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Mignon, das Lied und das Licht ... - Zwischenakt

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unterschiedlichen Lese­Orten, geistig­seelisch in der Nachvollziehung des Ausbruchs eines Menschen aus den Zwängen eines fremdbestimmten Lebens.„Kennst du <strong>das</strong> Land, wo die Zitronen blühn?“ Der Germanist Max Kommerell sagte in einem Essay einmal, aus <strong>Mignon</strong> singe die Seele selber; genau dies wusste AndreaLetzing mit ihrem warmen Alt zu vermitteln. Sie <strong>und</strong> Burkhard von Puttkamer, kongenial am Klavier begleitet von Philip Mayers, boten in den Konzertteilen höchste<strong>Lied</strong>kultur in der Interpretation der Vertonungen von Franz Schubert, Franz Liszt, Robert Schumann, Ludwig van Beethoven <strong>und</strong> Hugo Wolf. Burkhard von Puttkamerinterpretierte Musik <strong>und</strong> Texte der <strong>Lied</strong>er einfühlsam <strong>und</strong> stimmgewaltig, so etwa den Schlussvers der ersten Strophe des <strong>Lied</strong>es des Harfners „Wer nie sein Brot mitTränen aß“, in dem es heißt „Der kennt euch nicht, ihre himmlischen Mächte“. Die Resignation des Harfners, seine Verbitterung über sein Schicksal <strong>und</strong> <strong>das</strong> Hadern mitihm waren geradezu physisch zu spüren. Der letzte Vers „Denn alle Schuld rächt sich auf Erden“ klang wie eine allgemein­ <strong>und</strong> endgültige Sentenz.„So erbaute der Alte seinen Gast, indem er durch bekannte <strong>und</strong> unbekannte <strong>Lied</strong>er <strong>und</strong> Stellen nahe <strong>und</strong> ferne Gefühle, wachende <strong>und</strong> schlummernde, angenehme <strong>und</strong>schmerzliche Empfindungen in eine Zirkulation brachte, von der in dem gegenwärtigen Zustande unsers Fre<strong>und</strong>es <strong>das</strong> Beste zu hoffen war.“ (Johann Wolfgang von Goethe,Wilhelm Meister, S. 138 f. [Goethe. Hamburger Ausgabe 1973, Band 7]) Ersetzen wir „der Alte“ durch die Namen An­drea Letzing, Philip Mayers <strong>und</strong> Burkhard vonPuttkamer, <strong>und</strong> tun wir ein Übriges <strong>und</strong> setzen „Gast“ <strong>und</strong> „Fre<strong>und</strong>es“ in den Plural, so finden wir, <strong>das</strong>s Goethe die Wirkung dieses Jahresausklangs­Konzerts ziemlichgenau beschrieben hat.Die direkte Gegenüberstellung der verschiedenen Vertonungen war einer der großen Gewinne dieser Tagungskonzerte <strong>und</strong> ist in dieser Weise nicht häufig zu hören. Einweiterer großer Vorzug waren die musiktheoretischen Referate von Professor Oliver Korte von der Musikhochschule Lübeck, die dem musikinteressierten Auditoriumdie Vertonungsstrategien der verschiedenen Komponisten nahe brachten. Dies geschah in im Wortsinn anschaulicher Weise, wenn er im Laufe seines power­pointgestütztenVortrags auch visuell etwa besondere Intervalle, Tonartenwechsel, Phrasengestaltungen, Modulationsbreiten, Melodiebehandlung darstellte <strong>und</strong> sieinterpretierte. Als ein Beispiel seien hier nur die „Haupt­Wörter“ benannt, die ein Komponist aus dem Text als besonders wesentlich auswählt <strong>und</strong> durch Tonhöhe,Dynamik oder andere Kunstgriffe musikalisch hervorhebt. Dies konnten die Tagungsgäste dann auch akustisch nachvollziehen, wenn Professor Korte selbst am Flügeleinzelne Passagen vorspielte, oder wenn er die entsprechende CD zu Gehör brachte. Interessant waren auch die Unterschiede beispielsweise zwischen Carl FriedrichZelter <strong>und</strong> Franz Schubert. Während der erstere die <strong>Lied</strong>teile strophisch strukturierte, d.h. die Vertonung einer Strophe in der oder den nächsten musikalisch identischwiederholte, komponierte der letztere den gesamten Text durch, so <strong>das</strong>s die einzelnen Strophen mit Einleitungen <strong>und</strong> Übergängen individuell vertont sind. Dass Goethe dievon Zelter verwendete Struktur besser gefiel, da sie seinem Text sozusagen demütig dient, ihm jedenfalls stets den Vorrang einräumt, ist menschlich verständlich, auchwenn man der engen Fre<strong>und</strong>schaft zu Zelter in diesem Zusammenhang keine Bedeutung zumisst. Die Konkurrenz der Schubertschen Musik zu seinen eigenen Textenschien Goethe doch zu gefährlich; er lehnte Schubert ab.Zu den musiktheoretischen Erläuterungen gesellten sich die literaturwissenschaftlichen. So zeichnete Dr. Wiebke Amthor, Freie Universität Berlin, die Rezeption derrätselvollen Figur der <strong>Mignon</strong> nach. Schiller hatte Goethe während der Lektüre von Wilhelm Meister 1796 geschrieben: „Aus der Masse der Eindrücke, die ichempfangen, ragt mir <strong>Mignon</strong>s Bild am stärksten hervor ... <strong>das</strong> <strong>Lied</strong> bewegte mich so tief, daß ich den Eindruck nachher nicht mehr auslöschen konnte.“ Und an Körner:„Es ist himmlisch, es geht nichts darüber.“ Schiller bezieht sich hier auf <strong>das</strong> letzte <strong>Lied</strong> der <strong>Mignon</strong> „So laßt mich scheinen, bis ich werde“, <strong>das</strong> Andrea Letzing in derVertonung von Robert Schumann im Jahresausklangskonzert bewegend interpretierte. <strong>Mignon</strong> wurde auch von Romantikern als charakteristische Figur ihrerpoetologischen Entwürfe gesehen. Sie ist durch ihr geheimnisumwittertes Dasein, ihre schwarzen Locken <strong>und</strong> Augen, ihre bräunliche Gesichtsfarbe, ihr Sprachgemisch ausromanischen Idiomen ein Sinnbild des romantischen Sehnsuchtsraums Italien. Sie spricht weniger in Worten als in <strong>Lied</strong>ern, die sie zur Gitarre oder Zither singt. Dieses Bildhat vor allem um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende, aber auch darüber hinaus zu einer Produktion zahlreicher Postkarten mit <strong>Mignon</strong>­Abbildungen geführt, auf der diese rätselhafteFigur etwa als <strong>das</strong> kindhafte Wesen, als <strong>das</strong> Wilhelm Meister es kennen lernt, als exotisch anmutende junge Frau, als Zigeunerin dargestellt ist. Aus der schieren Mengedieser Postkarten kann geschlossen werden, welche Anziehungskraft von der Figur der <strong>Mignon</strong> ausging. Dr. Amthor, die Beispiele dieser Darstellungen zeigte, machte inihrem Vortrag die Nachhaltigkeit der von Goethe kreierten Kunstfigur deutlich.Der Literaturwissenschaftler Dr. Hendrik Hellersberg hielt seinen Fachvortrag unter dem Titel „Das schöne Bild der ganzen Welt“ – <strong>Mignon</strong> – <strong>Lied</strong>er in Kontext desRomans. In einer Situation, in welcher der Harfner endgültigen Abschied von Wilhelm Meister nehmen will, singt der Harfner von dem schönen Bild der ganzen Welt, <strong>das</strong>über dem „schuld’gen Haupte“ des Harfners zusammenbricht, dieses „schöne Bild der ganzen Welt“ steht für <strong>Mignon</strong> <strong>und</strong> ihren Vater, den Harfner, als unerreichbarerPunkt in weiter Ferne. Diese beiden, deren Geheimnis erst spät im Roman bekannt wird, singen von Leid, Schicksal, Schuld <strong>und</strong> Sehnsucht. Der Harfner singt aber auchein Lob auf den Gesang, preist <strong>das</strong> Glück der Sänger <strong>und</strong> ermahnt die Menschen, sie zu ehren. Die fröhlichen <strong>Lied</strong>er des Harfners werden im Roman zwar erwähnt, abervon Wilhelm nicht wiedergegeben; lediglich die Ballade vom Sänger bei Hofe – „Was hör’ ich draußen vor dem Tor, / Was auf der Brücke schallen?“ – dessendialogischer Charakter von Burkhard von Puttkamer übrigens virtuos herausgearbeitet wurde, erscheint vollständig. Die <strong>Lied</strong>er im „Wilhelm Meister“, so oft vertont, siewaren auch ein Gr<strong>und</strong> dafür, <strong>das</strong>s die Romantiker den Roman priesen, vertraten sie doch die Theorie, <strong>das</strong>s ein Roman auch von Poesie durchdrungen sein müsse, <strong>das</strong>s die„Diskurse“, wie heute formuliert werden würde, zu mischen seien.Professor Klaus Feßmann – er ist es übrigens, der die Silvestertagungen der Evangelischen Akademie Tutzing initiiert hat – führte die Tagungsteilnehmer einerseits ins„Ohrenlicht“, andererseits in <strong>das</strong> „Land der dunklen Frühe“. Das Ohrenlicht: „Überirdische Klänge“, „Himmelsmusik“ – häufig werden diese <strong>und</strong> ähnliche Ausdrückebemüht, um ein außergewöhnliches musikalisches Erleben in Worte zu fassen. Dazu gehören die sphärenhaften Tonfarben, die Professor Feßmann seinen Klangsteinen mitseinen magisch anmutenden Händen entlockt; sie versetzten <strong>das</strong> Auditorium gleich zu Beginn der Tagung, in morgendlicher Meditation <strong>und</strong> immer wieder zwischendurch inmystische Stimmungen. In dem Improvisationskonzert für Stimmen, Klavier <strong>und</strong> Klangstein fügten sich alle musikalischen Elemente zusammen mit der Textlesung vonSilvina Buchbauer zu einem faszinierenden, so nur in Tutzing zu erlebenden Musik­Ereignis zusammen. – Das „Land der dunklen Frühe“: Die Geschichte des Klangs, derKlang der Elemente, Beziehungen zwischen Klang <strong>und</strong> Stein <strong>und</strong> schließlich die Historie von der Schönen Lau von Eduard Mörike waren Gegenstände des Vortrags vonProfessor Feßmann, den er auch als Einführung zu einer Tauchfahrt in die Blauhöhle auf der Schwäbischen Alb konzipiert hatte. Professor Feßmann stellte <strong>Mignon</strong> ineine Reihe mit der Diotima bei Hölderlin, der Yamin bei Peter Härtling – wie Hölderlin <strong>und</strong> Feßmann ein schwäbischer Nürtinger –, <strong>und</strong> mit der Schönen Lau bei Mörike.„Im Tunnel der Jahre“: Die Geschichte der Agnes Schmidt, die am Ende ihres Lebens erkennt <strong>und</strong> wird, die sie ist, die Geschichte der <strong>Mignon</strong> <strong>und</strong> des Harfners, die ihreIdentitäten nicht preisgeben <strong>und</strong> in aller Abweichung von den sie umgebenden Normen authentische Menschen bleiben, wurde in dieser Gesprächsr<strong>und</strong>e am Silvester­Nachmittag in den Kontext von Sentenzen von Arthur Schopenhauer gestellt, die den Teilnehmern schriftlich vorlagen. Es ergaben sich ebenso ernsthafte wie anregendeDiskussionsbeiträge <strong>und</strong> Gespräche.Den Silvesterabend leitete <strong>das</strong> lukullische Buffet ein, <strong>das</strong> die Küche mit viel Fantasie <strong>und</strong> Liebe zum Detail zubereitet hatte <strong>und</strong> <strong>das</strong> die Hauswirtschaft in festlichemRahmen präsentierte.Nach soviel Bedeutungsschwere der Tagung war am Silvesterabend <strong>das</strong> „Heitere Musikprogramm in den Salons des Schlosses“ angesagt. Burkhard von Puttkamer <strong>und</strong>Philip Mayers brachten es fertig, nach dem dichten <strong>und</strong> sicher auch anstrengenden Programm der ersten beiden Tage mit Charme, Stimmgewalt <strong>und</strong> energischemAnschlag italienische Opernarien der Sorte „Ohrwurm“ zu schmettern <strong>und</strong> zu spielen. Sogar zum Tanzen animierten sie die Gäste, <strong>und</strong> kaum ist vorstellbar, <strong>das</strong>s eineausgedehnte Tanzfläche <strong>und</strong> eine gut bestückte Band mehr Frohsinn hervorlocken könnten als die drei bis vier Quadratmeter vor dem Flügel im Vorraum der Salons <strong>und</strong>die beiden Animateure von Puttkamer <strong>und</strong> Mayers. Kein W<strong>und</strong>er, <strong>das</strong>s bei dem alten Schlager „O Donna Clara...“ der Comedian Harmonists die ganze Gesellschaftmitsang (um für die von den Tagungs­ <strong>und</strong> Festgästen abgesonderten Töne einen möglichst neutralen Ausdruck zu verwenden). Silvina Buchbauer sang den Titel „Ich binso unmusikalisch“ von Erich Meder/Alexander Steinbrecher <strong>und</strong> lieferte anschließend noch ein kabarettistisches Kabinettstück ihrer Schauspielkunst, als sie, begleitet vonBoris Bergmann am Klavier, im Couplet „Im Theater ist nichts los“ von Georg Kreisler nacheinander die Französin, Wienerin, Ungarin, Berlinerin mimte, um dem „HerrnDirektor“ zu gefallen <strong>und</strong> die ersehnte Rolle zu bekommen.So wurde <strong>das</strong> alte Jahr verabschiedet. Pfarrer Dr. Jochen Wagner gestaltete den Gottesdienst am Neujahrsmorgen mit einer ebenso tiefgehenden wie humorvollenExegese der Worte aus Prediger Salomo Kap. 3, Vers 1 ff. mit dem Thema „Alles hat seine Zeit“. – Auf diese Weise gestärkt begaben sich die Tagungsgäste in dieRot<strong>und</strong>e zur Schlussr<strong>und</strong>e, über der bereits eine gewisse Abschiedstrauer lag. Aber: Eine Sommertagung des Teams um Professor Feßmann <strong>und</strong> Burkhard von


so unmusikalisch“ von Erich Meder/Alexander Steinbrecher <strong>und</strong> lieferte anschließend noch ein kabarettistisches Kabinettstück ihrer Schauspielkunst, als sie, begleitet vonBoris Bergmann am Klavier, im Couplet „Im Theater ist nichts los“ von Georg Kreisler nacheinander die Französin, Wienerin, Ungarin, Berlinerin mimte, um dem „HerrnDirektor“ zu gefallen <strong>und</strong> die ersehnte Rolle zu bekommen.So wurde <strong>das</strong> alte Jahr verabschiedet. Pfarrer Dr. Jochen Wagner gestaltete den Gottesdienst am Neujahrsmorgen mit einer ebenso tiefgehenden wie humorvollenExegese der Worte aus Prediger Salomo Kap. 3, Vers 1 ff. mit dem Thema „Alles hat seine Zeit“. – Auf diese Weise gestärkt begaben sich die Tagungsgäste in dieRot<strong>und</strong>e zur Schlussr<strong>und</strong>e, über der bereits eine gewisse Abschiedstrauer lag. Aber: Eine Sommertagung des Teams um Professor Feßmann <strong>und</strong> Burkhard vonPuttkamer über Heinrich Heine wurde angekündigt, <strong>und</strong>: Die Silvestertagungen werden fortgeführt. Man atmete auf.

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