</strong> poetischen Schriften<br />

von wichtigen Beiträgern der Zeitschrift wie Lothar Schreyer, Hermann<br />

Essig, Adolf Behne oder Bruno Taut zeigen. Insofern wird herausgearbeitet,<br />

welche »Wirkung <strong>und</strong> Rezeption« <strong>die</strong> Literatur von Scheerbart<br />

im Umfeld des Sturm erlangt <strong>und</strong> wie sich der kommunikative Prozess<br />

zwischen »Autor <strong>und</strong> Publikum« 65 angesichts der historischen Situation<br />

– der sozialen, gesellschaftlichen <strong>und</strong> kulturellen Dynamik vor, während<br />

<strong>und</strong> nach dem Ersten Weltkrieg – gestaltet. Besondere Bedeutung<br />

kommen dabei unter den gegenwärtigen Modellen in den Methoden der<br />

Literatur- <strong>und</strong> Kulturwissenschaften der Rezeptionstheorie <strong>und</strong> Wirkungsästhetik<br />

zu, <strong>die</strong> seit den 1970er Jahren zu zentralen Konzepten der<br />

Erzählforschung geworden sind. 66 Diese methodischen Verfahren gehen<br />

im Gegensatz zur produktionsästhetisch orientierten Ästhetischen Theorie<br />

(1970) Theodor W. Adornos von der Gr<strong>und</strong>annahme aus 67 , dass sich<br />

ein literarisches Werk hauptsächlich im Rezeptionsprozess realisiert <strong>und</strong><br />

konstituiert <strong>und</strong> dass der »Akt des Lesens« 68 <strong>die</strong> vielfältige ästhetische<br />

Schichtung eines Textes im Spannungsfeld von Erwartungshorizont <strong>und</strong><br />

Horizonterweiterung beobachtbar macht.<br />

64 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit<br />

(Zweite Fassung). In: ders., Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung<br />

von Theodor W. Adorno <strong>und</strong> Gershom Scholem hrsg. v. Rolf Tiedemann<br />

<strong>und</strong> Hermann Schweppenhäuser. Bde. I-VII. 1972-1999. Bd. I/2.<br />

Hrsg. v. Rolf Tiedemann <strong>und</strong> Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M.:<br />

Suhrkamp, S. 471-508, hier S. 504.<br />

65 Hans-Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung <strong>und</strong> literarische Hermeneutik.<br />

Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982, S. 20.<br />

66 Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt/M.: Suhrkamp<br />

1970; Wolfgang Iser, Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als<br />

Wirkungsbedingung literarischer Prosa. Konstanz: Universitätsverl. 1970.<br />

67 Zur Auseinandersetzung von Rezeptionsästhetik mit zentralen Annahmen<br />

Adornos vgl. Jauß, Ästhetische Erfahrung <strong>und</strong> literarische Hermeneutik,<br />

S. 44-71.<br />

68 Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München:<br />

Fink 1976 (UTB 636).


Einleitung<br />

Nicht mehr das Werk eines Autors steht im Mittelpunkt des Interesses<br />

der Rezeptionsästhetik. Vielmehr geraten nun Aufnahme <strong>und</strong> Aneignung<br />

eines prinzipiell als offen <strong>und</strong> polyvalent gedachten literarischen Textes<br />

durch <strong>die</strong> Rezipienten (Leser, Autoren) im Zuge des historischen Wandels<br />

in den Fokus der literaturwissenschaftlichen Analyse. Der schöpferische<br />

Lesevorgang, <strong>die</strong> Mitarbeit am Text, sorgt, so eine Prämisse der<br />

›Konstanzer Schule‹, für <strong>die</strong> Entfaltung von unterschiedlichen Ebenen der<br />

Bedeutung <strong>und</strong> Wirkung von Literatur.<br />

Scheerbarts Romane <strong>und</strong> Kurzprosa, aber auch sein <strong>Architektur</strong>manifest,<br />

generieren auf literarischem Wege potentielle Möglichkeiten einer<br />

konstruktiven Baukunst <strong>und</strong> einer globalen Glaskultur, deren phantastische<br />

<strong>und</strong> utopische Dimensionen junge Architekten <strong>und</strong> <strong>Architektur</strong>theoretiker<br />

begeistert aufgreifen, welche aber auch von Schriftstellern <strong>und</strong><br />

Künstlern im Sturm auf verschiedene Art <strong>und</strong> Weise verarbeitet werden.<br />

Zum einen gilt es ausgehend von <strong>die</strong>sen Beobachtungen zu fragen, welche<br />

ästhetisch-programmatische Bedeutung Scheerbart für Walden <strong>und</strong> den<br />

Sturm hatte. Inwieweit bereitet darüber hinaus Scheerbarts Insistenz auf<br />

ästhetischen Ideen wie ›Einfachheit‹ <strong>und</strong> ›Konstruktion‹, <strong>die</strong> primordial<br />

in seinem Œuvre nachweisbar ist, einen Resonanzboden für <strong>die</strong> amimetische<br />

Kunstauffassung des Sturm (Kapitel III)?<br />

Auf der einen Seite wurde <strong>die</strong> großstädtische Urbanität als Produkt <strong>und</strong><br />

Paradigma der Moderne als ›baulich‹ gestaltbar <strong>und</strong> formbar erfahren,<br />

wie <strong>die</strong> Beispiele von Loos bis Scheerbart im Sturm deutlich machen. Auf<br />

der anderen Seite hatten Urbanität <strong>und</strong> architektonische Entwicklungen<br />

selbst großen Einfluss auf <strong>die</strong> Herausbildung moderner <strong>und</strong> avantgardistischer<br />

Ästhetiken <strong>und</strong> Poetiken. So entwickelte sich Berlin zwischen 1890<br />

<strong>und</strong> 1910 in der Wahrnehmung der Zeitgenossen zum symbolischen Ort<br />

der Moderne <strong>und</strong> zum Bild der modernen Großstadt schlechthin. 69 Industrialisierung,<br />

Urbanisierung, motorisierte Verkehrsformen, neue Me<strong>die</strong>n-<br />

<strong>und</strong> Kommunikationsnetze sowie ein enormes Bevölkerungswachstum<br />

prägten um <strong>die</strong> Jahrh<strong>und</strong>ertwende das Gesicht der Metropole. 70 Nach<br />

dem Deutsch-Französischen Krieg <strong>und</strong> der Reichsgründung stieg <strong>die</strong><br />

Einwohnerzahl Berlins in den 1870er Jahren auf eine Million Menschen<br />

69 Vgl. Peter Sprengel <strong>und</strong> Gregor Streim, Berliner <strong>und</strong> Wiener Moderne. Vermittlung<br />

<strong>und</strong> Abgrenzung in Literatur, Theater, Publizistik. Wien-Köln-Weimar:<br />

Böhlau 1998, S. 24.<br />

70 Vgl. Ulrich Troitzsch, Technik, Naturwissenschaften <strong>und</strong> Medizin. In: Dieter<br />

Langewiesche (Hg.), Das deutsche Kaiserreich. 1867/71 bis 1918. Bilanz<br />

einer Epoche. Freiburg-Würzburg: Ploetz 1984, S. 166-180.<br />

35


36<br />

Einleitung<br />

an <strong>und</strong> erreichte 1918 <strong>die</strong> Vier-Millionen-Grenze. Die seit 1871 schnell<br />

expan<strong>die</strong>rende Reichshauptstadt übte auf zahlreiche junge Intellektuelle<br />

eine hohe Anziehungskraft aus. In Berlin existierten <strong>die</strong> größten kunstinteressierten<br />

Bevölkerungsschichten, hier gab es <strong>die</strong> höchste Anzahl Theater,<br />

<strong>die</strong> wichtigsten Galerien, <strong>die</strong> meisten literarischen Vereinigungen <strong>und</strong><br />

wichtige Künstlerkolonien wie <strong>die</strong> in Friedrichshagen, Woltersdorf <strong>und</strong><br />

Schlachtensee. Die Reichshauptstadt war ebenfalls gekennzeichnet durch<br />

ihre extreme soziale Polarisierung, <strong>die</strong> auch geographisch bestimmt war:<br />

auf der einen Seite das Großbürgertum in Berlin-West <strong>und</strong> auf der anderen<br />

Seite <strong>die</strong> Arbeiterviertel in Berlin-Nord <strong>und</strong> Berlin-Ost. 71 In seinem Prosa-<br />

Text Berlin <strong>und</strong> <strong>die</strong> Künstler reflektiert Alfred Döblin, einer der eifrigsten<br />

Mitarbeiter <strong>Waldens</strong>, rückblickend aus dem Jahr 1922 <strong>die</strong> tief greifenden<br />

Wandlungs- <strong>und</strong> Modernisierungsprozesse der Jahrh<strong>und</strong>ertwende:<br />

Berlin ist w<strong>und</strong>ervoll. Die Pferdebahnen gingen ein, über <strong>die</strong> Straßen<br />

wurden elektrische Drähte gezogen, <strong>die</strong> Stadt lag unter einem<br />

schwingenden, geladenen Netz. Dann bohrte man sich in <strong>die</strong> Erde<br />

ein; am Spittelmarkt versoff eine Grube; unter <strong>die</strong> Spree ging man<br />

durch bei Treptow; der Alexanderplatz veränderte sich, der Wittenbergplatz<br />

wurde anders: das wuchs, wuchs! Am Leipziger Platz<br />

der zauberhafte Wertheimbau, eine Straßenfront, wie belanglos ihr<br />

gegenüber das Herrenhaus, das Haus der ertrunkenen, schon längst<br />

begrabenen Herren. Am Schiffbauerdamm, in der Brunnenstraße,<br />

<strong>die</strong> AEG: eine Lust! 72<br />

In der Wahrnehmung der Zeitgenossen veränderten sich Berlin <strong>und</strong> auch<br />

<strong>die</strong> anderen europäischen Metropolen in einer spürbaren Geschwindigkeit.<br />

Die dynamischen Landschaften der urbanisierten Welt, <strong>die</strong> sich<br />

ständig wandelnden Topografien der Großstädte, avancierten dabei zu<br />

unabdingbaren Erfahrungs- <strong>und</strong> Bewegungsräumen der literarischen <strong>und</strong><br />

künstlerischen Avantgardebewegungen, wie dem italienischen Futuris-<br />

71 Vgl. Jost Hermand, Moderne, Avantgarde, Sezession 1885-1914. In: »Helle<br />

Panke« zur Förderung von Politik, Bildung <strong>und</strong> Kultur e.V. (Hg.), Berliner<br />

Moderne im Widerstreit. Politik, Kultur <strong>und</strong> Kunst zwischen Konservatismus<br />

<strong>und</strong> Avantgarde. Berlin: Helle Panke 2002, S. 5-16, hier S. 15f.<br />

72 Alfred Döblin, Berlin <strong>und</strong> <strong>die</strong> Künstler. Hemmt oder beeinträchtigt Berlin<br />

wirklich das künstlerische Schaffen? In: ders., Schriften zu Leben <strong>und</strong> Werk.<br />

Hrsg. v. Erich Kleinschmidt. Olten-Freiburg i. Br.: Walter 1986, S. 37-39,<br />

hier S. 39.


Einleitung<br />

mus <strong>und</strong> deutschen Expressionismus, in welchen sich neue Poetiken <strong>und</strong><br />

Ästhetiken erst konstituieren konnten. 73<br />

Industrialisierung, Technisierung <strong>und</strong> Urbanisierung im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

führten dazu, dass in der ästhetischen Moderne neue Wahrnehmungsmuster<br />

entstehen. Bereits in E. T. A. Hoffmanns Prosatext Des Vetters<br />

Eckfensters (1822), aber spätestens seit Charles Baudelaires Essay<br />

Der Maler des modernen Lebens (1863) kann ›Urbanität‹ als eine der<br />

(Natur-)Landschaft gleichberechtigte Beobachtungssphäre in der Literatur<br />

gelten 74 , in der neue Seh- <strong>und</strong> Betrachtungsweisen der empirischen<br />

Wirklichkeit exemplarisch vorgeführt <strong>und</strong> eingeübt werden. Nirgendwo<br />

sonst wird ›Modernität‹ 75 so intensiv erfahren <strong>und</strong> reflektiert wie in Paris,<br />

73 Vgl. Silvio Vietta, Großstadtwahrnehmung <strong>und</strong> ihre literarische Darstellung.<br />

Expressionistischer Reihungsstil <strong>und</strong> Collage. In: DVjs 48 (1974), H. 2,<br />

S. 354-373.<br />

74 E.T.A. Hoffmann, Des Vetters Eckfenster. In: ders., Poetische Werke in sechs<br />

Bänden. Bd. 6: Meister Floh. Briefe aus den Bergen. Letzte Erzählungen.<br />

Berlin: Aufbau-Verl. 1958, S. 742-774; Charles Baudelaire, Der Maler des<br />

modernen Lebens. In: ders., Der Künstler <strong>und</strong> das moderne Leben. Essay,<br />

»Salons«, intime Tagebücher. Leipzig: Reclam 1990, S. 290-320.<br />

75 Es kann an <strong>die</strong>ser Stelle nicht ausführlich auf <strong>die</strong> Begriffsgeschichte von<br />

›Moderne‹ als neuzeitliche Makroepoche <strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>ene semantische<br />

Ableitungen wie »Modernität, Modernisierung, Modernismus« (Klinger)<br />

<strong>und</strong> auf ästhetische ›Moderne‹ als spezifisch »gegenwärtiges Zeitbewusstsein«<br />

(Gumbrecht) <strong>und</strong> kontingentes Weltverständnis abgehoben werden,<br />

wie es sich etwa in den Querelle des Anciens et des Modernes in Frankreich<br />

an der Wende vom 17. zum 18. Jahrh<strong>und</strong>ert manifestiert. Vgl. ausführlich<br />

dazu Cornelia Klinger, Modern / Moderne / Modernismus. In: Karlheinz<br />

Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt u. a. (Hgg.), Ästhetische Gr<strong>und</strong>begriffe.<br />

Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 4. Stuttgart: Metzler<br />

2002, S. 121-167; Hans Ulrich Gumbrecht, Modern, Modernität, Moderne.<br />

In: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hgg.), Geschichtliche<br />

Gr<strong>und</strong>begriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in<br />

Deutschland. Bd. 4. Stuttgart: Klett-Cotta 1978, S. 93-131; Hervorzuheben<br />

ist, dass gesellschaftliche Moderne <strong>und</strong> ästhetische Moderne nicht kongruent<br />

verlaufen <strong>und</strong> in Letzterer zum Teil konträre ästhetische <strong>und</strong> poetologische<br />

Konzepte ein disparates <strong>und</strong> ambivalentes Verhältnis zur gesellschaftlichen<br />

Moderne aufweisen, das mit dichotomen Vereinfachungen <strong>und</strong> Gegensatzpaaren<br />

wie fortschrittlich vs. rückschrittlich, modern vs. antimodern etc. nur<br />

unzureichend beschrieben wäre. In der jüngeren literatur- <strong>und</strong> kulturwissenschaftlichen<br />

Forschung hat sich <strong>die</strong> Einsicht durchgesetzt, Moderne nicht<br />

mehr ausschließlich an bestimmten Poetiken oder Ästhetiken zu knüpfen,<br />

37


38<br />

Einleitung<br />

der Hauptstadt des XIX. Jahrh<strong>und</strong>erts, wie Benjamin <strong>die</strong> französische<br />

Kapitale nennt. 76 Die großstädtische Topografie markiert einen konkreten<br />

Erfahrungs- <strong>und</strong> Bewegungsraum <strong>und</strong> avanciert zum Symbol des<br />

modernen Lebens mit allen psychologischen Konsequenzen. Baudelaires<br />

berühmte Figur des Flaneurs lässt sich im Großstadtdschungel treiben.<br />

Als passiver Beobachter nimmt der Flaneur <strong>die</strong> großstädtischen Reize <strong>und</strong><br />

Entwicklungen auf <strong>und</strong> verarbeitet sie: Er ist ein »Mann der Menge«, für<br />

den es ein Genuss darstellt, »in der Masse zu hausen«, »im Wogenden,<br />

in der Bewegung, im Flüchtigen <strong>und</strong> Unendlichen« 77 der großstädtischen<br />

Topografie zu verschwinden <strong>und</strong> irgendwo wieder aufzutauchen.<br />

Was mit Baudelaire kenntlich wird, ist, dass <strong>die</strong> »Kultur der europäischen<br />

Avantgarde, wie <strong>die</strong> der Moderne insgesamt, [von Beginn an, R. H.]<br />

<strong>die</strong> Kultur der Großstädte <strong>und</strong> schließlich <strong>die</strong> der Metropolen ist« 78 . Trotz<br />

aller Ambivalenz in der Großstadtwahrnehmung, <strong>die</strong> ästhetischen Reflexionen<br />

beispielsweise der expressionistischen Großstadtlyrik schwanken<br />

zwischen »Großstadtverklärung <strong>und</strong> Großstadtverdammung« 79 , wurden<br />

Metropolen wie Paris, London, Wien oder Berlin <strong>und</strong> deren urbane Kultur<br />

<strong>und</strong> Reize als adäquater <strong>und</strong> vitaler intellektueller <strong>und</strong> künstlerischer<br />

Lebensbereich <strong>und</strong> oftmals als unverzichtbarer Handlungs- <strong>und</strong> Erfahrungsraum<br />

angesehen – in Abgrenzung zu allem Provinziellen. Gleichwohl<br />

darf man nicht vergessen, dass natürlich auch Kleinstädte <strong>und</strong><br />

Künstlerkolonien wie Bayreuth (Richard Wagner), Worpswede, Dres-<br />

sondern auch <strong>die</strong> generelle Haltung gegenüber den Prozessen der gesellschaftlichen<br />

Modernisierung in den Blick zu nehmen. »Moderne wäre sodann <strong>die</strong><br />

kategorische <strong>und</strong> permanente Hinterfragung von Modernisierungsprozessen«,<br />

schreiben Sabina Becker <strong>und</strong> Helmuth Kiesel in: Literarische Moderne.<br />

Begriff <strong>und</strong> Phänomen, S. 9-35, hier S. 13.<br />

76 Walter Benjamin, Paris, <strong>die</strong> Hauptstadt des XIX. Jahrh<strong>und</strong>erts. In: ders.,<br />

Das Passagen-Werk. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. 2 Bde. Bd. 1. Frankfurt/M.:<br />

Suhrkamp 1982, S. 45-59.<br />

77 Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, S. 297f.<br />

78 Michael Müller, Einleitung. In: Metropolis. Avant Garde 1. Hrsg. v. Michael<br />

Müller, Ben Rebel. Amsterdam: Rodopi 1988, S. 5-10, hier S. 5.<br />

79 Jost Hermand, Das Bilder der ›großen Stadt‹ im Expressionismus. In: Klaus<br />

R. Scherpe (Hg.), Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen<br />

zwischen Moderne <strong>und</strong> Postmoderne. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1988,<br />

S. 61-79, hier S. 73.


Einleitung<br />

den-Hellerau oder der Monte Verità zentrale Orte <strong>und</strong> Zentren auf den<br />

›Landkarten‹ der »gefühlten Moderne« 80 um 1900 darstellten.<br />

Die großstädtische Lebenswelt <strong>und</strong> <strong>die</strong> Entstehung urbaner Mentalitäten<br />

waren dabei eng an Wahrnehmungsphänomene wie <strong>die</strong> Flüchtigkeit<br />

<strong>und</strong> das Zufällige gekoppelt, <strong>die</strong> Georg Simmel in seiner stadtsoziologischen<br />

Abhandlung Die Großstädte <strong>und</strong> das Geistesleben (1903) im<br />

Zusammenhang mit der Geldwirtschaft <strong>und</strong> der ›Steigerung des Nervenlebens‹<br />

bei dem Typus des intellektuellen Großstädters beschrieben hat. 81<br />

Die urbanen Wahrnehmungen <strong>und</strong> neue mediale Erfahrungen in enorm<br />

anwachsenden Städten wie Paris, London oder Berlin bringen veränderte<br />

literarische Darstellungsformen hervor. Das Simultangedicht oder auch<br />

<strong>die</strong> literarische Montage orientieren sich dabei zum Teil an der Schnitttechnik<br />

des Films. Jakob van Hoddis Kinematograph, dass vorletzte<br />

Gedicht aus dem Varietè-Zyklus, welcher 1910 im Sturm erschienen war,<br />

führt mitten hinein in das Zeitalter der Beschleunigung <strong>und</strong> den Wandel<br />

der Wahrnehmung in der Moderne, von einem ganzheitlichen zu einem<br />

zerstückelten, beschleunigten <strong>und</strong> kollektiven Erfahrungsprozess, der<br />

sich hier in einer intermedialen ›Filmisierung der Literatur‹ niederschlägt.<br />

Allerdings wird in <strong>die</strong>sem simultanen Kinogedicht nicht auf ein konventionelles<br />

umschließendes Reimschema (abba) <strong>und</strong> 4-versige Strophenform<br />

verzichtet <strong>und</strong> das neue Medium Film ambivalent beurteilt:<br />

Der Saal wird dunkel. Und wir sehn <strong>die</strong> Schnellen<br />

Der Ganga, Palmen, Tempel auch das Brahma,<br />

Ein lautlos tobendes Familiendrama<br />

Mit Lebemännern dann <strong>und</strong> Maskenbällen.<br />

Man zückt Revolver, Eifersucht wird rege,<br />

Herr Piefke duelliert sich ohne Kopf.<br />

Dann zeigt man uns mit Kiepe <strong>und</strong> mit Kropf<br />

Die Älplerin auf mächtig steilem Wege.<br />

80 Georg Bollenbeck, ›Gefühlte Moderne‹ <strong>und</strong> negativer Resonanzboden. Kein<br />

Sonderweg, aber deutsche Besonderheiten. In: Literarische Moderne. Begriff<br />

<strong>und</strong> Phänomen, S. 39-60.<br />

81 Vgl. Georg Simmel, Die Großstädte <strong>und</strong> das Geistesleben. In: ders., Gesamtausgabe.<br />

Hrsg. v. Otthein Rammstedt. 7 Bde. Bd. 1: Aufsätze <strong>und</strong> Abhandlungen<br />

1901-1908. Hrsg. v. Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt <strong>und</strong> Orthein<br />

Rammstedt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, S. 116-131.<br />

39


40<br />

Einleitung<br />

Es zieht ihr Pfad sich bald durch Lärchenwälder,<br />

Bald krümmt er sich <strong>und</strong> dräuend steigt <strong>die</strong> schiefe<br />

Felswand empor. Die Aussicht in der Tiefe<br />

Beleben Kühe <strong>und</strong> Kartoffelfelder.<br />

Und in den dunklen Raum – mir ins Gesicht –<br />

Flirrt das hinein, entsetzlich! Nach der Reihe!<br />

Die Bogenlampe zischt zum Schluss nach Licht –<br />

Wir schieben geil <strong>und</strong> gähnend uns ins Freie. 82<br />

Auch in der Prosa, blickt man zum Beispiel auf Rainer Maria Rilkes Die<br />

Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910), zeigt sich ein enger<br />

Konnex zwischen moderner Literatur <strong>und</strong> Urbanität, eine »urbane<br />

Poetik« 83 , <strong>die</strong> mit den traditionellen Formen des Bildungsromans, der<br />

medialen Leitgattung des Bürgertums im 19. Jahrh<strong>und</strong>erts, <strong>und</strong> der Idee<br />

des geschlossenen Kunstwerks bricht. Den Prozess der Veränderbarkeit<br />

menschlicher Erfahrungs- <strong>und</strong> Wahrnehmungsformen <strong>und</strong> den damit einhergehenden<br />

Wandel formalästhetischer Gestaltung in den Künsten – von<br />

der Antike bis zur Moderne –, hat Benjamin im Kunstwerk-Aufsatz in<br />

seiner ganzen Historizität beleuchtet:<br />

Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit<br />

der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch <strong>die</strong><br />

Art <strong>und</strong> Weise ihrer Sinnenswahrnehmung. Die Art <strong>und</strong> Weise,<br />

in der <strong>die</strong> menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert – das<br />

Medium, in dem sie erfolgt – ist nicht nur natürlich sondern auch<br />

geschichtlich bedingt. 84<br />

Ist der Zusammenhang zwischen urbanen Prozessen <strong>und</strong> modernen Poetiken<br />

<strong>und</strong> Ästhetiken im Anschluss von Benjamins Analysen zur Figur des<br />

Flaneurs in Texten wie Das Paris des Second Empire bei Baudelaire in der<br />

Literaturwissenschaft ausführlich untersucht worden 85 , steht Gleiches für<br />

82 Jakob van Hoddis, Varieté. In: Der Sturm 1 (1910/11), H. 47, S. 372f, hier<br />

S. 373.<br />

83 Vgl. Sabina Becker, Urbanität <strong>und</strong> Moderne: Stu<strong>die</strong>n zur Großstadtwahrnehmung<br />

in der deutschen Literatur 1900-1930. St. Ingberg: Röhrig 1993, S. 12.<br />

84 Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit,<br />

S. 478.<br />

85 Vgl. u. a. Eckhardt Köhn, Straßenrausch. Flanerie <strong>und</strong> kleine Form. Versuch<br />

einer Literaturgeschichte des Flaneurs bis 1933. Berlin: Das Arsenal 1989


Einleitung<br />

<strong>die</strong> systematische Analyse der Wechselbeziehungen von <strong>Architektur</strong> <strong>und</strong><br />

Literatur um 1900 noch aus. Mit einer signifikanten Ausnahme: So repräsentiert<br />

insbesondere Rudolf Borchardts zuerst 1907 in der Frankfurter<br />

Zeitung veröffentlichter Essay Villa eine »formgewordene Urszene« 86<br />

der ästhetischen <strong>und</strong> politischen Auseinandersetzung mit dem prätentiösen<br />

Gestus der privaten Gründerzeitarchitektur <strong>und</strong> dem parvenühaften<br />

Habitus ihrer Bewohner. Zugleich eröffnet der Text ein diskursives<br />

Spannungsfeld der Überblendung von »Kunstform <strong>und</strong> Lebensform« 87 .<br />

Borchardts Synthese aus Traktat, literarischer Stadtflucht <strong>und</strong> politischer<br />

Ökonomie, der evozierte Sog von der Außen- in <strong>die</strong> Innenwelt der<br />

Villa <strong>und</strong> schließlich <strong>die</strong> Verschränkung von Subjekt <strong>und</strong> Objekt, <strong>die</strong> im<br />

Medium der <strong>Architektur</strong> <strong>und</strong> ihren Ordnungskategorien gespiegelt wird,<br />

war kulturkritisch äußerst wirkungsvoll, wie <strong>die</strong> Rezeptionsgeschichte<br />

des Essays von Hugo von Hofmannsthal bis Adorno belegt. Ohne auf<br />

<strong>die</strong> Tiefendimension der architektonischen Poetik des Villa-Essays 88 <strong>und</strong><br />

dessen kunsthistorischen Implikationen näher eingehen zu können 89 , soll<br />

hier nur angedeutet werden, dass auch bei Borchardt, einem sich dezi<strong>die</strong>rt<br />

als konservativ verstehenden Autor, ästhetische Paradigmen aufscheinen,<br />

<strong>die</strong> – trotz aller historischen Rückbindung an <strong>die</strong> abendländische Tradition<br />

– ohne den radikalen Erneuerungsgestus in den Künsten um 1900<br />

schwer vorstellbar sind; etwa wenn <strong>die</strong> »Einfachheit <strong>und</strong> Kahlheit« 90<br />

der altitalienischen Landhäuser unterstrichen <strong>und</strong> von der schnörkeligen<br />

(zgl. Diss.); Klaus R. Scherpe (Hg.), Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen<br />

zwischen Moderne <strong>und</strong> Postmoderne. Reinbek bei Hamburg:<br />

Rowohlt 1988; Klaus Siebenhaar (Hg.), Das poetische Berlin. Metropolenkultur<br />

zwischen Gründerzeit <strong>und</strong> Nationalsozialismus. Wiesbaden: Dt.<br />

Univ.-Verl 1992.<br />

86 Klaus Schuhmacher, <strong>Architektur</strong> am Rande. Rudolf Borchardts Villa. Dresden<br />

2009 (unveröff. Typoskript). Ich danke dem Verfasser für <strong>die</strong> Möglichkeit<br />

der Einsichtnahme.<br />

87 Ebd.<br />

88 Vgl. Dieter Burdorf, Poetik der Form. Eine Begriffs- <strong>und</strong> Problemgeschichte.<br />

Stuttgart-Weimar: Metzler 2001. (Darin: Raumerfahrung <strong>und</strong> Form in<br />

Borchardts »Villa«, S. 473-498.)<br />

89 Vgl. Andreas Beyer, »Ist das <strong>die</strong> Villa?« Rudolf Borchardt in der Villen-<br />

Landschaft. In: Rudolf Borchardt <strong>und</strong> seine Zeitgenossen. Hrsg. v. Ernst<br />

Osterkamp, Berlin-New York: de Gruyter 1997, S. 194-209.<br />

90 Rudolf Borchardt, Villa. In: ders., Gesammelte Werke. 12 Bde. 1955-1968.<br />

Bd. 3: Prosa III. Hrsg. v. Marie Luise Borchardt <strong>und</strong> Ernst Zinn. Stuttgart:<br />

Klett 1960, S. 38-70, hier S. 44.<br />

41


42<br />

Einleitung<br />

Prunksucht der deutschen Villenkultur des zweiten deutschen Kaiserreichs<br />

abgehoben wird.<br />

Infolgedessen wird in <strong>die</strong>ser Arbeit auch <strong>die</strong> Frage aufgeworfen, welche<br />

Sprachbilder neuen ›urbanen‹ Poetiken <strong>und</strong> Ästhetiken zugr<strong>und</strong>e liegen.<br />

So ist bereits in den Stil-Debatten um 1900 zu beobachten, dass es<br />

bevorzugt das konstruktive Prinzip der Ingenieurbaukunst des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> ›Einfachheit‹ <strong>und</strong> ›Sachlichkeit‹ der Reformarchitektur<br />

waren, deren Bauwerke im Kreis um Walden vor Gründung des Sturm<br />

kunstübergreifend als Vorboten eines neuen Stils betrachtet wurden.<br />

Diese Tendenzen der zeitgenössischen Baukunst bekamen eine wichtige<br />

Orientierungs- <strong>und</strong> Ordnungsfunktion zugesprochen <strong>und</strong> fungierten als<br />

kunstübergreifende Leitbilder.<br />

Die Imitation <strong>und</strong> intermediale Verarbeitung architektonischer Prinzipien,<br />

besonders des konstruktiven Prinzips, wurde in Anschluss an <strong>die</strong><br />

Fragmentaristik der Frühromantik <strong>und</strong> ihrer Fortführung durch Nietzsche<br />

im Sinne einer architektonischen Montagetechnik in aphoristische<br />

Werkkonzeptionen übertragen, wie nicht nur Scheerbarts Glasarchitektur,<br />

sondern auch Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus<br />

(1921), Benjamins Einbahnstraße (1928) oder Paul Valérys Tel quel I<br />

<strong>und</strong> II (1941/43) deutlich machen. 91 Der Schriftsteller Theodor Däubler<br />

erklärte <strong>die</strong> moderne <strong>Architektur</strong> zum nachahmenswerten Muster für <strong>die</strong><br />

Literatur <strong>und</strong> <strong>die</strong> bildende Kunst allgemein, wenn er in seiner Abhandlung<br />

Der neue Standpunkt (1916) mit Rückgriff auf das architektonische<br />

Prinzip der ›Einfachheit‹ schreibt:<br />

Stil ist Schicksal: Wir können unsern Stil nicht selber wählen. Früher<br />

zeichneten <strong>die</strong> Baumeister ihre Pläne mit freier Hand, heute<br />

regiert das Lineal <strong>und</strong> das Reißbrett: daher wird eine großzügige<br />

Einfachheit den Stil, der kommt, bestimmen müssen! Wagner in<br />

Wien, Loos in Wien, Peter Behrens, Heinrich Tessenow, Martens in<br />

Berlin, Poelzig in Dresden, Franklin Wright in Chicago sind bereits<br />

moderne Architekten. Wo ist da unser Stil? Wo ist bei ihnen das<br />

Gemeinsame? Im Säuberlichen, in dem, was sie weglassen, in der<br />

gemauerten Selbstkritik, <strong>die</strong> sie uns bringen. 92<br />

91 Vgl. Detlev Schöttker, <strong>Architektur</strong> als Literatur. Zu Geschichte <strong>und</strong> Theorie<br />

eines ästhetischen Dispositivs. In: Urs Meyer, Roberto Simanowski <strong>und</strong> Christoph<br />

Zeller (Hgg.), Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren.<br />

Göttingen: Wallstein 2006, S. 131-151, hier S. 144f.<br />

92 Theodor Däubler, Der neue Standpunkt. Dresden: Hellerauer-Verl. 1916, S. 9.


Einleitung<br />

Der intertextuelle Verweis Däublers auf zeitgenössische Baukünstler <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> Forderung einer Übersetzung der Prinzipien der <strong>Architektur</strong> in <strong>die</strong><br />

anderen Künste – hier in der Figuration von Einfachheit –, stellen um<br />

1910 keine Seltenheit dar. Diese sprachlich konstituierte ›Architektonik<br />

der Avantgarde‹ äußert sich vehement <strong>und</strong> nachdrücklich auch in metaphorischen<br />

Sprechweisen, in bestimmten Baumetaphern. Demgemäß<br />

wird in <strong>die</strong>ser Arbeit mittels Metaphernanalyse eine weitere architekturale<br />

Ebene fokussiert. Die Frage nach dem Sinn der Untersuchung der<br />

architektonischen Metaphorik im Sturm ist dabei mit Überlegungen zu<br />

verknüpfen, welche epistemologische Funktion Metaphern überhaupt<br />

zugesprochen werden kann. Rhetorische Analysen zielen in den Geistes-<br />

<strong>und</strong> Sozialwissenschaften in den letzten Jahren verstärkt auf <strong>die</strong> Frage,<br />

wie neues Wissen <strong>und</strong> neue kulturelle Praktiken generiert <strong>und</strong> dargestellt<br />

werden. 93 Der Metapher kommt hierbei unter den rhetorischen Figuren,<br />

zu denen etwa Metonymie, Symbol, Beispiel <strong>und</strong> Vergleich zu rechnen<br />

sind, eine besondere Rolle zu, wie neuere Metapherntheorien belegen. 94<br />

Dass sich in neuen Metaphern auch neue Denkprozesse manifestieren<br />

<strong>und</strong> kultureller <strong>und</strong> ästhetischer Wandel sichtbar werden kann, lässt sich<br />

mithin bei der theoretisch-begrifflichen F<strong>und</strong>ierung <strong>und</strong> rhetorischen<br />

Inszenierung abstrakter Kunst beobachten. Die im Sturm nachweisbaren<br />

Baumetaphern erhellen dabei den künstlerischen Paradigmenwechsel, der<br />

durchaus als signifikant für den metaphorischen Hintergr<strong>und</strong> der amimetischen<br />

künstlerischen Abstraktionstendenzen <strong>und</strong> ihrer Definitions-<br />

<strong>und</strong> Legitimationsversuche im ersten Drittel des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts stehen<br />

kann. Das Pathos der Ablösung eines seit der italienischen Renaissance<br />

andauernden mimetischen Zeitalters in der Kunst, einer fast 500-jährigen<br />

›impressionistischen‹ Kulturepoche, wird nun durch neue metaphorische<br />

Sprechweisen zum Ausdruck gebracht, als deren Kern architektonischkonstruktive<br />

Leitbilder zu erkennen sind, <strong>die</strong> der Natur als Gegenstand<br />

<strong>und</strong> Vorbild der Kunst eine radikale Absage erteilen (Kapitel IV).<br />

Schon Brinkmann hat versucht, eine Zusammenführung der <strong>Architektur</strong><br />

<strong>und</strong> den anderen Künsten im Zeitalter der historischen Avantgarde<br />

93 Vgl. Jens Ruchatz, Stefan Willer, Nicolas Pethes (Hgg.), Das Beispiel. Epistemologie<br />

des Exemplarischen. Berlin: Kulturverl. Kadmos 2007 (LiteraturForschung;<br />

4); Herbert W. Simons, The Rhetorical Turn: Invention and<br />

Persuasion in the Conduct of Inquiry. Chicago: Univ. of Chicago Pr. 1990.<br />

94 Einen gut strukturierten Überblick über neuere Ansätze der Metaphernforschung<br />

gibt Eckard Rolf, Metapherntheorien. Typologie – Darstellung –<br />

Bibliographie. Berlin-New York: de Gruyter 2005.<br />

43


44<br />

Einleitung<br />

insgesamt anzuregen. Der wesentliche Beitrag der <strong>Architektur</strong> jener Zeit<br />

besteht nach Brinkmann darin, dass sie »ganz <strong>und</strong> gar, d. h. in den graphischen<br />

Phantasien <strong>und</strong> in den rationalistischen Strukturbildung, Konstruktion<br />

<strong>und</strong> Räumlichkeit« 95 gleichsetze. Der Raum werde als etwas<br />

aufgefasst, »das mit der Form konstruiert wird, <strong>und</strong> nicht mehr als etwas,<br />

worin <strong>die</strong> Form konstruiert wird« 96 . Dies seien Überlegungen, so Brinkmann,<br />

<strong>die</strong> kategorial <strong>und</strong> anregend für <strong>die</strong> Literatur des Expressionismus<br />

<strong>und</strong> ihre literaturwissenschaftliche Reflexion wirken könnten. Davon<br />

ausgehend wird vor allem im Sinne der intermedialen Ausgangshypothese<br />

einer ›<strong>Architektur</strong>alisierung der Künste‹ nach der Präsenz konstruktiver<br />

Prinzipien in den Sturm-Kunsttheorie(n) gesucht. Gerade in der<br />

Wortkunsttheorie des Sturm, wie sie von Walden, Schreyer <strong>und</strong> Blümner<br />

modelliert wurde, wird ein vielschichtiges Spiel mit Entmetaphorisierung<br />

<strong>und</strong> Bedeutungsverdichtung kenntlich, das dem Interesse an der ›reinen‹<br />

Materialität des Wortes geschuldet ist. Die auf dem ›Wort‹ basierende<br />

Materialästhetik der Wortkunsttheorie des Sturm ist hierbei in Beziehung<br />

zu setzen mit den immanenten wortkunsttheoretischen <strong>Architektur</strong>analogien<br />

in <strong>Waldens</strong> <strong>und</strong> Schreyers poetologischen Programmatiken <strong>und</strong><br />

der damit verb<strong>und</strong>enen Auseinandersetzung mit konventioneller Syntax,<br />

Metrik <strong>und</strong> poetischen Metaphern (Kapitel V).<br />

Neben der Analyse <strong>und</strong> Kontextualisierung des <strong>Architektur</strong>kapitels in<br />

Schreyers Die neue Kunst (1919/20) <strong>und</strong> daran anknüpfenden Artikeln<br />

zur Baukunst, werden in Kapitel VI ebenso architektonische Aspekte<br />

in den mehrteiligen Aufsätzen Schreyers zum Theater untersucht. Eine<br />

besondere Bedeutung kommt hierbei dem Theater als »Einheitskunstwerk«<br />

<strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>enen Baumetapher vom »Menschenhaus«<br />

zu. Dem »Menschenhaus« als Kultbau einer neuen ›Gemeinschaft‹ stellt<br />

Schreyer Überlegungen zur Seite, <strong>die</strong> um <strong>die</strong> Frage nach angemessenen<br />

Formen für <strong>die</strong> Beerdigung von Verstorbenen kreisen. Ein eigener<br />

Abschnitt widmet sich den sogenannten »Totenhäusern« (1920-22), <strong>die</strong><br />

in der Kulturgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts weitgehend<br />

isoliert geblieben sind.<br />

Im <strong>Architektur</strong>kapitel seines Buches Die neue Kunst (1919/20) <strong>und</strong><br />

weiteren architekturtheoretischen Aufsätzen entwickelt Schreyer des<br />

Weiteren Gedanken zur konstruktiven Profanarchitektur <strong>und</strong> absoluten<br />

Baukunstwerken. Diese Unterscheidung in zweckmäßige Bauwerke<br />

95 Richard Brinkmann, Expressionismus. Internationale Forschung zu einem<br />

internationalen Phänomen, S. 13.<br />

96 Ebd.


Einleitung<br />

einerseits, <strong>und</strong> zweckfreie Baukunstwerke andererseits, werden als Analyse-<br />

kategorien verstanden, um erstmals an ausgewählten Beispielen disparate<br />

Erscheinungen von <strong>Architektur</strong> (künstlerische Modelle, Skizzen, Fotografien<br />

etc.) in den Jahrgängen des Sturm der 1920er Jahre <strong>und</strong> Ausstellungen<br />

der Kunstgalerie Der Sturm vor dem Hintergr<strong>und</strong> der Theoriebildung<br />

der Zeitschrift zu analysieren (Kapitel VII).<br />

45


I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />

<strong>Architektur</strong> im Verein für Kunst (1904-1911)<br />

1. Individualität <strong>und</strong> Sozialität<br />

Als Leiter des Berliner Vereins für Kunst machte sich Walden schon vor<br />

der Gründung des Sturm im Jahr 1910 einen überregionalen Namen.<br />

1904 gegründet, war es <strong>die</strong> »kunst- <strong>und</strong> kulturpolitische Intention« <strong>die</strong>ses<br />

Vereins, sowohl künstlerische Talente zu entdecken <strong>und</strong> zu fördern<br />

als auch eine »Alternative zur kommerziellen Künstlervermittlung« 1 zu<br />

praktizieren. Aus den Strukturen des Vereins für Kunst ist der Sturm hervorgegangen.<br />

Während das künstlerische, musikalische <strong>und</strong> literarische<br />

Profil des Vereins für Kunst im Kontext der Berliner Moderne um 1900<br />

von der Forschung rekonstruiert wurde, soll <strong>die</strong>s für <strong>die</strong> baukünstlerische<br />

Ausrichtung <strong>und</strong> Orientierung des Sturm-Vorläufers ergänzt werden.<br />

Zugleich wird in einem vorgelagerten Arbeitsschritt <strong>die</strong> Frage diskutiert,<br />

inwieweit der Sturm-Kreis um Walden, dessen Mitglieder <strong>und</strong><br />

Mitarbeiter sich zum Teil lange vor 1910 kennenlernten, in das weite<br />

Feld der künstlerischen Gruppenbildungen der Jahrh<strong>und</strong>ertwende einzuordnen<br />

ist, kommt doch gerade Gruppenformation <strong>und</strong> ihren Strategien<br />

der Konstitution von Öffentlichkeit eine beachtliche Rolle bei der Etablierung<br />

<strong>und</strong> Institutionalisierung moderner Kunst <strong>und</strong> Literatur zu.<br />

Um kulturelle <strong>und</strong> künstlerische Innovationen in soziale Organisationsformen<br />

zu überführen <strong>und</strong> durchsetzungsfähiger zu machen, sind<br />

seit der Autonomisierung der Künste im 18. <strong>und</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>ert verstärkt<br />

Künstlergruppen gegründet worden. Die europäische Kunst- <strong>und</strong><br />

Literaturgeschichte des 19. <strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>erts kann als wechselvolle<br />

Abfolge von Gruppierungen, mehr oder weniger losen Zusammenschlüssen,<br />

Bewegungen <strong>und</strong> Gruppenkonstellationen beschrieben werden. 2<br />

In Wilhelmis Standardwerk findet der Sturm keine Berücksichtigung.<br />

1 Peter Sprengel, Institutionalisierung der Moderne. <strong>Herwarth</strong> Walden <strong>und</strong><br />

Der Sturm. In: ders., Literatur im Kaiserreich, S. 147-178, hier S. 160.<br />

2 Hans Peter Thurn, Die Sozialität der Solitären. Gruppen <strong>und</strong> Netzwerke<br />

in der Bildenden Kunst. In: Friedhelm Neidhart (Hg.), Gruppensoziologie.<br />

Opladen: Westdt. Verl. 1983, S. 287-318 (Sonderheft 25 der Kölner<br />

Zeitschrift für Soziologie <strong>und</strong> Sozialpsychologie); Christoph Wilhelmi,<br />

Künstlergruppen in Deutschland, Österreich <strong>und</strong> der Schweiz seit 1900. Ein<br />

Handbuch. Stuttgart: Hauswedell 1996; Jost Hermand, Die deutschen Dich-


I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

Hermand hält dagegen fest, dass der »Sturm-Kreis«, zu dem er Blümner,<br />

Döblin, Friedlaender, Hardekopf, Lasker-Schüler, Rubiner <strong>und</strong> Schickele<br />

rechnet, zu den wichtigsten literarischen Gruppen um 1910 gehörte <strong>und</strong><br />

entscheidend zur Durchsetzung »avantgardistischer« Literatur <strong>und</strong> Kunst<br />

beigetragen habe. 3 Allerdings bleibt Hermand in seinen Ausführungen<br />

zum Gruppencharakter des Sturm-Kreises bei sehr allgemeinen Formulierungen<br />

stehen. Daher möchte ich in den nachstehenden Überlegungen<br />

dem kunstsoziologischen Ansatz Thurns folgen <strong>und</strong> dessen Analysekategorien<br />

– mit deren Hilfe generelle gruppen- <strong>und</strong> organisationsspezifische<br />

Prozesse bei der Herausbildung von Künstlergemeinschaften untersucht<br />

werden – auf den Kreis um Walden übertragen.<br />

»In auffälliger Weise«, schreibt Thurn, »nehmen im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

<strong>die</strong> Versuche zu, <strong>die</strong> sozialen Nachteile des künstlerischen Solitarismus<br />

eigeninitiativ auszugleichen. Inmitten der verunsichernden Innovationsschübe<br />

der industriellen Zivilisation, des makrostrukturellen Wandels<br />

von Werten, Inhalten <strong>und</strong> Formen bemühen sich etliche (wenngleich<br />

nicht alle) Künstler um eine mikrostrukturelle Konsensbildung.« 4 Die<br />

»Sozialität der Solitären«, so der programmatische Titel Thurns, manifestiert<br />

sich um 1900 vor allem in einer stark wachsenden Anzahl <strong>und</strong><br />

immer schnelleren Bildungen <strong>und</strong> Auflösungen von Künstler-, Dichter-<br />

<strong>und</strong> Bohemègruppierungen, deren Organisations- <strong>und</strong> Institutionalisierungsgrade<br />

sehr unterschiedliche Ausformungen annehmen können. Zu<br />

nennen wären zum Beispiel <strong>die</strong> Gründung des Friedrichshagener Dichterkreises<br />

<strong>und</strong> des George-Kreises (beide um 1890), <strong>die</strong> »Fauves« (1905)<br />

in Paris, »Die Brücke« (1905) in Dresden, »Der Blaue Reiter« (1911) in<br />

München oder <strong>die</strong> Kreise um <strong>Waldens</strong> Sturm <strong>und</strong> Pfemferts Die Aktion<br />

ab 1910/11 in Berlin.<br />

Künstler <strong>und</strong> Schriftsteller erfahren in Gruppen stabilisierende Stützungseffekte,<br />

sie führen Meinungsaustausch <strong>und</strong> arbeiten zum Teil<br />

eng zusammen. Der Zuspruch <strong>und</strong> <strong>die</strong> Kritik Gleichgesinnter fördern<br />

produktive Prozesse. Die Künstler bewegen sich formal <strong>und</strong> inhaltlich<br />

aufeinander zu. Es können sich Gruppenstile herausbilden, denen ein<br />

bestimmter ästhetischer Konsens zugr<strong>und</strong>e liegt. Spannungs- <strong>und</strong> Auflösungsverhältnisse<br />

charakterisieren Künstlergruppen dabei ebenso, wie<br />

Konkurrenz- <strong>und</strong> Konfliktsituationen oftmals nicht vermieden werden<br />

terbünde. Von den Meistersingern bis zum PEN-Club. Köln-Weimar-Wien:<br />

Böhlau 1998.<br />

3 Hermand, Die deutschen Dichterbünde, S. 192-194.<br />

4 Thurn, Die Sozialität der Solitären, S. 290.<br />

47


48<br />

I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

können, <strong>die</strong> in einem komplizierten Geflecht von öffentlicher Aufmerksamkeit<br />

<strong>und</strong> Anerkennung, Ruhmbildung <strong>und</strong> persönlicher Emanzipation<br />

angesiedelt sind, wie Thurn ausführlich darlegt. Es entsteht eine<br />

latente Spannung zwischen Individualität <strong>und</strong> Sozialität, <strong>die</strong> besonders<br />

konfliktanfällig ist. 5<br />

Die »Innenwelt künstlerischer Gemeinschaften« 6 ist durch verschiedene<br />

soziologisch bestimmbare Merkmale <strong>und</strong> Dynamiken gekennzeichnet.<br />

Hierzu zählt Thurn (1) <strong>die</strong> Generierung eines Ursprungsmythos der<br />

jeweiligen Gruppe, eine Entscheidungssituation, aus der heraus ein Kollektiv<br />

Gestalt gewinnt <strong>und</strong> seine Aktionsfähigkeit postuliert. 7 Ein solches<br />

Dokument stellt <strong>die</strong> erste Verlautbarung des Vereins für Kunst dar. Im<br />

Einladungsschreiben an potenzielle Autoren <strong>und</strong> Mitarbeiter zur Konstitution<br />

des Vereins schreibt Walden:<br />

Eine Anzahl Fre<strong>und</strong>e der Kunst haben sich in Berlin zusammengethan,<br />

um den sogenannten »Kunstförderungs-Vereinen« so wie<br />

den Agenturen entgegenzuarbeiten. Diese Unternehmungen fördern<br />

gewöhnlich Mittel- <strong>und</strong> Publikumstalente, oder erschweren durch<br />

hohe Prozente <strong>die</strong> Annäherung zwischen Künstlern u. Genießenden,<br />

statt sie zu erleichtern. Dabei ist der ganze geschäftliche Betrieb keineswegs<br />

so kostspielig u. kompliziert, wie es den Anschein hat.–<br />

Unser Plan ist folgender:<br />

Im nächsten Winter werden in 14tägigem Turnus 14 Abende veranstaltet,<br />

an denen nur wirkliche Künstler mitwirken werden. Jeder<br />

Abend ist nur einer Persönlichkeit gewidmet, u. der Autor soll<br />

selbst seine Werke vortragen, oder höchstens durch einen von ihm<br />

gewählten Rezitator noch unterstützt werden. Auch <strong>die</strong> Auswahl<br />

aus seinen Werken soll dem Dichter oder unter Umständen dem<br />

Tondichter selbst überlassen bleiben. Wir können aus den Einnahmen<br />

dem Autor ein Honorar von 100 Mk gewähren… 8<br />

Sechs Jahre später, im ersten Heft des Sturm, findet sich ebenfalls eine<br />

Absichtserklärung, <strong>die</strong> – im Plural verfasst – unmissverständlich über <strong>die</strong><br />

5 Vgl. Wilhelmi, Künstlergruppen, S. 13.<br />

6 Thurn, Die Sozialität der Solitären, S. 295.<br />

7 Vgl. ebd.<br />

8 Alfred Döblin 1878-1978. Ausst.-Kat. des Dt. Literaturarchivs im Schiller-<br />

Nationalmuseum Marbach a.N. Ausstellung <strong>und</strong> Katalog Jochen Meyer in<br />

Zsarb. m. Ute Doster. München: Kösel 1978, S. 86-88, hier S. 86f.


I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

(noch recht allgemein gehaltenen) Ziele der neu gegründeten Zeitschrift<br />

Auskunft erteilt (Abb. 1):<br />

Zum vierten Male treten wir mit einer neuen Zeitschrift in <strong>die</strong><br />

Öffentlichkeit. Dreimal versuchte man, mit gröbsten Vertragsbrüchen<br />

unsere Tätigkeiten zu verhindern, <strong>die</strong> von den Vielzuvielen<br />

peinlich empf<strong>und</strong>en wird. Wir haben uns entschlossen, unsere eigenen<br />

Verleger zu sein. Denn wir sind noch immer glücklich, glauben<br />

zu können, daß an <strong>die</strong> Stelle des Journalismus <strong>und</strong> des Feuilletonismus<br />

wieder Kultur <strong>und</strong> <strong>die</strong> Künste treten können. 9<br />

Aus <strong>Waldens</strong> Einladungsschreiben von 1904 <strong>und</strong> der programmatischen<br />

Erklärung im Sturm von 1910 geht <strong>die</strong> fortgesetzte Bestrebung hervor,<br />

für <strong>die</strong> ästhetische Moderne in der ersten Dekade des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

einen finanziellen <strong>und</strong> institutionellen Autonomiestatus zu implementieren<br />

<strong>und</strong> in der Ablehnung des wilhelminischen Systems <strong>und</strong> seiner kulturellen<br />

Repräsentanten, ein eigenes Netzwerk der Literaturpräsentation<br />

<strong>und</strong> -distribution aufzubauen. 10 Dabei waren viel Engagement, Eigeninitiative<br />

<strong>und</strong> Kreativität gefragt: »[…] was in der Kunst erreicht ist,<br />

wurde erreicht durch Idealismus, Optimismus <strong>und</strong> Opfereinsichtigkeit.<br />

Noch niemals hat ein Kaufmann oder ein Praktiker Etwas für <strong>die</strong> Kunst<br />

getan, wenn nicht erst Andere unter großen Opfern <strong>die</strong> Initiative ergriffen<br />

haben. [unterstrichen im Original; R. H.]« 11<br />

Neben einer spezifischen Entscheidungssituation ist mit Thurn ebenso<br />

(2) eine bestimmte lokale Situierung anzunehmen, <strong>die</strong> meist als Voraussetzung<br />

für <strong>die</strong> Gründung einer Gruppe eine wichtige Rolle spielt. Um<br />

1900 bilden <strong>die</strong> Metropolen für viele Künstlergruppen Fluchtpunkte.<br />

»Der Horizont, aus dem <strong>die</strong> meisten Künstler-Gemeinschaften erwachsen<br />

<strong>und</strong> auf den hin sie zumindest marktmäßig orientiert sind, ist <strong>die</strong> städtische<br />

Kultur. Bevorzugt werden Großstädte, ja Metropolen aufgesucht, in<br />

denen sich Kontakte knüpfen, Ausstellungen arrangieren <strong>und</strong> Wirkungen<br />

9 Die Schriftleitung der Wochenschrift DER STURM, Zwei Worte. In: Der<br />

Sturm 1 (1910/11), H. 1, S. 1.<br />

10 Vgl. Stephan Füssel, Das Autor-Verleger-Verhältnis in der Kaiserzeit. In:<br />

York-Gothart Mix (Hg.), Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus.<br />

1890-1918. München-Wien: Hanser 2000, S. 137-154 (Hansers Sozialgeschichte<br />

der deutschen Literatur vom 16. Jahrh<strong>und</strong>ert bis zur Gegenwart,<br />

Bd. 7).<br />

11 <strong>Herwarth</strong> Walden an Elisabeth Förster-Nietzsche. Brief vom 25. Juni 1905<br />

(KSW GSA 72/BW 5744, Bl. 14 u. 15).<br />

49


50<br />

Abb. 1<br />

I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts


I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

aller Art entfalten lassen.« 12 Viele Gruppen <strong>und</strong> Zusammenschlüsse zu<br />

Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts sind durch eine rural-urbane Bi-Lokalität<br />

gekennzeichnet 13 , das heißt, sie besitzen ausgezeichnete Kontakte in <strong>die</strong><br />

Städte, gelebt wird aber mit Vorliebe auf dem Land. Ein Beispiel hierfür<br />

ist <strong>die</strong> Worpsweder Künstlerkolonie bei Bremen um Heinrich Vogeler <strong>und</strong><br />

Paula Modersohn-Becker mit ihren zahlreichen Verbindungen nach Berlin,<br />

Paris oder Prag. In der Erinnerungsliteratur zu Walden wird durchweg<br />

dessen großstädtischer Habitus betont. Er sei, so Nell Walden, vollkommen<br />

unempfindlich gegenüber ›Natur‹ oder ›Landschaft‹ gewesen:<br />

»Sich selbst betrachtete er als ganz international. Allenfalls gebrauchte er<br />

den Ausdruck ›Europäer‹ von sich. Er hatte kein Verhältnis zu Völkern<br />

oder Rassen. Seine Begriffe waren: Kunst <strong>und</strong> Künstler…! Geborener<br />

Berliner […], liebte er seine Stadt, <strong>und</strong> <strong>die</strong> drastische, witzige Ausdrucksweise<br />

ihrer Einwohner gefiel ihm sehr.« 14 »Berlin ist <strong>die</strong> Hauptstadt der<br />

Vereinigten Staaten von Europa« 15 , schreibt Walden im Jahr 1923.<br />

2. Historische Synopse: Kurze Me<strong>die</strong>ngeschichte des Sturm<br />

<strong>und</strong> seiner Vorläufer<br />

Versteht man <strong>die</strong> expressionistische Moderne nicht nur als eine subkulturelle<br />

<strong>und</strong> intellektuelle Gruppenbewegung 16 , sondern mit Wilhelm Haefs<br />

auch als eine genuine »Me<strong>die</strong>nbewegung«, so kann konstatiert werden,<br />

dass <strong>die</strong> Zeitschriften dabei das Zentrum <strong>die</strong>ser Avantgardekultur bilden.<br />

17 Zum einen handelt es sich bei den avantgardistischen Zeitschriften<br />

um Me<strong>die</strong>n voller Erneuerungspathos <strong>und</strong> Polemik, deren Zielscheibe<br />

12 Thurn, Die Sozialität der Solitären, S. 296.<br />

13 Ebd.<br />

14 Nell Walden <strong>und</strong> Lothar Schreyer, Der Sturm. Ein Erinnerungsbuch an <strong>Herwarth</strong><br />

Walden <strong>und</strong> <strong>die</strong> Künstler aus dem Sturmkreis. Baden-Baden: Woldemar<br />

Klein 1954, S. 46.<br />

15 <strong>Herwarth</strong> Walden, Neue Reisekopfbücher/1. Berlin. In: Der Sturm 14 (1923),<br />

H. 3, S. 46-48.<br />

16 Zur terminologischen <strong>und</strong> sozialgeschichtlichen Charakterisierung des<br />

Expressionismus als heterogener Bewegung, <strong>die</strong> dem statischen Epochen-<br />

Begriff vorzuziehen ist, vgl. Frank Almai, Expressionismus in Dresden. Zentrenbildung<br />

der literarischen Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts in<br />

Deutschland. Dresden: Thelem 2005, S. 16f.<br />

17 Vgl. Wilhelm Haefs, Zentren <strong>und</strong> Zeitschriften des Expressionismus. In:<br />

Mix, Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus, S. 437-453, hier S. 437.<br />

51


52<br />

I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

nicht nur <strong>die</strong> Autoritäten des kulturellen Establishments des Wilhelminismus<br />

darstellen, sondern in denen auch Konflikte untereinander ausgetragen<br />

<strong>und</strong> ausgehandelt wurden. In <strong>die</strong>sem Sinne <strong>die</strong>nten <strong>die</strong>se Periodika<br />

sowohl der Selbstverständigung als auch als Organe für gruppendynamische<br />

<strong>und</strong> -strategische Inklusions- <strong>und</strong> Exklusionsprozesse:<br />

Man kann sich heute beim besten Willen nicht mehr vorstellen, mit<br />

welcher Erregung wir abends, im Café des Westens oder auf der<br />

Straße vor Gerold an der Gedächtniskirche sitzend <strong>und</strong> bescheiden<br />

abendschoppend, das Erscheinen des Sturm oder der Aktion erwarteten,<br />

nicht so sehr auf den Rausch des Gedrucktseins bedacht als<br />

vielmehr scharf nach der Möglichkeit lugend: mit Worten angegriffen<br />

zu sein, <strong>die</strong> wie Ätzkalk oder Schwefelsäure wirken konnten.<br />

Überall in der Luft lag unheimliche Feindschaft, der wir zu begegnen<br />

hatten. […] Hatten sich schon wieder neue Fronten ergeben?<br />

War ein neuer Überläufer festzunageln? Welches Lager drohte sich<br />

zu spalten? Knisterte es nicht irgendwo im Gebälk einer Fre<strong>und</strong>schaft?<br />

Wer stieg? Wer fiel? 18<br />

Die expressionistischen Zeitschriften stellten darüber hinaus, wie im Zitat<br />

deutlich wird, zusammen mit bestimmten Orten <strong>und</strong> Treffpunkten wie<br />

Cafes, Kabaretts oder Galerien eine alternative Kommunikations- <strong>und</strong><br />

Interaktionssphäre her, <strong>die</strong> mit den etablierten Organen <strong>und</strong> Strukturen<br />

der bürgerlichen Öffentlichkeit nicht verschaltet war. Die Zeitschriften bilden<br />

das Zentrum <strong>die</strong>ses gruppenorientierten Kommunikationssystems. 19<br />

Erste Veröffentlichungen junger <strong>und</strong> unbekannter Autoren, aber auch<br />

Beiträge von etablierten Schreibern erschienen im Sturm. Hierzu gehören<br />

kurze Prosastücke, Fortsetzungsromane, Dramen, lyrische Experimente,<br />

kulturkritische Essays, aber auch architekturtheoretische, soziologische<br />

<strong>und</strong> philosophische Abhandlungen. Neben Satiren <strong>und</strong> Glossen auf den<br />

bürgerlichen Kulturbetrieb <strong>und</strong> seine Chronisten <strong>und</strong> Feuilletonisten, ist<br />

ein weiteres Merkmal der expressionistischen Zeitschriftenkultur eine<br />

inten<strong>die</strong>rte Bi-Medialität, eine Koexistenz von Schrift <strong>und</strong> Bild. »Mul-<br />

18 Alfred Richard Meyer, Über Alfred Lichtenstein <strong>und</strong> Gottfried Benn. In:<br />

Expressionismus. Aufzeichnungen <strong>und</strong> Erinnerungen der Zeitgenossen.<br />

Hrsg. <strong>und</strong> mit Anm. vers. v. Paul Raabe. Olten-Freib. i. Br.: Walter 1965,<br />

S. 55-58, hier S. 55.<br />

19 Vgl. Haefs, Zentren <strong>und</strong> Zeitschriften des Expressionismus, S. 438f.


I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

timediale Aktivitäten« 20 gewinnen in der modernen Zeitschriftenkultur<br />

zwischen 1910 <strong>und</strong> 1920 eine bis dahin nicht gekannte kulturelle Dimension.<br />

»Der Expressionismus hob ja <strong>die</strong> Isolierung der Künste auf« 21 ,<br />

schreibt Oskar Maurus Fontana.<br />

Zunächst noch ganz auf <strong>die</strong> Herausgabe der Zeitschrift fixiert, wird<br />

<strong>die</strong> Tätigkeit des Verlages Der Sturm bald ausgeweitet. Die Verlagsarbeit<br />

ist ab 1912 von der Herausgabe von Originalholzschnitten als Sonderauflagen<br />

geprägt, <strong>die</strong> zuvor im Sturm veröffentlicht wurden. Ab 1914<br />

dominiert <strong>die</strong> Buchproduktion, aber auch Sturm-Künstlerpostkarten <strong>und</strong><br />

Sturm-Bildbücher zu ausgewählten Künstlern wie Paul Klee <strong>und</strong> Kurt<br />

Schwitters gehören zum Repertoire. 22 Es erscheinen in den folgenden<br />

Jahren bis zur Auflösung von Zeitschrift <strong>und</strong> Verlag im Jahr 1932 fast<br />

100 Bücher, größtenteils handelt es sich hierbei um Sturm-Literatur sowie<br />

theoretische Schriften von Sturm-Autoren zu Kunst, Literatur, <strong>Architektur</strong><br />

<strong>und</strong> Theater. 23 Parallel zum Auf- <strong>und</strong> Ausbau des Verlages erfolgt als<br />

weiterer Schritt der Institutionalisierung im März 1912 <strong>die</strong> Eröffnung der<br />

Kunstgalerie mit der ersten Sturm-Ausstellung »Der Blaue Reiter / Franz<br />

Flaum / Oskar Kokoschka / Expressionisten« 24 . Kurze Zeit später, im<br />

April 1912, werden in einer Kollektivausstellung das erste Mal in Berlin<br />

<strong>die</strong> italienischen Futuristen gezeigt. 25<br />

Verb<strong>und</strong>en mit der Gründung der Kunstgalerie artikuliert sich ab 1912<br />

im Sturm eine Institutionskritik, <strong>die</strong> sich gegen traditionsvermittelnde<br />

Einrichtungen der Kunstpräsentation wie Kunstmuseen <strong>und</strong> Akademien,<br />

aber auch gegen <strong>die</strong> exklusorische Praxis moderner Ausstellungsvorhaben<br />

wie <strong>die</strong> des Kölner Sonderb<strong>und</strong>es oder der Sezessionen richtet. In der<br />

Ära des Wilhelminismus »standen sich <strong>die</strong> Akademien <strong>und</strong> <strong>die</strong> Vertreter<br />

der neuen Richtung (Impressionisten, Naturalisten etc.) unversöhnlich<br />

gegenüber. Im Zuge der Generationsablösung waren um 1910 bereits <strong>die</strong><br />

Sezessionen wiederum zu Etablierten geworden, welche <strong>die</strong> Newcomer<br />

20 Anz, Literatur des Expressionismus, S. 40.<br />

21 Oskar Maurus Fontana, Expressionismus in Wien. Erinnerungen. In: Expressionismus.<br />

Aufzeichnungen <strong>und</strong> Erinnerungen, S. 186-191, hier S. 186.<br />

22 Vgl. Paul Klee, Sturm-Bilderbuch III. Berlin: Verlag Der Sturm 1924; Kurt<br />

Schwitters, Sturm-Bilderbuch IV. Mit einem Vorwort von Otto Nebel. Berlin:<br />

Verlag Der Sturm 1924.<br />

23 Zur Arbeit des Verlages vgl. Pirsich, Der Sturm, S. 369-373.<br />

24 Ausst.-Kat. Der Sturm. Der Blaue Reiter. Franz Flaum. Oskar Kokoschka.<br />

Expressionisten. Erste Ausstellung. Berlin 1912.<br />

25 Ausst.-Kat. Der Sturm. Kollektivausstellung: Futuristen. Zweite Ausstellung.<br />

Berlin 1912.<br />

53


54<br />

I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

ausjurierten.« 26 Die jungen Künstler steckten um 1910 in einer doppelten<br />

Zwangslage. Auf der einen Seite war es überaus schwer, überhaupt<br />

Zugang zum Ausstellungswesen zu finden, da etwa <strong>die</strong> Auswahlgremien<br />

für <strong>die</strong> großen Sammlungen von der älteren Künstlergeneration besetzt<br />

gehalten wurden, <strong>die</strong> sich gegen neue Tendenzen sperrten. Auf der anderen<br />

Seite war es ebenfalls nicht einfach, eine ausstellungswillige Privatgalerie<br />

zu finden, <strong>die</strong> sich den neuesten Kunstströmungen verschrieb <strong>und</strong><br />

über entsprechende Kontakte zu potentiellen Käufern verfügte. Die Wege<br />

in <strong>die</strong> Privatgalerien scheiterten nicht nur an der geringen Zahl solcher<br />

Einrichtungen, sondern oftmals lag auch von den jungen Künstlern noch<br />

kein tragfähiges <strong>und</strong> repräsentatives Œuvre vor. 27<br />

Der Sturm veranstaltete in seiner Geschichte mehr als 170 Ausstellungen<br />

in Berlin 28 , zwischen 1912 <strong>und</strong> 1924 werden in mehr als vierzig<br />

Städten des Reichsgebietes <strong>und</strong> in 15 Staaten Sturm-Wanderausstellungen<br />

präsentiert, unter anderem den USA, England <strong>und</strong> Japan. 29 Die ostentative<br />

Internationalität korrespon<strong>die</strong>rte mit der Mitarbeiterstruktur der<br />

Zeitschrift, an der Deutsche, Holländer, Schweden, Russen, Franzosen,<br />

Italiener, Kroaten, Tschechen, Rumänen, Polen <strong>und</strong> Ungarn mitarbeiteten.<br />

Waren <strong>die</strong> ersten Ausstellungen noch von der Übernahme bereits<br />

an anderen Orten zu sehenden Ausstellungen geprägt, offenbart Walden<br />

spätestens 1913 mit dem Ersten Deutschen Herbstsalon 30 , der größten<br />

Ausstellung avantgardistischer Kunst vor dem Ersten Weltkrieg in<br />

Deutschland, ein hohes Maß an Inszenierungsbewusstsein als Ausstellungsregisseur<br />

für <strong>die</strong> Kunst des Kubismus, Futurismus <strong>und</strong> Expressionismus.<br />

Als Kurator <strong>und</strong> Galerist ist Walden in Prozesse des Sammelns,<br />

Klassifizierens <strong>und</strong> Zeigens von künstlerischen Arbeiten involviert, <strong>die</strong><br />

im Vermittlungsprozess nach außen gleichzeitig eine neue Kunst-Öffentlichkeit<br />

konstituieren <strong>und</strong> kulturelle Bedeutungen hervorbringen. 31 Als<br />

26 Wilhelmi, Künstlergruppen, S. 6.<br />

27 Vgl. ebd.<br />

28 Zur Ausstellungschronologie vgl. Pirsich, Der Sturm, S. 671-690.<br />

29 Vgl. <strong>Herwarth</strong> Walden, Einblick in Kunst. Expressionismus, Futurismus,<br />

Kubismus (1917). (3. bis 5. Aufl.) Berlin: Verlag Der Sturm 1924, S. 170f.<br />

30 Zum Programm <strong>und</strong> den ausgestellten Arbeiten des Ersten Deutschen<br />

Herbstsalons vgl. u. a. Mario-Andreas von Lüttichau, Erster Deutscher<br />

Herbstsalon. In: Stationen der Moderne. Die bedeutenden Kunstausstellungen<br />

des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts in Deutschland. Ausst.-Kat. Berlinische Galerie.<br />

Berlin: Nicolai 1988, S. 130-153.<br />

31 Zur Entstehung des modernen Kunstmarktes <strong>und</strong> der Bedeutung des Kurators<br />

vgl. Marion von Osten, Producing Publics – Making Worlds! Zum


I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

Kurator hat Walden <strong>die</strong> Mittel zu entscheiden, welche einzelnen künstlerischen<br />

Positionen <strong>und</strong> Künstlergruppen <strong>und</strong> welche Arbeiten von Künstlern<br />

in den sogenannten »Gesamtschauen« des Sturm präsentiert werden,<br />

er allein sitzt am Hebel des Ein- <strong>und</strong> Ausschlussverfahrens. Die kuratorische<br />

Praxis in den autonom organisierten Räumen des Sturm stellt <strong>die</strong><br />

Macht der herkömmlichen Kunst-Institutionen in Frage <strong>und</strong> schafft <strong>die</strong><br />

Voraussetzungen für eigene Formen der Gegenöffentlichkeit <strong>und</strong> Sichtbarmachung<br />

neuer künstlerischer Ideen.<br />

Richtungweisende Stellungnahmen zum Ausstellungsbetrieb, Eröffnungsreden,<br />

etwa zum erwähnten Ersten Deutschen Herbstsalon 32 , Kommentare<br />

zu Künstlern <strong>und</strong> Künstlergruppen <strong>und</strong> ihrer Rezeption in den<br />

bürgerlichen Feuilletons, unzählige Holzschnitte <strong>und</strong> Werkreproduktionen<br />

finden selbstverständlich Raum in der Zeitschrift. »Die Gründung<br />

der Galerie <strong>und</strong> <strong>die</strong> Verschiebung des Schwerpunktes vom literarischen<br />

zum bildnerisch-künstlerischen, vom deutschsprachig zum international<br />

orientierten Programm bedeuten eine neue Stufe in der Entwicklung.<br />

Netzwerk <strong>und</strong> Wirksamkeit erweitern sich auch für <strong>die</strong> Zeitschrift.« 33<br />

Die Zeitschrift fungiert zum Teil als verlängerter Arm der Galerie <strong>und</strong><br />

wird für den Ausstellungsbetrieb funktionalisiert.<br />

Neben <strong>die</strong>sen Synergieeffekten stellen <strong>die</strong> faltblattartigen <strong>und</strong> durchgängig<br />

nummerierten Sturm-Ausstellungskataloge ab 1912 zugleich eine<br />

gegenüber der Zeitschrift weitgehend unabhängig erscheinende Publikation<br />

dar für <strong>die</strong> Verbreitung von Inhalten der Galerie, <strong>die</strong> sich aus historischer<br />

Perspektive wie ein Archiv der Galeriearbeit lesen lassen. In den<br />

Katalogen werden <strong>die</strong> Ideen der einzelnen Ausstellungen <strong>und</strong> Künstler<br />

zum Teil durch Begleittexte, Manifeste, dem Abdruck einzelner Arbeiten<br />

<strong>und</strong> Werkverzeichnisse zum Argument gebündelt <strong>und</strong> so eine zusätzliche<br />

öffentliche Wirksamkeit geschaffen. Neben der publizistischen Flankierung<br />

der ausgestellten Werke <strong>die</strong>nen sie jedoch auch kommerziellen Zwecken<br />

<strong>und</strong> sollen potentiellen Käufern Orientierung verleihen, wie auch<br />

abgedruckte Preislisten in den Katalogen verdeutlichen.<br />

Verhältnis von Kunstöffentlichkeit <strong>und</strong> Gegenöffentlichkeit. In: Gerald<br />

Raunig <strong>und</strong> Ulf Wuggening, (Hgg.), Publicum. Theorien der Öffentlichkeit.<br />

Wien: Turia + Kant 2005, S. 124-139, hier S. 127-129 (Republicart; 5).<br />

32 <strong>Herwarth</strong> Walden, Erster Deutscher Herbstsalon. Vorrede. In: Der Sturm 4<br />

(1913/14), H. 180/181, S. 106.<br />

33 Alms, Der Sturm – Corporate Identity für <strong>die</strong> internationale Avantgarde,<br />

S. 18.<br />

55


56<br />

I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

Die Kunstgalerie Der Sturm stellt darüber hinaus einen sehr konkreten<br />

Kommunikations- <strong>und</strong> Interaktionsraum dar. Ein Blick in <strong>die</strong> Gästebücher<br />

Nell <strong>und</strong> <strong>Herwarth</strong> <strong>Waldens</strong>, welche zwischen 1913 <strong>und</strong> 1924 in<br />

den Räumen der Galerie ausliegen, belegen, dass sich hier das who is<br />

who der künstlerischen, literarischen <strong>und</strong> baukünstlerischen Avantgarde<br />

der 1910er <strong>und</strong> der frühen 1920er Jahre <strong>die</strong> Klinke in <strong>die</strong> Hand gegeben<br />

hat. 34 Schließlich bietet <strong>die</strong> Galerie auch Raum für <strong>die</strong> ab 1916 halböffentlich<br />

stattfindenden Sturm-Kunstabende, der Fortsetzung der bis 1911<br />

regelmäßig stattgef<strong>und</strong>enen Veranstaltungen des Vereins für Kunst. 35<br />

Nach Schreyers Zählung wurden im Laufe der Jahre etwa 300 Sturm-<br />

Kunstabende vor allem in Berlin, aber auch außerhalb der Reichshauptstadt<br />

durchgeführt 36 , in deren Zentrum <strong>die</strong> Rezitation von Wortkunstwerken<br />

steht.<br />

Der Sturm kann als ein verzweigtes Me<strong>die</strong>nnetzwerk begriffen werden,<br />

das für <strong>die</strong> eigenen Inhalte adäquate Orte der Öffentlichkeit schuf.<br />

Dazu gehörten in erster Linie natürlich <strong>die</strong> Zeitschrift <strong>und</strong> der Verlag,<br />

dessen Produkte in der 1917 gegründeten Sturm-Buchhandlung vertrieben<br />

wurden. Hinzu traten ab 1912 <strong>die</strong> Kunstgalerie <strong>und</strong> <strong>die</strong> erwähnten<br />

Ausstellungskataloge, <strong>die</strong> als Begleitbroschüren <strong>und</strong> Programmhefte zum<br />

Ausstellungsbetrieb konzipiert wurden. Weiterhin sind als Teil der Medialisierungsstrategie<br />

<strong>die</strong> Sturm-Kunstabende zu nennen. Neben der Sturm-<br />

Kunstschule, <strong>die</strong> ab 1916 <strong>die</strong> Lehrbarkeit des im Sturm postulierten<br />

34 Vgl. zu den Gästebüchern Brühl, Der Sturm, S. 331f.<br />

35 Nicht nur <strong>die</strong> August Stramm-Rezitationen Rudolf Blümners werden hier<br />

vorgetragen, sondern in der ersten Vortragssaison 1916/17 kommen auch<br />

Sturm-Dichter wie Adolf Knoblauch <strong>und</strong> Sophie van Leer, aber auch Hermann<br />

Essig zu Wort. Vgl. Sturm-Kunstabende [Selbstanzeige]. In: Der Sturm<br />

7 (1916/17), H. 5, S. 60.<br />

36 Lothar Schreyer schreibt: »Rudolf Blümner sprach wohl an 300 STURM-<br />

Abenden im Laufe der Jahre in Berlin, in vielen Städten Deutschlands <strong>und</strong><br />

manchen des Auslandes. In Berlin sprach er stets in dem kleinen Ausstellungssaal<br />

des STURM, umgeben von den Bildern der STURM-Künstler. Hier<br />

war stets nur ein kleiner Kreis von Zuhörern, 30 bis 100 Menschen, regelmäßig<br />

eine Anzahl von Getreuen, <strong>die</strong> sich immer wieder <strong>die</strong>ser großen Kunst<br />

hingaben. Zu den auswärtigen STURM-Abenden fanden sich meist mehrere<br />

h<strong>und</strong>ert Hörer ein; es war regelmäßig eine Sensation, <strong>die</strong> wir ertragen mussten,<br />

viel <strong>und</strong> meist Unverstand der öffentlichen Meinung.« Lothar Schreyer,<br />

Erinnerungen an Sturm <strong>und</strong> Bauhaus. Mit einer Einleitung von Brian Keith-<br />

Smith. Lewinston u. a.: Edwin Mellen Press 2002 S. 45f. (= Lothar Schreyer<br />

Edition Vol. 12).


I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

Expressionismus-Begriffs kunstübergreifend vor Augen führen soll <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> zu einem »Instrument der Verifizierung der Theorie« 37 wurde, bildeten<br />

<strong>die</strong> Sturm-Bühne zusammen mit der 1918 gegründeten gleichnamigen<br />

Zeitschrift einen weiteren Versuch der Pluralisierung des Me<strong>die</strong>n- <strong>und</strong><br />

Institutionsverb<strong>und</strong>es. Ebenso ist <strong>die</strong> Sturm-Bauabteilung als ein Beleg<br />

dafür zu werten, dass innerhalb des Sturm für alle Künste adäquate<br />

Formen medialer Präsentation gesucht wurden. Anders als alle anderen<br />

Institutionen erlangte <strong>die</strong> Sturm-Bauabteilung jedoch keine Bedeutung in<br />

der Geschichte der Zeitschrift oder über sie hinaus. Es findet sich genau<br />

genommen nur ein einziger Hinweis auf ihre Existenz: Im Jubiläumskatalog<br />

zum zehnjährigen Bestehen der Zeitschrift <strong>und</strong> der 100. Ausstellung<br />

der Kunstgalerie Der Sturm in Berlin im Jahr 1921 heißt es: »Sturm-<br />

Bauabteilung/Walter Krug. Ausstellungsräume eines Geschäftshauses<br />

(Ausgeführt Mai 1921)« 38 .<br />

Der in der Forschung weitgehend unbekannte Kunstmaler Walter<br />

Krug (1880-1950) war im Jahr 1922 kurzzeitig erster Vorsitzender der<br />

1919 von Walden gegründeten »Internationalen Vereinigung der Expressionisten,<br />

Kubisten <strong>und</strong> Futuristen e.V.« 39 , <strong>die</strong> sich ab 1926 unter dem<br />

Einfluss Oskar Nerlingers neu formierte <strong>und</strong> nun den Untertitel »Die<br />

Abstrakten« trug. 40 Diese Tätigkeit gab Krug, der im Sturm einige Artikel<br />

zu politischen <strong>und</strong> ökonomischen Fragen publiziert hat 41 , aus nachvollziehbaren<br />

Gründen bei der nach 1933 geforderten biografischen<br />

Selbstauskunft gegenüber den NS-Behörden nicht an. Aus seiner Akte,<br />

<strong>die</strong> sich im Bestand der »Reichskammer der bildenden Künste, Landesleitung<br />

Berlin« befindet, geht hervor, dass Krug in der Weimarer Republik<br />

als Dekorationsmaler, Konstrukteur <strong>und</strong> Erfinder tätig war. Über seinen<br />

37 Pirsich, Der Sturm, S. 385.<br />

38 Vgl. Ausst.-Kat. 10 Jahre Sturm. Sturm-Gesamtschau. 100. Ausstellung. Berlin<br />

1921, S. 14.<br />

39 Zu den Vereinsunterlagen <strong>und</strong> Sitzungsprotokollen vgl. LArch B. Rep. 042<br />

Nr. 8986, Bl. 21.<br />

40 Zu <strong>die</strong>ser Künstlergruppe, <strong>die</strong> aus einer Sturm-Parallelgründung hervorgegangen<br />

ist, vgl. Heidrun Schröder-Kehler, Vom abstrakten zum politischen<br />

Konstruktivismus. Oskar Nerlinger <strong>und</strong> <strong>die</strong> Berliner Gruppe »Die Abstrakten«<br />

(1919 bis 1933). Heidelberg: Univ. Diss. 1985.<br />

41 Walter Krug, Hohe Politik. In: Der Sturm 13 (1922), H. 10, S. 156; ders.,<br />

Hohe Politik. In: Der Sturm 13 (1922), H. 12, S. 188; ders., Kunst-Währung.<br />

In: Der Sturm 16 (1925), H. 7/8, S. 119-120; ders., Aktive Handelsbilanz. In:<br />

Der Sturm 16 (1925), H. 10, S. 137-140; ders., Von A bis Z. In: Der Sturm<br />

20 (1929), H. 1, S. 1-3.<br />

57


58<br />

Bildungsweg schreibt Krug: »Ausbildung als dekorat. Maler 1897-1901.<br />

Studium: ehm. Kgl. Kunstschule u Kunstgewerbe-Museum 1901-1908<br />

[…] Professoren: Prof. Messel, Baurath Ihne-Geyer-Berben u. a.« 42 Von<br />

einer Tätigkeit als Architekt ist allerdings nicht <strong>die</strong> Rede. Für welches<br />

Geschäftshaus Krug 1921 <strong>die</strong> Ausstellungsarchitektur entworfen hat <strong>und</strong><br />

wie <strong>die</strong>se aussah, konnte nicht ermittelt werden.<br />

2.1 Teloplasma (1901)<br />

I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

Als ein weiteres signifikantes Merkmal im Rahmen von künstlerischen<br />

Gruppenbildungsprozessen, neben einer bestimmten Entscheidungssituation<br />

<strong>und</strong> der lokalen Situierung, nennt Thurn (3) <strong>die</strong> personelle Zentrierung.<br />

»Die Verbindung von lokaler Sammlungskraft, Initiationsbegabung<br />

<strong>und</strong> Präzeptorenrolle verleiht oft einzelnen, seltener zwei oder<br />

mehreren Künstlern eine Positionszentralität, <strong>die</strong> sie zu den eigentlichen<br />

Beherrschern, mindestens aber Motoren der Gemeinschaft macht.« 43<br />

Oskar Kokoschka schreibt: »<strong>Herwarth</strong> Walden war eine Zeitlang Kunstdiktator,<br />

eine dynamische Persönlichkeit <strong>und</strong> uneigennützig. Als absoluter<br />

Vertreter der Moderne hat er es nur für seine Anschauung von Kunst<br />

in wenigen Jahren durchgesetzt, daß alle Variationen der ›Ismen‹ in<br />

Deutschland ernstgenommen wurden.« 44 Walden hatte jedoch nicht nur<br />

für den Sturm <strong>und</strong> den Verein für Kunst eine Positionszentralität inne. Es<br />

lohnt sich, sogar noch einen Schritt weiter zurückzugehen:<br />

Noch lange vor der Gründung des Sturm <strong>und</strong> der Gründung des Vereins<br />

für Kunst startete Walden, der bei Conrad Ansorge Musik stu<strong>die</strong>rt<br />

hatte, im Jahr 1901 mit Else Lasker-Schüler, Samuel Lublinski <strong>und</strong> Peter<br />

Hille sowie weiteren Mitstreitern ein gemeinsames Projekt, das sich in<br />

der Überbrettl-Bewegung verorten lässt: Das »Cabaret für Höhenkunst«<br />

in Berlin, das unter dem eigenwilligen Namen »Teloplasma« firmierte,<br />

gelangte jedoch über zwei Vorstellungen nicht hinaus. 45 Von <strong>die</strong>ser Kurz-<br />

42 LArch A Rep. 243-04/Film Nr. 089.<br />

43 Thurn, Die Sozialität der Solitären, S. 297.<br />

44 Oskar Kokoschka, Mein Leben. Vorw. <strong>und</strong> dokumentarische Mitarb. v.<br />

Remigius Netzer. München: Bruckmann 1971, S. 109.<br />

45 Besonders Sprengel hat auf <strong>die</strong> institutionelle Struktur <strong>und</strong> kulturelle Bedeutung<br />

von »Teloplasma« <strong>und</strong> dessen »hohen Signalwert« (S. 152) für spätere<br />

Unternehmungen <strong>Waldens</strong> aufmerksam gemacht. Vgl. Sprengel, Institutionalisierung<br />

der Moderne, S. 151-156.


I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

lebigkeit abgesehen, stand dem Projekt ein »Directorium« vor, dessen<br />

»Leitung« bei Walden lag, wie aus dem »Prospect« zur Gründung <strong>die</strong>ses<br />

Zusammenschlusses hervorgeht. Eine Anschrift der »Leitung« wurde<br />

potentiell Interessierten ebenso mitgeteilt wie eine Sprechst<strong>und</strong>e <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Adresse des Sekretariats auf der Alexanderstraße 28a, was bereits auf<br />

einen bestimmten Institutionalisierungsgrad verweist. 46<br />

Beide »Teloplasma«-Abende kennzeichnete eine <strong>die</strong> einzelnen Künste<br />

überschreitende Ausrichtung, <strong>die</strong> für alle weiteren kulturellen Aktivitäten<br />

<strong>Waldens</strong> charakteristisch werden sollte. Vor allem <strong>die</strong> auf Richard<br />

Wagner zurückgehende Idee vom Gesamtkunstwerk spielte eine erhebliche<br />

Rolle in den kulturellen Aktivitäten der ›Modernen‹ um 1900. 47<br />

In seiner einflussreichen Züricher Schrift Das Kunstwerk der Zukunft<br />

(1850) vertritt Wagner <strong>die</strong> Ansicht, dass das wahre Kunstwerk den<br />

ganzen Menschen, das heißt seine Sinne, den Verstand <strong>und</strong> den Körper<br />

gleichermaßen ansprechen müsse. Wagners Konzeption besitzt<br />

eine gesellschaftlich-politische, eine anthropologische <strong>und</strong> eine ästhetische<br />

Dimension. Wie in der antiken Polis müsse das »Kunstwerk der<br />

Zukunft« kollektiv produziert wie rezipiert werden. Die griechische<br />

Tragö<strong>die</strong> versteht Wagner als Ausdruck des öffentlichen Bewusstseins<br />

der Gemeinschaft über sich selbst, aber auch als Ausdruck des vollkommenen<br />

Menschen <strong>und</strong> der höchsten Entfaltung der Kunst. Erst wenn im<br />

öffentlichen Akt Tanzkunst, Tonkunst <strong>und</strong> Dichtkunst zusammenwirkten<br />

<strong>und</strong> eine neue Synthese eingehen würden, so Wagner, könne es zur<br />

Vereinigung des Körpers mit dem Verstand <strong>und</strong> dem Gefühl kommen,<br />

wie er es sich für das »Drama der Zukunft«, vorstellte. Wagner proklamiert<br />

<strong>die</strong> Entdifferenzierung der einzelnen Künste zu Gunsten der<br />

Aufhebung der Autonomie <strong>und</strong> Selbstständigkeit von Ton-, Tanz-, <strong>und</strong><br />

Dichtkunst 48 : »Nur aus gleichem, gemeinschaftlichem Drange aller drei<br />

46 Vgl. Teloplasma. Cabaret für Höhenkunst (LAarch A. Pr. Br. Rep. 030-05/<br />

1489, Bl. 15). Alle weiteren Blattzitate <strong>und</strong> Abbildungen zu »Teloplasma«<br />

entstammen <strong>die</strong>ser Akte, <strong>die</strong> von der »Theaterpolizei« der preußischen Zensurbehörden<br />

angelegt wurde. Die Akte befindet sich heute im Landesarchiv<br />

Berlin.<br />

47 Vgl. Frank Trommler, Gesamtkunstwerksideen in Theater <strong>und</strong> <strong>Architektur</strong><br />

um 1900. In: Hans Richard Brittnacher <strong>und</strong> Fabia Stoermer (Hgg.),<br />

Der schöne Schein der Kunst <strong>und</strong> seine Schatten. Bielefeld: Aisthesis 2000,<br />

S. 109-119.<br />

48 Vgl. ausführlich zu Wagners Konzeption Erika Fischer-Lichte, Bayreuth: Das<br />

»Gesamtkunstwerk« – Ein Konzept für <strong>die</strong> Kunst der achtziger Jahre? In:<br />

Maria Moog-Grünewald <strong>und</strong> Christoph Ro<strong>die</strong>k (Hgg.), Dialog der Kün-<br />

59


60<br />

I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

Kunstarten kann aber ihre Erlösung in das wahre Kunstwerk, somit <strong>die</strong>ses<br />

Kunstwerk selbst ermöglicht werden.« 49 Im Kreis um Walden findet<br />

sich ein erster Bezug zu Wagner auf dem Deckblatt des Programmheftes<br />

zum »II. Kunstabend«, welcher der »Erotischen Kunst« gewidmet war.<br />

Hier ist ein merkwürdiges architektonisches Ensemble abgebildet, das<br />

man als eine von abstrakten Naturformen umschlossene Kult- oder Weihestätte<br />

deuten kann. Diese wird rechts <strong>und</strong> links durch zwei kleinere<br />

obelsikenartige Stützen begrenzt. In der Mitte <strong>die</strong>ser freistehenden Maueranlage<br />

befindet sich ein großer vorgelagerter Steinpfeiler. Das Amortissement<br />

des Pfeilers bildet ein Kelch (Abb. 2). Diese Kelchsymbolik, wie<br />

sie gegen Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts vor allem als Leitmotiv im »Parzifal«<br />

(1882) ausgeprägt war, dürfte auf den großen Einfluss von Wagner<br />

auf <strong>Waldens</strong> Denken <strong>und</strong> seine Aktivitäten als Komponist, Musiker <strong>und</strong><br />

Theaterkritiker im Verein für Kunst verweisen, wobei eine Auseinandersetzung<br />

mit Wagners Gedanken in den folgenden Jahren vor allem auf<br />

dem Gebiet der Theaterarchitektur stattfand (siehe unten).<br />

Zum Programm von »Teloplasma«: Peter Sprengel erkennt hierin ein<br />

nicht von der Hand zu weisendes »Ideenchaos der keimenden Moderne«,<br />

in dem sich nietzscheanische Gedanken mit »volkspädagogischen, avantgardistischen<br />

<strong>und</strong> hausbackenen Argumenten« 50 verschränken. Es waren<br />

vor allem <strong>die</strong> Bild-, Ton- <strong>und</strong> Wortkunst, <strong>die</strong> Walden schon in jenen frühen<br />

Jahren des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts zu einer neuen »Höhenkunst« zusammenführen<br />

wollte. Andeutungsweise wird in der Aufzählung der Künste<br />

aber auch schon <strong>die</strong> <strong>Architektur</strong> erwähnt: »Nur Kunst, echte Kunst wird<br />

geboten werden, unsere lebenden <strong>und</strong> toten, fertigen <strong>und</strong> werdenden<br />

Meister, sollen in Wort <strong>und</strong> Ton, im Bild <strong>und</strong> Stein bei uns verlautbar werden,<br />

<strong>und</strong> immer bleibt unser Ziel, unser Endziel: Höhenkunst.« (Bl. 13)<br />

Hier zeigt sich erstmals ein kunstüberschreitender Charakter, der signifikant<br />

für alle weiteren institutionellen <strong>und</strong> publizistischen Aktivitäten<br />

<strong>Waldens</strong> steht. Die Ausrichtung des Vereins für Kunst <strong>und</strong> später des<br />

Sturm verweist bereits auf das Auftreten zahlreicher interdisziplinär arbeitender<br />

Gruppierungen wie den Blauen Reiter, der Novembergruppe oder<br />

das Weimarer Bauhaus. Ohne auf den Inhalt der »Teloplasma«-Abende<br />

ste. Intermediale Fallstu<strong>die</strong>n zur Literatur des 19. <strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />

Frankfurt/M. u. a: Lang 1989, S. 61-74.<br />

49 Richard Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft. In: Sämtliche Schriften <strong>und</strong><br />

Dichtungen. 12 Bde. Volksausgabe. Bd. 3: Das Kunstwerk der Zukunft.<br />

Leipzig: Breitkopf u. Härtel 1911, S. 42-177, hier S. 122.<br />

50 Sprengel, Institutionalisierung der Moderne, S. 154.


I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

61<br />

Abb. 2


62<br />

I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

detailliert eingehen zu wollen 51 , sind weitere Überlegungen aus dem<br />

bereits zitierten »Prospect Teloplasma ›Cabaret für Höhenkunst‹« aufschlussreich<br />

für das kulturelle Verständnis der Gruppe um Walden in den<br />

Jahren 1900/01. In einer Mischung aus Pathos <strong>und</strong> Ironie heißt es:<br />

O heiliger Goethe, wir im modernen Berlin, <strong>die</strong> wir Ueberbrettl<br />

gründen, lassen uns im Traum nicht einfallen, Dir nachzuahmen zu<br />

wollen, wir werden unglaublich froh sein, wenn wir auch nur einen<br />

bescheidenen Zipfel Deines Mantels zu erhaschen bekommen <strong>und</strong><br />

schlicht <strong>und</strong> simpel aus Deinem Faust <strong>die</strong> unsterbliche Lehre herauslesen:<br />

Cabaret <strong>und</strong> Höhenkunst schliessen sich nicht aus. (Bl. 13)<br />

Es soll, so wird einleitend mit Verweis auf das Vorspiel in Goethes Faust<br />

ausgeführt, ein »Stück in Stücken« gegeben:<br />

Der Dramatiker kommt zu Wort nicht mit seinem Gesammtwerk:<br />

nur mit einigen Scenen, ebenso der Epiker, der Erzähler <strong>und</strong><br />

Romanschriftsteller: nur das eine oder andere Kapitel; der dramatische,<br />

der symphonische Tondichter mag zufrieden sein, wenn nur<br />

einige Sätze seiner Werke zum Austönen gelangen, denn auch der<br />

Lyriker begehrt das Wort, auch auf ausgestellte Werke der bildenden<br />

Künste soll hingewiesen werden: alles an einem Abend, freilich<br />

auch alles fragmentarisch, alles Stückwerk, ganz gewiss. Dafür aber<br />

auch Abwechselung, Fülle, bunter Bildertanz, eben das Prinzip des<br />

Cabarets. (Bl. 14)<br />

Ohne <strong>die</strong>se Ausführungen überzubewerten, bleibt festzuhalten, dass<br />

einerseits charakteristische Absichten manifest werden, <strong>die</strong> eine Tendenz<br />

zu Reduktion <strong>und</strong> Fragment <strong>und</strong> damit zur Auflösung geschlossener<br />

Werkformen erkennen lassen. Andererseits ging es Walden bei <strong>die</strong>sem<br />

»Stilprincip« darum, mittels Montage einzelner Fragmente ein synästhetisches<br />

Gesamtkunstwerk zu schaffen. »[G]emäss unserem grossen Vorbild«<br />

– man kann ergänzen: Richard Wagner – gelte es »jeden Abend<br />

zu einem einheitlichen Kunstwerk zu gestalten, durch <strong>die</strong> Einheit der<br />

51 Zum kulturellen Programm der »Teloplasma«-Abende vgl. ausführlich ebd.<br />

S. 152-154. Dazu auch Sigrid Bauschinger, »Ich bin Krieger mit dem Herzen,<br />

er mit dem Kopf«. Else Lasker-Schüler <strong>und</strong> <strong>Herwarth</strong> Walden. In: Gislinde<br />

Seybert (Hg.), Das literarische Paar. Intertextualität der Geschlechterdiskurse.<br />

Bielefeld: Aisthesis 2003, S. 245-256, hier S. 247f.


I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

zu Gr<strong>und</strong>e liegenden Idee <strong>und</strong> Stimmung« (Bl. 14). Da <strong>Waldens</strong> Regie<br />

vorsah, <strong>die</strong> einzelnen Szenen auf der Bühne regelrecht zu montieren,<br />

führte <strong>die</strong>s zu einer beschleunigten Darbietung. Der filmische Ablauf von<br />

»Teloplasma« blieb auch der zeitgenössischen Kritik nicht verborgen. So<br />

spricht ein Rezensent von einer unzumutbaren »kinematographischen<br />

Schnelligkeit« 52 , <strong>die</strong> den Abend ausgezeichnet habe. Andere Theaterkritiker,<br />

zum Beispiel Alfred Kerr, setzen sich ebenfalls kritisch mit <strong>Waldens</strong><br />

Unternehmen auseinander, dessen »Positionszentralität« aber hervorgehoben<br />

wird. Kerrs Artikel evoziert beim Leser zunächst den Eindruck,<br />

als habe der Rezensent einem entzückenden Abend beigewohnt, da er in<br />

eine Welt mit exotisch gekleideten Gästen, schummriger Atmosphäre <strong>und</strong><br />

erotischer Literatur eingetaucht sei. Doch dann heißt es:<br />

Leser, es war ganz anders. Der Saal schien unter der Leitung von<br />

<strong>Herwarth</strong> Waldl [sic] schlecht geheizt. Noch niemals an einem erotischen<br />

Abend war mir so kalt. Waldl, ein Mann in den Zwanzig,<br />

mit friedlicher Seminaristenmähne, spielte einen Sonatensatz von<br />

Schubert, hinderte dann ein Chopinsches Nachtstück an der Entwicklung<br />

des Liebesgehalts. Herr Molenar trug aus dem Heinrich<br />

von Ofterdingen des frühverstorbenen Novalis ein langes, etwas<br />

tumb-schlichtes Märchen vor. […] Rosa Sucher sang. Neben andrem<br />

einen schelmischen Text von Schickaneder. […] Aber schon war<br />

das Unglück hereingebrochen. Die Stimmungslosigkeit im Saal hatte<br />

den Punkt erreicht, wo plötzlich ein leises Lachgebrüll aufschritt… 53<br />

Es ist zu erkennen, dass sich Walden von Beginn an nicht auf eine einzige<br />

Kunstsparte festlegte. Gr<strong>und</strong> hierfür war zum einen <strong>die</strong> Bedeutung, <strong>die</strong> er<br />

im Zuge seiner Wagner- <strong>und</strong> Nietzsche-Rezeption einer gegenwartsbezogenen<br />

<strong>und</strong> vielseitigen Künstlerpersönlichkeit zumaß, <strong>die</strong> den Gegenpol<br />

zum Durchschnittsbürger darstellen sollte. »Aber <strong>die</strong> unbedenkliche Million<br />

deckt ihren Abscheu vor der Wahrheit zu, indem sie den Modernen<br />

für verrückt erklärt. Sie alle glühen für <strong>die</strong> Kunst von vorgestern <strong>und</strong><br />

halten den für wertvoll, der Anerkanntes <strong>und</strong> Bekanntes am deutlichsten<br />

52 [wig] , Teloplasma, Kabaret für Höhenkunst. In: Welt am Sonntag, Nr. 39,<br />

29. September 1901.<br />

53 Alfred Kerr, Teloplasma. In: ders., Gesammelte Schriften. Die Welt im<br />

Drama. 4 Bde. Bd. 4: Eintagsfliegen oder <strong>die</strong> Macht der Kritik. Berlin:<br />

S. Fischer 1917, S. 346-349, hier S. 348f.<br />

63


64<br />

I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

gruppiert.« 54 Ein weiterer Gr<strong>und</strong> für <strong>die</strong> thematische Breite der schon frühesten<br />

Bemühungen, <strong>die</strong> Kunst der »Modernen« zu institutionalisieren,<br />

kann auch auf seine eigenen Mehrfachbegabungen zurückgeführt werden,<br />

<strong>die</strong> er im Laufe der Jahre entwickelte <strong>und</strong> ausbaute. Neben organisatorischen<br />

Talenten, <strong>die</strong> er zweifelsohne besaß, trat Walden – den Döblin<br />

ganz im Sinne der Thurnschen Kategorie der »Positionszentralität«<br />

einen unermüdlichen »Antreiber, Propagator <strong>und</strong> Organisator« 55 nennt –<br />

bis 1909/10 vor allem als Musiker, Komponist <strong>und</strong> Theaterkritiker in<br />

Erscheinung; späterhin als Galerist, Verleger <strong>und</strong> Lehrer an der Kunstschule<br />

Der Sturm. Er schrieb im Laufe der Jahre auch Dramen, Gedichte,<br />

Reiseberichte, kulturkritische Feuilletons <strong>und</strong> verfasste eine große Anzahl<br />

theoretischer Artikel <strong>und</strong> Abhandlungen zu Literatur- <strong>und</strong> Kunsttheorie<br />

des Expressionismus.<br />

Walden hatte <strong>die</strong> »Präzeptorenrolle« bzw. <strong>die</strong> »Positionszentralität«<br />

sowohl bei »Teloplasma« als auch dem Verein für Kunst <strong>und</strong> dem Sturm<br />

vom Anfang bis zum Ende inne. Selbstbewusst kommuniziert <strong>und</strong> repräsentiert<br />

er <strong>die</strong>se Rolle auch nach außen, etwa gegenüber anderen Akteuren<br />

des damaligen Kulturbetriebes, wie dem ersten Geschäftsführer des<br />

Leipziger Insel-Verlags, Rudolf von Poellnitz. Walden forderte von Poellnitz<br />

geradeheraus auf, <strong>die</strong> Prüfung <strong>und</strong> Annahme eines neuen Manuskriptes<br />

zu besorgen, das er – Walden – schon für gut bef<strong>und</strong>en hätte; es<br />

handelt sich hierbei um den später in einem anderen Verlag veröffentlichten<br />

Gedichtband Der siebente Tag (1905) von Lasker-Schüler, auf deren<br />

literarische Qualitäten – wie Walden gegenüber von Poellnitz anmerkt –<br />

bereits Samuel Lublinski in seinem Buch Die Bilanz der Moderne (1904)<br />

aufmerksam gemacht habe:<br />

Meine Frau, Else Lasker-Schüler, dürfte Ihnen als Dichterin vielleicht<br />

schon bekannt sein. Im Jahre 1902 erschien ihr erster Band<br />

Gedichte »Styx« im Verlag von Axel Juncker. Sie hat jetzt einen<br />

neuen Band fertig, der nach meiner Ansicht den anderen künstlerisch<br />

noch weit überragt. Es sind keine erotischen Gedichte im<br />

üblichen Stil der Frauenlyrik, sondern durchaus eigenständige persönliche<br />

Gedichte, wie ich ganz objektiv sagen muss. S. Lublinski<br />

54 Trust [<strong>Herwarth</strong> Walden], Glossen. In: Das Theater 1 (1909), H. 2, S. 42.<br />

55 Alfred Döblin, Autobiographische Schriften <strong>und</strong> letzte Aufzeichnungen. In:<br />

ders., Ausgewählte Werke in Einzelbänden. Begr. v. Walter Muschg. In Verb.<br />

mit den Söhnen des Dichters hrsg. v. Anthony W. Riley. Hrsg. von Edgar<br />

Pässler. Olten: Walter 1980, S. 471.


I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

hat auch in seinem […] soeben erschienen Buch »Die Bilanz der<br />

Moderne« meine Frau sehr anerkennend besprochen. 56<br />

Nach dem gescheiterten Versuch von »Teloplasma« dauerte es nicht<br />

mehr lange, bis Walden mit seinem neuen Projekt, dem Verein für Kunst,<br />

wieder in <strong>die</strong> Öffentlichkeit trat. 57 Um Walden herum etabliert sich,<br />

beginnend mit der Gründung von »Teloplasma« im Jahr 1901, nach<br />

<strong>und</strong> nach ein enger Zusammenhalt von Personen, <strong>die</strong> (4) eine regelrechte<br />

»Kerngruppe« bilden, um eine weitere Kategorie Thurns zu bemühen.<br />

Es sind immer wieder <strong>die</strong>selben Namen, <strong>die</strong> in den kunst- <strong>und</strong> kulturpolitischen<br />

wie publizistischen Unternehmungen <strong>Waldens</strong> in Erscheinung<br />

treten. Zu nennen wären neben Lublinski <strong>und</strong> Lasker-Schüler vor allem<br />

Rudolf Blümner, Salomo Friedlaender (Mynona), Alfred Döblin, Paul<br />

Scheerbart; nach der Gründung des Sturm kommen des Weiteren Lothar<br />

Schreyer, Adolf Behne <strong>und</strong> William Wauer hinzu. Sie alle kamen im ersten<br />

Dezennium des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts neben anderen modernen Literaten,<br />

Komponisten, Architekten, Künstlern <strong>und</strong> Wissenschaftlern immer<br />

wieder im Verein für Kunst zu Wort, der zwischen 1904 <strong>und</strong> 1911 fast<br />

100 Veranstaltungen durchführte. 58<br />

2.2 Verein für Kunst. Nietzsche-Kult<br />

Die genannten Akteure der »Kerngruppe« bringen unter anderem <strong>die</strong><br />

Fähigkeit zu programmatisch-theoretischen Ausführungen mit, <strong>die</strong> Thurn<br />

als weitere Voraussetzung nennt, um von einer Gruppe sprechen zu<br />

56 <strong>Herwarth</strong> Walden an Rudolf von Poellnitz. Brief vom 6. Mai 1904 (KSW<br />

GSA 50/32).<br />

57 Vorbild für <strong>die</strong> Gründung des Berliner Vereins für Kunst dürfte der Wiener<br />

Ansorge-Verein (1903-1910) gewesen sein, der sich Verein für Kunst <strong>und</strong><br />

Kultur nannte. Die Profile des Berliner <strong>und</strong> Wiener Vereins, <strong>die</strong> Kombination<br />

von Dichterlesungen, Musikdarbietungen, Theateraufführungen <strong>und</strong><br />

ästhetischen Debatten, gleichen sich stark. Vgl. zum Wiener Verein für Kunst<br />

<strong>und</strong> Kultur auch Eike Rathgeber <strong>und</strong> Christian Heitler, Der Wiener Ansorge-<br />

Verein 1903-1910 (Verein für Kunst <strong>und</strong> Kultur). In: Heidemarie Uhl (Hg.),<br />

Kultur – Urbanität – Moderne. Differenzierung der Moderne in Zentraleuropa<br />

um 1900. Wien: Passagen-Verl. 1999, S. 383-436 (Stu<strong>die</strong>n zur Moderne<br />

4).<br />

58 Vgl. Trust, Furchtbar dräut der Erbfeind. In: Der Sturm 2 (1911), H. 63,<br />

S. 500.<br />

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