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VfZ-Rezensionen in den sehepunkten - Institut für Zeitgeschichte

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<strong>VfZ</strong>-<strong>Rezensionen</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong> <strong>sehepunkten</strong><br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen. ............................... 14<br />

Evelyne A. A<strong>den</strong>auer: „In elfter Stunde“. Hermann Hoffmann und se<strong>in</strong> Engagement <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e<br />

deutsch-polnische Verständigung und die Ökumene <strong>in</strong> der Zwischenkriegszeit<br />

Rezensiert von Matthias Lempart............................................... 14<br />

Robert Allertz: Die RAF und das MfS. Fakten und Fiktionen. In Zusammenarbeit mit Gerhard<br />

Neiber<br />

Rezensiert von Tobias Hof ................................................... 17<br />

Mart<strong>in</strong> Aust/Daniel Schönpflug (Hrsg.): Vom Gegner lernen. Fe<strong>in</strong>dschaften und<br />

Kulturtransfers im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts<br />

Rezensiert von Patrick Bernhard............................................... 20<br />

Theresia Bauer u.a. (Hrsg.): Gesichter der <strong>Zeitgeschichte</strong>. Deutsche Lebensläufe im 20. Jahrhundert<br />

Rezensiert von Klaus-Dietmar Henke ........................................... 23<br />

Wolfgang Benz: Auftrag Demokratie. Die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik und die<br />

Entstehung der DDR 1945–1949<br />

Rezensiert von Heike Amos .................................................. 25<br />

Ralph Bless<strong>in</strong>g: Der mögliche Frie<strong>den</strong>. Die Modernisierung der Außenpolitik und die<br />

deutsch-französischen Beziehungen 1923–1929 (= Pariser Historische Studien; Bd. 76)<br />

Rezensiert von Wolfgang Elz ................................................. 27<br />

Friedhelm Boll/Anja Kruke (Hrsg.): Der Sozialstaat <strong>in</strong> der Krise. Deutschland im<br />

<strong>in</strong>ternationalen Vergleich<br />

Rezensiert von E. P. Hennock................................................. 29<br />

Daniel Cohn-Bendit/Rüdiger Dammann (Hrsg.): 1968. Die Revolte<br />

Gerd Koenen/Andreas Veiel: 1968. Bildspur e<strong>in</strong>es Jahres<br />

Wolfgang Kraushaar: Achtundsechzig. E<strong>in</strong>e Bilanz<br />

Re<strong>in</strong>hard Mohr: Der diskrete Charme der Rebellion. E<strong>in</strong> Leben mit <strong>den</strong> 68ern<br />

Albrecht von Lucke: 68 oder neues Biedermeier. Der Kampf um die Deutungsmacht<br />

Ingrid Gilcher-Holtey: 1968. E<strong>in</strong>e Zeitreise<br />

Norbert Frei: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest<br />

Stefan Wolle: Der Traum von der Revolte. Die DDR 1968<br />

Rezensiert von Udo Wengst .................................................. 32


2 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Daniele Ganser: Nato-Geheimarmeen <strong>in</strong> Europa. Inszenierter Terror und verdeckte<br />

Kriegsführung. Mit e<strong>in</strong>em Vorwort von Georg Kreis. Aus dem Englischen übersetzt von<br />

Carsten Roth<br />

Rezensiert von Tobias Hof ................................................... 38<br />

Dietmar Grypa/Barbara Höglmeier/Barbara Zeitelhack (Hrsg.): Umbrüche. Leben <strong>in</strong> Neuburg<br />

und Umgebung 1918 bis 1948. Ausstellung des Stadtmuseums Neuburg an der Donau vom<br />

28. März bis 5. Oktober 2008<br />

Rezensiert von Thomas Götz.................................................. 41<br />

Rüdiger Hachtmann: Tourismus-Geschichte (= Grundkurs Neue Geschichte)<br />

Rezensiert von Patrick Bernhard............................................... 44<br />

Peter Hübner/Christa Hübner: Sozialismus als soziale Frage. Sozialpolitik <strong>in</strong> der DDR<br />

und Polen 1968–1976. Mit e<strong>in</strong>em Beitrag von Christoph Boyer zur Tschechoslowakei<br />

(= Zeithistorische Studien; Bd. 45)<br />

Rezensiert von Silke Röttger.................................................. 46<br />

Christian Lotz: Die Deutung des Verlusts. Er<strong>in</strong>nerungspolitische Kontroversen im geteilten<br />

Deutschland um Flucht, Vertreibung und die Ostgebiete (1948–1972) (= Neue Forschungen<br />

zur Schlesischen Geschichte; Bd. 15)<br />

Rezensiert von Michael Schwartz .............................................. 49<br />

Leonid Luks: Zwei Gesichter des Totalitarismus. Bolschewismus und Nationalsozialismus im<br />

Vergleich. 16 Skizzen<br />

Rezensiert von Thomas Widera................................................ 52<br />

Jürgen Mittag: Kle<strong>in</strong>e Geschichte der Europäischen Union. Von der Europaidee bis zur<br />

Gegenwart<br />

Rezensiert von Veronika Heyde................................................ 55<br />

Lucia Scherzberg (Hrsg.): Vergangenheitsbewältigung im französischen Katholizismus und<br />

deutschen Protestantismus. In Zusammenarbeit mit Werner Müller<br />

Rezensiert von Anke Silomon................................................. 57<br />

Stephan Schlak: Wilhelm Hennis. Szenen e<strong>in</strong>er Ideengeschichte der Bundesrepublik<br />

Rezensiert von Marcus M. Payk ............................................... 60<br />

Manuel Schramm: Wirtschaft und Wissenschaft <strong>in</strong> DDR und BRD. Die Kategorie Vertrauen<br />

<strong>in</strong> Innovationsprozessen (= Wirtschafts- und Sozialhistorische Studien; Bd. 17)<br />

Rezensiert von Andreas Malycha............................................... 63<br />

Annette Schuhmann (Hrsg.): Vernetzte Improvisationen. Gesellschaftliche Subsysteme <strong>in</strong><br />

Ostmitteleuropa und <strong>in</strong> der DDR (= Zeithistorische Studien; Bd. 42)<br />

Rezensiert von Georg Wagner-Kyora............................................ 66<br />

Verena Schöberl: „Es gibt e<strong>in</strong> großes und herrliches Land, das sich selbst nicht kennt ... Es<br />

heißt Europa“. Die Diskussion um die Paneuropaidee <strong>in</strong> Deutschland, Frankreich und<br />

Inhaltsverzeichnis


3 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Großbritannien 1922–1933 (= Gesellschaftspolitische Schriftenreihe der Begabtenförderung<br />

der Konrad-A<strong>den</strong>auer-Stiftung e.V.; Bd. 2)<br />

Rezensiert von Manfred Kittel................................................. 69<br />

Krijn Thijs: Drei Geschichten, e<strong>in</strong>e Stadt. Die Berl<strong>in</strong>er Stadtjubiläen von 1937 und 1987<br />

(= Zeithistorische Studien; Bd. 39)<br />

Rezensiert von Detlev Brunner ................................................ 71<br />

Matthias Uhl: Die Teilung Deutschlands. Niederlage, Ost-West-Spaltung und Wiederaufbau<br />

1945–1949, (= Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert; Bd. 11)<br />

Rezensiert von Heike Amos .................................................. 74<br />

Alena Wagnerová (Hrsg.): Hel<strong>den</strong> der Hoffnung – die anderen Deutschen aus <strong>den</strong> Sudeten<br />

1938–1989<br />

Rezensiert von Raimund Paleczek .............................................. 76<br />

Jens Wegener: Die Organisation Gehlen und die USA. Deutsch-amerikanische Geheimdienstbeziehungen,<br />

1945–1949<br />

Rezensiert von Arm<strong>in</strong> Wagner................................................. 79<br />

Stefan Zahlmann: Autobiographische Verarbeitungen gesellschaftlichen Scheiterns. Die<br />

Eliten der amerikanischen Südstaaten nach 1865 und der DDR nach 1989<br />

Rezensiert von Arnd Bauerkämper.............................................. 82<br />

Erster Weltkrieg und Weimarer Republik ...................................... 85<br />

Ralph Bless<strong>in</strong>g: Der mögliche Frie<strong>den</strong>. Die Modernisierung der Außenpolitik und die<br />

deutsch-französischen Beziehungen 1923–1929<br />

Rezensiert von Wolfgang Elz ................................................. 85<br />

William Mulligan: The Creation of the Modern German Army. General Walther Re<strong>in</strong>hardt<br />

and the Weimar Republic, 1914–1930 (= Monographs <strong>in</strong> German History; Vol. 12)<br />

Rezensiert von Rüdiger Bergien ............................................... 87<br />

Michael Schultheiß/Julia Roßberg (Hrsg.): Weimar und die Republik. Geburtsstunde e<strong>in</strong>es<br />

demokratischen Deutschlands<br />

Rezensiert von Wolfgang Elz ................................................. 90<br />

Peter Tauber: Vom Schützengraben auf <strong>den</strong> grünen Rasen. Der Erste Weltkrieg und die<br />

Entwicklung des Sports <strong>in</strong> Deutschland (= Studien zur Geschichte des Sports; Bd. 3)<br />

Rezensiert von Peter Lieb.................................................... 92<br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg ..................................... 94<br />

Petra Fuchs/Maike Rotzoll/Ulrich Müller u.a. (Hrsg.): „Das Vergessen der Vernichtung ist<br />

Teil der Vernichtung selbst“. Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen<br />

‚Euthanasieʻ<br />

Inhaltsverzeichnis


4 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Ernst Berger (Hrsg.): Verfolgte K<strong>in</strong>dheit. K<strong>in</strong>der und Jugendliche als Opfer der NS-<br />

Sozialverwaltung<br />

Rezensiert von Annette Eberle................................................. 94<br />

Konstanze Braun: Dr. Otto Georg Thierack (1889–1946) (= Rechtshistorische Reihe; Bd. 325)<br />

Rezensiert von Jürgen Zarusky ................................................ 98<br />

Mart<strong>in</strong> L. Davies/Claus-Christian W. Szejnmann (eds.): How the Holocaust Looks Now:<br />

International Perspectives<br />

Rezensiert von Anna Hájková................................................. 101<br />

Shalom Eilati: Cross<strong>in</strong>g the River. Aus dem Hebräischen übersetzt von Vern Lenz<br />

Rezensiert von Edith Raim ................................................... 104<br />

Gianluca Falanga: Mussol<strong>in</strong>is Vorposten <strong>in</strong> Hitlers Reich. Italiens Politik <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> 1933–<br />

1945<br />

Rezensiert von Patrick Bernhard............................................... 108<br />

Monica Fioravanzo: Mussol<strong>in</strong>i e Hitler. La Repubblica sociale sotto il Terzo Reich<br />

Rezensiert von Amedeo Osti Guerrazzi.......................................... 111<br />

Stefan Geck: Dulag Luft – Auswertestelle West. Vernehmungslager der Luftwaffe <strong>für</strong><br />

westalliierte Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg (= Europäische Hochschulschriften,<br />

Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften; Bd. 1057)<br />

Rezensiert von Felix Römer .................................................. 113<br />

Eleonor Hancock: Ernst Röhm. Hitler’s SA Chief of Staff<br />

Rezensiert von Bastian He<strong>in</strong>.................................................. 116<br />

Johannes Ibel (Hrsg.): E<strong>in</strong>vernehmliche Zusammenarbeit? Wehrmacht, Gestapo, SS und<br />

sowjetische Kriegsgefangene<br />

Rezensiert von Andreas Hilger ................................................ 119<br />

Stefan Karner/Othmar Pickl (Hrsg.): Die Rote Armee <strong>in</strong> der Steiermark. Sowjetische<br />

Besatzung 1945 (= Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-<strong>Institut</strong>s <strong>für</strong> Kriegsfolgen-<br />

Forschung, Graz/Wien/Klagenfurt; Sonderband 8)<br />

Rezensiert von Andreas Hilger ................................................ 122<br />

Malte König: Kooperation als Machtkampf. Das faschistische Achsenbündnis Berl<strong>in</strong>–Rom<br />

im Krieg 1940/41 (= Italien <strong>in</strong> der Moderne; Bd. 14)<br />

Rezensiert von MacGregor Knox............................................... 125<br />

Leonid Luks: Zwei Gesichter des Totalitarismus. Bolschewismus und Nationalsozialismus im<br />

Vergleich. 16 Skizzen<br />

Rezensiert von Thomas Widera................................................ 128<br />

Bogdan Musial: Kampfplatz Deutschland. Stal<strong>in</strong>s Kriegspläne gegen <strong>den</strong> Westen<br />

Rezensiert von Bert Hoppe................................................... 131<br />

Inhaltsverzeichnis


5 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Richard Overy: Die letzten zehn Tage. Europa am Vorabend des Zweiten Weltkriegs.<br />

24. August bis 3. September 1939. Aus dem Englischen von Klaus B<strong>in</strong>der<br />

Rezensiert von Leonid Luks .................................................. 134<br />

Terry Parss<strong>in</strong>en: Die vergessene Verschwörung. Hans Oster und der militärische Widerstand<br />

gegen Hitler<br />

Rezensiert von Klaus Michaelis................................................ 138<br />

Karl-Theodor Schleicher/He<strong>in</strong>rich Walle (Hrsg.): Aus Feldpostbriefen junger Christen 1939–<br />

1945. E<strong>in</strong> Beitrag zur Geschichte der Katholischen Jugend im Felde. Mit e<strong>in</strong>em Vorwort des<br />

Katholischen Militärbischofs Walter Mixa (= Historische Mitteilungen; Bd. 60)<br />

Rezensiert von Felix Römer .................................................. 140<br />

Jan Erik Schulte (Hrsg.): Die SS, Himmler und die Wewelsburg (= Schriftenreihe des<br />

Kreismuseums Wewelsburg; Bd. 7)<br />

Rezensiert von Bastian He<strong>in</strong>.................................................. 143<br />

Sergej S. Sluč (Hrsg.): SSSR, Vostočnaja Evropa i Vtoraja mirovaja vojna 1939–1941.<br />

Diskussii, kommentarii, razmyšlenija [Die UdSSR, Osteuropa und der Zweite Weltkrieg<br />

1939–1941. Diskussionen, Kommentare, Überlegungen]<br />

Rezensiert von Viktor Knoll .................................................. 146<br />

Kev<strong>in</strong> P. Spicer: Hitler’s Priests. Catholic Clergy and National Socialism<br />

Rezensiert von Christoph Kösters .............................................. 151<br />

Nathan Stoltzfus/Henry Friedlander (eds.): Nazi Crimes and the Law (= Publications of the<br />

German Historical <strong>Institut</strong>e Wash<strong>in</strong>gton D.C.)<br />

Rezensiert von Edith Raim ................................................... 154<br />

Feliks Tych/Alfons Kenkmann/Elisabeth Kohlhaas/Andreas Eberhardt (Hrsg.): K<strong>in</strong>der über<br />

<strong>den</strong> Holocaust. Frühe Zeugnisse 1944-1948. Interviewprotokolle der Zentralen Jüdischen<br />

Historischen Kommission <strong>in</strong> Polen<br />

Rezensiert von Giles Bennett.................................................. 158<br />

Wolfram Wette/Detlef Vogel (Hrsg.): Das letzte Tabu. NS-Militärjustiz und „Kriegsverrat“.<br />

Unter Mitarbeit von Ricarda Berthold und Helmut Kramer. Mit e<strong>in</strong>em Vorwort von Manfred<br />

Messerschmidt<br />

Rezensiert von Jürgen Zarusky ................................................ 160<br />

Michael Wildt: Geschichte des Nationalsozialismus (= Grundkurs Neue Geschichte)<br />

Rezensiert von Bernhard Gotto................................................ 164<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte ............................. 167<br />

Robert Allertz: Die RAF und das MfS. Fakten und Fiktionen. In Zusammenarbeit mit Gerhard<br />

Neiber<br />

Rezensiert von Tobias Hof ................................................... 167<br />

Inhaltsverzeichnis


6 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Wolfgang Benz: Auftrag Demokratie. Die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik und die<br />

Entstehung der DDR 1945–1949<br />

Rezensiert von Heike Amos .................................................. 170<br />

Daniel Cohn-Bendit/Rüdiger Dammann (Hrsg.): 1968. Die Revolte<br />

Gerd Koenen/Andreas Veiel: 1968. Bildspur e<strong>in</strong>es Jahres<br />

Wolfgang Kraushaar: Achtundsechzig. E<strong>in</strong>e Bilanz<br />

Re<strong>in</strong>hard Mohr: Der diskrete Charme der Rebellion. E<strong>in</strong> Leben mit <strong>den</strong> 68ern<br />

Albrecht von Lucke: 68 oder neues Biedermeier. Der Kampf um die Deutungsmacht<br />

Ingrid Gilcher-Holtey: 1968. E<strong>in</strong>e Zeitreise<br />

Norbert Frei: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest<br />

Stefan Wolle: Der Traum von der Revolte. Die DDR 1968<br />

Rezensiert von Udo Wengst .................................................. 172<br />

Robert Bohn/Christoph Cornelißen/Karl Christian Lammers (Hrsg.): Vergangenheitspolitik<br />

und Er<strong>in</strong>nerungskulturen im Schatten des Zweiten Weltkriegs. Deutschland und Skand<strong>in</strong>avien<br />

seit 1945<br />

Rezensiert von Malte Thießen................................................. 178<br />

Mart<strong>in</strong> L. Davies/Claus-Christian W. Szejnmann (eds.): How the Holocaust Looks Now:<br />

International Perspectives<br />

Rezensiert von Anna Hájková................................................. 181<br />

Anselm Doer<strong>in</strong>g-Manteuffel/Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die<br />

<strong>Zeitgeschichte</strong> seit 1970<br />

Rezensiert von Hans Günter Hockerts........................................... 184<br />

Anselm Doer<strong>in</strong>g-Manteuffel/Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die<br />

<strong>Zeitgeschichte</strong> seit 1970<br />

Rezensiert von Maren Möhr<strong>in</strong>g................................................ 187<br />

Anselm Doer<strong>in</strong>g-Manteuffel/Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die<br />

<strong>Zeitgeschichte</strong> seit 1970<br />

Rezensiert von Christoph Boyer ............................................... 190<br />

Anselm Doer<strong>in</strong>g-Manteuffel/Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die<br />

<strong>Zeitgeschichte</strong> seit 1970<br />

Rezensiert von Jens Hacke ................................................... 193<br />

Anselm Doer<strong>in</strong>g-Manteuffel/Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die<br />

<strong>Zeitgeschichte</strong> seit 1970<br />

Rezensiert von Stephan Lessenich.............................................. 196<br />

Rudolf Erhard: Edmund Stoiber. Aufstieg und Fall<br />

Rezensiert von Thomas Schlemmer............................................. 199<br />

Inhaltsverzeichnis


7 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Silke Fengler: Entwickelt und fixiert. Zur Unternehmens- und Technikgeschichte der<br />

deutschen Foto<strong>in</strong>dustrie, dargestellt am Beispiel der Agfa AG Leverkusen und des VEB<br />

Filmfabrik Wolfen (1945–1995) (= Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte;<br />

Bd. 18)<br />

Rezensiert von Ra<strong>in</strong>er Karlsch................................................. 201<br />

Katr<strong>in</strong> Hassel: Kriegsverbrechen vor Gericht. Die Kriegsverbrecherprozesse vor<br />

Militärgerichten <strong>in</strong> der britischen Besatzungszone unter dem Royal Warrant vom 18. Juni<br />

1945 (1945–1949)<br />

Rezensiert von Edith Raim ................................................... 204<br />

Annette We<strong>in</strong>ke: E<strong>in</strong>e Gesellschaft ermittelt gegen sich selbst. Die Geschichte der Zentralen<br />

Stelle Ludwigsburg 1958–2008<br />

Hans H. Pöschko (Hrsg.): Die Ermittler von Ludwigsburg. Deutschland und die Aufklärung<br />

nationalsozialistischer Verbrechen<br />

Tobias Herrmann/Gisela Müller: Mitteilungen aus dem Bundesarchiv. Themenheft 2008: Die<br />

Außenstelle Ludwigsburg<br />

Rezensiert von Andreas Eichmüller............................................. 207<br />

Wolfgang Hölscher/Joachim W<strong>in</strong>tzer (Bearb.): Der Auswärtige Ausschuß des Deutschen<br />

Bundestages. Sitzungsprotokolle 1969–1972 (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus<br />

und der politischen Parteien. Vierte Reihe: Deutschland seit 1945; Bd. 13/VI)<br />

Rezensiert von Daniela Taschler............................................... 211<br />

Jens Hüttmann: DDR-Geschichte und ihre Forscher. Akteure und Konjunkturen der bundesdeutschen<br />

DDR-Forschung<br />

Rezensiert von Hermann Wentker.............................................. 214<br />

Konrad H. Jarausch (Hrsg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte<br />

Rezensiert von Matthias Peter................................................. 217<br />

Gerhard Keiderl<strong>in</strong>g: Um Deutschlands E<strong>in</strong>heit. Ferd<strong>in</strong>and Frie<strong>den</strong>sburg und der Kalte Krieg<br />

<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> 1945–1952<br />

Rezensiert von Siegfried Suckut ............................................... 220<br />

Elke Kimmel: „... war ihm nicht zuzumuten, länger <strong>in</strong> der SBZ zu bleiben“. DDR-Flüchtl<strong>in</strong>ge<br />

im Notaufnahmelager Marienfelde<br />

Rezensiert von Frank Hoffmann ............................................... 223<br />

Christian Kle<strong>in</strong>schmidt: Konsumgesellschaft (= Grundkurs Neue Geschichte)<br />

Rezensiert von Michael Pr<strong>in</strong>z ................................................. 225<br />

Thorsten Loch: Das Gesicht der Bundeswehr. Kommunikationsstrategien <strong>in</strong> der<br />

Freiwilligenwerbung der Bundeswehr 1956–1989 (= Sicherheitspolitik und Streitkräfte der<br />

Bundesrepublik Deutschland; Bd. 8)<br />

Rezensiert von Patrick Bernhard............................................... 228<br />

Inhaltsverzeichnis


8 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Christian Lotz: Die Deutung des Verlusts. Er<strong>in</strong>nerungspolitische Kontroversen im geteilten<br />

Deutschland um Flucht, Vertreibung und die Ostgebiete (1948–1972) (= Neue Forschungen<br />

zur Schlesischen Geschichte; Bd. 15)<br />

Rezensiert von Michael Schwartz .............................................. 231<br />

Ulrich Pfeil (Hrsg.): Die Rückkehr der deutschen Geschichtswissenschaft <strong>in</strong> die „Ökumene der<br />

Historiker“. E<strong>in</strong> wissenschaftsgeschichtlicher Ansatz (= Pariser Historische Studien; Bd. 89)<br />

Rezensiert von Alexander Thomas.............................................. 234<br />

Frank Roggenbuch: Das Berl<strong>in</strong>er Grenzgängerproblem. Verflechtung und Systemkonkurrenz<br />

vor dem Mauerbau (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berl<strong>in</strong>; Bd. 107)<br />

Rezensiert von Bett<strong>in</strong>a Effner................................................. 237<br />

Michael Schwab/Stadt Fulda (Hrsg.): Alfred Dregger <strong>für</strong> Fulda und Deutschland. Stationen<br />

e<strong>in</strong>es charismatischen Politikers (= Dokumentationen zur Stadtgeschichte; Nr. 26)<br />

Rezensiert von Tim Szatkowski................................................ 240<br />

Manuel Schramm, Wirtschaft und Wissenschaft <strong>in</strong> DDR und BRD. Die Kategorie Vertrauen<br />

<strong>in</strong> Innovationsprozessen (= Wirtschafts- und Sozialhistorische Studien; Bd. 17)<br />

Rezensiert von Andreas Malycha............................................... 243<br />

Mathieu L. L. Segers: Deutschlands R<strong>in</strong>gen mit der Relance. Die Europapolitik der BRD<br />

während der Beratungen und Verhandlungen über die Römischen Verträge (= Europäische<br />

Hochschulschriften. Reihe XXXI: Politikwissenschaft; Bd. 551)<br />

Rezensiert von Veronika Heyde................................................ 246<br />

Boris Spix: Abschied vom Elfenbe<strong>in</strong>turm? Politisches Verhalten Studierender 1957–1967.<br />

Berl<strong>in</strong> und Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen im Vergleich<br />

Rezensiert von Anne Rohstock ................................................ 248<br />

Franz Georg Strauß: Me<strong>in</strong> Vater. Er<strong>in</strong>nerungen<br />

Rezensiert von Thomas Schlemmer............................................. 251<br />

Raul Teitelbaum: Die biologische Lösung. Wie die Schoah „wiedergutgemacht“ wurde<br />

Rezensiert von Constant<strong>in</strong> Goschler............................................. 253<br />

Jörg Treffke: Gustav He<strong>in</strong>emann – Wanderer zwischen <strong>den</strong> Parteien. E<strong>in</strong>e politische<br />

Biographie<br />

Rezensiert von Tim Szatkowski................................................ 255<br />

Matthias Uhl: Die Teilung Deutschlands. Niederlage, Ost-West-Spaltung und Wiederaufbau<br />

1945–1949, (= Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert; Bd. 11)<br />

Rezensiert von Heike Amos .................................................. 258<br />

Jens Wegener: Die Organisation Gehlen und die USA. Deutsch-amerikanische<br />

Geheimdienstbeziehungen, 1945–1949 (= Studies <strong>in</strong> Intelligence History; Vol. 2)<br />

Rezensiert von Arm<strong>in</strong> Wagner................................................. 260<br />

Inhaltsverzeichnis


9 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Benjam<strong>in</strong> Ziemann: Katholische Kirche und Sozialwissenschaften 1945–1975 (= Kritische<br />

Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 175)<br />

Rezensiert von Theresia Bauer................................................. 263<br />

DDR und ihre Vorgeschichte ................................................ 266<br />

Robert Allertz: Die RAF und das MfS. Fakten und Fiktionen. In Zusammenarbeit mit Gerhard<br />

Neiber<br />

Rezensiert von Tobias Hof ................................................... 266<br />

Dolores L. August<strong>in</strong>e: Red Prometheus. Eng<strong>in</strong>eer<strong>in</strong>g and Dictatorship <strong>in</strong> East Germany,<br />

1945–1990<br />

Rezensiert von Georg Wagner-Kyora............................................ 269<br />

Wolfgang Benz: Auftrag Demokratie. Die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik und die<br />

Entstehung der DDR 1945–1949<br />

Rezensiert von Heike Amos .................................................. 272<br />

Sandra Carius: Projekt: E<strong>in</strong>heitssozialversicherung. Entstehung der e<strong>in</strong>heitlichen Sozialversicherung<br />

<strong>in</strong> der SBZ/DDR von 1945 bis 1952 am Beispiel Thür<strong>in</strong>gens (= Schriften zur<br />

Rechtswissenschaft; Bd. 107)<br />

Rezensiert von Dierk Hoffmann ............................................... 274<br />

Mark Fenemore: Sex, Thugs and Rock ‘n’ Roll. Teenage Rebels <strong>in</strong> Cold-War East Germany,<br />

(= Monographs <strong>in</strong> German History; Bd. 17)<br />

Rezensiert von Marc-Dietrich Ohse............................................. 277<br />

Silke Fengler: Entwickelt und fixiert. Zur Unternehmens- und Technikgeschichte der<br />

deutschen Foto<strong>in</strong>dustrie, dargestellt am Beispiel der Agfa AG Leverkusen und des VEB<br />

Filmfabrik Wolfen (1945–1995) (= Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte;<br />

Bd. 18)<br />

Rezensiert von Ra<strong>in</strong>er Karlsch................................................. 280<br />

Uta Franke: Sand im Getriebe. Die Geschichte der Leipziger Oppositionsgruppe um He<strong>in</strong>rich<br />

Saar 1977 bis 1983, (= Zeitfenster. Beiträge der Stiftung Sächsische Ge<strong>den</strong>kstätten zur <strong>Zeitgeschichte</strong>;<br />

Bd. 2)<br />

Maria Nooke: Für Umweltverantwortung und Demokratisierung. Die Forster Oppositionsgruppe<br />

<strong>in</strong> der Ause<strong>in</strong>andersetzung mit Staat und Kirche<br />

Rezensiert von Ilko-Sascha Kowalczuk.......................................... 283<br />

Mary Fulbrook: Das ganz normale Leben. Alltag und Gesellschaft <strong>in</strong> der DDR. Aus dem<br />

Englischen von Karl Nicolai<br />

Rezensiert von Thomas Großbölt<strong>in</strong>g ............................................ 287<br />

Klaus Hermsdorf: Kafka <strong>in</strong> der DDR. Er<strong>in</strong>nerungen e<strong>in</strong>es Beteiligten, hrsg. von Gerhard<br />

Schneider/Frank Hörnigk<br />

Rezensiert von Elke Scherstjanoi............................................... 290<br />

Inhaltsverzeichnis


10 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Peter Hübner/Christa Hübner: Sozialismus als soziale Frage. Sozialpolitik <strong>in</strong> der DDR<br />

und Polen 1968–1976. Mit e<strong>in</strong>em Beitrag von Christoph Boyer zur Tschechoslowakei<br />

(= Zeithistorische Studien; Bd. 45)<br />

Rezensiert von Silke Röttger.................................................. 293<br />

Elke Kimmel: „... war ihm nicht zuzumuten, länger <strong>in</strong> der SBZ zu bleiben“. DDR-Flüchtl<strong>in</strong>ge<br />

im Notaufnahmelager Marienfelde<br />

Rezensiert von Frank Hoffmann ............................................... 296<br />

Peter Krewer: Geschäfte mit dem Klassenfe<strong>in</strong>d. Die DDR im <strong>in</strong>nerdeutschen Handel 1949–<br />

1989<br />

Rezensiert von Peter E. Fäßler................................................. 298<br />

Barbara Könczöl: Märtyrer des Sozialismus. Die SED und das Ge<strong>den</strong>ken an Rosa Luxemburg<br />

und Karl Liebknecht<br />

Rezensiert von Thomas Schaarschmidt .......................................... 301<br />

Christian Lotz: Die Deutung des Verlusts. Er<strong>in</strong>nerungspolitische Kontroversen im geteilten<br />

Deutschland um Flucht, Vertreibung und die Ostgebiete (1948–1972) (= Neue Forschungen<br />

zur Schlesischen Geschichte; Bd. 15)<br />

Rezensiert von Michael Schwartz .............................................. 304<br />

Ingrid Miethe/Mart<strong>in</strong>a Schiebel: Biografie, Bildung und <strong>Institut</strong>ion. Die Arbeiter-und<br />

Bauern-Fakultäten <strong>in</strong> der DDR. Unter Mitarbeit von Enrico Lippmann und Stephanie<br />

Schafhirt (= Biographie- und Lebensweltforschung; Bd. 6)<br />

Rezensiert von Gert Geißler .................................................. 307<br />

Hans Reichelt: Die deutschen Kriegsheimkehrer. Was hat die DDR <strong>für</strong> sie getan?<br />

Rezensiert von Andreas Hilger ................................................ 309<br />

Matthias Rogg: Armee des Volkes? Militär und Gesellschaft <strong>in</strong> der DDR (= Militärgeschichte<br />

der DDR; Bd. 15)<br />

Rezensiert von Christian Th. Müller ............................................ 312<br />

Frank Roggenbuch: Das Berl<strong>in</strong>er Grenzgängerproblem. Verflechtung und Systemkonkurrenz<br />

vor dem Mauerbau (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berl<strong>in</strong>; Bd. 107)<br />

Rezensiert von Bett<strong>in</strong>a Effner................................................. 315<br />

Christian Saehrendt: Kunst als Botschafter e<strong>in</strong>er künstlichen Nation. Studien zur Rolle der<br />

bil<strong>den</strong><strong>den</strong> Kunst <strong>in</strong> der Auswärtigen Kulturpolitik der DDR (= Pallas Athene. Beiträge zur<br />

Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte; Bd. 27)<br />

Rezensiert von Kathleen Schroeter.............................................. 318<br />

Silke Satjukow: Besatzer. „Die Russen“ <strong>in</strong> Deutschland 1945–1994<br />

Rezensiert von Jan Foitzik.................................................... 321<br />

Inhaltsverzeichnis


11 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Manuel Schramm: Wirtschaft und Wissenschaft <strong>in</strong> DDR und BRD. Die Kategorie Vertrauen<br />

<strong>in</strong> Innovationsprozessen (= Wirtschafts- und Sozialhistorische Studien; Bd. 17)<br />

Rezensiert von Andreas Malycha............................................... 324<br />

Hermann Schreyer: Das staatliche Archivwesen der DDR. E<strong>in</strong> Überblick (= Schriften des<br />

Bundesarchivs; Bd. 70)<br />

Rezensiert von Klaus A. Lankheit.............................................. 327<br />

Annette Schuhmann (Hrsg.): Vernetzte Improvisationen. Gesellschaftliche Subsysteme <strong>in</strong><br />

Ostmitteleuropa und <strong>in</strong> der DDR (= Zeithistorische Studien; Bd. 42)<br />

Rezensiert von Georg Wagner-Kyora............................................ 330<br />

Jan Philipp Spannuth: Rückerstattung Ost. Der Umgang der DDR mit dem „arisierten“<br />

Eigentum der Ju<strong>den</strong> und die Rückerstattung im wiedervere<strong>in</strong>igten Deutschland<br />

Rezensiert von Claudia Moisel ................................................ 333<br />

Rüdiger Ste<strong>in</strong>metz/Re<strong>in</strong>hold Viehoff (Hrsg.): Deutsches Fernsehen Ost. E<strong>in</strong>e Programmgeschichte<br />

des DDR-Fernsehens<br />

Rezensiert von Nora Helmli .................................................. 336<br />

Matthias Uhl: Die Teilung Deutschlands. Niederlage, Ost-West-Spaltung und Wiederaufbau<br />

1945–1949, (= Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert; Bd. 11)<br />

Rezensiert von Heike Amos .................................................. 338<br />

Ulrich Wiegmann: Pädagogik und Staatssicherheit. Schule und Jugend <strong>in</strong> der Erziehungsideologie<br />

des DDR-Geheimdienstes<br />

Rezensiert von Henrik Bisp<strong>in</strong>ck................................................ 340<br />

Daniel Cohn-Bendit/Rüdiger Dammann (Hrsg.): 1968. Die Revolte<br />

Gerd Koenen/Andreas Veiel: 1968. Bildspur e<strong>in</strong>es Jahres<br />

Wolfgang Kraushaar: Achtundsechzig. E<strong>in</strong>e Bilanz<br />

Re<strong>in</strong>hard Mohr: Der diskrete Charme der Rebellion. E<strong>in</strong> Leben mit <strong>den</strong> 68ern<br />

Albrecht von Lucke: 68 oder neues Biedermeier. Der Kampf um die Deutungsmacht<br />

Ingrid Gilcher-Holtey: 1968. E<strong>in</strong>e Zeitreise<br />

Norbert Frei: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest<br />

Stefan Wolle: Der Traum von der Revolte. Die DDR 1968<br />

Rezensiert von Udo Wengst .................................................. 343<br />

Stefan Zahlmann: Autobiographische Verarbeitungen gesellschaftlichen Scheiterns.<br />

Die Eliten der amerikanischen Südstaaten nach 1865 und der DDR nach 1989<br />

Rezensiert von Arnd Bauerkämper.............................................. 349<br />

Westliche Demokratien, Südeuropa und <strong>in</strong>ternationale Organisationen ............... 352<br />

Pier Paolo Battistelli/Andrea Mol<strong>in</strong>ari: Le forze armate della Rsi. Uom<strong>in</strong>i e imprese dell’ultimo<br />

esercito di Mussol<strong>in</strong>i<br />

Rezensiert von Amedeo Osti Guerrazzi.......................................... 352<br />

Inhaltsverzeichnis


12 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Giovanna D’Amico: Quando l’eccezione diventa norma. La re<strong>in</strong>tegrazione degli ebrei<br />

nell’Italia postfascista<br />

Rezensiert von Tullia Catalan................................................. 354<br />

Gianluca Falanga: Mussol<strong>in</strong>is Vorposten <strong>in</strong> Hitlers Reich. Italiens Politik <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> 1933–<br />

1945<br />

Rezensiert von Patrick Bernhard............................................... 357<br />

Anto<strong>in</strong>e Fleury: Documents Diplomatiques Suisses – Diplomatische Dokumente der Schweiz –<br />

Documenti Diplomatici Svizzeri. Band 22: 1. Juli 1961 – 31. Dezember 1963<br />

Rezensiert von Philip Ros<strong>in</strong>................................................... 360<br />

Stefania Galassi: Pressepolitik im Faschismus. Das Verhältnis von Herrschaft und Presseordnung<br />

<strong>in</strong> Italien zwischen 1922 und 1940 (= Beiträge zur Kommunikationsgeschichte;<br />

Bd. 19)<br />

Rezensiert von Malte König .................................................. 362<br />

Daniele Ganser: Nato-Geheimarmeen <strong>in</strong> Europa. Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung.<br />

Mit e<strong>in</strong>em Vorwort von Georg Kreis. Aus dem Englischen übersetzt von Carsten<br />

Roth<br />

Rezensiert von Tobias Hof ................................................... 365<br />

Malte König: Kooperation als Machtkampf. Das faschistische Achsenbündnis Berl<strong>in</strong>–Rom im<br />

Krieg 1940/41 (= Italien <strong>in</strong> der Moderne; Bd. 14)<br />

Rezensiert von MacGregor Knox............................................... 368<br />

Jürgen Mittag: Kle<strong>in</strong>e Geschichte der Europäischen Union. Von der Europaidee bis zur<br />

Gegenwart<br />

Rezensiert von Veronika Heyde................................................ 371<br />

Giovanni Moro: Anni Settanta<br />

Rezensiert von Fiammetta Balestracci........................................... 373<br />

Ilaria Pavan: Il podestà ebreo. La storia di Renzo Ravenna tra fascismo e leggi razziali<br />

Rezensiert von Hans Woller .................................................. 376<br />

Michele Sarfatti: The Jews <strong>in</strong> Mussol<strong>in</strong>i’s Italy. From Equality to Persecution. Translated by<br />

John and Anne C. Tedeschi (= Series <strong>in</strong> Modern European Cultural and Intellectual History)<br />

Rezensiert von Gustavo Corni................................................. 379<br />

Ost- und Nordeuropa ...................................................... 381<br />

Robert Bohn/Christoph Cornelißen/Karl Christian Lammers (Hrsg.): Vergangenheitspolitik<br />

und Er<strong>in</strong>nerungskulturen im Schatten des Zweiten Weltkriegs. Deutschland und Skand<strong>in</strong>avien<br />

seit 1945<br />

Rezensiert von Malte Thießen................................................. 381<br />

Inhaltsverzeichnis


13 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Stefan Creuzberger: Stal<strong>in</strong>. Machtpolitiker und Ideologe<br />

Rezensiert von Gerhard Wettig................................................ 384<br />

Shalom Eilati: Cross<strong>in</strong>g the River. Aus dem Hebräischen übersetzt von Vern Lenz<br />

Rezensiert von Edith Raim ................................................... 387<br />

Lorenz Erren: „Selbstkritik“ und Schuldbekenntnis. Kommunikation und Herrschaft unter<br />

Stal<strong>in</strong> (1917–1953) (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit; Bd. 19)<br />

Rezensiert von Alexander R. Schejngeit.......................................... 391<br />

Benjam<strong>in</strong> Gilde: F<strong>in</strong>nland und das geteilte Vietnam<br />

Rezensiert von Olivia Griese.................................................. 394<br />

Wladislaw Hedeler/Me<strong>in</strong>hard Stark: Das Grab <strong>in</strong> der Steppe. Leben im Gulag.<br />

Die Geschichte e<strong>in</strong>es sowjetischen „Besserungsarbeitslagers“ 1930–1959<br />

Wladislaw Hedeler (Hrsg.): KARLag. Das Karagand<strong>in</strong>sker „Besserungsarbeitslager“ 1930–<br />

1959. Dokumente zur Geschichte des Lagers, se<strong>in</strong>er Häftl<strong>in</strong>ge und Bewacher<br />

Rezensiert von Andreas Hilger ................................................ 397<br />

Peter Hübner/Christa Hübner: Sozialismus als soziale Frage. Sozialpolitik <strong>in</strong> der DDR<br />

und Polen 1968–1976. Mit e<strong>in</strong>em Beitrag von Christoph Boyer zur Tschechoslowakei<br />

(= Zeithistorische Studien; Bd. 45)<br />

Rezensiert von Silke Röttger.................................................. 400<br />

Melanie Ilic/Jeremy Smith (eds.): Soviet State and Society under Nikita Khrushchev<br />

(= BASEES/RoutledgeCurzon Series on Russian and East European Studies; Vol. 57)<br />

Rezensiert von Andreas Hilger ................................................ 403<br />

Stefan Wiederkehr: Die eurasische Bewegung. Wissenschaft und Politik <strong>in</strong> der russischen<br />

Emigration der Zwischenkriegszeit und im postsowjetischen Russland (= Beiträge zur<br />

Geschichte Osteuropas; Bd. 39)<br />

Rezensiert von Leonid Luks .................................................. 408<br />

Neueste <strong>Zeitgeschichte</strong> ab 1990. .............................................. 412<br />

Massoud Hanifzadeh: Deutschlands Rolle <strong>in</strong> der UNO 1982–2005<br />

Rezensiert von Amit Das Gupta................................................ 412<br />

Inhaltsverzeichnis


Länder- und epochenübergreifende Darstellungen<br />

Evelyne A. A<strong>den</strong>auer: „In elfter Stunde“. Hermann Hoffmann und se<strong>in</strong> Engagement <strong>für</strong><br />

e<strong>in</strong>e deutsch-polnische Verständigung und die Ökumene <strong>in</strong> der Zwischenkriegszeit, Münster:<br />

Aschendorff 2008, 282 S., ISBN 978-3-402-10176-6, EUR 20,00<br />

Rezensiert von Matthias Lempart<br />

München<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 2<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/02/15746.html<br />

E<strong>in</strong>e außergewöhnliche Priesterpersönlichkeit steht im Mittelpunkt<br />

dieses Buches: Hermann Hoffmann (1878–1972) war<br />

e<strong>in</strong> katholischer, 1906 bis 1948 <strong>in</strong> Breslau und von 1948 bis<br />

zu se<strong>in</strong>em Tode <strong>in</strong> Leipzig beheimateter Geistlicher, Religionslehrer,<br />

Historiker, er war Mitbegründer der katholischen Jugendbewegung<br />

„Quickborn“ und Herausgeber von mehreren<br />

wissenschaftlichen Zeitschriften und Reihen. Ihm verdankt<br />

z.B. das bekannte, bis heute bestehende „Archiv <strong>für</strong> schlesische<br />

Kirchengeschichte“ se<strong>in</strong> Entstehen im Jahr 1936 <strong>in</strong> Breslau.<br />

Im Ersten Weltkrieg erlebte er als Divisionspfarrer (EK I<br />

und II) <strong>in</strong> Frankreich se<strong>in</strong> Damaskus. Hatte er noch 1915 zeittypische<br />

Zeilen voller religiös untermaltem Hurrapatriotismus<br />

geschrieben – „Ich sage Euch, es ist e<strong>in</strong> Wunder, e<strong>in</strong> Schauspiel<br />

<strong>für</strong> Götter und Menschen, wie Deutschlands Jugend froh wie<br />

zu e<strong>in</strong>em Feste leuchten<strong>den</strong> Auges und erhobenen Hauptes <strong>in</strong><br />

<strong>den</strong> Tod eilt <strong>für</strong>s Vaterland“ (52) –, so machte ihn das furchtbare<br />

Kriegserlebnis schließlich zu e<strong>in</strong>em überzeugten Pazifisten.<br />

Das pazifistische Wirken Hoffmanns <strong>in</strong> der Weimarer Republik<br />

ist auch das Hauptthema der Darstellung. Die Autor<strong>in</strong> verheimlicht dabei nicht die gesellschaftliche<br />

Außenseiterrolle Hoffmanns und se<strong>in</strong>er gleich ges<strong>in</strong>nten Frie<strong>den</strong>sfreunde und spricht mit<br />

Schnitzler von ihnen als dem „millionsten Teil e<strong>in</strong>es Millionstels“ (16). Katholische Frie<strong>den</strong>saktivisten<br />

wie der im Frie<strong>den</strong>sbund Deutscher Katholiken tätige Hoffmann befan<strong>den</strong> sich genau genommen<br />

sogar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er doppelten Außenseiterrolle. Denn sie waren <strong>in</strong>nerhalb des deutschen Katholizismus<br />

„von Episkopat, Amtskirche und Verbandskatholizismus <strong>in</strong> [ihrer] Frie<strong>den</strong>sarbeit alle<strong>in</strong>gelassen“<br />

(137), was die Autor<strong>in</strong> zu Recht betont. Auch Hoffmanns Diözesanbischof und Vorsitzender der Fuldaer<br />

Bischofskonferenz, Kard<strong>in</strong>al Bertram, duldete eher die pazifistischen Aktivitäten Hoffmanns,<br />

als dass er sie unterstützte.<br />

Aber auch auf der <strong>in</strong>ternationalen Ebene war die Frie<strong>den</strong>sarbeit e<strong>in</strong>e schwierige Sache. Als <strong>in</strong><br />

Prag 1928 e<strong>in</strong>e Antikriegskonferenz des Weltbundes <strong>für</strong> Freundschaftsarbeit der Kirchen stattfand,<br />

entschuldigte der tschechoslowakische Präsi<strong>den</strong>t und Philosoph Masaryk se<strong>in</strong> Nichtkommen mit sei-


15 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

ner Anwesenheitspflicht bei e<strong>in</strong>er militärischen Übung und fügte h<strong>in</strong>zu, „Jesu Gebot der Nächstenliebe<br />

bedeute nicht, dass man nicht das Recht zur Verteidigung habe“ (201). Auf der europäischen<br />

Bühne galt Hoffmanns ganzes Engagement dem Internationalen Versöhnungsbund (IVB)/International<br />

Fellowship of Reconciliation, se<strong>in</strong>er eigentlichen geistigen Heimat, die <strong>in</strong> ihrem Kern e<strong>in</strong>e radikalpazifistische<br />

Frie<strong>den</strong>sbewegung war. Ökumenisch konzipiert, blieb sie mangels katholischer Beteiligung<br />

und ähnlich wie andere Frie<strong>den</strong>s<strong>in</strong>itiativen <strong>in</strong> der Zwischenkriegszeit e<strong>in</strong>e Domäne protestantischer<br />

Christen, sodass Hoffmann bei <strong>in</strong>ternationalen Konferenzen oft e<strong>in</strong>er der wenigen katholischen<br />

Teilnehmer war.<br />

In se<strong>in</strong>er Frie<strong>den</strong>sarbeit erkannte Hoffmann bald, dass neben der deutsch-französischen Verständigung<br />

auch die deutsch-polnische e<strong>in</strong>e überragende Rolle spielen müsse. E<strong>in</strong>e harte Gegnerschaft<br />

der bei<strong>den</strong> Republiken, bed<strong>in</strong>gt durch die M<strong>in</strong>derheitenfrage, das Fehlen e<strong>in</strong>es „Ost-Locarno“ und <strong>den</strong><br />

gegenseitigen Grenzrevisionismus, drohte zu e<strong>in</strong>em offenen Konflikt zu eskalieren. Dabei erwies<br />

sich die Anknüpfung der Kontakte zu <strong>den</strong> polnischen Katholiken als äußerst schwierig, da sich dort,<br />

wie Hoffmann um 1927 feststellte, „auf katholischer Seite niemand <strong>für</strong> <strong>den</strong> Frie<strong>den</strong> [engagiere]“<br />

(152). Trotz Hoffmanns großen Anstrengungen und se<strong>in</strong>er ab 1926 regelmäßigen Reisen nach Polen<br />

mussten vor dem H<strong>in</strong>tergrund dieser Ausgangslage die Erfolge beschei<strong>den</strong> bleiben. E<strong>in</strong>er der Höhepunkte<br />

der deutsch-polnischen Frie<strong>den</strong>sarbeit war das 1930 <strong>in</strong> Südpolen unter Hoffmanns Leitung<br />

veranstaltete „<strong>in</strong>ternationale Führerlager“ mit vornehmlich polnischen und deutschen Teilnehmern.<br />

Da jedoch „die meisten [teilnehmen<strong>den</strong>] Polen evangelisch waren“ (127), während die deutsche<br />

Gruppe ausschließlich aus Katholiken bestand, stellt sich hier die Frage, ob Hoffmanns Bemühungen<br />

die anvisierte Zielgruppe der polnischen Jugend überhaupt erreichten.<br />

E<strong>in</strong>e Frucht von Hoffmanns Arbeit war dagegen die Herausbildung e<strong>in</strong>es Zentrums der Frie<strong>den</strong>saktivitäten<br />

im polnischen Krakau, wo sich 1930 der Katholische Bund polnischer Frie<strong>den</strong>sfreude<br />

(„Katolicki Związek Polskich Przyjaciół Pokoju“) mit ca. 100 Mitgliedern gründete. Auffällig ist<br />

anhand der zahlreichen Zitate aus polnischen Quellen diplomatischer Provenienz, dass jegliche Kontakte<br />

der polnischen Pazifisten zur deutschen Seite, e<strong>in</strong>schließlich des Inhalts der <strong>in</strong> Deutschland zu<br />

halten<strong>den</strong> Referate, mit dem polnischen Außenm<strong>in</strong>isterium und <strong>den</strong> polnischen Konsulaten <strong>in</strong><br />

Deutschland eng abgesprochen wur<strong>den</strong>. Dass diese Kontakte „im polnischen S<strong>in</strong>ne <strong>in</strong>strumentalisiert<br />

wer<strong>den</strong> sollten“ (234), steht <strong>für</strong> die Autor<strong>in</strong> fest, <strong>in</strong> welchem Ausmaß dies geschehen sollte, konnte<br />

anhand der e<strong>in</strong>gesehenen Akten nicht geklärt wer<strong>den</strong>. Die politischen Ereignisse des Jahres 1933 <strong>in</strong><br />

Deutschland setzten <strong>den</strong> Auslandsaktivitäten Hoffmanns, dem jetzt se<strong>in</strong> Auslandspass entzogen<br />

wurde, e<strong>in</strong> abruptes Ende.<br />

Die Autor<strong>in</strong> will mit ihrer Studie auch e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Beitrag zur Mentalitätsgeschichte der Weimarer<br />

Republik leisten. Dies ist ihr <strong>in</strong> größerem Ausmaß als beabsichtigt und sogar <strong>in</strong> erweitertem<br />

territorialen Rahmen (Polen und z.T. Europa) gut gelungen. An e<strong>in</strong>igen Stellen der Studie vermisst<br />

man <strong>in</strong>des <strong>den</strong> zeitgeschichtlichen Kontext der dargestellten Frie<strong>den</strong>sbemühungen, so z.B. wenn die<br />

1926 auf e<strong>in</strong>er Frie<strong>den</strong>skonferenz <strong>in</strong> Warschau Versammelten <strong>in</strong> Bezug auf die M<strong>in</strong>derheitenfrage<br />

„Freiheit bei der ‚völkischen Entscheidungʻ und der E<strong>in</strong>schulung der K<strong>in</strong>der“ (152) forderten. E<strong>in</strong>ige<br />

Urteile s<strong>in</strong>d überdies zu pauschal bzw. falsch, so wenn der Oberpräsi<strong>den</strong>t der Prov<strong>in</strong>z Oberschlesien<br />

und Zentrumspolitiker Hans Lukaschek zur „Spitze“ „nationalistischer Kreise“ <strong>in</strong> der Prov<strong>in</strong>z erklärt<br />

wird (178) oder wenn Carl Ulitzka, dem Vorsitzen<strong>den</strong> des oberschlesischen Zentrums und M.d.R.<br />

1919 bis 1933 (und nicht M.d.L 1922 bis 1924, 175), besche<strong>in</strong>igt wird, dass er „gegen e<strong>in</strong>e deutschpolnische<br />

Annäherung war“ (174). Es leuchtet dem Rezensenten auch nicht e<strong>in</strong>, warum die Autor<strong>in</strong><br />

die Stadt Breslau nach 1945 nur noch als „Wrocław“ bezeichnet, während sie gleichzeitig <strong>für</strong> „Krakau“<br />

und „Warschau“ die deutschen Städtenamen benutzt.<br />

Trotz dieser Mängel ist zu konstatieren: Hermann Hoffmann wird <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en be<strong>in</strong>ahe rastlosen und<br />

von tiefem Christentum getragenen Frie<strong>den</strong>sbemühungen fundiert und überzeugend dargestellt – ohne<br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


16 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Zweifel e<strong>in</strong> großes Verdienst der Autor<strong>in</strong>, gerade angesichts des verstreuten Aktenmaterials zu der<br />

untersuchten Person. Es bleibt der E<strong>in</strong>druck von Hoffmann als e<strong>in</strong>em Visionär und Realisten zugleich,<br />

der bereits 1930 die zutreffende und modern anmutende Überzeugung artikulierte: „Die<br />

Grenzen <strong>in</strong> Osteuropa s<strong>in</strong>d ungerecht. Sie mögen gerechter se<strong>in</strong> als die alten; gerecht s<strong>in</strong>d sie nicht;<br />

[..] Kulturen, Völker, Konfessionen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Osteuropa so zusammengewürfelt, dass es unmöglich ist,<br />

alle Konationalen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Staat <strong>in</strong>nerhalb enger Grenzen zusammenzufassen. Revision von Versailles<br />

im S<strong>in</strong>ne von Revision der osteuropäischen Grenzen ist e<strong>in</strong> ungeeignetes, verwirrendes Schlagwort.<br />

Nicht Revision, sondern Überw<strong>in</strong>dung der Grenzen ist die e<strong>in</strong>zig mögliche Lösung. Das ist nur möglich<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em neuen, irgendwie gee<strong>in</strong>ten Europa.“ (128-129)<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


Robert Allertz: Die RAF und das MfS. Fakten und Fiktionen. In Zusammenarbeit mit<br />

Gerhard Neiber, Berl<strong>in</strong>: Das Neue Berl<strong>in</strong> 2008, 224 S., ISBN 978-3-360-01090-2, EUR 14,90<br />

Rezensiert von Tobias Hof<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong> München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/05/15516.html<br />

Unmittelbar nach der deutschen Wiedervere<strong>in</strong>igung war <strong>in</strong><br />

der Öffentlichkeit von e<strong>in</strong>er engen Kooperation zwischen<br />

dem M<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> Staatssicherheit (MfS) und der Roten<br />

Armee Fraktion (RAF) die Rede. Aufgrund der schwierigen<br />

Quellenlage fehlt zwar bislang e<strong>in</strong>e umfassende Monografie<br />

über dieses Thema, aber Wissenschaftler unterschiedlicher<br />

Diszipl<strong>in</strong>en haben sich <strong>in</strong> zahlreichen Aufsätzen über die möglichen<br />

ideellen und materiellen Verb<strong>in</strong>dungen zwischen dem<br />

DDR-Geheimdienst und <strong>den</strong> westdeutschen Terroristen geäußert.<br />

So besteht mittlerweile e<strong>in</strong> breiter Konsens darüber,<br />

dass die vermutete aktive Förderung der RAF durch das MfS<br />

überschätzt wurde. Vielmehr nahm das MfS gegenüber <strong>den</strong><br />

Terroristen wohl e<strong>in</strong>e passive Rolle e<strong>in</strong>, <strong>in</strong>dem Terroristen die<br />

Durchreise gewährt wurde oder Aussteiger <strong>in</strong> die Gesellschaft<br />

der DDR <strong>in</strong>tegriert wur<strong>den</strong>.<br />

Im Jahr 2008 legte Robert Allertz se<strong>in</strong> Buch „Die RAF und<br />

das MfS“ vor. Allertz, Diplomjournalist und Reserveoffizier,<br />

ist als freier Publizist tätig und steht dem „Insiderkomitee zur<br />

Förderung der kritischen Aneignung der Geschichte des MfS“<br />

nahe, das Mitarbeiter des MfS <strong>in</strong>s Leben gerufen haben. Das<br />

Buch be<strong>in</strong>haltet Interviews, die er mit ehemaligen Mitarbeitern<br />

des MfS führte und Aufsätze, die unter anderem von Gerhard Neiber, dem ehemaligen Stellvertreter<br />

des M<strong>in</strong>isters <strong>für</strong> Staatssicherheit, und Gerhard Plomann, e<strong>in</strong>em engen Mitarbeiter Neibers, stammen.<br />

Abgeschlossen wird das Werk durch e<strong>in</strong>en von Allertz verfassten Nachruf auf Neiber, der am<br />

13. Februar 2008 verstarb. Aufgrund der gesamten Anlage des Buches muss Allertz mehr als Herausgeber<br />

<strong>den</strong>n als Verfasser gelten.<br />

Dem vom Titel suggerierten Thema widmen sich die verschie<strong>den</strong>en Beiträge freilich kaum und<br />

wenn, so wird e<strong>in</strong>e aktive Zusammenarbeit zwischen MfS und RAF stets verne<strong>in</strong>t. Lediglich die Aussteigerprogramme<br />

„Stern I“ und „Stern II“ wer<strong>den</strong> näher beschrieben: Ehemalige Terroristen erhielten<br />

die Staatsbürgerschaft der DDR sowie neue I<strong>den</strong>titäten. Sie wur<strong>den</strong> nicht an die Bundesrepublik<br />

ausgeliefert, da zwischen bei<strong>den</strong> deutschen Staaten ke<strong>in</strong> Rechtshilfeabkommen bestan<strong>den</strong> habe und<br />

e<strong>in</strong>e Auslieferung von Staatsbürgern der DDR e<strong>in</strong> Bruch der Verfassung gewesen wäre.<br />

Wesentlich mehr Informationen bietet das Buch über die <strong>in</strong>ternationale terroristische Szene nach<br />

dem Olympiaattentat von 1972, wie sie das MfS wahrnahm, und über die Gegenmaßnahmen, die das


18 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

M<strong>in</strong>isterium e<strong>in</strong>leitete. Dabei wer<strong>den</strong> E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> die strukturellen Veränderungen der Behörde und<br />

<strong>in</strong> die Vorstellungen über <strong>den</strong> Terrorismus geboten, <strong>den</strong> man als gesellschaftliche Folge von Kapitalismus<br />

und Imperialismus def<strong>in</strong>ierte – gezielt gesteuert von <strong>den</strong> westlichen Geheimdiensten, um die<br />

Errichtung e<strong>in</strong>es Polizeistaats zu rechtfertigen. Mit <strong>den</strong> „humanistischen Grundanliegen des Sozialismus“<br />

(84) sei der Terrorismus h<strong>in</strong>gegen unvere<strong>in</strong>bar gewesen. Ferner sei wegen der Wachsamkeit<br />

des MfS, <strong>den</strong> gesellschaftlichen Verhältnissen und der Wachsamkeit der Bürger die terroristische<br />

Gefahr <strong>in</strong> der DDR ger<strong>in</strong>g gewesen. Dieses Interpretationsmuster wird auch nicht verlassen, wenn<br />

Bezug zu Ereignissen vom Zweiten Weltkrieg bis heute genommen wird: So sei unter anderem der<br />

Staatsterror des stal<strong>in</strong>istischen Regimes e<strong>in</strong>e legitime Abwehrreaktion gegen subversive, vom Westen<br />

unterstützte Gruppen gewesen. Auch die Geschehnisse nach dem 11. September 2001 wür<strong>den</strong> beweisen,<br />

dass Krieg und Terror die zentralen politischen Mittel des Westens seien. Denn schließlich<br />

gebe es ke<strong>in</strong>en „Unterschied zwischen dem Überfall auf <strong>den</strong> Sender Gleiwitz und <strong>den</strong> auf e<strong>in</strong> Hochhaus<br />

der Hochf<strong>in</strong>anz.“ (71)<br />

Den Anspruch, Fakten von Fiktionen zu trennen, erfüllt das Buch zu ke<strong>in</strong>er Zeit. Es liefert weder<br />

neue Erkenntnisse, noch wer<strong>den</strong> die teils abstrusen Thesen stichhaltig belegt. Auch die angekündigten<br />

Dokumente bleibt Allertz schuldig. Die abgebildeten Fotokopien von Akten der Bundesbehörde<br />

<strong>für</strong> die Stasiunterlagen sollen diese Lücke sche<strong>in</strong>bar kaschieren, enthalten jedoch ke<strong>in</strong>erlei verwertbaren<br />

Informationen. Die vielfach zitierte Sekundärliteratur – unter anderem von Andreas von Bülow<br />

und Gerhard Feldbauer [1] – ist darüber h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong> der Forschung umstritten.<br />

Allertz bietet <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie führen<strong>den</strong> Funktionären des M<strong>in</strong>isteriums <strong>für</strong> Staatssicherheit e<strong>in</strong>e<br />

Plattform, um ihre e<strong>in</strong>stige Arbeit zu rechtfertigen und <strong>in</strong> e<strong>in</strong> positives Licht zu rücken. Ziel des Buches<br />

ist es, das MfS als e<strong>in</strong>en „ganz normalen Geheimdienst“ darzustellen, se<strong>in</strong>e Arbeit und Mitarbeiter<br />

zu rehabilitieren und ihn gegenüber <strong>den</strong> westlichen Geheimdiensten moralisch zu überhöhen.<br />

Des Weiteren ist e<strong>in</strong>e Sympathie mit <strong>den</strong> sozialrevolutionären terroristischen Gruppen <strong>in</strong> ihrem<br />

Kampf gegen <strong>den</strong> bundesdeutschen „Polizeistaat“, der immer wieder als Erbe des ‚Dritten Reichesʻ<br />

dargestellt wird, zu erkennen. E<strong>in</strong>e derart euphemistische und ideologisch gefärbte Darstellung<br />

wirkt heute nicht nur deplatziert und anachronistisch, sondern lässt die Forschungsliteratur über die<br />

DDR und die Arbeit des MfS vollkommen außer Acht.<br />

Der ideologisch verklärende Blick beschränkt sich zum allgeme<strong>in</strong>en Ärgernis jedoch nicht nur auf<br />

die Arbeit des DDR-Geheimdiensts. Vielmehr wer<strong>den</strong> gebetsmühlenartig Verschwörungstheorien zu<br />

<strong>den</strong> Ereignissen seit 1945 ohne Belege angeführt. Dabei zeugt die Äußerung von Allertz, dass e<strong>in</strong><br />

Anschlag wie <strong>in</strong> New York <strong>in</strong> der DDR dank der Arbeit des MfS nicht möglich gewesen wäre, nicht<br />

nur von e<strong>in</strong>er ebenso naiven wie verzerrten Weltsicht, sondern auch von se<strong>in</strong>er Unkenntnis über <strong>den</strong><br />

<strong>in</strong>ternationalen Terrorismus.<br />

Trotz dieser großen Schwächen liefert das Buch zwischen <strong>den</strong> Zeilen vere<strong>in</strong>zelt <strong>in</strong>teressante E<strong>in</strong>blicke<br />

<strong>in</strong> die Organisationsstruktur des M<strong>in</strong>isteriums <strong>für</strong> Staatssicherheit. So wird detailliert der<br />

Aufbau der Hauptabteilung XXII geschildert, die mit der Abwehr des Terrorismus betraut war. Auch<br />

die Darstellung der Aussteigerprogramme besitzt Substanz. Die These von ihrer herausragen<strong>den</strong><br />

Bedeutung <strong>für</strong> das Ende der RAF, wie dies <strong>in</strong>sbesondere Neiber und Plomann behaupten, ist mit<br />

Sicherheit nicht haltbar, sollte aber nicht gänzlich als bloße Propaganda abgetan wer<strong>den</strong>. Denn gerade<br />

das Beispiel der Anti-Terrorismus-Politik Italiens zeigt, dass die gesellschaftliche Re<strong>in</strong>tegration ehemaliger<br />

Terroristen e<strong>in</strong> wichtiger Bestandteil e<strong>in</strong>er erfolgreichen Gegenstrategie se<strong>in</strong> kann.<br />

Die wenigen positiven E<strong>in</strong>drücke können die Mängel des Buches bei Weitem nicht abmildern geschweige<br />

<strong>den</strong>n ausgleichen. Wer sich über die Kooperation zwischen MfS und RAF e<strong>in</strong>en Überblick<br />

verschaffen möchte, kann dieses Buch getrost übergehen. Ihm seien lieber Arbeiten anerkannter Experten<br />

wie Tobias Wunschik oder Michael Ploetz empfohlen. [2] Wer jedoch e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>druck darüber<br />

gew<strong>in</strong>nen möchte, wie ehemalige Mitarbeiter des MfS versuchen, ihre e<strong>in</strong>stige Arbeit zu verklären<br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


19 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

und sich zu rehabilitieren, dem wird es nicht erspart bleiben, sich mit diesem Band ause<strong>in</strong>anderzusetzen.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Vgl. Andreas von Bülow: Im Namen des Staates – CIA, BND und die krim<strong>in</strong>ellen Machenschaften<br />

der Geheimdienste, München 1998; Gerhard Feldbauer: Agenten, Terror, Staatskomplott.<br />

Der Mord an Aldo Moro, Rote Briga<strong>den</strong> und CIA, Köln 2000.<br />

[2] Tobias Wunschik: Das M<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> Staatssicherheit und der Terrorismus <strong>in</strong> Deutschland, <strong>in</strong>:<br />

Diktaturen <strong>in</strong> Europa im 20. Jahrhundert – der Fall DDR, hrsg. von He<strong>in</strong>er Timmermann, Berl<strong>in</strong><br />

1996, 289-302; Michael Ploetz: Mit RAF, Roten Briga<strong>den</strong> und Action Directe. Terrorismus und<br />

Rechtsextremismus <strong>in</strong> der Strategie von SED und KPdSU, <strong>in</strong>: Zeitschrift des Forschungsverbundes<br />

SED-Staat 22 (2007), 117-144.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


Mart<strong>in</strong> Aust/Daniel Schönpflug (Hrsg.): Vom Gegner lernen. Fe<strong>in</strong>dschaften und<br />

Kulturtransfers im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Campus 2007,<br />

359 S., ISBN 978-3-593-38442-9, EUR 39,90<br />

Rezensiert von Patrick Bernhard<br />

Deutsches Historisches <strong>Institut</strong>, Rom<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 3<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/03/13756.html<br />

Mit der Frage, <strong>in</strong>wieweit auch antagonistische politische Systeme<br />

vone<strong>in</strong>ander lernen, weisen die Herausgeber dieses Sammelbands<br />

auf e<strong>in</strong> grundsätzliches Problem der historischen<br />

Transferforschung h<strong>in</strong>, die noch immer implizit davon ausgeht,<br />

dass Adaptionsprozesse nur zwischen ideologisch verwandten<br />

Regimes stattf<strong>in</strong><strong>den</strong>. Um hier neue Akzente zu setzen, haben<br />

sich Mart<strong>in</strong> Aust und Daniel Schönpflug auf besonders spannungsreiche<br />

Phasen <strong>in</strong> <strong>den</strong> Beziehungen zwischen Deutschland,<br />

Frankreich, Großbritannien, Russland und <strong>den</strong> USA vom<br />

frühen 19. bis zum späten 20. Jahrhundert konzentriert und<br />

<strong>für</strong> ihr Projekt <strong>in</strong>sgesamt 14 hochkarätige Autor<strong>in</strong>nen und<br />

Autoren verpflichten können. Die thematische Spannbreite der<br />

behandelten Themen ist groß: Es geht um Lernprozesse im<br />

militärischen Bereich, <strong>in</strong> Wissenschaft und Technik, <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

Medien und der Öffentlichkeitsarbeit. Die meisten Beiträge<br />

beschäftigen sich mit <strong>den</strong> Beziehungen zwischen zwei Staaten,<br />

der Fokussierung auf die eigene Nation entkommen die<br />

Herausgeber <strong>den</strong>noch nicht, <strong>den</strong>n <strong>in</strong> immerh<strong>in</strong> zehn Fällen<br />

heißt e<strong>in</strong>er der zu vergleichen<strong>den</strong> Staaten Deutschland.<br />

Wie alle Beiträge deutlich machen, s<strong>in</strong>d Lernprozesse langwierige, komplexe und kreative Vorgänge,<br />

zudem folgen sie oftmals ausgesprochen verschlungenen Wegen und wer<strong>den</strong> von teils starken<br />

Widerstän<strong>den</strong> begleitet. In ke<strong>in</strong>em der beschriebenen Fälle wur<strong>den</strong> etwa ausländische Vorbilder unverändert<br />

adaptiert. Diese mussten vielmehr anverwandelt wer<strong>den</strong>, um <strong>den</strong> eigenen, nationalen Erfordernissen<br />

zu entsprechen. Deutlich wird dabei, wie eng das transnationale mit dem nationalen<br />

Moment verquickt ist. Das Ausland diente Akteuren <strong>in</strong> b<strong>in</strong>nenstaatlichen Diskursen nämlich oftmals<br />

nur als Argument, um die Erfolgsaussichten der eigenen politischen Forderungen zu erhöhen. Nach<br />

<strong>den</strong> Niederlagen gegen Napoleons Heere konnten beispielsweise Preußens Militärreformer das Modell<br />

Frankreich zur Durchsetzung von Vorschlägen nutzen, die seit Längerem <strong>in</strong> der Schublade lagen,<br />

wie Jakob Vogel <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Beitrag zum Transfer militärischen Wissens zwischen <strong>den</strong> „Erbfe<strong>in</strong><strong>den</strong>“<br />

gekonnt herausarbeitet.<br />

Adaptionen beruhten dabei oftmals auf Fehlperzeptionen „des Anderen“. Das Ausland stellte <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>igen Fällen lediglich die Projektionsfolie <strong>für</strong> die eigenen Fantasien vom politischen Ideal dar;<br />

Probleme und Fehlentwicklungen des anderen Landes dagegen wur<strong>den</strong> oftmals bewusst ausgeblendet.


21 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Wie Arnd Bauerkämper <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em lesenswerten Beitrag anhand der Kontakte britischer Kommunisten<br />

zur DDR nachweisen kann, diente das „andere Deutschland“ als sozialistisches Utopia. Transnationale<br />

Geschichte ist demnach immer auch genu<strong>in</strong> nationale Geschichte.<br />

Die Beiträge des Sammelbands machen zudem deutlich, wie schwer Transferprozesse nachzuweisen<br />

s<strong>in</strong>d. Das hängt nur zu e<strong>in</strong>em Teil mit Überlieferungsproblemen zusammen. Vielmehr s<strong>in</strong>d die Quellen<br />

oftmals schwer zu <strong>in</strong>terpretieren. So konkurrieren zumeist sehr ähnliche ausländische und <strong>in</strong>ländische<br />

Modelle mite<strong>in</strong>ander, ohne dass klar würde, welches Vorbild sich am Ende durchsetzte. Geradezu<br />

paradigmatisch ist <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht die Reform der preußischen Armee nach 1813, die sich eben<br />

nicht e<strong>in</strong>deutig an das französische Vorbild anlehnte. Vieles spricht nach Michael Sikoras sehr differenziertem<br />

Beitrag zu Scharnhorsts Reformbemühungen im Gegenteil da<strong>für</strong>, dass die Neuerungen<br />

eher auf e<strong>in</strong>er autochthonen Entwicklung beruhten, die dann allerd<strong>in</strong>gs durch die Vorgänge jenseits<br />

des Rhe<strong>in</strong>s noch e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e spürbare Beschleunigung erfuhren. Es ergeben sich somit beträchtliche<br />

Unschärfen; die Transferforschung macht letztlich die generelle Beschränktheit historischer Erkenntnismöglichkeit<br />

besonders bewusst.<br />

Der Lernbereitschaft zwischen antagonistischen politischen Systemen waren allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong>sgesamt<br />

enge Grenzen gesetzt. Die Autoren sprechen übere<strong>in</strong>stimmend von „sektoralen Übernahmen“ oder<br />

„sektorale[n] Lernprozesse[n]“, von „punktuelle[m] Austausch“, „negative[m] Lernen“ und sogar<br />

von bewusster „Abgrenzung“ (37, 60, 248, 313, 320). Viel bedeutsamer ist, dass sich der Austausch<br />

oft auf politisch eher neutrale Bereiche wie Technik und Organisation beschränkte. Die Grenzen der<br />

Lernbereitschaft waren offensichtlich dann erreicht, wenn sich der zu adaptierende Gegenstand<br />

„aufgrund der unterschiedlichen politischen und sozialen Ordnungen“ nicht <strong>in</strong>tegrieren ließ beziehungsweise<br />

„strukturelle Ähnlichkeiten der Rahmenbed<strong>in</strong>gungen“ nicht gegeben waren (104 und<br />

245). Zu diesem Schluss kommen zum<strong>in</strong>dest Jakob Vogel und vor allem Kiran Patel, der <strong>den</strong> letztlich<br />

ausgebliebenen E<strong>in</strong>fluss des ‚Dritten Reichsʻ auf die Vere<strong>in</strong>igten Staaten am Beispiel des<br />

Reichsarbeitsdiensts untersucht. Die nationalsozialistische <strong>Institut</strong>ion stieß jenseits des Atlantiks auf<br />

vehemente Ablehnung, weil <strong>in</strong> der amerikanischen Gesellschaft die Angst umg<strong>in</strong>g, das Land könne<br />

auf diese Weise vom demokratischen Weg abgebracht wer<strong>den</strong>. Der Transfer scheiterte hier also aufgrund<br />

grundlegender ideologischer Inkompatibilität.<br />

Damit widersprechen die Befunde der e<strong>in</strong>zelnen Beiträge letztlich der Behauptung im Vorwort<br />

der Herausgeber, <strong>in</strong> Konstellationen fundamentaler Gegnerschaft könne der transnationale Austausch<br />

„besonders <strong>in</strong>tensiv“ se<strong>in</strong>. Hier zeigt sich die Schwachstelle des Sammelbands: Es fehlt weitestgehend<br />

der Maßstab, nach dem die tatsächliche Qualität der hier präsentierten zwischenstaatlichen Beziehungen<br />

gemessen wer<strong>den</strong> könnte. Beispielhaft ist <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht der Beitrag von Andreas Wirsch<strong>in</strong>g<br />

zum Antibolschewismus <strong>in</strong> der frühen Weimarer Republik. Der Augsburger Ord<strong>in</strong>arius weist zwar<br />

darauf h<strong>in</strong>, dass zur russischen Revolution <strong>in</strong> kürzester Zeit 1200 Publikationen <strong>in</strong> Deutschland erschienen,<br />

setzt diese Angabe aber nicht <strong>in</strong>s Verhältnis etwa zur Zahl der Veröffentlichungen, die im<br />

gleichen Zeitraum zum italienischen Faschismus erschienen. Durch die Arbeiten von Wolfgang Schieder<br />

wissen wir zum<strong>in</strong>dest ansatzweise, wie sehr Mussol<strong>in</strong>is „Machtergreifung“ auf die deutsche<br />

Rechte und ihre Pläne zur nationalen Revolution ausstrahlte. [1] Im Beitrag von Oliver Dard und<br />

Dieter Gosew<strong>in</strong>kel zum Planungsdiskurs zwischen Frankreich und Deutschland <strong>in</strong> der Zwischenkriegszeit<br />

wird das Manko des Sammelbands dann noch evi<strong>den</strong>ter: Die bei<strong>den</strong> Autoren konzedieren<br />

nämlich, dass der Austausch von Rationalisierungsexperten über <strong>den</strong> Rhe<strong>in</strong> h<strong>in</strong>weg letztlich „ohne<br />

dauerhaften Widerhall“ blieb, und weisen gleichzeitig darauf h<strong>in</strong>, dass der amerikanische E<strong>in</strong>fluss<br />

auf Frankreich ungleich stärker war.<br />

Nun könnte man, wenn man die Ergebnisse der e<strong>in</strong>zelnen Studien zusammennimmt, im Umkehrschluss<br />

vermuten, dass es generell zwischen strukturell ähnlichen Regimes deutlich häufiger und vor<br />

allem zu <strong>in</strong>tensiveren Austauschprozessen kommt als zwischen antagonistischen Staaten. Wenn sich<br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


22 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

das bewahrheiten sollte, dann s<strong>in</strong>d Transfers letztlich doch e<strong>in</strong> valider Indikator <strong>für</strong> die Nähe von politischen<br />

Systemen. Der Sammelband von Aust und Schönpflug wird auf je<strong>den</strong> Fall künftigen Transferforschungen<br />

als Kontrollparameter bei der Beantwortung dieser grundlegen<strong>den</strong> Frage dienen.<br />

Anmerkung:<br />

[1] Vgl. Wolfgang Schieder: Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland, Gött<strong>in</strong>gen<br />

2008.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


Theresia Bauer u.a. (Hrsg.): Gesichter der <strong>Zeitgeschichte</strong>. Deutsche Lebensläufe im<br />

20. Jahrhundert, München: Ol<strong>den</strong>bourg 2009, 320 S., ISBN 978-3-486-58991-7, EUR 49,80<br />

Rezensiert von Klaus-Dietmar Henke<br />

Technische Universität, Dres<strong>den</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 9<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/09/16615.html<br />

Hier haben wir e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e Festschrift vor uns, die tatsächlich<br />

anschaulich macht, was zu zeigen sie verspricht: „Lebenszusammenhänge<br />

überwölben die Zäsuren, mit <strong>den</strong>en die Pragmatik<br />

der Forschung die Zeitläufte <strong>in</strong> handhabbare Stücke<br />

teilt. Verknüpfungen wer<strong>den</strong> sichtbar zwischen Öffentlichem<br />

und Privatem, Ideen und Interessen, langfristigen Prozessen<br />

und prägen<strong>den</strong> Ereignissen, <strong>den</strong> Verhältnissen und ihrer Erfahrung<br />

und Deutung, zwischen dem E<strong>in</strong>zelnen und der Gesellschaft,<br />

<strong>in</strong> der er agiert.“ Das überrascht bei diesem ziemlich<br />

verwilderten Genre – und doch wieder nicht, <strong>den</strong>n die Herausgeber<br />

und Autoren dieses Sammelbands s<strong>in</strong>d alle durch<br />

die Schule von Hans Günter Hockerts gegangen, der bekanntlich<br />

e<strong>in</strong>en geradezu konstitutionellen Mangel an Kompromissfähigkeit<br />

<strong>in</strong> Qualitätsfragen aufweist.<br />

Der kürzlich emeritierte Universitätsprofessor <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität<br />

ist das Musterbild methodologischer Präzision und forscherischer<br />

Lei<strong>den</strong>schaft, von ebenso freundlicher Offenheit wie akademischer<br />

Fairness – e<strong>in</strong> homo academico-democraticus von<br />

auffallender gedanklicher Str<strong>in</strong>genz und fe<strong>in</strong>s<strong>in</strong>nigem Stil. Wie e<strong>in</strong>ige andere herausragende Zeithistoriker<br />

se<strong>in</strong>er Generation (Ludolf Herbst etwa) hat er nie schnellen Ruhm <strong>in</strong> <strong>den</strong> Medien oder E<strong>in</strong>fluss<br />

durchs politische H<strong>in</strong>tertürchen gesucht, sondern sich der Sache gewidmet, <strong>für</strong> die er bezahlt wurde:<br />

Der <strong>in</strong>tellektuellen Vermessung, der dreifachen deutschen <strong>Zeitgeschichte</strong>, wie er sagt, sowie der Förderung<br />

se<strong>in</strong>er Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler. Tatsächlich ist Hockerts wie nur wenige Hochschullehrer <strong>in</strong><br />

allen Epochen der deutschen <strong>Zeitgeschichte</strong> zu Hause, was ihn etwa auf e<strong>in</strong>em se<strong>in</strong>er Paradefelder<br />

(neben der Geschichte des Katholizismus, der Wiedergutmachung von NS-Unrecht, der DDR-<br />

Geschichte, der Geschichtstheorie...), der historischen Entfaltung des Sozialstaats, <strong>in</strong> <strong>den</strong> Stand setzte,<br />

<strong>den</strong> ständig geforderten, aber sehr selten e<strong>in</strong>gelösten historischen Vergleich fruchtbar zu machen.<br />

Auch diese Breite des Ansatzes und der Grad der Durchdr<strong>in</strong>gung des Gegenstands ist <strong>in</strong> <strong>den</strong> „Gesichtern<br />

der <strong>Zeitgeschichte</strong>“ gespiegelt.<br />

Hockerts’ Elevenschar – Theresia Bauer, Elisabeth Kraus, Christiane Kuller und W<strong>in</strong>fried Süß an<br />

der Spitze – ehrt <strong>den</strong> Meister mit e<strong>in</strong>er demonstrativ antipompösen, von außen gar nicht als solche<br />

erkennbaren Festschrift also adäquat; schließlich wissen se<strong>in</strong>e Doktoran<strong>den</strong> aus eigener Erfahrung<br />

um die „Distanz, mit der er jedem Aufheben um se<strong>in</strong>e Person begegnet“, wie sie im Vorwort schrei-


24 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

ben. Auch <strong>in</strong> diesem sympathischen Falle hat man zwar e<strong>in</strong>e beträchtliche <strong>in</strong>nere Abwehr gegen das<br />

gut geme<strong>in</strong>te kompilatorische Genre der Festschriften zu überw<strong>in</strong><strong>den</strong>, stellt aber bald e<strong>in</strong>igermaßen<br />

überrascht fest, dass man <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Buch mit e<strong>in</strong>er sauber fokussierten und im Ganzen adäquat durchgeführten<br />

Konzeption h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>geraten ist. Es geht um Biografien von Frauen und Männern überwiegend<br />

aus der „zweiten Reihe“, <strong>in</strong> deren Leben sich gleichwohl „Grundprobleme und leitende Ten<strong>den</strong>zen“<br />

der NS-Zeit, der alten Bundesrepublik und der DDR verdichten. Die meisten Aufsätze s<strong>in</strong>d ganz im<br />

Stile des Lehrmeisters – selbst Herausgeber und prom<strong>in</strong>enter Autor der „Neuen Deutschen Biographie“<br />

– akribisch aus <strong>den</strong> Akten gearbeitet.<br />

Fast durchweg ist die E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung der 18 epochedeuten<strong>den</strong> Porträts <strong>in</strong> die Zeitläufe geglückt.<br />

Glänzende M<strong>in</strong>iaturen s<strong>in</strong>d darunter: Etwa die von Stephan H. L<strong>in</strong>dner über Carl Ludwig Lautenschläger<br />

von der I.G. Farben; von Jaromír Balcar über Bernhard Adolf, <strong>den</strong> weith<strong>in</strong> unbekannt gebliebenen<br />

Chefausbeuter des Protektorats Böhmen und Mähren; von Susanna Schrafstetter über die<br />

zeitgemäße Karriere von Gustav Adolf Sonnenhol, e<strong>in</strong>es Altnazis als Botschafter der Bundesrepublik<br />

Deutschland und Apartheidfans <strong>in</strong> Südafrika. Hervorzuheben s<strong>in</strong>d auch Jutta Brauns Porträt der armen<br />

Fechtweltmeister<strong>in</strong> Helene Mayer, Dieter Pohls rasante Skizze des ebenso <strong>in</strong>telligenten wie ekelhaften,<br />

erst jüngst <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Weißensee verstorbenen Geheimdienstkarrieristen He<strong>in</strong>z Felfe oder Thomas<br />

Schlemmers souveräne und kompakte Deutung des „vergessenen M<strong>in</strong>isterpräsi<strong>den</strong>ten“ Hans<br />

Ehard. Julius Kard<strong>in</strong>al Döpfner und Georg Picht wer<strong>den</strong> ebenfalls zusehends lebendiger, während<br />

man sich die Lebensbilder von Theresia Bauer und Wilfried Rudloff zu Gemüte führt. Manches mäandert<br />

e<strong>in</strong> bisschen wie die Skizze der Stifter<strong>in</strong> Amélie Thyssen (Elisabeth Kraus), manches me<strong>in</strong>t<br />

man so schon des Öfteren gelesen zu haben wie etwa die Vita von Joseph Rovan (Claudia Moisel).<br />

Methodologisches darf natürlich auch nicht fehlen. Das besorgt <strong>in</strong> praktischer Nutzanwendung der<br />

mittlerweile als Lektor tätige Tobias W<strong>in</strong>stel. Er verfasst e<strong>in</strong> smart geschriebenes Plädoyer <strong>für</strong> die<br />

Biografik nebst Gebrauchsanweisung <strong>für</strong> <strong>den</strong> wer<strong>den</strong><strong>den</strong> Biografen, e<strong>in</strong>en launigen „Dekalog der<br />

biographischen Moral“ – wie die richtigen Zehn Gebote e<strong>in</strong> knallhartes benchmark<strong>in</strong>g, dem sich<br />

nicht jeder gewachsen fühlen wird („Du sollst nicht fantasielos noch lustfe<strong>in</strong>dlich <strong>in</strong> Bezug auf<br />

sprachliche Fertigkeiten se<strong>in</strong>!“).<br />

Wirkliche Ausfälle, die <strong>in</strong> herkömmlichen Festschriften schmerzliche Regel, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> dieser Festgabe<br />

<strong>für</strong> e<strong>in</strong>en bedeuten<strong>den</strong> Forscher und Mentor nicht zu beklagen. Sie tönt im untrüglichen Sound<br />

der Schule von Hans Günter Hockerts, der menschenleere Strukturlandschaften <strong>in</strong> der Historiografie<br />

verabscheut und selbst immer mal e<strong>in</strong>e Biografie schreiben wollte. Vielleicht tut er es ja gerade, und<br />

sei es, um die Begeisterung se<strong>in</strong>er exzellenten Schülerschar <strong>für</strong> <strong>den</strong> biografischen Ansatz <strong>in</strong> der Geschichtsschreibung<br />

noch zu befeuern.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


Wolfgang Benz: Auftrag Demokratie. Die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik und<br />

die Entstehung der DDR 1945–1949, Berl<strong>in</strong>: Metropol 2009, 528 S., ISBN 978-3-940938-42-8,<br />

EUR 29,90<br />

Rezensiert von Heike Amos<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 12<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/12/16308.html<br />

Wolfgang Benz verfolgt mit se<strong>in</strong>er jüngst erschienenen Monographie<br />

das Ziel, im geschichtsträchtigen Jubiläumsjahr 2009<br />

die „<strong>in</strong> <strong>den</strong> Schatten gedrängte Kenntnis über die Entstehungs-<br />

und Gründungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland<br />

(BRD) wie der Deutschen Demokratischen Republik<br />

(DDR)“ wieder hervorzuholen. Benz kritisiert, dass sich <strong>in</strong> der<br />

öffentlichen Me<strong>in</strong>ung die „griffige Metapher von der ‚Stunde<br />

Nullʻ“, die sich vom Zusammenbruch des NS-Regimes im Mai<br />

1945 bis zu <strong>den</strong> bei<strong>den</strong> Staatsgründungen im September bzw.<br />

im Oktober 1949 ausgedehnt haben soll, zur „bequemen Legende“<br />

(9, 478) gewor<strong>den</strong> sei. Die Entwicklung im Vier-<br />

Zonen-Deutschland unter alliierter Besatzungsherrschaft „wäre<br />

dann reduziert auf <strong>den</strong> verme<strong>in</strong>tlich selbstverursachten Wiederaufbauerfolg<br />

im Westen“ und die „selbstgefällige moralische<br />

Überlegenheit im Osten“ (9), mit dem „praktizierten<br />

Antifaschismus“ die richtigen Lehren aus der Geschichte<br />

gezogen zu haben. Die unangenehmen Assoziationen der Besatzungszeit<br />

– Hunger und Flüchtl<strong>in</strong>gsnot, Demontage und<br />

Entnazifizierung, Demut, Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit<br />

bei <strong>den</strong> Deutschen – wür<strong>den</strong> lieber verdrängt als wahrgenommen. Auf alliierte Weisung nämlich<br />

wurde <strong>in</strong> Deutschland Demokratie gegründet: im Westen durch Wahlen, durch legitimierte parlamentarische<br />

Repräsentation, im Osten als „antifaschistisch-demokratisches“ Ordnungsmodell auf<br />

Weisung Moskaus. Damit seien aber, so Benz, die Ergebnisse der bei<strong>den</strong> Staatsgründungen noch<br />

nicht vorweggenommen, weder der ökonomische und politische Erfolg der BRD noch das Scheitern<br />

der DDR: „Nach unterschiedlichen Konzeptionen <strong>in</strong>s Leben getreten, hatten beide deutsche Staaten<br />

die Chance des Neubeg<strong>in</strong>ns [...] Aber weder war die BRD zum Restaurationsregime determ<strong>in</strong>iert<br />

noch musste die DDR sich zwangsläufig zur stal<strong>in</strong>istischen Diktatur entwickeln.“ (10)<br />

Wolfgang Benz will mit se<strong>in</strong>em Buch die dramatischen Entstehungsbed<strong>in</strong>gungen, die politischen<br />

und ökonomischen Strukturen der bei<strong>den</strong> Staatsgründungen nachzeichnen und damit e<strong>in</strong>er „Legen<strong>den</strong>-<br />

und Mythenbildung“ (10, 477) entgegenwirken. In sieben Kapiteln – Besatzungsherrschaft<br />

1945/46, Bizone, Marshallplan und Währungsreform im Westen, Volkskongreßbewegung und Berl<strong>in</strong>-Blockade<br />

im Osten, Weg zum Grundgesetz, Bundestagswahlkampf, zwei Staatsgründungen –<br />

wird dargestellt, wie sich auf vielen Handlungsebenen Wiederaufbau und Neubau im Vier-Zonen-<br />

Deutschland unter alliierten Vorgaben und Kontrollen vollzog.


26 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Der rechtsstaatliche Weg wurde <strong>den</strong> Deutschen im Westen von <strong>den</strong> Westalliierten förmlich aufgedrängt,<br />

so Benz. Es habe e<strong>in</strong>en „Auftrag Demokratie“ gegeben, dem oft westdeutscher Widerstand<br />

entgegentrat. E<strong>in</strong> Beispiel da<strong>für</strong> war die Neugestaltung des Rundfunksystems, das die Alliierten gegen<br />

die deutschen Vorstellungen e<strong>in</strong>führten und über dessen Funktionieren sie bis 1955 wachten.<br />

Die (West)deutschen wollten zwar e<strong>in</strong> Art „Propagandam<strong>in</strong>isterium“ vermei<strong>den</strong>, konnten sich e<strong>in</strong>en<br />

öffentlichen Rundfunk ohne staatliche Kontrolle jedoch nicht vorstellen. Aus Großbritannien und<br />

<strong>den</strong> USA wurde das Konzept der Unabhängigkeit des Rundfunks vom Staat und die Dezentralisierung<br />

der Sender und Radiostationen e<strong>in</strong>geführt. Für öffentlich-rechtliche Anstalten, die nicht dem<br />

Zugriff des Staatsapparates ausgesetzt waren, gab es <strong>in</strong> Deutschland ke<strong>in</strong>e Vorbilder. In der SBZ<br />

entwickelte die SMAD h<strong>in</strong>gegen <strong>den</strong> Rundfunk zur Lenkung der öffentlichen Me<strong>in</strong>ung; die Kontrolle<br />

des zentralisierten Mediums erfolgte dann durch e<strong>in</strong>e Abteilung der Ost-Berl<strong>in</strong>er SED-Zentrale.<br />

Auch angesichts des alliierten Auftrags zur Weststaatsgründung (Frankfurter Dokumente) sowie<br />

bei <strong>den</strong> Beratungen und der Verabschiedung des Grundgesetzes als Verfassung e<strong>in</strong>es westdeutschen<br />

Staates regte sich zunächst Widerstand bei allen Parteienvertretern: Westdeutsche Politiker wollten<br />

das Odium und die Verantwortung der Spaltung Deutschlands nicht auf sich nehmen.<br />

Irritierend bei der Lektüre der Studie s<strong>in</strong>d Sätze bzw. ganze Absätze, die wortwörtlich an verschie<strong>den</strong>en<br />

Stellen der Darstellung wiederholt wer<strong>den</strong> (95, 96, 98, 141, 144, 217 usw.). So schien<br />

Benz der halbseitige Absatz – die rhetorische Frage und Antwort danach, warum es von Seiten der<br />

Deutschen gegen die Besatzungsmächte nirgendwo und nirgendwann zu nennenswerten Aktivitäten,<br />

Sabotage oder Widerstandshandlungen gekommen sei – so wichtig, dass er zwei Mal <strong>in</strong> verschie<strong>den</strong>en<br />

Zusammenhängen auftaucht (95, 217).<br />

Während der Weg zur Errichtung der Bundesrepublik detailliert, faktenreich und archivgestützt<br />

erörtert wird – u. a. lassen längere Zitate von Zeitzeugen auch e<strong>in</strong>en Blick auf die deutsche Bef<strong>in</strong>dlichkeit<br />

unter der Besatzung zu –, gilt dies <strong>für</strong> die dargestellten Ereignisse sowie die politisch Handeln<strong>den</strong><br />

<strong>in</strong> der SBZ nicht. Nicht nur quantitativ gesehen geht Benz allzu schnell und undifferenziert<br />

über die ostdeutsche Nachkriegsgeschichte h<strong>in</strong>weg, auch se<strong>in</strong>e Literaturnachweise verwundern. [1]<br />

Der Leser gew<strong>in</strong>nt <strong>den</strong> E<strong>in</strong>druck, als habe der Autor die Forschungsliteratur zur SBZ/DDR-<br />

Geschichte der letzten zwanzig Jahre nicht wahrgenommen. An verschie<strong>den</strong>en Textstellen behauptet<br />

er sogar, es existieren noch ke<strong>in</strong>e Forschungsergebnisse über bestimmten Themenfelder – wie über<br />

die Schaffung und Stal<strong>in</strong>isierung der SED, über <strong>den</strong> Gründungsprozess der DDR oder zur ostdeutschen<br />

Verfassungsdiskussion. In e<strong>in</strong>em anderen Textabschnitt wird erklärt, die Höhe der Reparationsleistungen<br />

aus der SBZ an die Sowjetunion sei unbekannt, um dann e<strong>in</strong>ige Seiten weiter darüber zu<br />

referieren und neue Forschungsliteratur anzugeben! Memoiren von ostdeutschen oder sowjetischen<br />

Politikern wer<strong>den</strong> ebenso wie Biographien über diese nicht berücksichtigt.<br />

Wolfgang Benz fasst mit se<strong>in</strong>em neuen Buch Ergebnisse aus drei Jahrzehnten eigener Forschung<br />

zur deutschen Nachkriegsgeschichte zusammen. Die Studie ist sicher e<strong>in</strong> Standardwerk zur Vorgeschichte<br />

der Bundesrepublik. Als Standardwerk zur Gründungsgeschichte der DDR kann es h<strong>in</strong>gegen<br />

nicht bezeichnet wer<strong>den</strong>.<br />

Anmerkung:<br />

[1] Oft zitiert Benz: Autorenkollektiv unter Leitung von Rolf Badstübner: Geschichte der Deutschen<br />

Demokratischen Republik, Berl<strong>in</strong> (Ost) 1981; Rolf Badstübner: DDR. Wer<strong>den</strong> und Wachsen.<br />

Zur Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik, Frankfurt a. M. 1975; Wolfgang Me<strong>in</strong>icke:<br />

Die Entnazifizierung <strong>in</strong> der sowjetischen Besatzungszone 1945 bis 1948, <strong>in</strong>: ZfG 32 (1984),<br />

968-979; Hermann Weber, Geschichte der DDR, München 1985.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


Ralph Bless<strong>in</strong>g: Der mögliche Frie<strong>den</strong>. Die Modernisierung der Außenpolitik und die deutschfranzösischen<br />

Beziehungen 1923–1929 (= Pariser Historische Studien; Bd. 76), München:<br />

Ol<strong>den</strong>bourg 2008, 507 S., ISBN 978-3-486-58027-3, EUR 59,80<br />

Rezensiert von Wolfgang Elz<br />

Johannes Gutenberg-Universität, Ma<strong>in</strong>z<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 2<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/02/11526.html<br />

Bless<strong>in</strong>gs überarbeitete Dissertation (Humboldt-Universität<br />

Berl<strong>in</strong>) bietet zweierlei. Auf der ersten Ebene liefert sie e<strong>in</strong>e<br />

sehr detaillierte und die Ereignisabläufe gelegentlich auch<br />

breit schildernde Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen<br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong> mittleren Jahren der Weimarer Republik<br />

(unter E<strong>in</strong>beziehung der Vorgeschichte seit dem Ende des Ersten<br />

Weltkriegs und mit e<strong>in</strong>em Ausgriff auf das Jahr 1930).<br />

Um es also an e<strong>in</strong>igen markanten Punkten festzumachen: Es<br />

geht um die Ruhrbesetzung und <strong>den</strong> „Ruhrkampf“ von 1923,<br />

<strong>den</strong> Dawesplan von 1924, die Locarnoverträge von 1925, <strong>den</strong><br />

deutschen Völkerbundbeitritt und das Gespräch von Thoiry<br />

von 1926, <strong>den</strong> deutsch-französischen Handelsvertrag von<br />

1927, <strong>den</strong> Briand-Kellogg-Pakt von 1928, <strong>den</strong> Youngplan von<br />

1929, Briands Europa<strong>in</strong>itiative von 1929/30. Schon die Beispiele<br />

zeigen, dass Bless<strong>in</strong>g dabei an vielen Stellen die zum<br />

Verständnis unverzichtbaren Grundl<strong>in</strong>ien der Beziehungen beider<br />

Staaten zu Großbritannien und <strong>den</strong> USA e<strong>in</strong>beziehen muss.<br />

Im Bereich der deutsch-französischen Beziehungen ist bereits<br />

viel erforscht und veröffentlicht wor<strong>den</strong> und somit das<br />

meiste nicht ganz unbekannt. Bless<strong>in</strong>g kann jedoch durch se<strong>in</strong>e<br />

<strong>in</strong>tensive Auswertung der <strong>für</strong> die betreffen<strong>den</strong> Jahre immer noch nicht veröffentlichten französischen<br />

Akten die e<strong>in</strong>e oder andere Facette h<strong>in</strong>zufügen und damit vor allem das französische Handeln<br />

<strong>in</strong> manchen Punkten plausibler machen. Zwei Handlungsfelder hat er dabei im Blick: Das außenpolitische<br />

Agieren im engeren S<strong>in</strong>ne und die Außenwirtschaftspolitik. Die gesellschaftlichen Beziehungen<br />

und deren Auswirkungen auf die Politik, die <strong>in</strong> <strong>den</strong> letzten Jahren wiederholt <strong>in</strong> der Forschung<br />

Berücksichtigung fan<strong>den</strong>, übersieht er nicht völlig, aber sie wer<strong>den</strong> nur am Rande gestreift. Leider<br />

m<strong>in</strong>dert Bless<strong>in</strong>g die Nutzung des Buches als Nachschlagewerk <strong>für</strong> <strong>den</strong>jenigen, der es lediglich <strong>für</strong><br />

e<strong>in</strong>zelne Fragestellungen der deutsch-französischen politischen Beziehungen jener Jahre konsultieren<br />

will, weil er sich auf e<strong>in</strong> Personenregister beschränkt und das bei der ausgebreiteten Materialfülle<br />

an sich unverzichtbare Sachregister fehlt.<br />

Auf e<strong>in</strong>er zweiten Ebene sucht Bless<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>e Antwort auf die Frage, ob und <strong>in</strong>wieweit sich die<br />

„Modernisierung“ der Außenpolitik <strong>in</strong> Frankreich und Deutschland durchgesetzt und auf die Beziehungen<br />

ausgewirkt bzw. was ihr noch gefehlt habe, um nach 1929 nicht gleich wieder zum Scheitern<br />

der Verständigung zu führen. „Modernisierung“ wird dabei <strong>in</strong> Anlehnung an Schumpeter als Prozess<br />

verstan<strong>den</strong>, der Innovationen umsetzt; im konkreten Fall bezieht sich das auf das „liberale Modell<br />

der Frie<strong>den</strong>ssicherung“ (15), dessen drei Hauptl<strong>in</strong>ien „kollektive Sicherheit, wirtschaftliche Liberali-


28 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

sierung und Demokratisierung“ darstellen (180). Zum Ende e<strong>in</strong>es je<strong>den</strong> e<strong>in</strong>zelnen Abschnitts wird –<br />

e<strong>in</strong> wenig mechanisch – danach gefragt, <strong>in</strong>wieweit das jeweils Beschriebene nun der Modernisierung<br />

im erläuterten S<strong>in</strong>ne geholfen habe, wobei ganz überwiegend die Sicherheitsfrage und der Aspekt<br />

der wirtschaftlichen Liberalisierung Berücksichtigung f<strong>in</strong><strong>den</strong>, während offenbar „Demokratisierung“<br />

als gegeben angenommen wird.<br />

Dieses methodische Herangehen ist natürlich völlig legitim und von der Idee her nicht ohne Reiz:<br />

Die deutsch-französischen Beziehungen <strong>in</strong> <strong>den</strong> mittleren Jahren der Weimarer Republik und das<br />

Handeln der Hauptakteure dürften <strong>in</strong>zwischen h<strong>in</strong>reichend beschrieben se<strong>in</strong>, sodass wohl nur noch<br />

neue Fragestellungen auch neue Erkenntnisse erhoffen lassen. Aber bei Bless<strong>in</strong>gs Umsetzung kommt<br />

doch e<strong>in</strong> wenig Zweifel an der Tragfähigkeit se<strong>in</strong>es konzeptionellen Herangehens auf. Das mag an<br />

e<strong>in</strong>em Aspekt erläutert wer<strong>den</strong>: Immer wieder steht bei ihm auf der e<strong>in</strong>en Seite das französische<br />

Sicherheitsstreben, auf der anderen Seite der deutsche Revisionismus. Das ist an sich nichts Neues<br />

und wird grosso modo auch von der bisherigen Forschung zu <strong>den</strong> deutsch-französischen Beziehungen<br />

<strong>in</strong> der Zeit der Weimarer Republik so gesehen. Nun sche<strong>in</strong>t jedoch <strong>für</strong> Bless<strong>in</strong>g das französische<br />

Sicherheitsstreben nicht grundsätzlich der Modernisierung entgegenzustehen, sofern es sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />

System kollektiver Sicherheit habe <strong>in</strong>tegrieren lassen – während der deutsche Revisionismus offenbar<br />

damit strukturell nicht vere<strong>in</strong>bar gewesen se<strong>in</strong> soll. Diese E<strong>in</strong>schätzung hängt wohl damit zusammen,<br />

dass der Autor offenbar <strong>den</strong> Versailler Vertrag <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e geeignete Basis oder je<strong>den</strong>falls e<strong>in</strong>en<br />

h<strong>in</strong>reichen<strong>den</strong> Ausgangspunkt <strong>für</strong> e<strong>in</strong> System kollektiver Sicherheit hält. Dies wird besonders<br />

deutlich, wo er – ohne das wirklich beweisen zu können – <strong>in</strong>s<strong>in</strong>uiert, Po<strong>in</strong>caré sei es 1923 mit der<br />

Ruhrbesetzung möglicherweise nur um die strikte E<strong>in</strong>haltung des Versailler Vertrags und damit um<br />

<strong>den</strong> Erhalt „e<strong>in</strong>es festgelegten Rechtssystems“ (138) gegangen, also sei se<strong>in</strong> Vorgehen letztlich „modernisierend“<br />

gewesen.<br />

Aber was wäre das <strong>für</strong> e<strong>in</strong> stabiles „System kollektiver Sicherheit“, <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>e Seite auf dasjenige<br />

verzichtet, was sie <strong>für</strong> ihre nationalen Interessen hält, während die andere Seite ihr nationales Anliegen<br />

erfüllt sieht? Muss nicht auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em solchen System e<strong>in</strong> Mechanismus <strong>für</strong> <strong>den</strong> Interessenausgleich<br />

wirken, um überhaupt erst kollektive Sicherheit zu ermöglichen? E<strong>in</strong> hartgesottener Vertreter<br />

der „realistischen Schule“ würde außerdem fragen: Kann es e<strong>in</strong>e solche kollektive Sicherheit bei<br />

grundlegend divergieren<strong>den</strong> Interessen <strong>in</strong>nerhalb des Systems überhaupt geben, sofern sie nicht (vor-<br />

übergehend) von e<strong>in</strong>em Hegemon oktroyiert wird? Und schließlich e<strong>in</strong>e <strong>für</strong> <strong>den</strong> Historiker bei aller<br />

Theoriebildung stets mitzube<strong>den</strong>kende Frage: Inwieweit muss <strong>den</strong> e<strong>in</strong>zelnen Hauptakteuren, also<br />

<strong>den</strong> verantwortlichen Politikern (die bei Bless<strong>in</strong>g eher blass bleiben), eigentlich selbst der tatsächliche<br />

oder verme<strong>in</strong>tliche Widerspruch ihrer Interessenpolitik gegenüber <strong>den</strong> „modernen“ Ideen bewusst<br />

gewesen se<strong>in</strong>, damit die Fragestellung nicht <strong>in</strong> die Gefahr des Anachronismus gerät?<br />

Freilich zeigen solche Nachfragen an Bless<strong>in</strong>gs Studie <strong>den</strong> Wert se<strong>in</strong>er Suche nach neuen Fragestellungen<br />

– und wenn der Leser nicht auf Anhieb und restlos überzeugt ist, so bedeutet das doch<br />

ke<strong>in</strong>eswegs, dass diese Suche nach neuen Erkundungswegen nicht an sich wertvoll und erkenntnisfördernd<br />

wäre.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


Friedhelm Boll/Anja Kruke (Hrsg.): Der Sozialstaat <strong>in</strong> der Krise. Deutschland im <strong>in</strong>ternationalen<br />

Vergleich, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2008, 384 S., ISBN 978-3-8012-4185-8, EUR 29,90<br />

Rezensiert von E. P. Hennock<br />

University of Liverpool<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 6<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/06/15261.html<br />

This is a repr<strong>in</strong>t of articles from the Archiv <strong>für</strong> Sozialgeschichte<br />

47 (2007). In view of the fact that it is the journal’s<br />

first E<strong>in</strong>zelveröffentlichung, it is to be hoped that the editors<br />

will make future books more reader-friendly. Journals are<br />

normally read selectively accord<strong>in</strong>g to a reader’s <strong>in</strong>terest.<br />

Books are another matter, even if they began life as a collection<br />

of conference papers on diverse aspects of a theme. Such<br />

collections do not make a successful book unless the editor<br />

provides an <strong>in</strong>troduction that i<strong>den</strong>tifies the common questions<br />

and the various approaches to a set of answers. Here there is<br />

noth<strong>in</strong>g of the k<strong>in</strong>d. As <strong>in</strong> a journal, we have for each paper<br />

the briefest of summaries and that is all the guidance that<br />

there is. Not merely is there neither <strong>in</strong>troduction or conclusion,<br />

such as might be expected from a book, but there is no<br />

<strong>in</strong>dex. In view of the considerable overlap between the thirteen<br />

contributions, that is a serious omission. Nor is there a<br />

list of abbreviations for a subject notorious for its acronyms.<br />

In short, this is a difficult book to read.<br />

There does not seem to be a common question so much as a common subject matter. „Sie befassen<br />

sich“, writes Hans Günter Hockerts of the contributions, „mit <strong>den</strong> Krisenersche<strong>in</strong>ungen, die <strong>den</strong><br />

Sozialstaat nach se<strong>in</strong>er Glanzzeit im Boom der Nachkriegsjahre <strong>in</strong> Bedrängnis gebracht [...] haben. [...]<br />

Die Beiträge nehmen vorwiegend <strong>den</strong> deutschen Sozialstaat <strong>in</strong> <strong>den</strong> Blick, sie rücken ihn jedoch <strong>in</strong><br />

das Licht übergreifender Zusammenhänge und oft auch <strong>in</strong> <strong>den</strong> Blickw<strong>in</strong>kel <strong>in</strong>ternationaler Vergleiche.“<br />

(3) That is as near as we get to an <strong>in</strong>troduction. Thereafter he turns to his own contribution<br />

which draws effectively on his detailed knowledge of the German welfare state. There is certa<strong>in</strong>ly no<br />

common approach; <strong>in</strong> fact the variety of approaches is one of the stimulat<strong>in</strong>g features of the book.<br />

Unfortunately there is also no sign of any awareness of each other’s work or revision <strong>in</strong> the light of it.<br />

How does one study the „Sozialstaat <strong>in</strong> der Krise“? Was it a pervasive phenomenon or were there<br />

significant differences between policy-doma<strong>in</strong>s? Secondly, how should one place the German welfare<br />

state <strong>in</strong> <strong>in</strong>ternational comparison? Thirdly, what is a crisis? Five of the chapters deal with s<strong>in</strong>gle<br />

policy-doma<strong>in</strong>s – education (Wilfried Rudloff), old age pensions (Bernhard Ebb<strong>in</strong>ghaus/Isabelle<br />

Schulze), health (Ulrike L<strong>in</strong>dner), <strong>in</strong>validity or disability (Mart<strong>in</strong> Lengwiler) and unemployment or<br />

employment (Robert Salais). All but Ebb<strong>in</strong>ghaus/Schulze limit <strong>in</strong>ternational comparison to two or<br />

three other states. This leads to a fuller understand<strong>in</strong>g of the circumstances that contributed to na-


30 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

tional differences than does the approach of those who range over the whole European Union or<br />

even <strong>in</strong>clude non-European states. Christiane Kuller’s chapter on „Soziale Sicherung von Frauen“<br />

might look like another study specific to a policy-doma<strong>in</strong>. But her central question – „wie der Sozialstaat<br />

mit der Pflege- und Versorgungsleistung, die <strong>in</strong> Familien unentgeltlich und ganz überwiegend<br />

von Frauen erbracht wird, umgeht“ – is, as she emphasises, systemübergreifend. That is not the case<br />

with education, health or unemployment which are firmly located <strong>in</strong> specific m<strong>in</strong>istries. In the case<br />

of the disabled, Lengwiler argues that what made the relevant German policy peculiarly immune to<br />

any sense of crisis was its location <strong>in</strong> two <strong>in</strong>surance programmes, adm<strong>in</strong>istered by different departments,<br />

for each of which this client group was of m<strong>in</strong>or importance. His <strong>in</strong>ternational comparison is<br />

particularly <strong>in</strong>terest<strong>in</strong>g exactly because it takes the political peculiarities of his four countries seriously.<br />

Ebb<strong>in</strong>ghaus and Schulze’s attempt to deal with Alterssicherung across the whole European<br />

Union takes on too much. The con<strong>den</strong>sation required makes their exposition hard to follow.<br />

Among those who take the entire welfare state as their subject Hockerts and Alexander Nützenadel<br />

start well before the Nachkriegsboom. Hockerts suggests that the establishment of the modern solidaristic<br />

welfare state be subdivided <strong>in</strong>to two periods, the 1930s and 1940s on the one hand and the<br />

1950s to the mid-1970s on the other. His po<strong>in</strong>t is that <strong>in</strong> the first period, aga<strong>in</strong>st the background of<br />

crises of the world economy and war, the important developments were primarily at the level of programmes<br />

and their grow<strong>in</strong>g legitimacy. It was the period after 1950 that actually saw the strik<strong>in</strong>g expansion<br />

of welfare provisions on the basis of economic growth. Much the same po<strong>in</strong>t is made by<br />

Nützenadel who argues that perceptions may change dur<strong>in</strong>g economic crises but reform occurs <strong>in</strong><br />

times of boom. This periodisation works well for Germany and the states of the European cont<strong>in</strong>ent<br />

devastated by the war. It does not work for Brita<strong>in</strong>. As Hockerts mentions <strong>in</strong> pass<strong>in</strong>g, there the Beveridge<br />

Report was more than just a conceptual <strong>in</strong>novation, it actually served as the basis of the crucial<br />

reforms of the post-war Labour government. These were undertaken at a time of great economic<br />

str<strong>in</strong>gency. It would have been better to have made a dist<strong>in</strong>ction between the periodisation appropriate<br />

for the victors and for the new regimes that emerged from the reconstruction of the defeated Nazi<br />

New Order. In that case one might have asked whether there was a similar post-war phenomenon <strong>in</strong><br />

the USA. We hear noth<strong>in</strong>g of the USA after the pass<strong>in</strong>g of the Social Security Act of 1935. Yet one<br />

of the important contributions of Theda Skocpol to the historiography of the welfare state <strong>in</strong> the<br />

USA is her emphasis on the role of war <strong>in</strong> the creation of sem<strong>in</strong>al welfare provisions for veterans.<br />

The generous provisions for education and hous<strong>in</strong>g for veterans after World War II fit well <strong>in</strong>to her<br />

thesis. Nor is it only the victors that deserve consideration here. There are questions to be asked<br />

about the periodisation of Swedish welfare policy. In short the <strong>in</strong>ternational perspective is too German-centred<br />

at this po<strong>in</strong>t.<br />

In this context it should be said that eastern Europe is excluded from consideration throughout except<br />

for the DDR. There the contribution of Beatrix Bouvier serves as prelude to Gerhard A. Ritter’s<br />

study of the role of welfare policies <strong>in</strong> the process of German re-unification. He repeats his important<br />

thesis that the priority accorded by the Kohl government to achiev<strong>in</strong>g unification was damag<strong>in</strong>g<br />

to the unemployment and old age <strong>in</strong>surance systems of the Federal Republic, whose contributors were<br />

used to reduce the impact of the cost of unification on the taxpayer and therefore on the immediate<br />

politics. Secondly that reunification reversed whatever priorities there were to be found <strong>in</strong> the 1980s<br />

<strong>in</strong> the reform of the f<strong>in</strong>ances of the German welfare state.<br />

Salais on the deconstruction of the category of unemployment provides perhaps the most <strong>in</strong>cisive<br />

of all the contributions. He discusses the ambiguous role of statistics <strong>in</strong> the development and legitimation<br />

of reform. He argues that statistics are far from self-explanatory but presuppose the prior establishment<br />

of conventions for their construction and <strong>in</strong>terpretation, which are not necessarily the<br />

same <strong>in</strong> all countries. It requires time and effort before common conventions are observed even ap-<br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


31 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

proximately. In focuss<strong>in</strong>g on the cognitive framework which sets the boundaries for debate by def<strong>in</strong><strong>in</strong>g<br />

how to quantify and qualify socially-legitimate issues (372) he did not <strong>in</strong>tend to put a question<br />

mark aga<strong>in</strong>st the trust<strong>in</strong>g reliance on statistics as the basis of <strong>in</strong>ternational comparison shown by<br />

most of the other contributors. He had not read their contributions at the time. Yet one may well<br />

conclude that this is what <strong>in</strong> effect he has done. His attack is actually directed at the change of focus<br />

that has replaced the long-stand<strong>in</strong>g policy of support<strong>in</strong>g the unemployed by the very different policy<br />

of maximis<strong>in</strong>g employment. He argues that this was done by tacitly chang<strong>in</strong>g the statistical conventions<br />

and has led to a misunderstand<strong>in</strong>g of the evi<strong>den</strong>ce and the creation of ever more and ever shorter<br />

part-time employment.<br />

That contribution still has someth<strong>in</strong>g highly relevant to say <strong>in</strong> late 2008 and s<strong>in</strong>ce. That is not obvious<br />

of the book as a whole. The Krise, to which its title refers and which W<strong>in</strong>fried Süß correctly<br />

analyses as hav<strong>in</strong>g been of three different k<strong>in</strong>ds, a f<strong>in</strong>ancial crisis, a structural crisis and a crisis of<br />

political legitimacy (110), is not the one that has overwhelmed the welfare state s<strong>in</strong>ce 2008. This<br />

book is mostly already of the past, us<strong>in</strong>g methods and concepts whose assumptions no longer enjoy<br />

general acceptance. It has been ill served by fate.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


Daniel Cohn-Bendit/Rüdiger Dammann (Hrsg.): 1968. Die Revolte, Frankfurt a.M.: S. Fischer<br />

2007, 255 S., ISBN 978-3-10-010230-0, EUR 14,90<br />

Gerd Koenen/Andreas Veiel: 1968. Bildspur e<strong>in</strong>es Jahres, Köln: Fackelträger Verlag GmbH<br />

2008, 192 S., 200 abb., ISBN 978-3-7716-4359-1, EUR 29,95<br />

Wolfgang Kraushaar: Achtundsechzig. E<strong>in</strong>e Bilanz, Berl<strong>in</strong>/München: Propyläen 2008, 333 S.,<br />

ISBN 978-3-549-07334-6, EUR 19,90<br />

Re<strong>in</strong>hard Mohr: Der diskrete Charme der Rebellion. E<strong>in</strong> Leben mit <strong>den</strong> 68ern, Berl<strong>in</strong>: Wolf<br />

Jobst Siedler jr. 2008, 238 S., ISBN 978-3-937989-31-0, EUR 19,90<br />

Albrecht von Lucke: 68 oder neues Biedermeier. Der Kampf um die Deutungsmacht, Berl<strong>in</strong>:<br />

Wagenbach 2008, 91 S., ISBN 978-3-8031-2582-8, EUR 9,90<br />

Ingrid Gilcher-Holtey: 1968. E<strong>in</strong>e Zeitreise (= edition suhrkamp; 2535), Frankfurt/M.:<br />

Suhrkamp Verlag 2008, 236 S., ISBN 978-3-518-12535-9, EUR 10,00<br />

Norbert Frei: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München: dtv 2008, 286 S.,<br />

ISBN 978-3-423-24653-8, EUR 15,00<br />

Stefan Wolle: Der Traum von der Revolte. Die DDR 1968, Berl<strong>in</strong>: Christoph L<strong>in</strong>ks Verlag<br />

2008, 256 S., ISBN 978-3-86153-469-3, EUR 19,90<br />

Rezensiert von Udo Wengst<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München–Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 1<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/01/14414.html<br />

„1968“, d.h. die Revolte der Stu<strong>den</strong>ten an <strong>den</strong> Hochschulen <strong>in</strong> zahlreichen – vor allem – westlichen<br />

Staaten, gehört zu <strong>den</strong> Ereignissen, die im historischen Gedächtnis der jeweiligen Gesellschaften tiefe<br />

Spuren h<strong>in</strong>terlassen haben. Wie bei anderen ähnlichen Zäsuren – z.B. das Ende des Zweiten Weltkrieges<br />

oder der Fall der Berl<strong>in</strong>er Mauer – führt dies dazu, dass im Abstand von 20, 30, 40 usw. Jahren<br />

das jeweilige Thema von <strong>den</strong> Medien erneut <strong>in</strong> die Öffentlichkeit gebracht wird und die Verlage bemüht<br />

s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>schlägige historische Werke auf <strong>den</strong> Markt zu werfen. Insbesondere die <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

ist daher mitunter <strong>in</strong> der Gefahr, zu e<strong>in</strong>er „Jubiläumswissenschaft“ zu wer<strong>den</strong>, an der sich Historiker<br />

deshalb gern beteiligen, weil sie damit auf e<strong>in</strong>e größere Resonanz als üblich <strong>in</strong> der Öffentlichkeit<br />

stoßen und höhere Verkaufszahlen <strong>für</strong> ihre Werke erzielen. „1968“ ist darüber h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong>sofern e<strong>in</strong><br />

Sonderfall, als e<strong>in</strong>ige Akteure der damaligen Zeit herausgehobene Positionen erlangt haben oder<br />

aber selbst zu Historikern gewor<strong>den</strong> s<strong>in</strong>d, die sich ausgiebig mit der eigenen Vergangenheit <strong>in</strong> ihren<br />

„wil<strong>den</strong> Jahren“ ause<strong>in</strong>andersetzen. Bei <strong>den</strong> im Folgen<strong>den</strong> zu besprechen<strong>den</strong> Büchern handelt es<br />

sich um e<strong>in</strong>e Auswahl von Werken, die verschie<strong>den</strong>en Typen von Geschichtsschreibung zuzuordnen<br />

s<strong>in</strong>d.


33 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Da ist zunächst die Er<strong>in</strong>nerungsliteratur, <strong>für</strong> die e<strong>in</strong> Sammelband<br />

steht, <strong>den</strong> Daniel Cohn-Bendit – damals e<strong>in</strong> führender<br />

„68er“ <strong>in</strong> Paris und heute Europa-Abgeordneter der Grünen<br />

– und Rüdiger Dammann herausgegeben haben. Die Beiträge<br />

zeichnen durchweg e<strong>in</strong> positives Bild von <strong>den</strong> „68ern“<br />

und ihrer Wirkung auf Politik und Gesellschaft. Wer nach<br />

Differenzierung sucht, wird <strong>in</strong> dem Band selten fündig. Es<br />

dom<strong>in</strong>ieren E<strong>in</strong>schätzungen, die allzu platt und e<strong>in</strong>seitig und<br />

wissenschaftlich längst überholt s<strong>in</strong>d (z.B. die Reduzierung<br />

der Ära A<strong>den</strong>auer auf Wiederbewaffnung und Restauration,<br />

Gabriele Gillen, 110; oder die These, dass die Ohrfeige, die<br />

Beate Klarsfeld Bundeskanzler Kies<strong>in</strong>ger versetzte, als „Beg<strong>in</strong>n<br />

e<strong>in</strong>er offenen Ause<strong>in</strong>andersetzung mit der Verleugnung<br />

der NS-Zeit“ zu bewerten sei, Wolfgang Schmidbauer, 165).<br />

Dagegen fällt der Beitrag von Gerd Koenen weitaus differenzierter<br />

aus, wenn er z.B. feststellt, dass der „Vorwurf der Re-<br />

stauration [...] nur sehr begrenzt die gesellschaftlichen Realitäten<br />

dieses Provisoriums e<strong>in</strong>er Republik“ traf (145) und außerdem die „Dritte-Welt-Politik“ der<br />

„68er“ deutlich kritisiert.<br />

Gerd Koenen, der von 1967 bis Ende der 1980er Jahre nach eigenen Angaben „das volle Programm<br />

des l<strong>in</strong>ksradikalen Aktivismus“ absolvierte (Klappentext) und heute als Geschichtsschreiber der<br />

bundesdeutschen und <strong>in</strong>ternationalen L<strong>in</strong>ken (u.a. Das rote Jahrzehnt. Unsere kle<strong>in</strong>e deutsche Kulturrevolution<br />

1967–1977) wirkt, hat auch die E<strong>in</strong>leitung zu e<strong>in</strong>em bee<strong>in</strong>drucken<strong>den</strong> Bildband „1968. Bildspur<br />

e<strong>in</strong>es Jahres“ geschrieben, die unter dem Titel „Me<strong>in</strong> 1968“ steht. Auch hier<strong>in</strong> ist das Bemühen<br />

um e<strong>in</strong>e differenzierende Darstellung unverkennbar, aber ebenso<br />

die Parte<strong>in</strong>ahme <strong>für</strong> die „68er“.<br />

Als Zeitzeuge, weniger als Akteur bezeichnet sich Wolfgang<br />

Kraushaar, der ab September 1968 an der Universität<br />

Frankfurt am Ma<strong>in</strong> studierte, <strong>den</strong> Trägern der stu<strong>den</strong>tischen<br />

Revolte zum<strong>in</strong>dest nahe stand und heute als Historiker mit<br />

dem Forschungsschwerpunkt „Protestbewegungen <strong>in</strong> der Bundesrepublik<br />

und <strong>in</strong> der DDR“ am Hamburger <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Sozialforschung<br />

arbeitet. Er hat unter der Überschrift „Achtundsechzig“<br />

e<strong>in</strong>e umfassende Darstellung vorgelegt, die die Entstehung,<br />

die Aktionen, Personen und Kampagnen sowie die<br />

Wirkungen der Revolte e<strong>in</strong>er analytischen Betrachtung unterzieht.<br />

Bei allem immer wieder zum Ausdruck gebrachten<br />

Verständnis und Wohlwollen <strong>für</strong> die „68er“ schlägt Kraushaar<br />

aber auch kritische Töne an. So verweist er z.B. darauf, dass<br />

„aktivistische Teile der 68er“ von der „Kulturrevolution“ <strong>in</strong><br />

Ch<strong>in</strong>a begeistert gewesen seien, die Kraushaar als „totalitäre<br />

und blutrünstige Kampagne“ bezeichnet (116f.). Ebenso stellt<br />

er nachdrücklich fest, dass die Ant<strong>in</strong>otstandskampagne der<br />

„68er“ nicht auf die Verbesserung der vorliegen<strong>den</strong> Entwürfe<br />

abzielte, sondern e<strong>in</strong>en Angriff auf <strong>den</strong> Verfassungsstaat selbst<br />

darstellte (174). Differenziert fällt auch das abschließende Urteil Kraushaars über <strong>den</strong> Erfolg der<br />

„68er“ aus. Er gesteht ihr – im Gegensatz zur mehrheitlich vertretenen Me<strong>in</strong>ung – zu, politische<br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


34 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Teilerfolge erzielt zu haben, wobei er allerd<strong>in</strong>gs mit letztlich nicht belegbaren Vermutungen operiert,<br />

was Ausdrücke wie „womöglich“, „vermutlich“ (287f.) belegen. Dagegen bewertet er die Bilanz der<br />

„68er“ <strong>in</strong> soziokultureller H<strong>in</strong>sicht negativer, da sie nicht nur <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en „starken Reformimpuls“<br />

stün<strong>den</strong>, „sondern zugleich auch <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en fundamentalen Angriff auf die Gesellschaft als e<strong>in</strong>en Traditionszusammenhang<br />

von I<strong>den</strong>titätsmustern, Werten und<br />

Mentalitäten“ (288).<br />

Mit Re<strong>in</strong>hard Mohr und Albrecht von Lucke ist auf zwei<br />

Autoren e<strong>in</strong>zugehen, die nicht mehr zur „68er“-Generation<br />

gehören und als Journalisten arbeiten. Ihre bei<strong>den</strong> Werke<br />

„Der diskrete Charme der Rebellion“ und „68 oder neues<br />

Biedermeier“ lassen sich aber trotz aller Differenzierungsversuche<br />

als Sympathiebezeugungen <strong>für</strong> die „68er“ e<strong>in</strong>schätzen.<br />

Beide Bücher s<strong>in</strong>d Sachbücher eher feuilletonistischer Machart,<br />

wobei Mohr sich im Wesentlichen auf die Ereignisse Ende<br />

der 1960er Jahre konzentriert, während Albrecht von Lucke<br />

e<strong>in</strong>en Essay über die Jahre von 1967 bis 2007/2008 geschrieben<br />

hat, <strong>in</strong> dem er sich mit dem „Kampf um die Deutungsmacht“<br />

ause<strong>in</strong>andersetzt. Sowohl Mohr als auch von Lucke<br />

s<strong>in</strong>d von der herausragen<strong>den</strong> Bedeutung von „1968“ überzeugt.<br />

So sagt der erste, „dass die Revolte zwischen 1967 und 1969<br />

tatsächlich e<strong>in</strong>e folgenreiche Zäsur der deutschen Nachkriegsgeschichte<br />

war, nur vergleichbar mit Mauerfall und Wiedervere<strong>in</strong>igung<br />

1989/90“ (15), und der zweite hält „1968“ <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e<br />

„Zäsur, die <strong>in</strong> ihren traumatischen Folgen bis heute nachwirkt“<br />

(7). Mohr führt die „Liberalisierung und Modernisierung<br />

der Gesellschaft“ der Bundesrepublik seit <strong>den</strong> 1960er Jahren auf das Wirken der „68er“ zurück<br />

(238) und von Lucke stellt ohne E<strong>in</strong>schränkung fest, dass „1968“ <strong>in</strong> allen Bereichen und weit über<br />

das l<strong>in</strong>ke Spektrum h<strong>in</strong>aus <strong>für</strong> <strong>den</strong> „Beg<strong>in</strong>n gesellschaftlicher Emanzipation und politischer Partizipation“<br />

stand (78).<br />

Zum Abschluss s<strong>in</strong>d die Werke von Historikern vorzustellen, die selbst nicht zur 68er-Generation<br />

gehören und sich – von Zeitzeugenschaft im eigentlichen S<strong>in</strong>n unbee<strong>in</strong>flusst – als Wissenschaftler<br />

mit dem Thema ause<strong>in</strong>andersetzen. An erster Stelle ist dies Ingrid Gilcher-Holtey, Zeithistoriker<strong>in</strong><br />

an der Universität Bielefeld, die schon mehrere Werke über „68“ publiziert hat. An zweiter Stelle ist<br />

Norbert Frei zu nennen, Zeithistoriker an der Universität Jena und bisher nicht durch Veröffentlichungen<br />

über die „68er“ ausgewiesen. Schließlich soll noch auf e<strong>in</strong> Buch von Stefan Wolle e<strong>in</strong>gegangen<br />

wer<strong>den</strong>, Mitarbeiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der FU Berl<strong>in</strong> und Spezialist <strong>für</strong><br />

die DDR-Geschichte. Dementsprechend hat er sich auch alle<strong>in</strong> mit der DDR 1968 beschäftigt. Im<br />

Unterschied zu Wolle versuchen Ingrid Gilcher-Holtey und Norbert Frei das Thema <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er globalen<br />

Dimension zu erfassen und dies auf begrenztem Raum abzuhandeln. In bei<strong>den</strong> Fällen handelt es sich<br />

nicht um orig<strong>in</strong>äre Forschungsbeiträge, sondern um Bilanzierungen auf der Basis noch ungenügender<br />

Forschungsergebnisse, wobei beide Autoren ihre Werke gänzlich unterschiedlich angelegt haben.<br />

Ingrid Gilcher-Holtey, die wie die meisten der bisher genannten Autoren davon überzeugt ist, dass<br />

„1968 e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>schnitt [...] <strong>in</strong> der <strong>Zeitgeschichte</strong> nach 1945“ markiert (8), unternimmt <strong>in</strong> ihrem<br />

Werk e<strong>in</strong>e „Zeitreise“ durch das Jahr 1968. Sie schildert e<strong>in</strong>en Ablauf von Szenen, porträtiert die<br />

jeweiligen Akteure und bezieht, da sie „1968“ mit Recht als „globales Phänomen“ versteht, neben<br />

der Bundesrepublik nicht nur die westlichen Industriestaaten, sondern auch die ch<strong>in</strong>esische „Kulturrevolution“<br />

und <strong>den</strong> „Prager Frühl<strong>in</strong>g“ <strong>in</strong> ihre Darstellung e<strong>in</strong>. Auf diese Weise gel<strong>in</strong>gt es ihr <strong>in</strong> der<br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


35 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Tat auf bee<strong>in</strong>druckende Weise, „1968“ <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en weltweiten Zusammenhängen zu veranschaulichen<br />

und die Revolte als Signum dieses Jahres an vielen Stellen <strong>in</strong> der Welt deutlich zu machen und dabei<br />

auch die über die jeweiligen Grenzen h<strong>in</strong>ausgehende Zusammenarbeit<br />

wichtiger Akteure <strong>in</strong> <strong>den</strong> Blick zu nehmen. Dabei<br />

kommt die Analyse wichtiger Zusammenhänge nicht zu kurz<br />

und ebenso gel<strong>in</strong>gt es ihr, wichtige Unterschiede herauszuarbeiten<br />

(z.B. die Differenzen im Denken der Stu<strong>den</strong>tenopposition<br />

<strong>in</strong> Ost und West, 120f.). Ingrid Gilcher-Holtey hält mit<br />

ihrer (vielleicht) zu positiven Bewertung der „68er“ nicht h<strong>in</strong>ter<br />

dem Berg (202f.), zeigt aber e<strong>in</strong>e bemerkenswerte Zurückhaltung,<br />

wenn es darum geht, deren E<strong>in</strong>fluss auf die<br />

„Fundamental-Liberalisierung und Demokratisierung der Gesellschaft“<br />

der Bundesrepublik seit <strong>den</strong> 1960er Jahren – die<br />

sie unterstellt – zu bestimmen. Sie hält es nämlich nicht <strong>für</strong><br />

möglich, <strong>den</strong> eigenständigen Beitrag „sozialer Bewegungen<br />

auf politische, soziale und kulturelle Entwicklungen“ zu isolieren<br />

(206).<br />

Wie Ingrid Gilcher-Holtey will auch Norbert Frei <strong>den</strong> „globalen<br />

Protest“ behandeln. Dabei geht er allerd<strong>in</strong>gs völlig anders<br />

und sehr konventionell vor. Ausgehend von <strong>den</strong> Ereignissen<br />

<strong>in</strong> Paris im Mai 1968 (22 Seiten), schildert er auf doppelt<br />

so vielen Seiten <strong>den</strong> Protest <strong>in</strong> <strong>den</strong> USA („Am Anfang war<br />

Amerika“), um dann auf 75 Seiten noch deutlich ausführlicher<br />

auf die Bundesrepublik Deutschland e<strong>in</strong>zugehen („E<strong>in</strong><br />

deutscher Sonderweg?“). Hierauf folgen Abrisse <strong>in</strong> der Länge<br />

von sechs bis zehn Seiten der jeweiligen „Proteste“ <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

Ländern des Westens (Japan, Italien, Niederlande und Großbritannien)<br />

und der „Bewegung im Osten“ (Tschechoslowakei,<br />

Polen und die DDR). Die Dom<strong>in</strong>anz Deutschlands f<strong>in</strong>det<br />

sich auch im Epilog wieder, <strong>in</strong> dem Norbert Frei <strong>den</strong> Schwerpunkt<br />

auf die „bundesdeutsche Bilanz“ legt. Überzeugend ist<br />

diese Gliederung beileibe nicht, da sie die bundesrepublikanische<br />

Entwicklung allzu sehr hervorhebt und die globalen Zusammenhänge<br />

weniger <strong>in</strong> <strong>den</strong> Blick zu rücken vermag als<br />

Ingrid Gilcher-Holtey. Diese Konzentration auf die Bundesrepublik<br />

ist wohl <strong>den</strong> sonstigen Forschungs<strong>in</strong>teressen Norbert<br />

Freis geschuldet, die sich auf die bundesdeutsche „Vergangenheitspolitik“<br />

konzentrieren. Wohl nicht zuletzt darauf ist<br />

zurückzuführen, dass er bestrebt ist, auch „1968“ <strong>in</strong> der Bundesrepublik<br />

vorrangig <strong>in</strong> diesen Zusammenhang zu stellen.<br />

Stefan Wolle wiederum schreibt lediglich über <strong>den</strong> „Traum<br />

von der Revolte“, da es bekanntlich <strong>in</strong> der DDR ke<strong>in</strong>e Revolte<br />

gegeben hat. Allerd<strong>in</strong>gs kann er aufgrund der Auswertung<br />

von Stasiberichten die Angst der Machthaber <strong>in</strong> der DDR vor <strong>den</strong> Auswirkungen der Revolte im<br />

Westen und sodann des „Prager Frühl<strong>in</strong>gs“ auf die Bevölkerung der DDR ebenso nachweisen wie<br />

die Tatsache, dass es kulturelle E<strong>in</strong>flüsse der westlichen Protestbewegung auf die DDR gab und vor<br />

allem die Vorgänge <strong>in</strong> der Tschechoslowakei e<strong>in</strong>en hohen Stellenwert <strong>in</strong> der Wahrnehmung der<br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


36 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

DDR-Bevölkerung e<strong>in</strong>nahmen. Infolge der Niederschlagung des „Prager Frühl<strong>in</strong>gs“ kam es auch zu<br />

Protesten <strong>in</strong> der DDR. Wolle vertritt die These, dass die SED 1968 die Unterstützung gerade der jungen<br />

Generation endgültig verloren habe und von hier aus<br />

e<strong>in</strong> gerader Weg zur Revolution von 1989 führe. Er begründet<br />

diese These vor allem damit, dass die Demonstrationen<br />

<strong>in</strong> der DDR 1989 von der Generation der 40-Jährigen<br />

angeführt wor<strong>den</strong> seien, die er als die ehemaligen „68er“ <strong>in</strong><br />

der DDR bezeichnet.<br />

Nach dieser Kurzvorstellung der hier zu rezensieren<strong>den</strong><br />

Bücher soll abschließend auf drei Problemkreise e<strong>in</strong>gegangen<br />

wer<strong>den</strong>, die im Zusammenhang mit „1968“ von besonderer<br />

Bedeutung ersche<strong>in</strong>en. Dabei geht es um die Fragen nach<br />

1. <strong>den</strong> Auslösern <strong>für</strong> die fast weltweite Revolte der Stu<strong>den</strong>ten,<br />

2. e<strong>in</strong>em „deutschen Sonderweg“ auch <strong>in</strong> der „68er-Revolte“<br />

3. <strong>den</strong> Wirkungen von „1968“.<br />

1. Fast alle der hier erwähnten Autoren verweisen auf<br />

die zentrale Rolle des Vietnamkriegs, des ersten „Fernseh-<br />

Kriegs“, wie Daniel Cohn-Bendit schreibt (Cohn-Bendit,<br />

15). Kraushaar sieht im Vietnamkrieg e<strong>in</strong>en „Katalysator<br />

<strong>für</strong> die Radikalisierung der Protestbewegung“ (Kraushaar,<br />

104) und auch Norbert Frei bewertet <strong>den</strong> Vietnamkrieg als<br />

das Thema, aus dem die „Protestbewegung“ grenzübergreifend<br />

„ihre Energie bezog“ (50). Ähnlich fällt die Bewertung<br />

von Ingrid Gilcher-Holtey aus, die <strong>den</strong> „Protest gegen <strong>den</strong> Vietnamkrieg“ überall als e<strong>in</strong>en<br />

„zentralen Mobilisierungsfaktor“ der Protestbewegung ausmacht (8).<br />

Mit Recht verweist sie aber auch darauf, welche Bedeutung <strong>in</strong> Frankreich und Italien – aber auch<br />

<strong>in</strong> der Bundesrepublik – die „beispiellose Expansion des tertiären Bildungssektors“ gehabt hat, „die<br />

e<strong>in</strong>e Strukturkrise an <strong>den</strong> Universitäten ausgelöst“ habe (100). Auf die Bedeutung der Universitäten<br />

verweist auch Wolfgang Kraushaar, betont dabei aber zu Recht, dass diese bald nur als Schauplatz<br />

der Ause<strong>in</strong>andersetzungen <strong>in</strong>teressant waren, da es dem Kern der „68er“ nach kurzer Zeit nicht mehr<br />

um Reformen zu tun war, sondern sie <strong>in</strong> <strong>den</strong> Hochschulen nur noch „Bastionen [....] <strong>für</strong> künftige<br />

Klassenkämpfe“ sahen (Kraushaar, 572).<br />

Konstitutiv <strong>für</strong> die Revolte Ende der 1960er Jahre war schließlich e<strong>in</strong> Generationenkonflikt. Auf die<br />

Bundesrepublik bezogen hat Klaus Hartung erstmals 1978 von e<strong>in</strong>er „68er-Generation“ gesprochen<br />

und damit <strong>den</strong> Revoltieren<strong>den</strong> <strong>in</strong> der Bundesrepublik erst ihren heute so geläufigen Namen gegeben<br />

(von Lucke, 28f.). Hiermit richtet sich der Blick auf die Bundesrepublik und die Frage nach der Bedeutung<br />

der NS-Vergangenheit <strong>für</strong> die „68er-Bewegung“.<br />

2. Es ist erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit die meisten Autoren die These e<strong>in</strong>er „unbewältigten<br />

Vergangenheit“ <strong>in</strong> der Bundesrepublik bis weit <strong>in</strong> die 1960er Jahre h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> vertreten und<br />

unterstellen, dass die angeblichen Versäumnisse der Väter <strong>den</strong> Generationenkonflikt ausgelöst haben.<br />

So ist <strong>für</strong> Wolfgang Schmidbauer das „vergessene ‚Er<strong>in</strong>nernʻ [....] e<strong>in</strong> wichtiger Angriffspunkt der<br />

Protestbewegung“ (Cohn-Bendit, 165), und Bahman Nirumand stellt ohne jede E<strong>in</strong>schränkung fest:<br />

„E<strong>in</strong> Abrechnen mit der Vergangenheit gab es nicht“ (Cohn-Bendit, 228). Albrecht von Lucke sieht<br />

es als Verdienst der „68er“ an, „die Verdrängung der Vergangenheit [...] öffentlich gemacht“ zu haben<br />

(15), und Re<strong>in</strong>hard Mohr sieht <strong>in</strong> „1968“ <strong>den</strong> Versuch, „das fortgesetzte Trauma jener ‚unbewältigten<br />

Vergangenheitʻ des nationalsozialistischen Terrors [...] aus eigener Kraft, gleichsam freudianisch, zu<br />

überw<strong>in</strong><strong>den</strong>“ (31). In das gleiche Horn stößt auch Wolfgang Kraushaar, der <strong>in</strong> „der nationalsozialis-<br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


37 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

tischen Vergangenheit und der Ju<strong>den</strong>vernichtung als ihrem Tiefstpunkt [...] e<strong>in</strong>en historischen Resonanzbo<strong>den</strong>“<br />

<strong>für</strong> die „68er-Bewegung“ ausmacht, da er unterstellt, dass erst <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1960er Jahren „e<strong>in</strong>e<br />

ernst zu nehmende Ause<strong>in</strong>andersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit“ begonnen<br />

habe (72). Auch Norbert Frei wiederholt se<strong>in</strong>e altbekannte These von der „unbewältigten Vergangenheit“,<br />

die <strong>in</strong> <strong>den</strong> „politisch-moralischen [...] Skandalen der nahezu ungebrochenen respektive fast<br />

vollständig wiederhergestellten Kont<strong>in</strong>uität der Funktionseliten vom ‚Dritten Reichʻ zur Bundesrepublik“<br />

zum Ausdruck gekommen sei und der hieraus e<strong>in</strong>e „vergangenheitspolitische [...] Auf-<br />

ladung des Konflikts“ zwischen <strong>den</strong> Generationen <strong>in</strong> der Bundesrepublik ableitet (78).<br />

Es gibt e<strong>in</strong>e Fülle zeitgeschichtlicher Untersuchungen, die belegen, wie wenig diese Urteile der<br />

Kritik standhalten. Zudem lässt sich nachweisen, wie ger<strong>in</strong>g das konkrete historische Interesse der<br />

„68er“ am Nationalsozialismus und se<strong>in</strong>en Opfern war. Auch Norbert Frei muss konzedieren, dass<br />

<strong>den</strong> „68ern“ der „historische Nationalsozialismus“ zunehmend aus dem Blickfeld geriet – sofern er<br />

sich überhaupt jemals dar<strong>in</strong> befun<strong>den</strong> hat – und sie durch die „Universalisierung des Faschismusvorwurfs<br />

[...] ten<strong>den</strong>ziell zu e<strong>in</strong>er Verharmlosung des ‚Dritten Reichsʻ“ beitrugen (222). E<strong>in</strong>e ähnliche<br />

Formulierung f<strong>in</strong>det sich auch bei Wolfgang Kraushaar (74f.) Das führt aber weder bei ihm noch bei<br />

Frei dazu, die nur sehr bed<strong>in</strong>gt haltbaren Positionen über <strong>den</strong> Stellenwert der NS-Vergangenheit und<br />

ihre spezifische Aufarbeitung <strong>in</strong> der Bundesrepublik <strong>für</strong> die „68er-Bewegung“ zu über<strong>den</strong>ken.<br />

3. Sehr viel differenzierter fallen die Bewertungen Norbert Freis aus, wenn er sich über die Wirkungen<br />

von „1968“ äußert. So gesteht er <strong>den</strong> Revoltieren<strong>den</strong> zu, „das Lebensgefühl e<strong>in</strong>er Generation<br />

verändert“ zu haben, um sogleich aber e<strong>in</strong>schränkend h<strong>in</strong>zuzufügen, dass „die Protestgeneration“<br />

zum Teil „durch Tore rannte, die andere längst vor ihr geöffnet hatten“ (131). An anderer Stelle betont<br />

er, dass die Revolte „im Zeichen der Revolution [...] zum Fortschritt der Reformen“ beitrug<br />

(138). Dabei versäumt er aber, die Frage aufzuwerfen, ob nicht die „68er“ <strong>den</strong> Reformprozess auch<br />

beh<strong>in</strong>dert haben könnten, da sie „Gegenreformern“ <strong>in</strong> die Hände spielten. Mit Recht kritisiert Frei<br />

bei der Protestbewegung bei all ihrem Gerede von Emanzipation, Partizipation und Transparenz ihre<br />

mangelnde „Liebe zum Liberalismus“ (216f.). Außerdem besaßen die „68er“ – wie er ebenfalls richtig<br />

konstatiert – „ausgesprochen unterkomplexe Vorstellungen von der Funktionsweise moderner<br />

Gesellschaften und Volkswirtschaften“ (218) – auch aus diesem Grund waren ihre Auffassungen von<br />

„Demokratisierung“ äußerst problematisch.<br />

Gleichwohl dom<strong>in</strong>ieren bis heute positive E<strong>in</strong>schätzungen über die „68er“ und ihre <strong>in</strong>haltlichen<br />

Vorstellungen. Dies ist sicherlich nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass zahlreiche Träger der<br />

Revolte e<strong>in</strong>en erfolgreichen „Marsch durch die <strong>Institut</strong>ionen“ angetreten haben und bis heute e<strong>in</strong>e<br />

weitgehende Deutungshoheit über die eigene Geschichte verteidigen. So schätzen das auch Norbert<br />

Frei (210f.) und Albrecht von Lucke e<strong>in</strong>, der <strong>in</strong>sbesondere <strong>für</strong> die Jahre der rot-grünen Bundesregierung<br />

unter Gerhard Schröder e<strong>in</strong>e „kulturelle Hegemonie“ der „68er“ als gegeben sieht (43). Aber<br />

allmählich treten die ehemaligen Revoltierer <strong>in</strong> <strong>den</strong> Ruhestand und verlieren ihren E<strong>in</strong>fluss. Die geschichtswissenschaftliche<br />

Forschung wird heute vorherrschende Deutungsmuster h<strong>in</strong>terfragen und<br />

korrigieren. Der Streit darüber, ob „1968“ als Beg<strong>in</strong>n des politisch-kulturellen Niedergangs, als das<br />

Jahr des e<strong>in</strong>setzen<strong>den</strong> Werteverfalls oder als Aufbruch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e wirkliche Demokratie und e<strong>in</strong>e moderne<br />

Gesellschaft gedeutet wer<strong>den</strong> muss, wird an Schärfe verlieren. Die Geschichtsschreibung wird<br />

die Grautöne herausarbeiten und „1968“ <strong>in</strong> vielerlei H<strong>in</strong>sicht relativieren. „1968“ – das zeigen bereits<br />

e<strong>in</strong>e ganze Reihe e<strong>in</strong>schlägiger Forschungsarbeiten – hatte bereits lange vorher begonnen und die<br />

Wirkungen der <strong>in</strong> diesen Jahren e<strong>in</strong>setzen<strong>den</strong> Reformprozesse waren durchaus ambivalent. 50 Jahre<br />

nach „1968“ wird die öffentliche Diskussion über diesen Komplex auf e<strong>in</strong>er anderen Grundlage mit<br />

anderen Argumenten geführt wer<strong>den</strong>.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


Daniele Ganser: Nato-Geheimarmeen <strong>in</strong> Europa. Inszenierter Terror und verdeckte<br />

Kriegsführung. Mit e<strong>in</strong>em Vorwort von Georg Kreis. Aus dem Englischen übersetzt von<br />

Carsten Roth, Zürich: Orell Füssli Verlag 2008, 445 S., ISBN 978-3-280-06106-0, EUR 29,80<br />

Rezensiert von Tobias Hof<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München–Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 4<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/04/14558.html<br />

Unmittelbar nach dem E<strong>in</strong>marsch irakischer Truppen <strong>in</strong> Kuwait<br />

sorgte der italienische M<strong>in</strong>isterpräsi<strong>den</strong>t Giulio Andreotti<br />

am 3. August 1990 <strong>für</strong> Schlagzeilen ganz anderer Art: Vor italienischen<br />

Senatoren enthüllte er die Existenz illegaler NATO-<br />

Geheimarmeen, die seit Beg<strong>in</strong>n des Kalten Krieges über ganz<br />

Europa verteilt gewesen seien. Se<strong>in</strong>e Aussagen lösten e<strong>in</strong>e<br />

Law<strong>in</strong>e der Empörung aus, die vor <strong>den</strong> italienischen Grenzen<br />

nicht Halt machte: Sukzessive sahen sich andere europäische<br />

Staats- und Regierungschefs gezwungen, zähneknirschend<br />

die Existenz derartiger E<strong>in</strong>heiten e<strong>in</strong>zugestehen. In Italien,<br />

der Schweiz und Belgien befassten sich anschließend parlamentarische<br />

Untersuchungskommissionen mit dieser Thematik.<br />

Nur die Verantwortlichen der NATO, des MI6 und der<br />

CIA hüllten und hüllen sich weiterh<strong>in</strong> <strong>in</strong> Schweigen.<br />

Der Schweizer Historiker Daniele Ganser legte im Jahr<br />

2005 <strong>in</strong> englischer Sprache erstmals e<strong>in</strong>e wissenschaftliche<br />

Studie über die Geheimarmeen der NATO vor, deren Ergebnisse<br />

auf se<strong>in</strong>er Dissertation beruhten. Mittlerweile wurde die Arbeit <strong>in</strong> neun Sprachen übersetzt und<br />

erschien im Jahr 2008 auch auf Deutsch. Ganser schildert detailliert die strategischen Konzepte, <strong>den</strong><br />

Aufbau und die Struktur der „Stay-beh<strong>in</strong>d-Armeen“. Die Initiative <strong>für</strong> die Aufstellung der Untergrunde<strong>in</strong>heiten<br />

sei maßgeblich vom britischen und amerikanischen Geheimdienst ausgegangen und<br />

zu e<strong>in</strong>em späteren Zeitpunkt von NATO-Komitees koord<strong>in</strong>iert wor<strong>den</strong>. Ihre Aufgabe sei es gewesen,<br />

im Falle e<strong>in</strong>er sowjetischen Invasion <strong>den</strong> Widerstand <strong>in</strong> <strong>den</strong> besetzten Gebieten zu organisieren sowie<br />

Guerilla- und Sabotageaktionen durchzuführen. Bei der Rekrutierung des Personals seien die<br />

Planer <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton und London nicht gerade mit großen moralischen Be<strong>den</strong>ken vorgegangen: Es<br />

galt, <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie überzeugte Antikommunisten anzuwerben, wobei es ke<strong>in</strong>e Rolle spielte, ob es<br />

sich dabei um ehemalige Nationalsozialisten oder Faschisten handelte. Die Parlamente <strong>in</strong> <strong>den</strong> betroffenen<br />

Ländern seien von diesen Vorgängen nicht <strong>in</strong> Kenntnis gesetzt wor<strong>den</strong>.<br />

Die Invasion aus dem Osten blieb jedoch aus. Deswegen seien verstärkt die L<strong>in</strong>ksparteien – <strong>in</strong>sbesondere<br />

die kommunistischen Parteien – <strong>in</strong> Westeuropa <strong>in</strong> das Visier der „Stay-beh<strong>in</strong>d-E<strong>in</strong>heiten“<br />

gerückt. Die Untergrundarmeen, wie die italienische Gruppe „Gladio“, wollten e<strong>in</strong>e mögliche<br />

Machtübernahme der L<strong>in</strong>ken mit allen Mitteln verh<strong>in</strong>dern. Dabei schienen ihnen alle er<strong>den</strong>klichen<br />

Mittel Recht: Nach Gansers Me<strong>in</strong>ung unterstützten und förderten sie gezielt Terroraktionen wie <strong>den</strong>


39 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Anschlag auf der Piazza Fontana <strong>in</strong> Mailand 1969. Diese Attentate sollten <strong>den</strong> L<strong>in</strong>ken angelastet<br />

wer<strong>den</strong>, um sie <strong>in</strong> <strong>den</strong> Augen der Öffentlichkeit zu diskreditieren.<br />

Die lebendig und gut lesbar geschriebene Studie Gansers ist auf <strong>den</strong> ersten Blick überzeugend.<br />

Se<strong>in</strong> größtes Verdienst ist es, die verfügbaren Informationen über die „Stay-beh<strong>in</strong>d-E<strong>in</strong>heiten“ der<br />

NATO akribisch zusammengetragen und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er vorrangig deskriptiven Überblicksdarstellung <strong>für</strong><br />

e<strong>in</strong> breiteres Publikum aufbereitet zu haben. Hilfreich ist auch die Chronologie am Ende des Buches.<br />

Auf <strong>den</strong> zweiten Blick offenbart die Darstellung Gansers jedoch e<strong>in</strong>ige Schwächen, die <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie<br />

mit der Thematik und der damit verbun<strong>den</strong>en äußerst schwierigen Quellenlage zusammenhängen.<br />

Zwar weist der Autor immer wieder daraufh<strong>in</strong>, dass weder die USA, noch Großbritannien oder die<br />

NATO E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> relevante Aktenbestände gewährten. Jedoch h<strong>in</strong>dert ihn dies nicht, über die mögliche<br />

Involvierung der „Stay-beh<strong>in</strong>d-Armeen“ <strong>in</strong> terroristische Anschläge spekulative Thesen aufzustellen.<br />

Dabei stützte er sich ausschließlich auf Presseartikel, Zeitzeugenaussagen sowie Berichte<br />

parlamentarischer Untersuchungskommissionen, die jedoch gerade im Fall Italien kritisch zu bewerten<br />

s<strong>in</strong>d. Denn anders als Ganser dies suggeriert, konnte sich die Kommission <strong>in</strong> Italien aufgrund<br />

von Me<strong>in</strong>ungsverschie<strong>den</strong>heiten auf ke<strong>in</strong>en geme<strong>in</strong>samen Abschlussbericht e<strong>in</strong>igen. E<strong>in</strong>e kritische<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzung mit <strong>den</strong> Quellen und e<strong>in</strong>e theoretisch-methodische H<strong>in</strong>führung an die Problematik<br />

der Geheimdienstgeschichtsschreibung wären wünschenswert gewesen. In diesem Zusammenhang<br />

ist ferner zu bedauern, dass die Arbeit Gansers ke<strong>in</strong> umfassendes Quellen- und Literaturverzeichnis<br />

aufweist.<br />

Ferner schleichen sich immer wieder Ungereimtheiten <strong>in</strong> die Darstellung e<strong>in</strong>, die zwar die These<br />

Gansers stützen, aber <strong>den</strong> historischen Gegebenheiten nicht immer entsprechen. Im Jahr 1972 waren<br />

die Brigate Rosse noch nicht die terroristische Organisation, die durch „kaltblütige Attentate“ (24) <strong>in</strong><br />

Italien ge<strong>für</strong>chtet war, wie dies Ganser suggeriert. Vielmehr war die Gruppe zu diesem Zeitpunkt<br />

nahezu unbekannt und hatte lediglich e<strong>in</strong>en Manager von Sit-Siemens <strong>für</strong> zwanzig M<strong>in</strong>uten entführt.<br />

Be<strong>in</strong>ahe ärgerlich ist die Schilderung der Entführung Aldo Moros: Ohne die Kontroversen über diesen<br />

wiederzugeben, rezipiert Ganser ausschließlich die Verschwörungstheorien. Gerade italienische<br />

Historiker wie Vladimiro Satta, Agost<strong>in</strong>o Giovagnoli oder Giovanni Sabbatucci haben jedoch <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

letzten Jahren überzeugend gegen diese Theorien Stellung bezogen. [1]<br />

Letztlich bleibt sogar fraglich, ob die länderspezifische Gliederung die optimale Wahl war, da sie<br />

Ganser selbst nicht strikt durchhält. Dadurch geht nicht nur der rote Fa<strong>den</strong> verloren, sondern es stellen<br />

sich auch immer wieder Redundanzen e<strong>in</strong>. Ferner mangelt es h<strong>in</strong> und wieder an e<strong>in</strong>er historischen<br />

Kontextualisierung: So unterstellt Ganser zum Beispiel e<strong>in</strong>e Kont<strong>in</strong>uität zwischen der Aufstellung<br />

von „Gladio“ <strong>in</strong> Italien, <strong>den</strong> rechtsterroristischen Bombenattentaten zwischen 1969 und 1974 sowie<br />

dem Anschlag <strong>in</strong> Bologna 1980. Dabei setzt er sich weder mit dem 1974 <strong>in</strong>itiierten Wandel <strong>in</strong> der<br />

italienischen Geheimdienstpolitik, noch mit der Tatsache ause<strong>in</strong>ander, dass spätestens seit <strong>den</strong><br />

Stimmengew<strong>in</strong>nen der Kommunisten bei <strong>den</strong> Parlamentswahlen 1972 das Scheitern der „Strategie<br />

der Spannung“ offensichtlich war.<br />

Die Enthüllungen über illegale und jeglicher parlamentarischer Kontrolle entzogene Geheimarmeen<br />

<strong>in</strong> rechtsstaatlichen Demokratien schockierten nach dem Ende des Kalten Krieges zu Recht<br />

die Öffentlichkeit. Dass sie existierten und der strategischen Logik des Kalten Krieges entsprachen,<br />

ist nach Gansers Studie nicht mehr anzuzweifeln. Ob sie <strong>in</strong> dem Maße auch „Quelle des Terrors“<br />

waren, wie Ganser behauptet, muss jedoch <strong>in</strong> Frage gestellt wer<strong>den</strong>. Es bleibt zukünftigen Forschungsarbeiten<br />

überlassen, diese Problematik weiter zu untersuchen und <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelstudien zu vertiefen.<br />

Anmerkung:<br />

[1] Agost<strong>in</strong>o Giovagnoli: Il caso Moro. Una tragedia italiana, Bologna 2005; Giovanni Sabbatucci:<br />

I misteri del caso Moro, <strong>in</strong>: Miti e storia dell’Italia unita, hrsg. von Giovanni Belardelli u.a., Bo-<br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


40 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

logna 1999, 217-221; Vladimiro Satta: Odissea nel caso Moro. Viaggio controcorrente attraverso<br />

la documentazione della Commissione Stragi, Rom 2003; Vladimiro Satta: Il caso Moro<br />

e i suoi falsi misteri, Saverio Mannelli 2006.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


Dietmar Grypa/Barbara Höglmeier/Barbara Zeitelhack (Hrsg.): Umbrüche. Leben <strong>in</strong> Neuburg<br />

und Umgebung 1918 bis 1948. Ausstellung des Stadtmuseums Neuburg an der Donau<br />

vom 28. März bis 5. Oktober 2008, Neuburg/Donau: Selbstverlag 2008, 516 S., EUR 20,00<br />

Rezensiert von Thomas Götz<br />

Regensburg<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/05/16125.html<br />

Die Erforschung kle<strong>in</strong>erer bayerischer Städte <strong>in</strong> Weimarer Republik und NS-Zeit weist trotz des<br />

nachhaltigen Aufschwungs regionaler Zeitgeschichtsforschung noch immer bemerkenswerte Leerstellen<br />

auf. Fallweise s<strong>in</strong>d die Ursachen hier<strong>für</strong> wohl auch Ausfluss e<strong>in</strong>es etikettenhaft e<strong>in</strong>geschränkten<br />

Selbstbilds: Nur rund 9000 E<strong>in</strong>wohner – davon rund 1500 Soldaten – zählte das kle<strong>in</strong>e Neuburg<br />

an der Donau vor 1914; die ehemalige Resi<strong>den</strong>zstadt e<strong>in</strong>es wittelsbachischen Teilherzogtums hatte<br />

im 19. Jahrhundert e<strong>in</strong>en Prozess der „Fundamentalprov<strong>in</strong>zialisierung“ durchlaufen, der bislang <strong>in</strong>-<br />

und außerhalb der renaissanceverliebten „Otthe<strong>in</strong>richstadt“ aber ebenso wenig Interesse fand wie die<br />

ältere städtische <strong>Zeitgeschichte</strong>. [1]<br />

Mit dem vorliegen<strong>den</strong>, über 500 Seiten starken Band – Sammelschrift mit 14 Aufsätzen und Ausstellungskatalog<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em – haben die Ausstellungsmacher und Herausgeber der zukünftigen lokalen<br />

Geschichtsarbeit jetzt aber neue Wege gewiesen; immerh<strong>in</strong> knapp 5000 Besucher, darunter viele Schulklassen,<br />

wollten sich je<strong>den</strong>falls im vergangenen Jahr auch e<strong>in</strong>mal ihrer jüngeren Heimatgeschichte<br />

versichern. [2] Neben Studieren<strong>den</strong> der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt trugen<br />

Stadtarchiv und Historischer Vere<strong>in</strong> die Hauptlast des aufwendigen Projekts, das der Neuburger<br />

Stadtrat und der Landkreis Neuburg-Schrobenhausen nachdrücklich unterstützten. In Stadt- und<br />

Schlossmuseum wurde dabei e<strong>in</strong> Panorama vielfältiger lebensweltlicher „Umbrüche“ (so der Ausstellungstitel)<br />

entfaltet, deren gegenständliche Vergegenwärtigung nicht zuletzt viele Leihgaben aus<br />

Stadt und Umland ermöglichten – e<strong>in</strong> erfreuliches Zeichen der Aktivierung regionalen Geschichtsbewusstse<strong>in</strong>s.<br />

Weit bis <strong>in</strong> die 1950er Jahre h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> und damit über die selbst gesetzte Grenze der als<br />

e<strong>in</strong>schnei<strong>den</strong>d erlebten Währungsreform 1948 h<strong>in</strong>ausgehend wurde die Geschichte regionaler Unternehmen,<br />

der Parteien und ihrer Protagonisten, aber auch der Wandel alltagsbestimmender kultureller<br />

Praktiken wie Mode, Hygiene oder Wohlfahrtspflege <strong>in</strong> Szene gesetzt. [3]<br />

Der Katalogteil kann und will allerd<strong>in</strong>gs nicht verbergen, was die Herausgeber der durchgehend<br />

quellengesättigten und lokalgeschichtlich allenthalben Neuland betreten<strong>den</strong> Aufsätze e<strong>in</strong>leitend bilanzieren:<br />

„Gerade im Bereich der Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte fehlen <strong>für</strong> zahlreiche<br />

Bereiche fundierte Darstellungen, so etwa zur Entwicklung e<strong>in</strong>zelner Unternehmen, zum Wirken der<br />

Kirchen oder der Vere<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Neuburg, über die Schulen, die Struktur und Mentalität des Bürgertums<br />

oder das Alltagsleben.“ (6) E<strong>in</strong>en Grund hier<strong>für</strong> sieht der Verfasser e<strong>in</strong>er hoch<strong>in</strong>formativen Studie<br />

über die Neu- bzw. Wiederanfänge der Neuburger Kommunalpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

(Markus Seemann) nicht nur <strong>in</strong> der vergleichsweise schlechten lokalen Quellenlage [4], sondern<br />

auch im bisherigen Umgang mit der Geschichte des ‚Dritten Reichsʻ vor Ort: „Ebenso wenig fand<br />

(bis zur Gegenwart) im öffentlichen Diskurs e<strong>in</strong>e Ause<strong>in</strong>andersetzung mit dieser Zeit statt.“ (301,<br />

Anmerkung 170) E<strong>in</strong>e an Bernhard Gottos vorbildliche Untersuchung über die Augsburger Kommunal-


42 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

verwaltung angelehnte Vergleichsstudie ist <strong>für</strong> Neuburg <strong>in</strong> absehbarer Zukunft nicht zu erwarten –<br />

obwohl mit dem ersten Bürgermeister Anton Mündler auch der stellvertretende Leiter des Gaues<br />

Schwaben (seit 1942; 1933–45 Gau<strong>in</strong>spektor) vor Ort präsent war und sich somit die Frage nach<br />

dem Grad der personellen Durchdr<strong>in</strong>gung der kommunalen Verwaltungsebene <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er besonders <strong>in</strong>teressanten<br />

Variante – nicht zuletzt im H<strong>in</strong>blick auf noch wenig durchleuchtete Nachkriegskarrieren –<br />

stellt. [5]<br />

Umso höher s<strong>in</strong>d daher die drei rechercheaufwendigen Beiträge über die NS-Zeit (über die Verfolgung<br />

der Zeugen Jehovas und <strong>den</strong> Versuch e<strong>in</strong>er „deutschen Heimschule“) zu veranschlagen, aus<br />

<strong>den</strong>en die facettenreiche Studie der Stadtarchivar<strong>in</strong> Barbara Zeitelhack über die Zwangsarbeitspraxis<br />

<strong>in</strong> Neuburg und Umgebung herausragt (157-188). Neben <strong>den</strong> Profiteuren vor Ort (169) bekommen<br />

auch das ethnische und soziale Profil sowie die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Zwangsarbeiter<br />

detaillierte Konturen. Im Übrigen hielten sich, so Zeitelhack resümierend, „die von <strong>den</strong> Nationalsozialisten<br />

<strong>in</strong>strumentalisierten Ressentiments gegen Ausländer [...] auch nach dem Krieg.“<br />

Vorurteilen der E<strong>in</strong>heimischen sahen sich auch die außeror<strong>den</strong>tlich zahlreichen, zumeist sudetendeutschen<br />

Flüchtl<strong>in</strong>ge ausgesetzt (1946 hatte Neuburg 14000 E<strong>in</strong>wohner, 4000 mehr als e<strong>in</strong> Jahr zuvor;<br />

das letzte Lager im Kreis wurde erst 1953 aufgelöst): So schlug 1951 Neuburgs Zweiter Bürgermeister<br />

Clemens Appel vor, dass „das verfluchte Flüchtl<strong>in</strong>gspack vergast wer<strong>den</strong> müßte“, „dös san<br />

lauter Banditen und Zigeuner“, ließ er verlauten (vgl. <strong>den</strong> Beitrag von Daniel Schönwald, 264f.). Die<br />

Wirtschaftliche Aufbau-Vere<strong>in</strong>igung (WAV) errang <strong>in</strong> Neuburg e<strong>in</strong>es ihrer besten Ergebnisse bayernweit<br />

und der Neuburger Kreisverband des Blocks der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE)<br />

hatte im ganzen Land die meisten Mitglieder – ke<strong>in</strong> Wunder, dass se<strong>in</strong> Landesvorsitzende Theodor<br />

Oberländer, der der Neuburger Ortsgruppe angehörte, bei der Landtagswahl hier kandidierte. Schönwalds<br />

penibel recherchierte Befunde vertragen sich eigentlich nicht mit der abschließend auch von<br />

ihm bemühten Zwecklegende von der angeblich gelungenen Flüchtl<strong>in</strong>gs<strong>in</strong>tegration (280) – vielmehr<br />

war auch Neuburg <strong>für</strong> die Ankommen<strong>den</strong>, wie Andreas Kossert jüngst allgeme<strong>in</strong>gültig konstatierte,<br />

jahrelang e<strong>in</strong>e „kalte Heimat.“ [6]<br />

Den eher unausgesprochenen zentralen Fluchtpunkt der vier Beiträge über Vere<strong>in</strong>e und Parteien<br />

<strong>in</strong> der Weimarer Republik bildet die <strong>in</strong> <strong>den</strong> Akten der Militärregierung formulierte und nach wie vor<br />

erklärungsbedürftige Tatsache, dass der stark katholisch geprägte „Kreis Neuburg zu <strong>den</strong> ehemaligen<br />

Nazihochburgen gehörte.“ (Märzwahl 1933: 56,1 Prozent NSDAP-Stimmen auf dem Land, 46,8<br />

Prozent <strong>in</strong> der Stadt, fast 14 Prozent vor der BVP, schwabenweit betrachtet e<strong>in</strong> weit überdurchschnittliches<br />

NSDAP-Ergebnis) (301; vgl. 143). Leider konzentriert sich vor allem der Beitrag über<br />

das katholisch-konservative Spektrum auf die frühe Weimarer Zeit – <strong>den</strong> Weg zur „Machtergreifung“<br />

1930–1933/34 <strong>in</strong> der kle<strong>in</strong>gewerblich-mittelständisch und bildungsbürgerlich dom<strong>in</strong>ierten<br />

Kle<strong>in</strong>stadt, die unter dem Verlust ihrer 1500 Mann starken Garnison schwer litt, gilt es nach wie vor<br />

nachzuzeichnen.<br />

Gesichert ist, dass sich die lokal besonders weit rechts stehende, letztlich republikfe<strong>in</strong>dliche BVP<br />

vor allem auf dem Land („Notstandsgebiet“ Donaumoos) e<strong>in</strong>er außeror<strong>den</strong>tlich starken, ebenso antiklerikal<br />

wie antisemitisch auftreten<strong>den</strong> Bauernbund-Konkurrenz zu erwehren hatte (zur Rätezeit im<br />

Bezirk annähernd 40 Prozent Wählerstimmen), die sich zunächst betont revolutionär gab und 1924<br />

<strong>in</strong> der Stadt mit DDP und NSDAP [!] e<strong>in</strong>e kommunalpolitische „Freie Wählervere<strong>in</strong>igung“ e<strong>in</strong>g<strong>in</strong>g.<br />

Im Pressewesen ist ähnliches Changieren zu vermerken; bauernbündlerisch-liberale BVP-Alternativen<br />

gerierten sich ab Anfang 1932 offen nationalsozialistisch. Hier<strong>für</strong> symptomatisch und vorab<br />

e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>gehendere biografische Studie wert wäre der lokale Bauernbundführer und Gutsbesitzer<br />

Wilhelm Freiherr von Weveld, der im Dezember 1930 fanalhaft zur NSDAP übertrat (vgl. <strong>den</strong> Beitrag<br />

von Paul Hoser, 124, 137ff.). War e<strong>in</strong> kulturkämpferisch <strong>in</strong>duzierter vulgärliberaler Antiklerikalismus<br />

das Ferment lokaler Milieu- und Gegenmilieubildung seit dem späten Kaiserreich? [7] Mit<br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


43 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

<strong>den</strong> vorliegen<strong>den</strong> materialreichen E<strong>in</strong>zelstudien wäre e<strong>in</strong> Teil des Wegs frei <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e regional vergleichende<br />

Tiefensondierung politischer Mentalitäten [8] <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er h<strong>in</strong>sichtlich ihrer politischen Kultur<br />

offenbar durchaus eigenständigen Region zwischen Schwaben, Franken und Altbayern.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] E<strong>in</strong>zige jüngere Ausnahme: Markus Seemann: Innenpolitische und wirtschaftliche Problemlagen<br />

der Weimarer Zeit im Spiegel der Neuburger Geschichte der zwanziger Jahre, <strong>in</strong>: Neuburger<br />

Kollektaneenblatt (NK) 149 (2001), 21-62. Das NK 1995 befasste sich erstmals mit – vielfach<br />

militärgeschichtlichen – Teilaspekten des Kriegsendes 1945.<br />

[2] Vgl. zur lokalen Resonanz der Ausstellung die Onl<strong>in</strong>eausgabe des Donaukuriers vom<br />

6.10.2008, http://www.donaukurier.de/lokales/schrobenhausen/4800-Gaeste-sahen-Umbrueche;<br />

art603,1950686? (28.2.2009). – Neuburg hat heute rund 30.000 E<strong>in</strong>wohner.<br />

[3] Die vollständige, abbildungstechnisch hochwertige Dokumentation der Exponate im Katalog ist<br />

erfreulich und hilfreich; die mangelnde Lesbarkeit e<strong>in</strong>iger abgebildeter Textquellen ist dabei<br />

nicht zu vermei<strong>den</strong>.<br />

[4] Der Rathausbrand im April 1945 ist wohl auf e<strong>in</strong>en unachtsam mit Waffen hantieren<strong>den</strong> GI zurückzuführen.<br />

Die Kreisleitungsakten wur<strong>den</strong> h<strong>in</strong>gegen im Hof des Marstalls sicher nicht von<br />

US-Amerikanern verbrannt und aus dem Amtsgericht s<strong>in</strong>d noch <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1960er Jahren viele Akten<br />

verschwun<strong>den</strong>. Die im Staatsarchiv Augsburg verwahrten Spruchkammerakten s<strong>in</strong>d dagegen<br />

<strong>für</strong> Neuburg gut überliefert; Gespräch mit der Neuburger Stadtarchivar<strong>in</strong> Barbara Zeitelhack,<br />

16.2.2009.<br />

[5] Bernhard Gotto: Nationalsozialistische Kommunalpolitik. Adm<strong>in</strong>istrative Normalität und Systemstabilisierung<br />

durch die Augsburger Stadtverwaltung 1933–1945, München 2006.<br />

[6] Andreas Kossert: Die kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München<br />

2008.<br />

[7] Trotz konzeptioneller Schwächen be<strong>den</strong>kenswert: Oded Heilbronner: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit<br />

und Dynamit“. Populäre Kultur, populärer Liberalismus und Bürgertum im ländlichen<br />

Süddeutschland von <strong>den</strong> 1860ern bis zu <strong>den</strong> 1930ern. Aus dem Hebräischen und Englischen<br />

von David Ajchenrad (=Forum Deutsche Geschichte; 13), München 2007, hier v.a. 9-14.<br />

[8] Grundlegend Manfred Kittel: Prov<strong>in</strong>z zwischen Reich und Republik. Politische Mentalitäten <strong>in</strong><br />

Deutschland und Frankreich 1918–1933/36 (=Quellen und Forschungen zur <strong>Zeitgeschichte</strong>;<br />

Bd. 47), München 2000, hier 13-16.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


Rüdiger Hachtmann: Tourismus-Geschichte (= Grundkurs Neue Geschichte), Stuttgart:<br />

UTB 2007, 192 S., ISBN 978-3-8252-2866-8, EUR 14,90<br />

Rezensiert von Patrick Bernhard<br />

Deutsches Historisches <strong>Institut</strong>, Rom<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 7/8<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/07/13541.html<br />

„Wer die Enge se<strong>in</strong>er Heimat begreifen will, der reise. Wer<br />

die Enge se<strong>in</strong>er Zeit ermessen will, studiere Geschichte.“ Und<br />

wer sich <strong>für</strong> die Geschichte des Tourismus <strong>in</strong>teressiert, möchte<br />

man Kurt Tucholsky ergänzen, der lese das hier besprochene<br />

Werk aus der Feder von Rüdiger Hachtmann, Mitarbeiter am<br />

Zentrum <strong>für</strong> Zeitgeschichtliche Forschung <strong>in</strong> Potsdam, der <strong>in</strong><br />

der Reihe „Grundkurs Neue Geschichte“ e<strong>in</strong>en Überblick über<br />

das Thema und se<strong>in</strong>e Erforschung vorgelegt hat. Zeitlich,<br />

geografisch und <strong>in</strong>haltlich spannt Hachtmann e<strong>in</strong>en weiten<br />

Bogen: Se<strong>in</strong>e Darstellung reicht von der Antike bis <strong>in</strong> die<br />

siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts und umfasst so unterschiedliche<br />

Phänomene wie die „Sommerfrische“ der römischen<br />

Aristokratie, mittelalterliche Pilgerreisen, <strong>den</strong> europäischen<br />

„Revolutionstourismus“ nach dem Sturm auf die Pariser<br />

Bastille, <strong>den</strong> britischen Bäderurlaub des 19. Jahrhunderts und<br />

die touristische Vere<strong>in</strong>nahmung der „Volksgeme<strong>in</strong>schaft“<br />

durch das nationalsozialistische Regime.<br />

Trotz dieser Bandbreite läuft Hachtmann an ke<strong>in</strong>er Stelle<br />

Gefahr, die unterschiedlichen Formen des Reisens über e<strong>in</strong>en<br />

Kamm zu scheren. Im Gegenteil, es gel<strong>in</strong>gt dem Autor, überzeugend herauszuarbeiten, dass von e<strong>in</strong>em<br />

echten Tourismus letztlich erst seit etwa 1800 die Rede se<strong>in</strong> kann. Erst mit der Aufklärung und<br />

der Formierung des modernen Bürgertums wurde Reisen zum Selbstzweck, zur Suche nach Abwechslung<br />

vom Alltag. Besonders hervorzuheben ist, dass Hachtmann dem Leser selbst die großen<br />

und bisweilen sperrigen historischen Themen wie Modernisierung, Ständestaat oder Bürgertum auf<br />

ausgesprochen anschauliche Weise nahezubr<strong>in</strong>gen vermag. Das Buch wird damit dem Anspruch der<br />

Reihe, Studierende an Leitfragen und Grundkategorien des Fachs heranzuführen, voll gerecht.<br />

E<strong>in</strong> weiterer großer Pluspunkt ist, dass Hachtmann nicht vor e<strong>in</strong>deutiger Kritik an allzu vere<strong>in</strong>fachen<strong>den</strong><br />

Konsumthesen zurückschreckt, die manche historische Darstellung zum Tourismus heute<br />

leiten. So warnt er davor, <strong>den</strong> Tourismus <strong>in</strong> Anschluss an Pierre Bourdieu vorschnell als Trickle-<br />

Down-Phänomen zu kennzeichnen, das sich erst <strong>in</strong> <strong>den</strong> höheren und mittleren Schichten ausbildete,<br />

ehe es sich nach unten verbreiterte. Solchen Thesen stellt der Autor souverän die Tatsache entgegen,<br />

dass sich zeitgleich zur bürgerlichen Sommerfrische proletarische Formen der Wochenenderholung<br />

im Grünen herausbildeten. Auch die Annahme, die sich zu Ende der 1950er Jahre etablierende Tourismus<strong>in</strong>dustrie<br />

und der damit e<strong>in</strong>setzende Massentourismus hätten <strong>für</strong> e<strong>in</strong> immer stärker normiertes


45 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Erleben von Land und Leuten gesorgt, widerlegt Hachtmann überzeugend. Die viel gescholtenen<br />

„Neckermannreisen“ machten nämlich immer nur e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Teil des Reiseaufkommens aus; im<br />

gesamten 20. Jahrhundert herrschte mit weitem Abstand der Individualurlaub vor. Hachtmann beweist<br />

<strong>in</strong>sgesamt <strong>für</strong> bestehende Unterschiede und Ungleichheiten große Sensibilität: Etwa <strong>für</strong> <strong>den</strong><br />

jahrzehntelangen Ausschluss von Frauen vom Alp<strong>in</strong>sport oder <strong>für</strong> die sich nach der E<strong>in</strong>führung von<br />

„Hartz IV“ dramatisch verschlechtern<strong>den</strong> Aussichten <strong>für</strong> Arbeitslose, überhaupt noch irgende<strong>in</strong>e<br />

Form von Urlaub machen zu können und damit teilzuhaben am Konsum als e<strong>in</strong>em konstitutiven Element<br />

unserer Gesellschaft.<br />

Zu kritisieren gibt es an Hachtmanns Buch nur wenig. Schade ist etwa, dass die Bundesrepublik<br />

als Ziel ausländischer Touristen gänzlich außer Acht gelassen wurde, obwohl sich das Land e<strong>in</strong>er<br />

stetig steigen<strong>den</strong> Zahl von Gästen erfreut und hierzu bereits erste historische Studien vorliegen. [1]<br />

Das Thema ist deswegen so <strong>in</strong>teressant, weil das Bild von (West-)Deutschland im Ausland wohl vor<br />

allem über das eigene persönliche Erleben e<strong>in</strong>e Prüfung erfuhr und sich nationale Stereotype dadurch<br />

am ehesten abschliffen.<br />

Hachtmann hätte darüber h<strong>in</strong>aus die Zäsur, die allem Ansche<strong>in</strong> nach die 1960er Jahre <strong>für</strong> <strong>den</strong><br />

Tourismus darstellten, noch stärker herausstreichen und dies bereits <strong>in</strong> der Gliederung zum Ausdruck<br />

br<strong>in</strong>gen können. Bei der Lektüre fällt gleich an mehreren Stellen auf, wie sehr der tief greifende<br />

kulturelle, wirtschaftliche und soziale Umbruch jener Zeit auch auf das Reiseverhalten zurückwirkte.<br />

Hachtmann stellt selbst heraus, dass es erst um 1960 zu e<strong>in</strong>er sozialen und geografischen<br />

Entgrenzung des Tourismus kam. Immer mehr Arbeiter konnten sich Urlaubsreisen leisten und bald<br />

machten deutlich mehr Westdeutsche <strong>in</strong> Italien, Spanien und Österreich Ferien als im eigenen Land.<br />

Das s<strong>in</strong>d aber nur marg<strong>in</strong>ale E<strong>in</strong>wände gegen e<strong>in</strong>e konzise Übersicht zur Geschichte des Tourismus,<br />

die zudem noch durch ihre sprachliche Klarheit und Präzision besticht. Der bekannte Ausspruch<br />

von Matthias Claudius je<strong>den</strong>falls „Wenn jemand e<strong>in</strong>e Reise tut, so kann er was erzählen“ ist<br />

im H<strong>in</strong>blick auf diese gelungene Geschichte des Tourismus voll zu unterstreichen.<br />

Anmerkung:<br />

[1] Beispielhaft: Alessandra Ferretti: Un viaggio lungo un secolo. Il turismo italiano <strong>in</strong> Germania,<br />

<strong>in</strong>: Italiani <strong>in</strong> Germania tra Ottocento e Novecento. Spostamenti, rapporti, immag<strong>in</strong>azioni, <strong>in</strong>fluenze,<br />

a cura di Gustavo Corni/Christof Dipper, Bologna 2006, 521-544.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


Peter Hübner/Christa Hübner: Sozialismus als soziale Frage. Sozialpolitik <strong>in</strong> der DDR<br />

und Polen 1968–1976. Mit e<strong>in</strong>em Beitrag von Christoph Boyer zur Tschechoslowakei (= Zeithistorische<br />

Studien; Bd. 45), Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2008, 520 S., ISBN 978-3-412-20203-3,<br />

EUR 59,90<br />

Rezensiert von Silke Röttger<br />

Leipzig<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 4<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/04/14895.html<br />

„Sozialismus als Soziale Frage“ – dieser Gleichklang hat im<br />

heutigen wiedervere<strong>in</strong>igten Deutschland e<strong>in</strong>e ungebrochene<br />

Kont<strong>in</strong>uität. Die sozialen „Errungenschaften“ s<strong>in</strong>d (neben dem<br />

angeblichen Antifaschismus) das Phänomen, das am nachhaltigsten<br />

das Bild der DDR abseits der wissenschaftlichen Forschung<br />

prägt. Die Wurzeln dieser Entwicklung liegen <strong>in</strong> der<br />

hohen ideologisch-propagandistischen Aufladung, die die Wirtschafts-<br />

und Sozialpolitik auf <strong>den</strong> höchsten Parteiebenen <strong>in</strong><br />

allen Ländern des östlichen Blocks stets erfuhr. Wie János<br />

Kornai 1992 gezeigt hat, wur<strong>den</strong> im „sozialistischen System“<br />

die wirtschaftlichen Strukturen von der Ideologie und dem<br />

Willen der Partei zum Machterhalt so nachhaltig geprägt, dass<br />

sämtliche Entscheidungen nur <strong>in</strong>nerhalb dieses unverrückbaren<br />

Rahmens getroffen wer<strong>den</strong> konnten.<br />

Dieselbe Beobachtung hat M. Ra<strong>in</strong>er Lepsius 1994 am<br />

Beispiel der DDR als „Entdifferenzierung der <strong>Institut</strong>ionen“<br />

bezeichnet, die bewirkt, dass alle Entscheidungen von Partei<strong>in</strong>stanzen<br />

getroffen wer<strong>den</strong>. Dieses Phänomen ist <strong>für</strong> sozialistische<br />

Staaten typisch und führt dazu, dass auf dem Gebiet der Wirtschaft die ökonomische Effizienz<br />

als Rationalitätskriterium und Handlungsleitfa<strong>den</strong> stets h<strong>in</strong>ter der politischen Zweckmäßigkeit zurückstehen<br />

muss: „Das zentrale Rationalitätskriterium war die Erhaltung der Macht der Partei.“ [1]<br />

Vor diesem H<strong>in</strong>tergrund fällt Peter Hübners Untersuchung des „Sozialismus als soziale Frage“,<br />

die mit Christa Hübner als Koautor<strong>in</strong> erstellt wurde, seltsam neutral aus. Hübner analysiert die Sozialpolitik<br />

der DDR und Polens zwischen 1968 und 1976. E<strong>in</strong>en prom<strong>in</strong>enten Platz nehmen dabei die<br />

Krisenmonate 1970/71 e<strong>in</strong>, die <strong>in</strong> bei<strong>den</strong> Ländern nicht nur Wechsel an <strong>den</strong> Parteispitzen, sondern<br />

auch wirtschafts- und sozialpolitische Kursveränderungen mit sich brachten. Die folgen<strong>den</strong> Jahre bis<br />

zum Ausbruch e<strong>in</strong>er erneuten polnischen Krise 1976 wer<strong>den</strong> kenntnis- und detailreich „gewissermaßen<br />

als e<strong>in</strong>e deutsch-polnische Parallelgeschichte“ beschrieben (24). Ergänzende Kapitel untersuchen die<br />

Perzeption der polnischen Politik durch die SED.<br />

Hoch<strong>in</strong>teressant und aufschlussreich ist die umfangreiche Studie vor allem durch ihren vergleichen<strong>den</strong><br />

Ansatz, der hier am Beispiel der Sozialpolitik e<strong>in</strong>mal mehr verdeutlicht, dass es sich beim<br />

„Ostblock“ ke<strong>in</strong>eswegs um e<strong>in</strong> monolithisches Gebilde handelte. E<strong>in</strong> deutlicher Unterschied zwischen


47 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

der DDR und Polen, der entschei<strong>den</strong><strong>den</strong> E<strong>in</strong>fluss auf die Gestaltung der jeweiligen Sozialpolitik hatte,<br />

war z.B. das Arbeitskräftepotenzial. Während der Betriebsalltag <strong>in</strong> der DDR von e<strong>in</strong>em ständigen<br />

Mangel an Arbeitskräften geprägt war, herrschte <strong>in</strong> Polen e<strong>in</strong> spürbarer Überschuss. E<strong>in</strong> Schwerpunkt<br />

der polnischen Sozialpolitik <strong>in</strong> <strong>den</strong> 70er Jahren bestand dementsprechend dar<strong>in</strong>, durch verschie<strong>den</strong>e<br />

Anreize (Teilzeit, dreijähriger unbezahlter Mutterurlaub) Frauen und <strong>in</strong>sbesondere Mütter<br />

von e<strong>in</strong>er vollen Erwerbstätigkeit fernzuhalten. Diesem Ziel kam e<strong>in</strong> Familienbild entgegen, das <strong>in</strong><br />

Polen traditioneller war als <strong>in</strong> der DDR. In diesem Zusammenhang bleibt die Rolle der katholischen<br />

Kirche <strong>in</strong> Polen, die die Familien- und Sozialpolitik der Partei wiederholt öffentlich bewertete, jedoch<br />

leider unterbelichtet, wie auch überhaupt der Vergleich der Mentalitäten der deutschen bzw. polnischen<br />

Bevölkerung und deren Akzeptanz des Systems zu kurz kommt. So wirken die sozialpolitischen<br />

Akteure auf <strong>den</strong> höchsten Ebenen von SED und PVAP zwar stets getrieben, doch was sie antreibt,<br />

benennt Hübner lediglich pauschal mit der Anspruchs<strong>in</strong>flation, die <strong>in</strong> bei<strong>den</strong> Ländern die <strong>in</strong>tendierten<br />

politischen Wirkungen der „sozialistischen Errungenschaften“ schnell zunichtemachte (15, 460).<br />

Doch warum verlief dann die Entwicklung <strong>in</strong> Polen so viel krisenhafter als <strong>in</strong> der DDR? Nur vage<br />

lässt sich e<strong>in</strong> möglicher Grund da<strong>für</strong> herauskristallisieren, wenn Gierek noch auf dem VII. Parteitag<br />

der PVAP 1975 davon spricht, Polen habe die „meisten Aufgaben der Übergangsperiode vom Kapitalismus<br />

zum Sozialismus“ erfüllt (342). E<strong>in</strong>e solche Selbste<strong>in</strong>schätzung wäre <strong>in</strong> der DDR schon zu<br />

Ulbrichts Zeiten un<strong>den</strong>kbar gewesen. Offensichtlich waren <strong>in</strong> Polen tief verwurzelte gesellschaftliche<br />

Mechanismen am Werk, die e<strong>in</strong>e ideologische Überheblichkeit der Partei wie im Fall der SED verh<strong>in</strong>derten<br />

und der PVAP auch auf dem Gebiet der Sozialpolitik weniger Spielräume <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en Legitimationszugew<strong>in</strong>n<br />

ließen.<br />

Weil Hübner die allem übergeordnete Ebene der ideologischen Zwänge und des ständigen Legitimationsstrebens<br />

der Parteien vernachlässigt, wirkt <strong>in</strong> der vorliegen<strong>den</strong> Studie die Sozialpolitik Honeckers<br />

und Giereks stark operativ. Tatsächlich aber wurde sie gerade vor dem H<strong>in</strong>tergrund der polnischen<br />

Krise im Dezember 1970 im folgen<strong>den</strong> Jahrzehnt (und bis zum Ende des Ostblocks) eher stärker <strong>für</strong><br />

<strong>den</strong> höheren Zweck des Machterhalts <strong>in</strong>strumentalisiert als zuvor, wie Christoph Kleßmann und André<br />

Ste<strong>in</strong>er gezeigt haben. [2] So bleibt Hübners Bewertung der Streikwelle <strong>in</strong> Polen 1970/71 unvollständig:<br />

Die sozialpolitischen Maßnahmen und Versprechen seien e<strong>in</strong>e „schwere Hypothek“ <strong>für</strong><br />

Gierek gewesen (185) – doch die eigentliche Hypothek bleibt unerwähnt, nämlich die erschossenen<br />

Arbeiter und die verlorene Glaubwürdigkeit der polnischen „Arbeiterpartei“, die ja gerade durch die<br />

sozialpolitischen Versprechen wiederhergestellt wer<strong>den</strong> sollte.<br />

Dieses Defizit des ansonsten äußerst verdienstvollen Buches wird durch e<strong>in</strong>en Aufsatz von Christoph<br />

Boyer ausgeglichen, der im Anhang <strong>den</strong> Blick auf die Tschechoslowakei weitet und die „Tschechoslowakische<br />

Sozial- und Konsumpolitik im Übergang von der Reform zur Normalisierung“ untersucht.<br />

Er bettet die Sozial- und Konsumpolitik nicht nur <strong>in</strong> das Gesamtsyndrom der „Normalisierung“<br />

e<strong>in</strong>, sondern erklärt sie sogar zu ihrem „zentral wichtigen Element.“ (473) Diese Untersuchungsebene<br />

ermöglicht es, strukturelle Ähnlichkeiten zur DDR sichtbar zu machen: In bei<strong>den</strong> Ländern folgte<br />

dem Reformabbruch e<strong>in</strong>e politische und ökonomische Rezentralisierung und e<strong>in</strong>e Sozial- und Konsumpolitik,<br />

die vor allem pazifizierende Funktionen zu erfüllen hatte. Boyers These von der Familienähnlichkeit<br />

zwischen dem „Realsozialismus“ der DDR und der „Normalisierung“ <strong>in</strong> der ČSSR lässt<br />

die Unterschiede zum polnischen Entwicklungspfad, der seit <strong>den</strong> 70er Jahren trotz aller sozialpolitischen<br />

Anstrengungen zu e<strong>in</strong>er immer stärkeren Erosion der Parteimacht führte, umso deutlicher hervortreten.<br />

Es erweist sich, dass e<strong>in</strong> Vergleich der Sozialpolitik erst unter E<strong>in</strong>beziehung der ideologisch-legitimatorischen<br />

Zwänge, <strong>den</strong>en alle sozialistischen Regime unterlagen, e<strong>in</strong> vollständiges<br />

Bild ergibt. Insofern rundet erst Boyers Beitrag dieses lesenswerte Buch vollends ab.<br />

In vielen detailreichen und quellennahen Passagen, z.B. über <strong>den</strong> Umgang der PVAP mit Gomułka<br />

nach dessen Sturz oder über Giereks berühmten Auftritt vor Danziger Arbeitern, wird das Buch se<strong>in</strong>em<br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


48 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Hauptanliegen, angesichts des häufig mangelhaften Wissens deutscher Forscher über Polen „e<strong>in</strong>[en]<br />

ganz triviale[n] Informationsbedarf zu befriedigen“ (23), jederzeit gerecht.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] M. Ra<strong>in</strong>er Lepsius: Die <strong>Institut</strong>ionenordnung als Rahmenbed<strong>in</strong>gung der Sozialgeschichte der<br />

DDR, <strong>in</strong>: Sozialgeschichte der DDR, hrsg. von Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka/Hartmut Zwahr,<br />

Stuttgart 1994, 17-30, hier 21.<br />

[2] Christoph Kleßmann: Gesamtbetrachtung, <strong>in</strong>: Deutsche Demokratische Republik 1961–1971. Politische<br />

Stabilisierung und wirtschaftliche Mobilisierung (Geschichte der Sozialpolitik <strong>in</strong><br />

Deutschland seit 1945, Bd. 9), hrsg. von Christoph Kleßmann, Ba<strong>den</strong>-Ba<strong>den</strong> 2006, 791-813,<br />

hier 797; André Ste<strong>in</strong>er: Zwischen Konsumversprechen und Innovationszwang. Zum wirtschaftlichen<br />

Niedergang der DDR, <strong>in</strong>: Weg <strong>in</strong> <strong>den</strong> Untergang. Der <strong>in</strong>nere Zerfall der DDR, hrsg. von<br />

Konrad H. Jarausch/Mart<strong>in</strong> Sabrow, Gött<strong>in</strong>gen 1999, 153-192, hier 156.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


Christian Lotz: Die Deutung des Verlusts. Er<strong>in</strong>nerungspolitische Kontroversen im<br />

geteilten Deutschland um Flucht, Vertreibung und die Ostgebiete (1948–1972) (= Neue<br />

Forschungen zur Schlesischen Geschichte; Bd. 15), Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2007, X + 327 S.,<br />

ISBN 978-3-412-15806-4, EUR 37,90<br />

Rezensiert von Michael Schwartz<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 11<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/11/13961.html<br />

Zwei Jahrzehnte nach Mauerfall und Wiedervere<strong>in</strong>igung wird<br />

von e<strong>in</strong>er Geschichtsschreibung zur Bundesrepublik das Paralleluniversum<br />

der SBZ/DDR weiterh<strong>in</strong> allzu oft ignoriert.<br />

Dennoch rückt allmählich e<strong>in</strong>e Forschungsperspektive <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

Vordergrund, die sich auf das „doppelte Deutschland“ konzentriert.<br />

[1] Das gilt auch <strong>für</strong> das Thema Vertreibung und Vertriebenen<strong>in</strong>tegration,<br />

dessen er<strong>in</strong>nerungspolitische Dimension<br />

gerade <strong>in</strong> jüngster Zeit an Aktualität und Brisanz gewonnen<br />

hat. Versuche, der Entwicklung <strong>in</strong> bei<strong>den</strong> deutschen Staaten<br />

und Gesellschaften gerecht zu wer<strong>den</strong>, s<strong>in</strong>d bisher über Sammelbände<br />

nicht h<strong>in</strong>ausgelangt oder <strong>in</strong>haltlich ungleichgewichtig<br />

oder essayistisch geblieben. [2] E<strong>in</strong> systematischer Vergleich<br />

fehlt bislang; er wird – um dies vorweg zu nehmen – auch <strong>in</strong><br />

der Studie von Christian Lotz nicht erschöpfend geboten.<br />

Immerh<strong>in</strong> kann Lotz das Desiderat e<strong>in</strong> Stück weit e<strong>in</strong>lösen;<br />

die Systematik se<strong>in</strong>es komparatistischen Ansatzes ist se<strong>in</strong>e<br />

Stärke, zugleich aber auch Ursache se<strong>in</strong>er Begrenztheit und<br />

partiellen Fragwürdigkeit.<br />

Lotz geht es um die Er<strong>in</strong>nerungspolitik, die sich sowohl auf das Ereignis (Vertreibung) als auch<br />

auf <strong>den</strong> Raum (zu „Ostgebieten“ vere<strong>in</strong>facht) bezog. Der Erfolg oder Misserfolg solcher Er<strong>in</strong>nerungspolitik<br />

lässt <strong>in</strong>direkt Rückschlüsse auf <strong>den</strong> Verlauf von Vertriebenen<strong>in</strong>tegration <strong>in</strong> Bundes-<br />

republik oder DDR zu. Ob die von Lotz getroffene Entscheidung, die konträren deutschen bzw. polnischen<br />

Term<strong>in</strong>i der Vertreibung und Aussiedlung „synonym“ zu nutzen (4), e<strong>in</strong>e glückliche ist, darf<br />

bezweifelt wer<strong>den</strong> – dem aktuellen Trend der Forschung entspricht sie nicht. Indem Lotz die räumliche<br />

Dimension der Er<strong>in</strong>nerungspolitik auf die „Ostgebiete“ im S<strong>in</strong>ne der 1945 verlorenen ostdeutschen<br />

Reichsgebiete <strong>in</strong> <strong>den</strong> Grenzen von 1937 bezieht, verengt er <strong>den</strong> Raumbezug auf die deutsch-polnische<br />

Relation – was forschungspragmatisch legitim ist, aber e<strong>in</strong>e Begründung der Exklusion sonstiger<br />

Er<strong>in</strong>nerungsräume (vom Baltikum bis nach Südosteuropa) nicht obsolet macht. Indem der Autor dies<br />

mit Stillschweigen übergeht, erspart er sich (und uns) die Antwort auf die wichtige Frage, wie repräsentativ<br />

die am deutsch-polnischen Fall gewonnenen Resultate se<strong>in</strong> dürften. Überzeugender fällt die<br />

Def<strong>in</strong>ition des Verhältnisses von Er<strong>in</strong>nerungspolitik und Vergangenheitspolitik aus (7). Kenntnis-


50 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

reich und anregend ist – auch dann, wenn man ihm nicht zustimmt – die Ause<strong>in</strong>andersetzung mit<br />

dem Forschungsstand.<br />

Methodisch konzipiert Lotz se<strong>in</strong>e Arbeit als Vergleich der Er<strong>in</strong>nerungspolitiken von vier politischen<br />

oder gesellschaftlichen <strong>Institut</strong>ionen mit gesamtdeutscher Dimension – die Selbstorganisation<br />

von Vertriebenen am Beispiel der Landsmannschaft Schlesien, die <strong>in</strong> der DDR verboten war, aber<br />

auch dort h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>wirkte; der Gerlach-Gesellschaft (Deutsch-Polnische Gesellschaft) der DDR, die auch<br />

<strong>in</strong> der Bundesrepublik über e<strong>in</strong> weith<strong>in</strong> konformes Äquivalent verfügte; der Schlesischen Evangelischen<br />

Kirche, die <strong>in</strong> der DDR weiterexistierte und <strong>in</strong> der Bundesrepublik als lockere „Geme<strong>in</strong>schaft<br />

evangelischer Schlesier“ fortbestand; schließlich die gouvernementale Dimension, <strong>in</strong>dem auf DDR-<br />

Seite das ZK der SED und das M<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> Staatssicherheit, auf westdeutscher Seite die M<strong>in</strong>isterien<br />

<strong>für</strong> Vertriebene und <strong>für</strong> gesamtdeutsche Fragen <strong>in</strong> <strong>den</strong> Fokus gelangen (23f.).<br />

In <strong>den</strong> folgen<strong>den</strong> Kapiteln spielt der Autor diese Versuchsanordnung <strong>in</strong> <strong>den</strong> ersten drei Jahrzehnten<br />

deutsch-deutscher Geschichte durch und gelangt zur Unterscheidung von drei Phasen: Die Jahre<br />

zwischen 1948 und 1956/57 betrachtet er als Formationsphase unterschiedlicher Deutungsangebote,<br />

zwischen 1956 und „Mitte der sechziger Jahre“ glaubt er e<strong>in</strong>e „Verschiebung der Kräfteverhältnisse“<br />

beobachten zu können, und <strong>in</strong> der Folgezeit bis 1972 konstatiert er „Politisierung und Isolation“. Die<br />

erste Phase ist wenig orig<strong>in</strong>ell, die zweite zum<strong>in</strong>dest orig<strong>in</strong>ell term<strong>in</strong>iert, die dritte weist nur mit dem<br />

Isolations-Begriff e<strong>in</strong> Unterscheidungsmerkmal auf, während Politisierung eher als durchgehender<br />

Grundzug ersche<strong>in</strong>t.<br />

Betrachtet man zunächst die zeitliche E<strong>in</strong>teilung, stellt sich die Frage, weshalb Lotz als Ausgangspunkt<br />

das Jahr 1948 wählt. Dies ersche<strong>in</strong>t willkürlich, <strong>den</strong>n die Notwendigkeit zu er<strong>in</strong>nerungspolitischer<br />

Deutung ergab sich bereits 1945 – und ebenso existierten politisch-adm<strong>in</strong>istrative, kirchliche<br />

und prototypisch sogar landsmannschaftliche Deutungsagenturen vor 1948. Noch fragwürdiger ersche<strong>in</strong>t<br />

die nächste Zäsursetzung: Lotz beobachtet, dass die schlesische Landsmannschaft <strong>in</strong> er<strong>in</strong>nerungspolitischen<br />

Deutungskonflikten „unübersehbar“ ab 1956/57 „immer mehr <strong>in</strong>s H<strong>in</strong>tertreffen“<br />

geraten sei, belegt dies jedoch lediglich mit Zitaten aus <strong>den</strong> 1960er Jahren – was <strong>den</strong>n auch sehr viel<br />

plausibler ist und dem Forschungsstand entspricht (132). Kirchliche Bestrebungen <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e neue<br />

Ostpolitik und Vertriebenenverbandskritik durch l<strong>in</strong>ke Medien traten ebenfalls erst nach 1960 deutlicher<br />

hervor. Dass die westdeutsche SED-gesteuerte Freundschaftsgesellschaft ab Ende der 1950er<br />

oder vielleicht doch erst ab Anfang der 1960er Jahre „erste Erfolge“ erzielt habe (172f.), wird nicht<br />

empirisch belegt, sondern nur postuliert, verweist jedoch ebenfalls auf e<strong>in</strong>e wahrsche<strong>in</strong>lichere Zäsur<br />

um 1960. Ob sich dann e<strong>in</strong>e zweite Phase bis Mitte der 1960er Jahre halten lässt, zumal Lotz selbst<br />

„eher e<strong>in</strong> weicher Übergang [...] zwischen 1963 und 1967“ vorschwebt (263), oder ob man nicht<br />

besser die zweite und dritte Phase zusammenfassen sollte, kann hier nur gefragt wer<strong>den</strong>. Je<strong>den</strong>falls<br />

ersche<strong>in</strong>t selbst die abschließende Zäsur von 1972 wenig zw<strong>in</strong>gend, wenn der Verfasser selbst zugibt,<br />

dass <strong>in</strong> der Folgezeit „die Debatten ke<strong>in</strong>eswegs beendet waren“ (ebd.).<br />

Inhaltlich bietet Lotz’ Darstellung viele <strong>in</strong>teressante Details und Deutungen. Fragt man jedoch<br />

nach der Stimmigkeit se<strong>in</strong>er Gesamt<strong>in</strong>terpretation, stellen sich folgende Probleme: Wie stimmig ist<br />

e<strong>in</strong>e Vergleichsanordnung, die mit Elementen hantiert, welche sich bei näherer Betrachtung als<br />

ungleich und damit zum<strong>in</strong>dest als schwer vergleichbar herausstellen? Die evangelische Kirche<br />

Schlesiens <strong>in</strong> der DDR war als Voll<strong>in</strong>stitution eben etwas Anderes als das Rest<strong>in</strong>stitut der Schlesiergeme<strong>in</strong>schaft<br />

<strong>in</strong>nerhalb der EKD; die schlesische Landsmannschaft war etwas Anderes und als Vetospieler<br />

von ganz anderer gesellschaftlicher Bedeutung als die marg<strong>in</strong>ale Gerlach-Gesellschaft und<br />

ihr noch unwichtigerer westdeutscher Ableger. Lotz’ Konzentration auf die von dieser DDR-Organisation<br />

betriebene Er<strong>in</strong>nerungspolitik verzerrt das Bild der SED-Gesamtstrategie, <strong>den</strong>n die Übernahme<br />

polnischer Deutungen kennzeichnete ke<strong>in</strong>eswegs die SED-Umsiedlerpolitik <strong>in</strong>sgesamt. E<strong>in</strong><br />

Vergleich, der auf derart ungleiche Elemente setzt, wird zwangsläufig schief.<br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


51 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

H<strong>in</strong>zu kommen Zweifel an e<strong>in</strong>zelnen <strong>in</strong>haltlichen Aussagen: Zweifelhaft etwa ersche<strong>in</strong>t Lotz’ Behauptung,<br />

die er<strong>in</strong>nerungspolitische „SED-Strategie“ habe seit Anfang der 1960er Jahre nicht nur <strong>in</strong><br />

der DDR „Erfolg“ gehabt, sondern „später auch teilweise <strong>in</strong> Westdeutschland“ (182). Hier wüsste man<br />

gern: Wie misst man Erfolg? Kann man von erfolgreicher Repression auf erfolgreiche Deutungshegemonie<br />

schließen? Und lässt sich e<strong>in</strong>e gesellschaftliche Langzeitentwicklung mechanisch e<strong>in</strong>em Akteur<br />

zurechnen? War der westdeutsche Deutungswandel der 60er Jahre SED-bee<strong>in</strong>flusst oder nicht eher<br />

e<strong>in</strong>e eigendynamische Parallelentwicklung? Lotz glaubt an die Gestaltungsmacht politischer Akteure,<br />

zumal <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Diktatur (obschon er <strong>den</strong> Diktaturcharakter der DDR ansonsten kaum betont, sondern<br />

eher e<strong>in</strong>er konturlosen Äquidistanz huldigt), <strong>den</strong>n <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Sicht konnte die SED „die Ausstrahlungskraft<br />

ihrer Deutung <strong>in</strong> Ost- und Westdeutschland“ zwischen 1955 und 1965 „wesentlich vergrößern“<br />

(185). Das mag sogar stimmen, wenn man be<strong>den</strong>kt, dass diese Ausstrahlung zuvor <strong>in</strong> der<br />

DDR ger<strong>in</strong>g und <strong>in</strong> Westdeutschland kaum gegeben war. Doch war das entschei<strong>den</strong>de Deutungshoheit?<br />

Im Westen darf man punktuelle Erfolge wie <strong>den</strong> SED-Beitrag zum Sturz nicht nur Oberländers,<br />

sondern noch e<strong>in</strong>es weiteren Vertriebenenm<strong>in</strong>isters (<strong>den</strong> Lotz nicht erwähnt) ke<strong>in</strong>esfalls überschätzen.<br />

Und selbst <strong>für</strong> die DDR muss man Lotz’ These von der Durchschlagskraft der SED-Politik<br />

(186) gegenüber <strong>den</strong> dissi<strong>den</strong>t bleiben<strong>den</strong> gesellschaftlichen „Nischen“ deutlich relativieren. Kle<strong>in</strong>ere<br />

Unstimmigkeiten kommen h<strong>in</strong>zu: Wenn die Forderung der Sowjetunion nach der „Curzon-L<strong>in</strong>ie“ auf<br />

das durch <strong>den</strong> deutschen Überfall von 1941 erzeugte „Sicherheitsbedürfnis“ zurückgeführt wird (50),<br />

bleibt die mit dem Hitler-Stal<strong>in</strong>-Pakt von 1939 gegebene Vorgeschichte gänzlich unbeachtet.<br />

Insgesamt fällt das Ergebnis dieses deutsch-deutschen Vergleichs früher Er<strong>in</strong>nerungspolitiken an<br />

die Vertreibung somit ernüchternd aus. Dennoch hat Lotz e<strong>in</strong>en deutsch-deutschen Pfad beschritten,<br />

der unbed<strong>in</strong>gt weiter begangen wer<strong>den</strong> sollte – freilich mit deutlicherer Herausarbeitung von Demokratie-<br />

und Diktaturkontexten sowie größerer Berücksichtigung der Eigendynamik gesellschaftlicher<br />

Entwicklungen gegenüber politischen Aktionen. Auf diesem Wege kann die Lektüre von Lotz’ Studie<br />

behilflich se<strong>in</strong>. Am wenigsten dort, wo apodiktisch geurteilt wird – wie über Vere<strong>in</strong>fachungsstrategien<br />

der Landsmannschaften, die ihrerseits (Stichwort Völkerrecht) von Lotz zu sehr vere<strong>in</strong>facht<br />

wer<strong>den</strong> (64). Am ehesten da, wo Lotz S<strong>in</strong>n <strong>für</strong> Dialektik beweist – etwa <strong>in</strong> der These, e<strong>in</strong>e „unfreiwillige<br />

Allianz“ aus SED und Landsmannschaften habe die Er<strong>in</strong>nerung an Vertreibung und Ost-<br />

gebiete mit „unterschiedlicher Absicht“ derart politisiert, dass diese Er<strong>in</strong>nerung schließlich „schrittweise<br />

aus der öffentlichen Diskussion h<strong>in</strong>ausgedrängt“ wor<strong>den</strong> sei (268). Ob das stimmt? Je<strong>den</strong>falls<br />

ist es neu, frech, anregend – und nur über e<strong>in</strong>en deutsch-deutschen Vergleich zu behaupten, der andernorts<br />

allzu oft noch fehlt.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Paradigmatisch: Udo Wengst/Hermann Wentker (Hrsg.): Das doppelte Deutschland. 40 Jahre<br />

Systemkonkurrenz, Berl<strong>in</strong> 2008.<br />

[2] Dierk Hoffmann/Michael Schwartz (Hrsg.): Geglückte Integration? Spezifika und Vergleichbarkeiten<br />

der Vertriebenen-Integration <strong>in</strong> der SBZ/DDR, München 1999; Dierk Hoffmann/Marita<br />

Krauss/Michael Schwartz (Hrsg.): Vertriebene <strong>in</strong> Deutschland. Interdiszipl<strong>in</strong>äre Ergebnisse und<br />

Forschungsperspektiven, München 2000; Michael Schwartz: Vertriebene und „Umsiedlerpolitik“.<br />

Integrationskonflikte <strong>in</strong> <strong>den</strong> deutschen Nachkriegs-Gesellschaften und die Assimilationsstrategien<br />

<strong>in</strong> der SBZ/DDR 1945–1961, München 2004; Andreas Kossert: Kalte Heimat. Die Geschichte<br />

der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2008; Michael Schwartz: Vertriebene<br />

im doppelten Deutschland. Integrations- und Er<strong>in</strong>nerungspolitik <strong>in</strong> der DDR und <strong>in</strong> der Bundesrepublik,<br />

<strong>in</strong>: Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong> 56 (2008), 101-151.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


Leonid Luks: Zwei Gesichter des Totalitarismus. Bolschewismus und Nationalsozialismus<br />

im Vergleich. 16 Skizzen, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2007, 306 S., ISBN 978-3-412-20007-7,<br />

EUR 24,90<br />

Rezensiert von Thomas Widera<br />

Hannah-Arendt-<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Totalitarismusforschung e.V. an der Technischen Universität, Dres<strong>den</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 11<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/11/13971.html<br />

Die vorliegende Aufsatzsammlung trägt absichtsvoll im Untertitel<br />

<strong>den</strong> Zusatz „16 Skizzen“. Dem Leser wird signalisiert,<br />

dass ihn ke<strong>in</strong> systematisch angelegter, nach Geme<strong>in</strong>samkeiten<br />

und Unterschie<strong>den</strong> fragender Vergleich erwartet. Der Band<br />

enthält vielmehr Detailstudien zu jenen bei<strong>den</strong> Großdiktaturen,<br />

die das 20. Jahrhundert prägten. Bis auf e<strong>in</strong>e Ausnahme<br />

veröffentlichte der Lehrstuhl<strong>in</strong>haber <strong>für</strong> Mittel- und Osteuropäische<br />

<strong>Zeitgeschichte</strong> an der Katholischen Universität Eichstätt,<br />

Leonid Luks, die Beiträge <strong>in</strong> <strong>den</strong> Jahren 1988 bis 2007<br />

<strong>in</strong> Zeitschriften. Kenntnisreich unterzieht er zentrale Elemente<br />

des Nationalsozialismus und des Bolschewismus e<strong>in</strong>er vergleichen<strong>den</strong><br />

Betrachtung, um zwischen Besonderem und Typischem<br />

der Diktaturen zu differenzieren und Pauschalurteile<br />

über beide politischen Systeme auszuräumen und zu widerlegen.<br />

Mit profunder Sachkenntnis sucht er nach Antworten<br />

auf die Frage, warum es Auschwitz und <strong>den</strong> Archipel Gulag<br />

gab und warum die bei<strong>den</strong> von ihm analysierten „zivilisationsfe<strong>in</strong>dlichen<br />

Strömungen ausgerechnet <strong>in</strong> Russland und <strong>in</strong><br />

Deutschland ihre radikalste Ausprägung“ fan<strong>den</strong> (8).<br />

Der Sammelband ist untergliedert <strong>in</strong> drei Rubriken und wendet sich im ersten Teil zunächst <strong>den</strong><br />

geistigen Grundlagen der Entstehung von Bolschewismus und Nationalsozialismus zu. Ehe Luks auf<br />

die Zusammenarbeit Len<strong>in</strong>s mit der Obersten Heeresleitung des Wilhelm<strong>in</strong>ischen Kaiserreichs und<br />

die Totalitarismusanalyse des russischen Philosophen Semen L. Frank e<strong>in</strong>geht, vergleicht er die Ausführungen<br />

Dostoevskijs und He<strong>in</strong>rich von Treitschkes zu Nationalismus und Antisemitismus sowie<br />

die Len<strong>in</strong>s und Chamberla<strong>in</strong>s zur Revolution. Die Kampfschrift des nachmaligen Revolutionärs<br />

„Was tun?“ und das Elaborat „Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts“ betrachtet Luks als<br />

zunächst utopische Entwürfe, die aber von <strong>den</strong> Diktatoren als Vorlagen politischen Handelns betrachtet<br />

wor<strong>den</strong> seien (69).<br />

Im zweiten Teil untersucht Luks konkrete Phänomene der Verwandtschaft und Differenz von Bolschewismus,<br />

Faschismus und Nationalsozialismus. Zunächst fasst er <strong>in</strong> dem Aufsatz „Ursachen <strong>für</strong><br />

die Fehle<strong>in</strong>schätzung der rechtsextremen Massenbewegungen durch die Bolschewiki“ die Ergebnisse<br />

se<strong>in</strong>er Habilitationsschrift über die kommunistische Faschismustheorie zusammen. [1] Danach kritisiert<br />

Luks die unausgewogene Deutung des Nationalsozialismus als e<strong>in</strong>er Reaktion auf die bolsche-


53 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

wistische Bedrohung (Ernst Nolte) sowie <strong>den</strong> ähnlich gelagerten Versuch e<strong>in</strong>er Erklärung des Holocaust<br />

durch Johannes Rogalla von Bieberste<strong>in</strong>. Größere Erklärungskraft <strong>für</strong> die Entstehungsbed<strong>in</strong>gungen<br />

totalitärer Herrschaft f<strong>in</strong>det er <strong>in</strong> <strong>den</strong> biographisch gesättigten Schilderungen des stal<strong>in</strong>istischen<br />

Terrors durch die Schriftsteller Vasilij Grossman und Aleksander Wat. Beide betrachteten die Komplizenschaft<br />

zahlreicher Parteimitglieder und ihre Involvierung <strong>in</strong> die Verbrechen als e<strong>in</strong>e wesentliche<br />

Ursache ihrer Unfähigkeit, sich gegen das Terrorregime Stal<strong>in</strong>s aufzulehnen. Auf der anderen Seite<br />

sei der reibungslose Ablauf des Holocaust „ohne die unterwürfige H<strong>in</strong>nahme dieser Mordorgie durch<br />

die Mehrheit der Bevölkerung <strong>in</strong> allen Gebieten“ des nationalsozialistischen Machtbereichs nicht<br />

möglich gewesen (210).<br />

Nachdem Luks Vergleiche des britischen Historikers Richard Overy zwischen dem rassistischen<br />

Eroberungskrieg der Wehrmacht gegen die Sowjetunion und dem gegenwärtigen Krieg im Irak als<br />

irreführend zurückgewiesen hat, kommt er im abschließen<strong>den</strong> Teil III zu <strong>den</strong> Betrachtungen über die<br />

Gefahren des russischen Rechtsextremismus <strong>in</strong> der Gegenwart. Gerade bei diesen überaus <strong>in</strong>teressanten,<br />

weil von e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>timen Kenner der Verhältnisse verfassten Beiträgen über die extremistischen<br />

Konstellationen <strong>in</strong> der russischen Gesellschaft macht sich e<strong>in</strong> konzeptioneller Mangel des<br />

Sammelbandes bemerkbar. Zwar erwähnte Luks <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>leitung e<strong>in</strong>schränkend, das Buch habe <strong>den</strong><br />

Charakter e<strong>in</strong>er thematischen Annäherung und deshalb dürfe e<strong>in</strong>e erschöpfende Auskunft nicht erwartet<br />

wer<strong>den</strong>, aber es fehlt <strong>den</strong>noch e<strong>in</strong>e Bilanz und die E<strong>in</strong>ordnung der ja teils bis zu zwei Jahrzehnte<br />

zurückliegen<strong>den</strong> Erstveröffentlichungen <strong>in</strong> <strong>den</strong> aktuellen Forschungskontext.<br />

Luks war sich dieses Problems bewusst. In e<strong>in</strong>em FAZ-Artikel vom Dezember 1993 über <strong>den</strong><br />

Wahlsieg Vladimir Zir<strong>in</strong>ovskijs warnte er unter H<strong>in</strong>weis auf entsprechende historische Prozesse <strong>in</strong><br />

der Weimarer Republik vor e<strong>in</strong>er Unterschätzung der russischen Rechtsextremisten. Jetzt fügt Luks<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er nachträglichen Schlussbemerkung h<strong>in</strong>zu, dass, obwohl sich e<strong>in</strong>ige se<strong>in</strong>er damaligen Be<strong>für</strong>chtungen<br />

nicht bestätigten, „die faschistische Herausforderung auch heute noch e<strong>in</strong>e akute Gefahr<br />

<strong>für</strong> das postsowjetische Russland“ darstelle (278). Doch dieser knappen Aussage wird ke<strong>in</strong>erlei Erklärung<br />

nachgeschoben und der Leser kann sie lediglich registrieren. Daraus erwächst der E<strong>in</strong>druck,<br />

der Autor habe die Schwachstelle e<strong>in</strong>er bloßen Aufsatzsammlung wahrgenommen und sich trotzdem<br />

nicht der Mühe e<strong>in</strong>er bilanzieren<strong>den</strong> Analyse unterzogen. Tatsächlich spiegeln die Beiträge e<strong>in</strong>en<br />

jetzt zum<strong>in</strong>dest partiell ergänzungsbedürftigen „Forschungsstand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung<br />

wider“ (12), und damit e<strong>in</strong>e verpasste Gelegenheit.<br />

Luks demonstriert mit se<strong>in</strong>en scharfs<strong>in</strong>nigen und prägnanten E<strong>in</strong>wän<strong>den</strong> gegen Noltes e<strong>in</strong>seitige<br />

Interpretation der nationalsozialistischen Herrschaft, wie überaus <strong>in</strong>teressant und aufschlussreich die<br />

komparative Diktaturforschung se<strong>in</strong> kann. Dazu wären allerd<strong>in</strong>gs grundlegende theoretische Überlegungen<br />

zur Beschaffenheit e<strong>in</strong>es Analyserasters erforderlich, das allgeme<strong>in</strong>gültige Kriterien <strong>für</strong> die<br />

Zuordnung e<strong>in</strong>zelner totalitärer Phänomene zu e<strong>in</strong>em bestimmten Herrschaftstypus bereitstellte.<br />

Auch fehlt e<strong>in</strong> Resümee über die Chancen und Grenzen des Vergleichs totalitärer Herrschaft anhand<br />

der vorgestellten Beispiele; dadurch wird e<strong>in</strong>e Möglichkeit versäumt, die Problemfelder, Perspektiven<br />

und Fragehorizonte des Systemvergleichs erneut <strong>in</strong> die Forschungsdebatte e<strong>in</strong>- und diese voranzubr<strong>in</strong>gen.<br />

Das ist zu bedauern, weil trotz langjähriger Ause<strong>in</strong>andersetzungen über die Reichweite der<br />

komparativen Diktaturforschung bislang ke<strong>in</strong> Forschungsdesign zur Verfügung steht, das breiter<br />

angelegt ist und nicht nur <strong>für</strong> enge Ausschnitte zutrifft. Ungeachtet dieser E<strong>in</strong>schränkungen zeichnet<br />

sich der mit e<strong>in</strong>em Personenregister abgerundete Band dadurch aus, dass er umfassend <strong>in</strong> die langjährigen<br />

Forschungen von Leonid Luks über <strong>den</strong> Totalitarismus e<strong>in</strong>führt und die Vielschichtigkeit<br />

se<strong>in</strong>es komplexen Werkes erschließt.<br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


54 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Anmerkung:<br />

[1] Leonid Luks: Entstehung der kommunistischen Faschismustheorie. Die Ause<strong>in</strong>andersetzung der<br />

Kom<strong>in</strong>tern mit Faschismus und Nationalsozialismus 1921–1935. Stuttgart 1984.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


Jürgen Mittag: Kle<strong>in</strong>e Geschichte der Europäischen Union. Von der Europaidee bis zur<br />

Gegenwart, Münster: Aschendorff 2008, 344 S., ISBN 978-3-402-00234-6, EUR 16,80<br />

Rezensiert von Veronika Heyde<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 6<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/06/15367.html<br />

Im letzten Kapitel se<strong>in</strong>es Buches verweist Jürgen Mittag auf<br />

die kaum mehr überschaubare Flut an wissenschaftlichen<br />

Neuersche<strong>in</strong>ungen, die aufzeige, wie sehr das Thema europäische<br />

E<strong>in</strong>igung die zeithistorische Forschung beschäftige (319).<br />

In der Tat erfreut sich die „Erfolgsgeschichte“ der europäischen<br />

Integration, deren Erforschung bereits <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1970er Jahren<br />

angestoßen wurde, wachsender Beliebtheit. Daher drängt<br />

sich die Frage auf, was <strong>den</strong>n unter der Überschrift „Kle<strong>in</strong>e<br />

Geschichte der Europäischen Union“ noch Neues zu Papier<br />

gebracht wer<strong>den</strong> kann, zumal der Untertitel „Von der Europaidee<br />

bis zur Gegenwart“ die Vermutung verstärkt, dass es sich<br />

bei dem hier besprochenen Buch um e<strong>in</strong>e Wiedererzählung<br />

bekannter Fakten handelt.<br />

Doch Jürgen Mittag überrascht <strong>den</strong> Leser, <strong>den</strong>n er hat es geschafft,<br />

e<strong>in</strong>e zwar <strong>in</strong>haltlich nicht neue, aber lesenswerte und<br />

anregende Geschichte der europäischen E<strong>in</strong>igung vorzulegen.<br />

Auf 330 Seiten schildert er anschaulich die Entstehung der<br />

Europäischen Union und bietet e<strong>in</strong>en Überblick über die verschie<strong>den</strong>en<br />

Interpretationsansätze der Forschung sowie die historiografische und politikwissenschaftliche<br />

Literatur. Die e<strong>in</strong>zelnen Kapitel wer<strong>den</strong> von e<strong>in</strong>er kurzen Zusammenfassung e<strong>in</strong>geleitet,<br />

be<strong>in</strong>halten nützliche Karten und kompakte Tabellen und mün<strong>den</strong> jeweils <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e sorgsam erstellte<br />

Auswahlbibliografie als Handreichung <strong>für</strong> <strong>den</strong> <strong>in</strong>teressierten Leser. Somit wird das Buch se<strong>in</strong>em Ziel<br />

gerecht, „Studieren<strong>den</strong> im Grundstudium, Schülern und Lehrern e<strong>in</strong>en Zugang zu <strong>den</strong> wichtigsten<br />

Etappen des europäischen E<strong>in</strong>igungsprozesses zu eröffnen.“ (8) Es geht sogar e<strong>in</strong> wenig darüber<br />

h<strong>in</strong>aus, <strong>den</strong>n die e<strong>in</strong>zelnen Etappen wer<strong>den</strong> nicht schulbuchartig aufgezählt, sondern problematisiert<br />

und sowohl mit ihrer Vorgeschichte als auch mit der weiteren Entwicklung <strong>in</strong> Beziehung gesetzt.<br />

Mittag def<strong>in</strong>iert die Geschichte der Europäischen Union als unvollendeten Prozess und geht bei<br />

der Schilderung ihrer Entstehungsgeschichte sowohl chronologisch als auch thematisch vor. Nach<br />

der e<strong>in</strong>leiten<strong>den</strong> Darstellung der Entwicklung des Europagedankens bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs<br />

wird der Weg zum Schuman-Plan und zu <strong>den</strong> Römischen Verträgen beschrieben. Dabei erläutert<br />

der Autor auch e<strong>in</strong>ige Teilaspekte, die <strong>in</strong> re<strong>in</strong>en Überblicksdarstellungen normalerweise ke<strong>in</strong>en Platz<br />

f<strong>in</strong><strong>den</strong>. So beschränkt sich Mittag zum Beispiel nicht darauf, die allseits bekannte Geschichte des<br />

Schuman-Plans zu rekapitulieren. Er stellt vielmehr auch die Vorläufer dieses Plans vor und zitiert<br />

die bereits 1948 vom nordrhe<strong>in</strong>-westfälischen M<strong>in</strong>isterpräsi<strong>den</strong>ten Karl Arnold geäußerten Über-


56 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

legungen zu e<strong>in</strong>em „genossenschaftlichen Zweckverband“ (76), die <strong>in</strong> der Tat nicht ohne E<strong>in</strong>fluss<br />

auf Robert Schuman und Jean Monnet blieben. Bei der weiteren Unterteilung der Kapitel fällt auf,<br />

dass Mittag nicht wie oft üblich <strong>den</strong> Haager Gipfel und <strong>den</strong> Beg<strong>in</strong>n der Europäischen Politischen<br />

Zusammenarbeit 1969 oder die erste Norderweiterung 1973 als Zäsur wählt, sondern das Jahr 1974<br />

mit der Konstituierung des Europäischen Rats, „der die europäische E<strong>in</strong>igung <strong>in</strong> <strong>den</strong> folgen<strong>den</strong> Jahrzehnten<br />

wie ke<strong>in</strong>e andere geprägt hat.“ (160) Zur Veranschaulichung der Funktionsweise dieser <strong>Institut</strong>ion<br />

lässt Mittag auch Akteure zu Wort kommen, die sonst eher selten erwähnt wer<strong>den</strong>, aber<br />

durchaus e<strong>in</strong>e wichtige Rolle spielten. So wird zum Beispiel der ranghohe Kommissionsbeamte<br />

Marcell von Donat zitiert, dessen po<strong>in</strong>tierte Beschreibung der Entwicklung der europäischen Gipfeltreffen<br />

meist nur e<strong>in</strong>em spezialisierten Fachpublikum bekannt ist.<br />

Was die Phase der sogenannten Eurosklerose betrifft, so betont Mittag, die unterstützende Kraft<br />

der europäischen Öffentlichkeit habe gefehlt, um dem E<strong>in</strong>igungsprozess neue Impulse zu geben. Zugleich<br />

weist er allerd<strong>in</strong>gs darauf h<strong>in</strong>, dass <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1970er und 1980er Jahren, die aufgrund des mangeln<strong>den</strong><br />

Enthusiasmus der Bürger als „dark ages“ verschrien s<strong>in</strong>d, die Vertiefung der Geme<strong>in</strong>schaft<br />

trotzdem voran getrieben wurde. Als letzte Etappe auf dem Weg zur Europäischen Union def<strong>in</strong>iert<br />

Mittag die Zeit vom Ende des Ost-West-Konflikts bis zum Vertrag von Nizza. Abschließend diskutiert<br />

er die Probleme der auf 27 Mitglieder erweiterten Geme<strong>in</strong>schaft, geht auf juristische Fe<strong>in</strong>heiten<br />

der europäischen Rechtsprechung e<strong>in</strong> und wirft die Frage nach der Zukunft auf.<br />

Diese Frage ist umso wichtiger, als sich die Europäische Union seit dem irischen Ne<strong>in</strong> zum Vertrag<br />

von Lissabon <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Krise bef<strong>in</strong>det, deren Ausgang noch ungewiss ist. Europa fehlt es an Orientierung<br />

und an e<strong>in</strong>er Idee, mit der sich die Bürger aller Mitgliedsstaaten i<strong>den</strong>tifizieren könnten. Noch<br />

immer ist die nationalstaatliche Logik nicht durchbrochen, und es ist fraglich, wie das neue, große<br />

Europa zusammengehalten wer<strong>den</strong> kann. Mittag versäumt es nicht, auf die Probleme der Geme<strong>in</strong>schaft<br />

im 21. Jahrhundert h<strong>in</strong>zuweisen und anzudeuten, dass die seit 1969 bestehen<strong>den</strong> Maximen<br />

„Vertiefung, Erweiterung, Vollendung“ ihre Schuldigkeit getan hätten. Um <strong>den</strong> Elan der Integration<br />

aufrechtzuerhalten, sei eher Differenzierung und Flexibilität das Gebot der Stunde. Doch dieser Gedanke<br />

wird nicht näher ausgeführt, sodass die Frage offen bleibt, wie die Union umgestaltet wer<strong>den</strong><br />

könnte. Denn um die Europäer zu mobilisieren und nicht <strong>in</strong> der momentanen zweiten Eurosklerose<br />

zu verharren, muss das „Modell Europa“ vielleicht neu gedacht wer<strong>den</strong>.<br />

Da<strong>für</strong> ist es <strong>in</strong> jedem Fall wichtig, die Vorgeschichte zu kennen, und wer sich darüber <strong>in</strong>formieren<br />

will, ist bei Jürgen Mittag gut aufgehoben. Se<strong>in</strong>e „Kle<strong>in</strong>e Geschichte der Europäischen Union“ ist<br />

e<strong>in</strong> gelungenes Werk über die von Hoffnungen, Krisen und Erfolgen geprägte Entstehung der Europäischen<br />

Union.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


Lucia Scherzberg (Hrsg.): Vergangenheitsbewältigung im französischen Katholizismus und<br />

deutschen Protestantismus. In Zusammenarbeit mit Werner Müller, Paderborn: Schön<strong>in</strong>gh<br />

2008, 255 S., ISBN 978-3-506-76501-7, EUR 29,90<br />

Rezensiert von Anke Silomon<br />

Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 12<br />

http://www.sehepunkte.de/2009/12/15515.html<br />

In se<strong>in</strong>er Rezension des im Jahr 2005 von Lucia Scherzberg<br />

herausgegebenen Sammelbandes zu „Theologie und Vergangenheitsbewältigung“<br />

hatte Christian Schmidtmann gemutmaßt,<br />

dass „hier erneut e<strong>in</strong>e Diskussion um das Verhältnis<br />

von Nationalsozialismus und Modernisierung“ anstünde und<br />

<strong>den</strong> Wunsch nach weiteren Publikationen zu diesem Themenkomplex<br />

mit <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ärem Ansatz zum Ausdruck<br />

gebracht. [1] Dem ist die Herausgeber<strong>in</strong> mit dem hier zu besprechen<strong>den</strong>,<br />

aus e<strong>in</strong>er Tagung <strong>in</strong> Trier im Jahr 2007 hervorgegangenen<br />

Band [2] nachgekommen, <strong>den</strong> sie als Fortsetzung<br />

mit neuen Vergleichsgegenstän<strong>den</strong> konzipiert hat – allerd<strong>in</strong>gs<br />

fehlt diesmal die Interdiszipl<strong>in</strong>arität.<br />

Nach kurzer Irritation über <strong>den</strong> auch <strong>in</strong> diesem Band ohne<br />

Anführungszeichen im Titel stehen<strong>den</strong> Begriff „Vergangenheitsbewältigung“<br />

fragt man sich, ob es bei e<strong>in</strong>em Vergleich<br />

von katholischer und evangelischer Kirche zwischen 1930 und<br />

1950 nicht nahe liegender gewesen wäre, anstatt Frankreich<br />

und Deutschland Italien und Deutschland zu vergleichen.<br />

Denn auch <strong>in</strong> Italien gab es nach e<strong>in</strong>er Annäherung von Kirche<br />

und faschistischem Regime, die mit <strong>den</strong> Lateranverträgen von 1929 besiegelt wurde, kritische<br />

Stimmen im Katholizismus gegen die totalitäre Entwicklung unter Mussol<strong>in</strong>i. In der E<strong>in</strong>leitung f<strong>in</strong>det<br />

sich ke<strong>in</strong> Begründung, warum Scherzberg gerade <strong>den</strong> „französischen Katholizismus und <strong>den</strong><br />

deutschen Protestantismus während und nach der Zeit des Nationalsozialismus“ (9) vergleichen will.<br />

Auch liegt der Schwerpunkt vor allem der Beiträge zum Katholizismus weniger auf der „Vergangenheitsbewältigung“<br />

als auf der Theologie zwischen 1930 und 1950, was sich jedoch im Titel des<br />

Tagungsbandes nicht bemerkbar macht.<br />

Den sieben Beiträgen zum französischen Katholizismus stehen im zweiten Teil des Buches sechs<br />

Aufsätze zum deutschen Protestantismus gegenüber. Unverständlicherweise steht erst an zweiter<br />

Stelle der e<strong>in</strong>führende Beitrag der Herausgeber<strong>in</strong> über deutsche und französische katholische Reformtheologen.<br />

Scherzberg stellt am Beispiel von Karl Adam und Henri de Lubac fest, dass die deutschen<br />

Reformtheologen im Nationalsozialismus modernisierende Kräfte auszumachen me<strong>in</strong>ten, die sie <strong>für</strong><br />

ihre Pläne der Reformierung der katholischen Kirche nutzen wollten, während die französischen Reformkatholiken<br />

eher gegen das Vichy-Regime opponiert hätten. Die Reformtheologen hatten e<strong>in</strong>


58 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

sehr unterschiedliches Verständnis von „Natur und Gnade“, <strong>den</strong>n die Franzosen hatten ke<strong>in</strong>en biologistischen<br />

Begriff von Natur und leiteten demzufolge ke<strong>in</strong>e „völkische und rassistische Ideologie“<br />

(47) daraus ab. Geme<strong>in</strong>samkeiten macht Scherzberg h<strong>in</strong>gegen beim Verständnis von der „Kirche als<br />

Geme<strong>in</strong>schaft“ anstatt als „Heilsanstalt“ wie bei „antidemokratischen und anti<strong>in</strong>dividualistischen“<br />

Geme<strong>in</strong>schaftsideologien aus (56).<br />

Die Facetten der „résistance spirituelle“, <strong>in</strong> der de Lubac maßgeblich mitwirkte, erläutert Bernhard<br />

Comte am Beispiel e<strong>in</strong>iger französischer Theologen. Motiviert durch ihren christlichen Glauben,<br />

widersetzten sie sich der NS-Herrschaft mit <strong>den</strong> „Waffen des Geistes“ (58), Predigten, Untergrundschriften<br />

und kamen über ihren geme<strong>in</strong>samen Kampf zu „grundlegen<strong>den</strong> Erfahrungen“ (75), die die<br />

Weiterentwicklung des Katholizismus <strong>in</strong> Frankreich maßgeblich bee<strong>in</strong>flusst haben. Wilfried Loth<br />

weist überzeugend nach, dass sich sowohl die Traditionalisten als auch die „Modernisten“ des französischen<br />

Katholizismus <strong>für</strong> das Vichy-Regime e<strong>in</strong>setzten, wobei e<strong>in</strong>ige von ihnen über die „nationale<br />

Revolution“ (146) verspätet doch <strong>den</strong> Weg <strong>in</strong> die Résistance fan<strong>den</strong>, andere h<strong>in</strong>gegen frühzeitig<br />

die Bedrohung durch e<strong>in</strong>e nationalsozialistische Herrschaft <strong>in</strong> Europa wahrnahmen und sich im Widerstand<br />

engagierten.<br />

E<strong>in</strong>e andere Strömung unter <strong>den</strong> französischen Katholiken, die angesichts der Überschneidungen<br />

zwischen dem Programm der „nationalen Revolution“ und dem Gedankengut des Katholizismus die<br />

„französische katholische nationale Revolution“ (101) erfan<strong>den</strong>, stellt John W. Hellmann dar, während<br />

Étienne Fouilloux die Ause<strong>in</strong>andersetzungen zwischen <strong>den</strong> Péta<strong>in</strong> unterstützen<strong>den</strong> Theologen<br />

mit „Amt und Mandat“ und <strong>den</strong> Regime-kritischen „anonymen Theologen ohne Mandat“ (34), <strong>den</strong><br />

katholischen Widerständlern, schildert. E<strong>in</strong>e „Rekontextualisierung“ (105) des Herausgebers der katholischen<br />

Monatsschrift Esprit, die <strong>für</strong> die Erf<strong>in</strong>der der französisch-katholisch-nationalen Revolution<br />

e<strong>in</strong>e wichtige Rolle spielte, wird von Seth D. Arms vorgenommen. Er beschreibt <strong>den</strong> Philosophen<br />

Emmanuel Mouniers als schillernde Persönlichkeit, als „Spiritualisten“, „Péta<strong>in</strong>isten“ und „Marxisten“<br />

(103), dessen Antiamerikanismus als Schlüssel se<strong>in</strong>es gesamten Denkens <strong>in</strong>terpretiert wer<strong>den</strong><br />

müsse. Der letzte Beitrag des ersten Teils von Wilfried Loth erhellt <strong>den</strong> E<strong>in</strong>fluss des zwar katholisch<br />

sozialisierten, doch später dem Katholizismus klar abgeneigten Mart<strong>in</strong> Heidegger, vor allem der „nationalsozialistisch<br />

aufgela<strong>den</strong>en“ (10) Elemente se<strong>in</strong>er Philosophie, auf französische Katholiken.<br />

Als E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> <strong>den</strong> zweiten Teil, der deutlich weniger Überscheidungen zwischen <strong>den</strong> e<strong>in</strong>zelnen<br />

Beiträgen aufweist, lässt sich Manfred Gailus’ Skizze der Diskurse über „Protestantismus und<br />

Nationalsozialismus“ lesen. Dom<strong>in</strong>ierte <strong>in</strong> <strong>den</strong> ersten Jahren nach Kriegsende die Sicht auf die<br />

„,wahreʻ, rechtgläubige Bekennende Kirche“ im „Kirchenkampf“ gegen <strong>den</strong> Nationalsozialismus<br />

(157), so öffnete sich der Blick zwischen 1960 und 1980 <strong>für</strong> <strong>den</strong> gesamten Protestantismus und lange<br />

tabuisierte Themen, um etwa 1990 die Grenzen zwischen „Kirchengeschichte“ und „Profangeschichte“<br />

aufzulösen und so die „Dekonstruktionsarbeit am alten Geschichtsbild“ (162) weiterzuführen. Björn<br />

Krondorfer nähert sich am Beispiel Helmut Thielickes, der der Bekennen<strong>den</strong> Kirche angehört hatte,<br />

dem Thema „protestantische Theologenautobiographien und Vergangenheitsbewältigung“, und Alf<br />

Christophersen untersucht die „Aspekte theologischer Legitimationszwänge und -strategien“ nach<br />

1945.<br />

In Deutschland kann man erst seit der Weimarer Republik von e<strong>in</strong>em eigenständigen Fach Reli-<br />

gionswissenschaften an deutschen Universitäten sprechen, das zwischen 1933 und 1945 <strong>in</strong> Konkurrenz<br />

zur Theologie trat. Ohne durchschlagen<strong>den</strong> Erfolg propagierten Religionswissenschaftler e<strong>in</strong>e „arische<br />

Rassenreligion“ (233) und repräsentierten mit ihrer „sehr abstrakten und nicht <strong>in</strong>stitutionalisierten“<br />

Religiosität e<strong>in</strong>e von der „traditionellen Kirchlichkeit wegführende“ Form religiöser Geme<strong>in</strong>schaft<br />

(234), wie Horst Jung<strong>in</strong>ger <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Beitrag herausarbeitet. Aus systematisch-theologischer<br />

Perspektive analysiert Michael Hüttenhoff am Beispiel Emanuel Hirsch dessen <strong>in</strong> der Formulierung<br />

zwar gekonnte, doch unkritische Verflechtung von Nationalsozialismus und Wissenschaft. Die Ge-<br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


59 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

nese und Verbreitung e<strong>in</strong>es „Mythos vom arischen Jesus“ (173), die Mart<strong>in</strong> Leutzsch <strong>in</strong> ihren fünf<br />

Phasen zwischen 1870 und 1945 nachzeichnet, verdeutlicht, dass derartige Mythen e<strong>in</strong>e breite Legitimationsbasis<br />

<strong>für</strong> antisemitische Bestrebungen boten.<br />

Insgesamt bietet der Tagungsband, dem leider e<strong>in</strong> Resümee fehlt, e<strong>in</strong>en bunten E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />

wichtiges Thema, das aber <strong>in</strong> <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ärer Perspektive weiterverfolgt wer<strong>den</strong> sollte.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Christian Schmidtmann: Rezension von: Lucia Scherzberg (Hrsg.): Theologie und Vergangenheitsbewältigung.<br />

E<strong>in</strong>e kritische Bestandsaufnahme im <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ären Vergleich. In Zusammenarbeit<br />

mit Werner Müller, Paderborn: Schön<strong>in</strong>gh 2005, <strong>in</strong>: sehepunkte 6 (2006), Nr. 6<br />

[15.06. 2006], URL: http://www.sehepunkte.de/2006/06/9827.html (2.10.2009).<br />

[2] Vgl. Tagungsbericht Theologie und Vergangenheitsbewältigung II. Französischer Katholizismus<br />

– deutscher Protestantismus 1930–1950. 12.01.2007–14.01.2007, Trier, <strong>in</strong>: H-Soz-u-Kult,<br />

13.03.2007, http://hsozkult.geschichte.hu-berl<strong>in</strong>.de/tagungsberichte/id=1514 (14.10.2009).<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


Stephan Schlak: Wilhelm Hennis. Szenen e<strong>in</strong>er Ideengeschichte der Bundesrepublik,<br />

München: C. H. Beck 2008, 280 S., 11 Abb., ISBN 978-3-406-56936-4, EUR 19,90<br />

Rezensiert von Marcus M. Payk<br />

Historisches <strong>Institut</strong>, Universität Stuttgart<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 11<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/11/15379.html<br />

Als dieses Buch zu Beg<strong>in</strong>n des vergangenen Jahres erschien,<br />

überschlugen sich die überregionalen Feuilletons mit Lobeshymnen.<br />

Mit Wilhelm Hennis sei e<strong>in</strong> orig<strong>in</strong>eller, lange Zeit<br />

verkannter Politikwissenschaftler wiederentdeckt wor<strong>den</strong>, der<br />

sich nicht nur erratisch vom Konformismus des gegenwärtigen<br />

akademischen Betriebes abhebe, sondern bei dem es sich<br />

auch um e<strong>in</strong>e Schlüsselfigur der politischen und Wissenschaftsgeschichte<br />

der Bonner Republik handele.<br />

Beide Aspekte gehören zu <strong>den</strong> Grundmotiven dieser bei<br />

Herfried Münkler entstan<strong>den</strong>en Dissertation, auch wenn das<br />

zweite Motiv deutlich überwiegt. Denn obwohl Schlak das<br />

Buch als „Beitrag zu e<strong>in</strong>er notwendigen Selbstverständigungsdebatte<br />

der Politikwissenschaft“ (12) verstan<strong>den</strong> wissen möchte,<br />

behandelt es <strong>in</strong> sechs schlanken Kapiteln doch vor allem<br />

verschie<strong>den</strong>e Konstellationen der westdeutschen Ideen- und<br />

Intellektuellengeschichte bis <strong>in</strong> die 1980er Jahre. Schlak rekonstruiert<br />

die Biographie se<strong>in</strong>es Hel<strong>den</strong> dabei auf unorthodoxe<br />

Weise. Statt die lebensgeschichtlichen Etappen von Hennis<br />

strikt chronologisch durchzumustern, wer<strong>den</strong> e<strong>in</strong>zelne Momente<br />

se<strong>in</strong>er Biographie mit Situationen aus der Politik- und Wissenschaftsgeschichte der Bundesrepublik<br />

überblendet, freilich ohne das e<strong>in</strong>e <strong>für</strong> das andere bestimmend wer<strong>den</strong> zu lassen.<br />

Im ersten Kapitel wird der Leser zunächst mit <strong>den</strong> Prägungen des „Jahrgangs 1923“ konfrontiert,<br />

wozu Schlak <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie „das dramatische K<strong>in</strong>dheitserlebnis“ (23) des Weimarer Scheiterns zählt<br />

und dann vor allem die Erfahrung als junger Kriegsteilnehmer. Beide Umstände markierten e<strong>in</strong>e<br />

scharfe Differenz zur etwas jüngeren Generation der „Flakhelfer“, die zwar gänzlich <strong>in</strong> der Diktatur<br />

aufgewachsen ist, jedoch zum Großteil nicht mehr an die Front musste. Noch die spätere Konfrontationsstellung<br />

des e<strong>in</strong>stigen Mar<strong>in</strong>esoldaten Hennis zu dem vormaligen Hitlerjungen und Zivilisten<br />

Jürgen Habermas lässt sich, folgt man Schlak, m<strong>in</strong>destens teilweise auf diesen Gegensatz zurückführen.<br />

Das zweite Kapitel widmet sich <strong>den</strong> wissenschaftlichen Anfängen von Hennis. Nach juristischer<br />

Promotion und kurzfristiger Tätigkeit im Büro des SPD-Rechtspolitikers Adolf Arndt wurde er Assistent<br />

von Carlo Schmid, der 1953 an der Universität Frankfurt e<strong>in</strong>en Lehrstuhl <strong>für</strong> Politische Wissenschaft<br />

übernommen hatte. Schlak kann <strong>in</strong> diesen Passagen se<strong>in</strong>e Stärken als po<strong>in</strong>tenreicher und fesselnder<br />

Erzähler e<strong>in</strong>drucksvoll ausspielen, liefert er doch e<strong>in</strong>e atmosphärisch dichte Beschreibung<br />

des Frankfurter <strong>in</strong>tellektuellen Klimas <strong>in</strong> <strong>den</strong> späten 1950er Jahren, wobei es auch um jene legendäre


61 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Kiste geht, <strong>in</strong> der die Protagonisten der Frankfurter Schule ihre radikalen Weimarer Frühschriften<br />

<strong>den</strong> Blicken der Nachgeborenen entzogen hätten. Hennis habe h<strong>in</strong>gegen die „Aufklärung über die<br />

selbsternannten Aufklärer“ (45) betrieben, womit sich schon se<strong>in</strong>e spätere Ause<strong>in</strong>andersetzung mit<br />

e<strong>in</strong>er primär theorieorientierten Sozialwissenschaft andeutet.<br />

Das dritte Kapitel behandelt die Selbstverortung von Hennis <strong>in</strong>nerhalb des eigenen Fachs, wobei<br />

Schlak <strong>in</strong>sbesondere die Habilitation als programmatische Schrift liest. Politikwissenschaft war <strong>für</strong><br />

Hennis <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong>e praktische Wissenschaft, e<strong>in</strong>e aristotelisch geprägte, normative Lehre von<br />

großer Ernsthaftigkeit und Lebensnähe. Spielerische Denkexperimente oder theoretische Systembauten<br />

waren se<strong>in</strong>e Sache nicht, stattdessen empfahl er e<strong>in</strong>e „Topik als praktische Methode“ (93), die sich<br />

an exemplarischen Situationen und kanonischen Schriften der Ideengeschichte zu orientieren hatte.<br />

Vergangene und gegenwärtige Probleme sollten dabei zue<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> Beziehung gesetzt wer<strong>den</strong>, auch<br />

wenn e<strong>in</strong> entsprechender Buchplan mit dem ehrgeizigen Titel „Die Lage der Bundesrepublik“ (103)<br />

nicht realisiert wurde. Denn dass sich Hennis trotz allem Misstrauen gegen die „Projektmacherei“<br />

immer wieder selbst <strong>in</strong> groß angelegten Publikationsplänen verstieg, wird auch von Schlak ohne<br />

Häme e<strong>in</strong>geräumt.<br />

Diese E<strong>in</strong>sichtnahme <strong>in</strong> die westdeutsche Wissenschafts- und Universitätsgeschichte wird im<br />

vierten und fünften Kapitel fortgesetzt. Nach se<strong>in</strong>er Erstberufung an die Pädagogische Hochschule<br />

Hannover wechselte Hennis 1962 erst an die Universität Hamburg, im Jahr 1967 dann an die Universität<br />

Freiburg. Allerorten waren die Hochschulen <strong>in</strong> diesem Jahrzehnt von Reformstimmung und<br />

Aufbruchhoffnung ergriffen, wobei der ursprüngliche Reformbe<strong>für</strong>worter Hennis bald <strong>in</strong> das Lager<br />

der Skeptiker und später auch der entschie<strong>den</strong>en Gegner wechselte. Frustriert von der Richtungslosigkeit<br />

der bundesdeutschen Politik und irritiert von der stu<strong>den</strong>tischen Rebellion, welche Hennis<br />

als be<strong>den</strong>kliche Wiederkehr der „deutschen Unruhe“ erschien, verstrickte sich er sich mehr und mehr<br />

<strong>in</strong> Bataillen mit wirklichen oder e<strong>in</strong>gebildeten Kontrahenten. Se<strong>in</strong>e nunmehr erbitterte Gegnerschaft<br />

zu Habermas entlud sich beispielsweise auf dem Duisburger Politologen-Tag 1975, ohne dass Hennis<br />

hier freilich e<strong>in</strong>en entschei<strong>den</strong><strong>den</strong> Geländegew<strong>in</strong>n verbuchen konnte.<br />

Es lag <strong>in</strong>sofern nahe, dass sich Hennis nur wenig später von der Tagespolitik abwandte und, wie<br />

im letzten Kapitel festgehalten, zu se<strong>in</strong>en frühen ideengeschichtlichen Interessen zurückkehrte. Dabei<br />

stand die Bemühung um e<strong>in</strong>e Neudeutung und Wiedergew<strong>in</strong>nung Max Webers im Mittelpunkt, <strong>den</strong><br />

Hennis nicht als Apostel e<strong>in</strong>es modernen Rationalitätsparadigmas verstan<strong>den</strong> wissen wollte, sondern<br />

als „Seelenhistoriker“ (230) und lei<strong>den</strong>schaftlichen Problem<strong>den</strong>ker, <strong>den</strong> Fragen nach e<strong>in</strong>er tugendhaften<br />

politischen Ordnung umgetrieben hätten. Dass sich Hennis <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er solchen Interpretation<br />

auch immer selbst spiegelte, ist evi<strong>den</strong>t.<br />

Insgesamt liefert Schlaks Buch wertvolle Bauste<strong>in</strong>e <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Wissenschafts-, Ideen- und Intellektuellengeschichte<br />

der Bundesrepublik. Es ist unmittelbar aus <strong>den</strong> Quellen gearbeitet, <strong>in</strong>sbesondere<br />

aus <strong>den</strong> Korrespon<strong>den</strong>zen von Hennis, und es besticht durch wunderbare Trouvaillen, darunter etwa<br />

Hennis’ Meditationen über die Bedeutung des Telefons <strong>für</strong> die politische Machtausübung (138f.).<br />

Dabei bleibt Schlak stets diskret; über das Privatleben des Protagonisten erfährt der Leser nahezu<br />

nichts. Vor allem aber ist die Darstellung, wie an vielen Orten bereits dankbar angemerkt, glänzend<br />

geschrieben. Schlak verfügt über e<strong>in</strong>en kunstvollen Schreibstil, der lakonisch-abgeklärt daherkommt,<br />

aber zu verblüffen weiß und se<strong>in</strong>en Reiz aus dem absichtsvollen Kontrast zwischen <strong>in</strong>haltlicher<br />

Offenheit und stilistischer Prägnanz bezieht.<br />

Dass sich Schlak dabei <strong>den</strong> erkenntnistheoretischen Pflichtübungen anderer Qualifikationsschriften<br />

selbstbewusst enthoben weiß (14), ist ebenso folgerichtig wie e<strong>in</strong>e Argumentation, die eher auf<br />

Aphorismen und Anekdoten aufbaut <strong>den</strong>n auf e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>teilig-systematischen Analyse. Zwar mag<br />

man diese Distanznahme zu e<strong>in</strong>er an die „Theoriekette“ (79) gelegten Wissenschaft, aus der sich<br />

mühelos e<strong>in</strong> roter Fa<strong>den</strong> der Abhandlung zusammen sp<strong>in</strong>nen ließe, auch <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e besonders subtile<br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


62 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Aufmerksamkeitsstrategie halten, die <strong>den</strong> Profilierungskonventionen des gegenwärtigen Wissenschaftsbetriebs<br />

tiefer verpflichtet ist, als sie es vor sich selber zugeben will. Doch im Ganzen verdient<br />

das Buch tatsächlich das breite Interesse sowohl des allgeme<strong>in</strong>en wie des fachwissenschaftlichen<br />

Publikums; es sei hier nochmals nachdrücklich empfohlen.<br />

Redaktionelle Betreuung: W<strong>in</strong>fried Süß im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> Zeit-<br />

geschichte<br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


Manuel Schramm: Wirtschaft und Wissenschaft <strong>in</strong> DDR und BRD. Die Kategorie<br />

Vertrauen <strong>in</strong> Innovationsprozessen (= Wirtschafts- und Sozialhistorische Studien; Bd. 17),<br />

Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2008, XII + 355 S., ISBN 978-3-412-20174-6, EUR 44,90<br />

Rezensiert von Andreas Malycha<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Geschichte der Mediz<strong>in</strong>, Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 3<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/03/14997.html<br />

Schramm folgt mit se<strong>in</strong>em Buch, e<strong>in</strong>er von der TU Chemnitz<br />

angenommenen Habilitationsschrift, nicht dem e<strong>in</strong>schlägigen<br />

Untersuchungsraster im Verhältnis zwischen Wissenschaft,<br />

Politik und Wirtschaft, das <strong>in</strong> der Wissenschaftsgeschichte<br />

sonst üblich ist. Stattdessen analysiert der Autor anhand der<br />

Kategorie Vertrauen, auf welche Weise Metho<strong>den</strong> der historischen<br />

Innovationsforschung auf die Untersuchung von Wirtschaft<br />

und Wissenschaft <strong>in</strong> der deutschen Nachkriegsgeschichte<br />

anwendbar s<strong>in</strong>d.<br />

Zunächst wer<strong>den</strong> Konzepte der Innovationsforschung vorgestellt<br />

und ihre Anwendbarkeit auf Untersuchungen <strong>in</strong> der<br />

Wirtschafts- und Wissenschaftsgeschichte erläutert. Schramm<br />

sieht se<strong>in</strong>en methodischen Ansatz als Teil e<strong>in</strong>er „Kultur-<br />

geschichte von Innovationsprozessen“, die sowohl über e<strong>in</strong>en<br />

engen geografischen Rahmen h<strong>in</strong>ausgeht als auch die Heterogenität<br />

von Innovationsprozessen <strong>in</strong> unterschiedlichen Branchen<br />

sowie die Dynamik kulturellen Wandels berücksichtigt.<br />

Derartigen Anforderungen entspricht se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach<br />

am ehesten das <strong>in</strong> der Unternehmensgeschichte praktizierte<br />

Konzept der „Mikropolitik im Unternehmen“, das <strong>den</strong> Betrieb als „komplexes Interaktionsgefüge<br />

aus Arbeits-, Kooperations- und Kommunikationsbeziehungen, aus Akteurskoalitionen und Machtstrukturen“<br />

begreift (18). Dadurch soll die Interaktion zwischen Akteuren unterschiedlicher Organisationen<br />

(Wissenschaftler, Ingenieure, Unternehmer, Politiker) im Innovationsprozess <strong>in</strong> <strong>den</strong> Mittelpunkt<br />

rücken, um dabei <strong>den</strong> konkreten Formen der Kooperation, aber auch der Konfrontation und<br />

deren Folgen <strong>für</strong> <strong>den</strong> Erfolg bzw. Misserfolg von Innovationen näher zu kommen.<br />

Als zentralem Bezugspunkt <strong>in</strong> diesem Interaktionsgefüge kommt der Kategorie Vertrauen besondere<br />

Bedeutung zu. Vorrangige Absicht ist es <strong>den</strong>n auch, die Bedeutung eben dieses Vertrauens als<br />

e<strong>in</strong>er formlosen <strong>Institut</strong>ion <strong>für</strong> <strong>den</strong> wirtschaftlichen Erfolg e<strong>in</strong>er Gesellschaft zu belegen. Im Lichte<br />

dieses Konzepts erschien es besonders ertragreich, DDR und Bundesrepublik mite<strong>in</strong>ander zu vergleichen,<br />

da hier die Unterschiede im H<strong>in</strong>blick auf gegebene Vertrauensstrukturen besonders augenfällig<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

Das Vorhaben, <strong>den</strong> herausragen<strong>den</strong> Stellenwert von Vertrauen <strong>in</strong> wirtschaftlichen und wissenschaftlichen<br />

Innovationsprozessen anhand von Fallbeispielen aus verschie<strong>den</strong>en Branchen (Masch<strong>in</strong>en-


64 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

bau, Fe<strong>in</strong>mechanik/Optik, Chemie/Pharmazie) sowohl <strong>in</strong> der DDR als auch <strong>in</strong> der Bundesrepublik<br />

nachzuweisen, hat Manuel Schramm überzeugend umgesetzt. Anhand von regionalen Branchenfallstudien<br />

aus Ost und West, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en Kooperationsbeziehungen zwischen Hochschulen und Forschungs<strong>in</strong>stituten<br />

sowie volkseigenen Betrieben und privaten Unternehmen analysiert wer<strong>den</strong>, weist<br />

er schlüssig nach, dass e<strong>in</strong> großes Maß von Vertrauen zwischen diesen Akteuren tatsächlich e<strong>in</strong>e<br />

große Bedeutung da<strong>für</strong> besitzt, ob Innovationen gel<strong>in</strong>gen oder scheitern.<br />

Von besonderem Interesse ist die Frage, ob und unter welchen Bed<strong>in</strong>gungen Vertrauensnetzwerke <strong>in</strong><br />

der DDR entstan<strong>den</strong> s<strong>in</strong>d und fortdauern konnten. Aus fünf Fallbeispielen <strong>für</strong> Kooperationen zwischen<br />

staatlichen Betrieben auf der e<strong>in</strong>en und Universitäten und außeruniversitären Forschungs<strong>in</strong>stituten<br />

auf der anderen Seite leitet Schramm <strong>den</strong> Befund ab, dass Innovationen unter <strong>den</strong> gesellschaftspolitischen<br />

Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>er Planwirtschaft zwar grundsätzlich möglich waren. Jedoch resultierten die<br />

nachweisbaren Innovationen auf e<strong>in</strong>igen Technologiefeldern (Lasertechnik, Interferenzmikroskopie)<br />

nur zu e<strong>in</strong>em äußerst ger<strong>in</strong>gen Teil aus Vertragsbeziehungen zwischen Forschungs<strong>in</strong>stituten und der<br />

Industrie. Wenn es zu e<strong>in</strong>er Innovation kam, so beispielsweise zur Entwicklung und Herstellung e<strong>in</strong>es<br />

Interferenzmikroskops durch Carl Zeiss Jena im Jahre 1968, dann g<strong>in</strong>g diese aus e<strong>in</strong>er Eigenentwicklung<br />

der Forschungsabteilung des volkseigenen Betriebes hervor. Zwar gab es vertraglich geregelte<br />

Beziehungen zwischen Carl Zeiss und dem <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Optik und Spektroskopie <strong>in</strong> Jena, doch seien<br />

die Kontakte von gegenseitigen Vorbehalten und Misstrauen geprägt gewesen. Ähnliche E<strong>in</strong>schätzungen<br />

leitet Schramm aus <strong>den</strong> anderen Fallbeispielen ab.<br />

Die begrenzte Kooperationsfähigkeit zwischen <strong>den</strong> Akteuren mag zunächst überraschen, <strong>den</strong>n <strong>in</strong><br />

der zweiten Hälfte der 1960er Jahre wurde gerade die Vertragsforschung <strong>in</strong> der DDR staatlich verordnet<br />

und reglementiert. Es fehlte aber, so die Qu<strong>in</strong>tessenz des Buches, an Vertrauen als wichtiger<br />

Basis <strong>für</strong> erfolgreiche Forschungs- und Entwicklungsbeziehungen zwischen Hochschulen, <strong>Institut</strong>en<br />

und Betrieben, das auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em diktatorisch strukturierten Gesellschaftssystem nicht erzwungen<br />

wer<strong>den</strong> konnte. So war das Klima der Zusammenarbeit, das zeigt Manuel Schramm am Beispiel der<br />

Kooperation zwischen Carl Zeiss und der Universität Jena e<strong>in</strong>drucksvoll, <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1960er Jahren<br />

„von e<strong>in</strong>em tiefen Misstrauen geprägt, und vieles spricht da<strong>für</strong>, dass sich daran nichts Grundsätzliches<br />

änderte.“ (104)<br />

Allerd<strong>in</strong>gs ergibt sich aus <strong>den</strong> Untersuchungen Schramms ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>e Bestätigung der bislang<br />

als unumstößlich gelten<strong>den</strong> Behauptung, die Innovationsschwäche der DDR resultiere aus e<strong>in</strong>er<br />

sträflichen Vernachlässigung der Grundlagenforschung, wodurch sich der Rückstand gegenüber dem<br />

Westen seit <strong>den</strong> 1970er Jahre stetig vergrößert habe. In e<strong>in</strong>igen Bereichen, so lässt sich am Beispiel<br />

der Molekularbiologie zeigen, bewegte sich die naturwissenschaftliche Forschung – zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>e<br />

Zeitlang – auf e<strong>in</strong>em hohen Niveau. Schramm kann nun anhand se<strong>in</strong>er fünf Fallbeispiele fundierte<br />

Erklärungen <strong>für</strong> die Innovationsschwäche der DDR aufzeigen, die über die bislang üblichen H<strong>in</strong>weise<br />

auf die Grenzen des planwirtschaftlichen Systems weit h<strong>in</strong>ausgehen.<br />

Für die Bundesrepublik wer<strong>den</strong> Beziehungen zwischen Unternehmen (Siemens, Carl Zeiss, Bayer<br />

AG) und Universitäten bzw. Hochschulen anhand von Fallbeispielen aus <strong>den</strong>selben Branchen analysiert.<br />

Erwartungsgemäß gelangt Schramm im Vergleich zur DDR zu gegenteiligen, gleichwohl branchenspezifisch<br />

differenzierten Ergebnissen. Wird im Masch<strong>in</strong>enbau über <strong>den</strong> gesamten Zeitraum<br />

von 1949 bis Anfang der 1990er Jahre e<strong>in</strong>e bemerkenswert enge Zusammenarbeit zwischen mittelgroßen<br />

Unternehmen und e<strong>in</strong>zelnen <strong>Institut</strong>en der Technischen Hochschulen und Universitäten diagnostiziert,<br />

präsentiert er <strong>für</strong> die Biotechnologie e<strong>in</strong> weniger erfolgreiches Untersuchungsergebnis. Hier<br />

griffen Unternehmen wie Bayer <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1980er Jahren auf eigene Forschungskapazitäten<br />

oder auf Innovationsleistungen aus dem Ausland zurück.<br />

Schramm trübt das ansonsten als makellose Erfolgsgeschichte dargestellte Bild über das westdeutsche<br />

Innovationssystem merklich e<strong>in</strong>. Während <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1950er und 1960er Jahren die Kooperation<br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


65 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

zwischen wissenschaftlichen E<strong>in</strong>richtungen und Unternehmen relativ stabil funktioniert habe, seien<br />

derartige Netzwerke <strong>in</strong> <strong>den</strong> Jahrzehnten danach zunehmend fragiler gewor<strong>den</strong>. Auch die gängige<br />

These von der wachsen<strong>den</strong> Verb<strong>in</strong>dung zwischen Hochschule und Wirtschaft <strong>in</strong> <strong>den</strong> bei<strong>den</strong> letzten<br />

Jahrzehnten wird durch quantitative Untersuchungen Schramms widerlegt: Seit <strong>den</strong> 1960er Jahren<br />

hat es e<strong>in</strong>en signifikanten Rückgang der Verb<strong>in</strong>dungen zwischen Hochschulen und Industrie <strong>in</strong> der<br />

Bundesrepublik gegeben. Gleichwohl, so resümiert er, habe das westdeutsche Innovationssystem<br />

über die Jahrzehnte h<strong>in</strong>weg se<strong>in</strong>e Anpassungsfähigkeit demonstriert.<br />

Alles <strong>in</strong> allem belegt der deutsch-deutsche Vergleich, dass der Durchbruch zu wirtschaftlichen Innovationen<br />

nicht vordergründig von diesem oder jenem Regierungsprogramm abh<strong>in</strong>g, sondern dass<br />

bestimmte kulturelle und gesellschaftliche Bed<strong>in</strong>gungen zu Innovationsschwäche, aber auch -stärke<br />

führten. Am Beispiel der staatlich geregelten Vertragsbeziehungen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft<br />

<strong>in</strong> ausgewählten Branchen kann Schramm zeigen, auf welche Weise das Fehlen von zivil-<br />

gesellschaftlichen Strukturen <strong>in</strong> der DDR zum Scheitern der staatlichen Forschungs- und Innovationspolitik<br />

geführt hat. In Anbetracht der vordergründigen Fixierung auf die Kategorie Vertrauen wäre<br />

es allerd<strong>in</strong>gs doch ratsam gewesen, e<strong>in</strong>e weitere Differenzierung nach Branchen und Technologiefeldern<br />

vorzunehmen, um Schramms pauschale Kennzeichnung der DDR als „Vertrauensmangelwirtschaft“<br />

stichhaltiger begrün<strong>den</strong> zu können. Insgesamt handelt es sich jedoch um e<strong>in</strong>e anregende<br />

Studie, die mit e<strong>in</strong>em tragfähigen und orig<strong>in</strong>ellen Untersuchungsansatz e<strong>in</strong>en differenzierten E<strong>in</strong>blick<br />

<strong>in</strong> das Netzwerk von Wissenschaft und Wirtschaft <strong>in</strong> der deutschen Nachkriegsgeschichte ermöglicht.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


Annette Schuhmann (Hrsg.): Vernetzte Improvisationen. Gesellschaftliche Subsysteme <strong>in</strong><br />

Ostmitteleuropa und <strong>in</strong> der DDR (= Zeithistorische Studien; Bd. 42), Köln/Weimar/Wien:<br />

Böhlau 2008, 251 S., ISBN 978-3-412-20027-5, EUR 34,90<br />

Rezensiert von Georg Wagner-Kyora<br />

Technische Universität, Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 9<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/09/15135.html<br />

Netzwerke unterhalb und <strong>in</strong>nerhalb der politischen Hierarchien<br />

im europäischen Staatssozialismus zu untersuchen, war e<strong>in</strong>e<br />

überfällige Forschungsfrage, der sich die Autor<strong>in</strong>nen und<br />

Autoren des von der Potsdamer Nachwuchswissenschaftler<strong>in</strong><br />

Annette Schuhmann herausgegebenen Sammelbandes <strong>in</strong> gewohnter<br />

Sorgfalt angenommen haben. Solche „Substrukturen“<br />

politischer Herrschaftsteilung (Schuhmann) bewirkten Kooperation<br />

dort, wo die Staatsmacht e<strong>in</strong>mal Pause machte. Das<br />

war vor allem <strong>in</strong> diversen Branchen der Staatsplanökonomie<br />

erforderlich, fand allerd<strong>in</strong>gs vor allem auf der lokalen Ebene<br />

statt und reichte, als <strong>in</strong>terne Machtabsicherung, auch <strong>in</strong> höchste<br />

Elitenzirkel h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, sodass e<strong>in</strong>e multiperspektivische Herangehensweise<br />

angebracht ist.<br />

Diese wird <strong>in</strong> sechs empirischen und vier eher konzeptionellen<br />

Aufsätzen aufgefächert, wobei der größte Ertrag e<strong>in</strong>deutig<br />

aus <strong>den</strong> Fallstudien resultiert. E<strong>in</strong>e neue Methodik, wie<br />

etwas irreführend angekündigt, ist mit dieser Herangehensweise<br />

allerd<strong>in</strong>gs nicht verknüpft, handelt es sich doch um traditionelle<br />

Politikfeldanalysen aus dem Archivbestand oder der Literatur über politische Herrschaftsträger<br />

der formalen Hierarchien des Staatssozialismus. Fragen nach dem <strong>in</strong>tentionalen Deutungshorizont<br />

von Eliten wer<strong>den</strong> ausgeklammert. Sie haben diese auf das materiell Fassliche personaler<br />

Verb<strong>in</strong>dungsl<strong>in</strong>ien zwischen Herrschaftsträgern konzentrierte Version e<strong>in</strong>er politischen Kultur-<br />

geschichte noch nicht erreicht. Damit führt Schuhmann e<strong>in</strong>en konventionellen Ansatz <strong>in</strong> der neueren<br />

Totalitarismusforschung weiter, der, obzwar anschlussfähig an die neuere Gesellschaftsgeschichte<br />

westlicher Machthierarchien, die bereits mit dem Begriff des Habitus und der politischen Mentalität<br />

arbeitet, weitgehend im Duktus staatszentrierter Herrschaftsgeschichte verharrt. Das hat se<strong>in</strong>en Platz<br />

<strong>in</strong> der deutschen Geschichtswissenschaft und das ist auch gut so.<br />

So zeigt Peter Heumos die unüberblickbare Vielfalt von Lohnregelungen <strong>in</strong> der verstaatlichten<br />

Industriewirtschaft der Tschechoslowakei als e<strong>in</strong> Produkt dezentraler Netzwerkbeziehungen zwischen<br />

<strong>den</strong> Lohnbüros der Betriebe und <strong>den</strong> Gewerkschaften auf. Diese genehmigten sich <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

1950er Jahren gegenseitig Zulagen, ohne die Prager Zentrale e<strong>in</strong>zubeziehen. Dierk Hoffmanns Beitrag<br />

zum politischen Entscheidungsprozess über das Sozialversicherungssystem der DDR belegt die<br />

„Marg<strong>in</strong>alisierung der Länder“ durch e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Elitenzirkel bis 1949. Andreas Oberender be-


67 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

schreibt das persönliche Netzwerk Breschnews als e<strong>in</strong>en regionalen und generationsspezifischen<br />

Prov<strong>in</strong>zialismus radikaler Sorte, der noch ganz <strong>in</strong> <strong>den</strong> Traditionen e<strong>in</strong>es russischen Patronageverhaltens<br />

wurzelte. He<strong>in</strong>z Mestrup summiert die Doppelung von Herrschaftsnetzen <strong>in</strong> <strong>den</strong> Verwaltungsbeziehungen<br />

auf regionaler Ebene der DDR. Und Malgorzata Mazurek sowie Arpad von Klimo zeigen<br />

konflikthaltige Machtkonstellationen <strong>in</strong> Polen und Ungarn auf, welche Netzwerke <strong>in</strong> <strong>den</strong> Ruch<br />

der Dissi<strong>den</strong>z brachten.<br />

Es ist dieser <strong>in</strong>nereuropäische Vergleich auf der Grundlage systematischer Fragestellungen, welcher<br />

die Sammelbände aus Potsdam gelegentlich so wertvoll macht. Wenngleich der Ausschnitt eng<br />

gewählt ist, wird doch immer e<strong>in</strong> Stück weit europäische Unionsgeschichte im Stadium ihrer Vorvorläufer<br />

sichtbar. Gerade der besonders ertragreiche Aufsatz Mazureks erreicht diese Qualität und<br />

kann als Musterbeispiel e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>ternational <strong>in</strong>formierten und empirisch breit aufgestellten Querschnittsanalyse<br />

dienen. Das „idiom of cliqueshness“ wurde <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1980er Jahren <strong>in</strong> Polen zu e<strong>in</strong>em<br />

zentralen Fe<strong>in</strong>dbild aufgebaut, um dezentrale Herrschaft <strong>in</strong> <strong>den</strong> Kommunen oder woanders, <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

Staatsbetrieben, zu <strong>den</strong>unzieren und fallweise auch juristisch zu verfolgen. Sie war allerd<strong>in</strong>gs weniger<br />

stark verbreitet, als es <strong>in</strong>tern <strong>den</strong> Ansche<strong>in</strong> hatte, <strong>den</strong>n nur 20 Prozent aller Entscheidungen wur<strong>den</strong><br />

ohne E<strong>in</strong>fluss der Wojewodschafts- oder der zentralen Ebene gefällt. Mazurek verarbeitet e<strong>in</strong>e breite,<br />

theoretisch <strong>in</strong>formierte, aus dem angelsächsischen Sprachraum stammende Literatur, und sie versteht<br />

es außeror<strong>den</strong>tlich klug, diese mit der vorhan<strong>den</strong>en empirischen Forschung aus Polen über lokale<br />

Netzwerkbeziehungen zu verknüpfen. So kann sie zeigen, dass es dort e<strong>in</strong> ausgeprägtes symbiotisches<br />

Unterstützerverhalten gegenüber <strong>den</strong> immer Not lei<strong>den</strong><strong>den</strong> staatlichen Betrieben gegeben hat.<br />

Der lokale Partikularismus konnte sich auch immer dann hervortun, wenn er breiten Konsens über<br />

dr<strong>in</strong>gend erforderliche soziale Reparaturmaßnahmen herstellte. Hier wird auch der E<strong>in</strong>fluss der katholischen<br />

Kirche anzusiedeln se<strong>in</strong>, <strong>den</strong> Mazurek aus ihrer Analyse noch ausblendet.<br />

Diese systematische Potenzialanalyse von Politikfeldern auf <strong>den</strong> unterschiedlichen Hierarchieebenen<br />

des Staatssozialismus eröffnet e<strong>in</strong>e verheißungsvolle Perspektive auch auf die DDR-Geschichte. Denn<br />

noch immer ist diese zu wenig empirisch auf Basisphänomene ausgerichtet, die auf <strong>den</strong> tatsächlichen<br />

Herrschaftsbühnen zu beobachten waren. Für das Feld der lokalen Machtbeziehungen ist dem Rezensenten<br />

nur die Monografie von Philipp Spr<strong>in</strong>ger über Schwedt er<strong>in</strong>nerlich. Diese Studie ist e<strong>in</strong>e<br />

wohltuende, eigentlich: e<strong>in</strong>e bahnbrechende Ausnahme, weil dar<strong>in</strong> nämlich alles über lokale Netzwerke<br />

gesagt wor<strong>den</strong> ist. Ist Philipp Spr<strong>in</strong>ger bislang tatsächlich der E<strong>in</strong>zige gewesen, der die Kommunen<br />

<strong>in</strong> der DDR als selbstaktive Herrschaftsträger wahrgenommen hat? [1] Und warum schlagen<br />

sich solche empirischen Fallstudien <strong>in</strong> der Arbeit des Potsdamer <strong>Institut</strong>s bislang nicht nieder, ja<br />

wer<strong>den</strong> auch nicht angemessen dort wahrgenommen? Schuhmann je<strong>den</strong>falls sche<strong>in</strong>t sie nicht zu<br />

kennen, obgleich es doch dieser lokale Ansatz ist, der ihren Deutungshorizont wesentlich erweitern<br />

könnte. Und das gilt, noch erstaunlicher, auch <strong>für</strong> Peter Hübners Aufsatz über „Personale Netzwerke<br />

im lokalhistorischen Kontext“, der sich streng genommen dann auch gar nicht darauf, sondern vielmehr<br />

auf betriebliche Sozialpolitik im Rahmen der staatlichen Ökonomie und ihrer zentralen Herrschaftsträger<br />

bezieht.<br />

Selbstkritisch konzediert Christoph Boyer <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em luzi<strong>den</strong> Nachwort diesen Mangel im Überfluss<br />

an Monografien und Sammelbän<strong>den</strong> über die DDR. Der Überfluss steht schon lange <strong>in</strong> auffälligem<br />

Kontrast zu <strong>den</strong> überaus großen empirischen Lücken <strong>in</strong> der BRD-Geschichte. Gleichwohl ist<br />

diese, auch durch die neueren, sehr guten Gesamtdarstellungen viel stärker und angemessener konzeptualisiert<br />

wor<strong>den</strong> als die durch zahlreiche Vorurteilsschübe <strong>in</strong> politischer H<strong>in</strong>sicht überlastete<br />

und, manchmal hat man leider auch <strong>den</strong> E<strong>in</strong>druck, geradezu überforderte <strong>in</strong>stitutionalisierte DDR-<br />

Geschichte. Boyer je<strong>den</strong>falls empfiehlt <strong>für</strong> künftige Forschungen auf diesem Gebiet e<strong>in</strong>e doppelte<br />

Clusteranalyse. Man solle e<strong>in</strong>erseits die Verb<strong>in</strong>dungen <strong>in</strong>nerhalb von Netzwerkstrukturen empirisch<br />

offenlegen und diese andererseits temporal und <strong>in</strong> ihrer <strong>in</strong>stitutionellen Kont<strong>in</strong>uität historisieren. Erst<br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


68 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

dann entstehe e<strong>in</strong> kont<strong>in</strong>genter Zusammenhang von Netzwerkgeschichte, nämlich dasjenige, was<br />

Boyer als <strong>den</strong> „spezifischen Evolutionspfad“ lokaler Netzwerke i<strong>den</strong>tifizieren möchte. Dem ist nichts<br />

h<strong>in</strong>zuzufügen.<br />

Anmerkung:<br />

[1] Philipp Spr<strong>in</strong>ger: Verbaute Träume. Herrschaft, Stadtentwicklung und Lebensrealität <strong>in</strong> der sozialistischen<br />

Industriestadt Schwedt, Berl<strong>in</strong> 2006.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


Verena Schöberl: „Es gibt e<strong>in</strong> großes und herrliches Land, das sich selbst nicht kennt ...<br />

Es heißt Europa“. Die Diskussion um die Paneuropaidee <strong>in</strong> Deutschland, Frankreich und<br />

Großbritannien 1922–1933 (= Gesellschaftspolitische Schriftenreihe der Begabtenförderung<br />

der Konrad-A<strong>den</strong>auer-Stiftung e.V.; Bd. 2), Münster/Hamburg/Berl<strong>in</strong>/London: LIT 2008, 404<br />

S., ISBN 978-3-8258-1104-4, EUR 34,90<br />

Rezensiert von Manfred Kittel<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 6<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/06/15396.html<br />

„Es gibt e<strong>in</strong> großes und herrliches Land, das sich selbst nicht<br />

kennt ... Es heißt Europa.“ So klagte 1938, am Vorabend des<br />

Zweiten Weltkriegs, der <strong>den</strong> Untergang des alten Europa besiegelte,<br />

Richard Nikolaus Graf Cou<strong>den</strong>hove-Kalergi, der<br />

Gründer der ältesten europäischen E<strong>in</strong>igungsbewegung. Wie<br />

vor ihm Thomas Mann, Albert E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> und andere Mitglieder<br />

der Paneuropaunion floh auch der Sohn e<strong>in</strong>es k. u. k. Diplomaten<br />

aus Südböhmen 1938 vor dem Zugriff der NS-Diktatur<br />

<strong>in</strong> die USA. In Hitlers Reich war die 1923 von Cou<strong>den</strong>hove<br />

gegründete Organisation von <strong>den</strong> Nationalsozialisten längst<br />

verboten wor<strong>den</strong>.<br />

Kurz nach dem deutsch-französischen Ruhrkampf, der das<br />

Menetekel des Nationalismus noch e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> grellen Farben<br />

an die Wand Europas gemalt hatte, war Cou<strong>den</strong>hoves Programmschrift<br />

„Pan-Europa“ erschienen und rasch zu e<strong>in</strong>em<br />

Bestseller gewor<strong>den</strong>. Die „Europäische Frage“, so schrieb<br />

Cou<strong>den</strong>hove dort, gipfele <strong>in</strong> drei Worten: „Zusammenschluß<br />

oder Zusammenbruch“. Die e<strong>in</strong>zige Rettung des vom Krieg<br />

geschwächten Kont<strong>in</strong>ents vor dem Wirtschaftsimperialismus des neuen „Welthegemons“ USA und<br />

der kommunistischen Herausforderung durch die Sowjetunion liege <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Staatenbund „von Polen<br />

bis Portugal“. Die Europaidee, die Cou<strong>den</strong>hove-Kalergi <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er zukunftsweisen<strong>den</strong> Ge<strong>den</strong>kschrift<br />

1923 skizzierte, war allerd<strong>in</strong>gs noch nicht sehr ausbuchstabiert: Ob Europäischer Staatenbund, ob<br />

Vere<strong>in</strong>igte Staaten von Europa, ob starke supranationale Kompetenzen <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Europäische Union<br />

oder nicht – da schien sich der Graf selbst nicht so ganz sicher.<br />

Auf welche Resonanz die noch sehr <strong>in</strong>terpretationsfähige Europautopie <strong>in</strong> <strong>den</strong> großen europäischen<br />

Staaten Deutschland, Frankreich und Großbritannien stieß, untersucht Verena Schöberl anhand der<br />

reichen Presselandschaft der Zwischenkriegszeit. Sie kann aufzeigen, welche Faktoren e<strong>in</strong>em größeren<br />

Erfolg der Paneuropaunion im Wege stan<strong>den</strong>: Cou<strong>den</strong>hove habe zu viel vorgegeben und mit Europa<br />

„gleichzeitig die Struktur der Welt und des Völkerbunds“ reformieren wollen; auch habe se<strong>in</strong>e<br />

Persönlichkeit, übrigens auch von Konrad A<strong>den</strong>auer als zu schwärmerisch und abgehoben empfun<strong>den</strong>,<br />

„e<strong>in</strong>e große Projektionsfläche <strong>für</strong> diffamierende Urteile“ geboten. Zudem sei se<strong>in</strong> Streben, Anhänger


70 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

aller Parteien <strong>für</strong> Paneuropa zu gew<strong>in</strong>nen, an der Realität tiefer gesellschaftlicher Gräben <strong>in</strong> allen<br />

drei Ländern vorbeigegangen, und auch se<strong>in</strong> Ansatz e<strong>in</strong>er Elitenorganisation sei im Zeitalter politischer<br />

Massenbewegungen e<strong>in</strong> Anachronismus gewesen. So bezeichnete Carl von Ossietzky Paneuropa <strong>in</strong><br />

der Weltbühne als e<strong>in</strong>en „Gedanken im Frack“.<br />

In Deutschland fand die Paneuropaidee ihre wichtigste Basis bei <strong>den</strong> Parteien der Weimarer Koalition,<br />

verfügte also niemals über e<strong>in</strong>e Mehrheit <strong>in</strong> der Öffentlichkeit. In Frankreich ließen sich vor allem<br />

die (l<strong>in</strong>ks-)liberalen Radicaux, an der Spitze Edouard Herriot, <strong>für</strong> das Konzept e<strong>in</strong>nehmen. Doch<br />

schon die französischen Katholiken, so Schöberl, hätten sich damals „mehr <strong>für</strong> <strong>den</strong> Papst als <strong>für</strong><br />

Europa“ <strong>in</strong>teressiert. Bemerkenswert auch, dass die meisten Paneuropäer <strong>in</strong> bei<strong>den</strong> Ländern sich <strong>für</strong><br />

e<strong>in</strong>e Mitgliedschaft Großbritanniens <strong>in</strong> <strong>den</strong> zu schaffen<strong>den</strong> Vere<strong>in</strong>igten Staaten von Europa aussprachen<br />

– und zwar vor allem aus Furcht, ansonsten mit dem großen Nachbarn auf der anderen Seite<br />

des Rhe<strong>in</strong>s alle<strong>in</strong> gelassen zu se<strong>in</strong>. Auf der Insel selbst aber, die damals noch der zentrale Teil e<strong>in</strong>es<br />

Empire war, blieb das Echo sehr verhalten. Anders als <strong>in</strong> Frankreich und Deutschland schaffte Paneuropa<br />

es im Vere<strong>in</strong>igten Königreich nicht e<strong>in</strong>mal auf die Titelseite e<strong>in</strong>er Zeitung. Sozialistische wie<br />

konservative Politiker und Publizisten argumentierten vor allem mit der Priorität des bestehen<strong>den</strong><br />

Völkerbundes und dem Verhältnis zu <strong>den</strong> USA („Der Kanal ist breiter als der Atlantik“). Allerd<strong>in</strong>gs<br />

ist dabei zu be<strong>den</strong>ken, dass Cou<strong>den</strong>hove selbst die Insel zunächst aus dem europäischen Staatenbund<br />

hatte ausschließen wollen und sich erst später revidierte.<br />

Über das engere Thema h<strong>in</strong>aus bietet die materialreiche Studie auch Informationen über die Rezeption<br />

Paneuropas <strong>in</strong> <strong>den</strong> Staaten Ostmitteleuropas, die angesichts der vor e<strong>in</strong>igen Jahren erfolgten<br />

Osterweiterung der real existieren<strong>den</strong> Europäischen Union von e<strong>in</strong>igem Interesse s<strong>in</strong>d. So waren die<br />

sich von Moskau bedroht fühlen<strong>den</strong> baltischen Staaten die ersten, die der Paneuropaunion f<strong>in</strong>anzielle<br />

Unterstützung angedeihen ließen. Dagegen galt <strong>in</strong> Polen, <strong>in</strong> der Tschechoslowakei oder <strong>in</strong> Jugoslawien<br />

die gerade errungene nationale Souveränität als unantastbar. Die polnische Paneuropaunion litt nicht<br />

nur darunter, dass ihr Vorsitzender Alexander Lednicki als russophil galt, sondern auch an der <strong>in</strong>szenierten<br />

deutsch-französischen Verbrüderung auf <strong>den</strong> Paneuropakongressen. Ohneh<strong>in</strong> stand Paneuropa<br />

<strong>in</strong> Warschau unter dem Verdacht, nur als Vehikel deutscher Hegemonie auf dem Kont<strong>in</strong>ent zu dienen.<br />

Dagegen war der tschechoslowakische Außenm<strong>in</strong>ister Edvard Beneš sogar Ehrenpräsi<strong>den</strong>t der<br />

Paneuropaunion. Allerd<strong>in</strong>gs war Beneš nicht zuletzt wegen der Unterstützung der Paneuropaidee<br />

durch wichtige französische Politiker (bis h<strong>in</strong> zu Aristide Briand) dazu veranlasst wor<strong>den</strong>, sich selbst<br />

Paneuropa gegenüber freundlich zu verhalten. Beneš wollte <strong>den</strong> tschechoslowakischen Staatsbürger<br />

Cou<strong>den</strong>hove an sich b<strong>in</strong><strong>den</strong>, um die Paneuropaunion unter Kontrolle zu halten. Der böhmische Graf<br />

selbst hat später je<strong>den</strong>falls recht kritisch über <strong>den</strong> „tschechischen Nationalisten“ geurteilt. „In der<br />

Theorie“ sei Beneš Paneuropäer gewesen, aber nicht <strong>in</strong> der Praxis. Er habe „jede mögliche paneuropäische<br />

Sicherung se<strong>in</strong>er Landesgrenzen“ gewollt, aber ke<strong>in</strong>en wirksamen Schutz der deutschen<br />

M<strong>in</strong>derheiten. Und er habe <strong>den</strong> Abbau der Zollgrenzen gegenüber Osteuropa erstrebt, „um <strong>den</strong> nationalen<br />

Markt der Tschechoslowakei zu erweitern, aber ke<strong>in</strong>e Zollunion mit Deutschland aus Furcht<br />

vor dessen Konkurrenz.“<br />

Man muss derartige Positionen nicht mit manchen politischen Strömungen auf der Prager Burg<br />

während der EU-Ratspräsi<strong>den</strong>tschaft Tschechiens 2009, e<strong>in</strong> Dreivierteljahrhundert später, korrelieren,<br />

um die mentalitätsgeschichtliche Relevanz der Studie von Schöberl zu erkennen. Zwar weist die<br />

Doktorarbeit e<strong>in</strong>ige Eierschalen auf und man hätte sich stellenweise e<strong>in</strong>e breitere E<strong>in</strong>bettung der zutage<br />

geförderten Pressediskurse <strong>in</strong> die <strong>in</strong>nen- und vor allem parteipolitischen Konstellationen der untersuchten<br />

Länder gewünscht, doch trägt die Studie dazu bei, wichtige Aspekte der Geschichte der Paneuropaunion<br />

zu dokumentieren.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


Krijn Thijs: Drei Geschichten, e<strong>in</strong>e Stadt. Die Berl<strong>in</strong>er Stadtjubiläen von 1937 und 1987<br />

(= Zeithistorische Studien; Bd. 39), Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2008, 378 S., 42 s/w-Abb.,<br />

ISBN 978-3-412-14406-7, EUR 44,90<br />

Rezensiert von Detlev Brunner<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 2<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/02/14593.html<br />

Repräsentationen politischer und gesellschaftlicher Systeme<br />

geraten <strong>in</strong> jüngster Zeit vermehrt <strong>in</strong> <strong>den</strong> Blickw<strong>in</strong>kel historischer<br />

Forschung. Als bevorzugter Untersuchungsraum hat<br />

sich „die Stadt“ erwiesen. Stadtjubiläen und Stadtfeste wer<strong>den</strong><br />

– auch im diachronen Vergleich – daraufh<strong>in</strong> analysiert,<br />

welche Bilder Städte von sich entwerfen und welche Intentionen<br />

sie damit verfolgen. Stadtgeschichtsschreibung nimmt dabei<br />

e<strong>in</strong>e zentrale Rolle e<strong>in</strong>. Wer schreibt was, wie und warum?<br />

Die Studie von Krijn Thijs reiht sich <strong>in</strong> dieses Themenfeld<br />

e<strong>in</strong>. Der von ihm gewählte Untersuchungsgegenstand Berl<strong>in</strong><br />

und se<strong>in</strong>e Jubiläumsfeiern bietet e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zigartige Chance:<br />

Den Vergleich dreier unterschiedlicher Systeme <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Stadt.<br />

1937 feierte die Reichshauptstadt des nationalsozialistischen<br />

Deutschlands das 700-jährige Stadtjubiläum. 1987 folgte das<br />

<strong>in</strong> Ost und West zweifach gefeierte 750. Jubiläum <strong>in</strong> der geteilten<br />

Stadt.<br />

Thijs greift nicht explizit auf die Kategorie „Repräsentation“<br />

zurück, se<strong>in</strong> Erkenntnis<strong>in</strong>teresse ordnet sich aber durchaus <strong>in</strong> <strong>den</strong> genannten Fragenkomplex e<strong>in</strong>. Ihn<br />

<strong>in</strong>teressieren „Form und Inhalt der dom<strong>in</strong>anten lokalhistorischen Narrative“, deren systemlegitimierende<br />

Strategien, Symbole und Kont<strong>in</strong>uitätsansprüche sowie die mit diesen transportierten I<strong>den</strong>titätsangebote<br />

(22). Für se<strong>in</strong> theoretisches Konzept wählt er als zentrale Forschungskategorien die Begriffe<br />

„Geschichtsdiskurs“ (<strong>in</strong> Anlehnung an Michel Foucault) und „historische Erzählung“. Der Diskursbegriff<br />

ziele auf die „Produktionsmechanismen“ und „Wahrnehmungskategorien“, die wiederum die<br />

„Aneignung der Vergangenheit“ <strong>in</strong> <strong>den</strong> Berl<strong>in</strong>er Stadtgesellschaften regulieren. Die stadthistorischen<br />

„Erzählungen“ seien dann Ergebnisse der diskursiven Praktiken. Der Autor verfolgt nicht <strong>den</strong> Anspruch,<br />

die unterschiedlichen „Erzählungen“ auf Fakten oder Wahrheitsgehalt zu prüfen oder sie e<strong>in</strong>er<br />

Hierarchie <strong>in</strong> „gut“ oder „schlecht“ zu unterwerfen.<br />

Thijs geht zunächst an die Schilderung der städtischen Geschichtsdiskurse. Er greift dabei auf die<br />

Vorgeschichten zurück und dies völlig zu Recht. Denn bereits <strong>in</strong> <strong>den</strong> Weimarer Jahren wur<strong>den</strong> im<br />

stadtgeschichtlichen Diskurs Ansätze formuliert, die sich <strong>in</strong> der 1937 präsentierten Stadtgeschichte<br />

wiederfan<strong>den</strong>. Die weiteren Entwicklungen <strong>in</strong> der Reichshauptstadt bestätigen Befunde, die aus anderen<br />

Städten vorliegen. Die 700-Jahrfeier kam eher im provisorisch geschneiderten Kleide daher,<br />

ohne deutliche E<strong>in</strong>flussnahme zentraler Partei- und Staatsstellen. Der „Führer“ glänzte durch Abwesen-


72 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

heit und Goebbels weilte nur e<strong>in</strong>en Tag bei der Festwoche. Thijs verweist auf Asymmetrien des<br />

Vergleichs, bestand doch das nationalsozialistische System bei der 700-Jahrfeier erst vier Jahre,<br />

während die 750-Jahrfeiern 1987 von etwa vierzig Jahre bestehen<strong>den</strong> politischen Systemen begangen<br />

wur<strong>den</strong>. Dass sich daraus unterschiedliche Interessenlagen von Stabilisierung und Legitimierung<br />

ergaben, damit aber auch längerfristige und professionellere Vorbereitungen verbun<strong>den</strong> waren, liegt<br />

auf der Hand. Die Rechtfertigung der erheblich kürzeren Darstellung der 700-Jahrfeier mit dem relativen<br />

Mangel an Quellen ist e<strong>in</strong>sichtig.<br />

Für 1987 h<strong>in</strong>gegen kann Thijs aus dem Vollen schöpfen. Er präsentiert auch hier die Vorgeschichte,<br />

die im westlichen Falle von <strong>den</strong> Diskussionen um die Berl<strong>in</strong>er Preußenausstellung 1981 und der von<br />

Bundeskanzler Helmut Kohl angestoßenen Debatte um die Errichtung e<strong>in</strong>es Deutschen Historischen<br />

Museums <strong>in</strong> West-Berl<strong>in</strong> geprägt waren. Die von konservativer Seite vielfach gescholtene, weil Distanz<br />

anstatt I<strong>den</strong>tität vermittelnde Preußenausstellung wurde zum Modell <strong>für</strong> die 1987 gezeigte Ausstellung<br />

„Berl<strong>in</strong>, Berl<strong>in</strong>“, die zum zentralen und viel beachteten Ereignis der West-Berl<strong>in</strong>er 750-Jahr-<br />

Feier geriet. Thijs beschreibt die kontroversen Debatten, an <strong>den</strong>en neben dem Berl<strong>in</strong>er Senat und<br />

dem Geschäftsführer der Berl<strong>in</strong>er Festspiele GmbH e<strong>in</strong>e Vielzahl von Akteuren beteiligt waren, darunter<br />

die traditionsreiche Historische Kommission zu Berl<strong>in</strong>, aber auch l<strong>in</strong>ksalternative Initiativen.<br />

Das am Ende zum Tragen kommende Konzept des zentralen Ausstellungsaktes wurde von e<strong>in</strong>er<br />

Wissenschaftlergruppe unter Leitung des Berl<strong>in</strong>er Historikers Re<strong>in</strong>hard Rürup und des bereits bei<br />

der Preußenausstellung aktiven Gottfried Korff, se<strong>in</strong>es Zeichens Ethnologe und Kulturwissenschaftler,<br />

entworfen. Dieses Konzept wollte ke<strong>in</strong> geschlossenes Geschichtsbild vermitteln; die dynamische<br />

Stadt des Wandels, der Offenheit und der Vielfalt stand im Zentrum.<br />

Anfängliche Bemühungen des Berl<strong>in</strong>er Senats um e<strong>in</strong>e Zusammenarbeit mit Ost-Berl<strong>in</strong> zerschlugen<br />

sich angesichts der klaren Abgrenzung der „Hauptstadt“ der DDR. Dort, dies arbeitet Thijs anschaulich<br />

heraus, trog der Ansche<strong>in</strong> der offiziellen, im Unterschied zur westlichen Vielfalt präsentierten<br />

Geschlossenheit, hatten sich doch nicht zuletzt im Zusammenhang mit der ab Ende der<br />

1970er Jahre geführten „Erbe und Tradition“-Debatte <strong>in</strong> der Historikerzunft Irritationen über verme<strong>in</strong>tlich<br />

unumstößliche Gesetzmäßigkeiten und Mechanismen im politisch-wissenschaftlichen Produktionsbetrieb<br />

ergeben. Verzögerungen und gar E<strong>in</strong>stellungen von Buchprojekten, die zum Jubiläum bereit<br />

liegen sollten, waren Ergebnisse dieser Verunsicherungen. Gleichwohl wurde das dortige Stadtjubiläum<br />

zur zentralstaatlichen, „nationalen“ Angelegenheit stilisiert, Erich Honecker selbst stand dem<br />

Vorbereitungskomitee vor, und die <strong>in</strong> dessen Auftrag formulierten „Thesen“ zur 750-Jahrfeier ordneten<br />

das Stadtjubiläum <strong>in</strong> die Fortschrittsgeschichte marxistisch-len<strong>in</strong>istischer Prägung e<strong>in</strong>. Stärker<br />

als bei <strong>den</strong> bei<strong>den</strong> anderen Jubiläums<strong>in</strong>szenierungen widmet sich Thijs der Wirkungsgeschichte im<br />

Ost-Berl<strong>in</strong>er Fall. Das Bild der „Stadt des Frie<strong>den</strong>s“ als moderne sozialistische Metropole fand freilich<br />

nur e<strong>in</strong>e ambivalente, schließlich sogar negative Rezeption <strong>in</strong> der Bevölkerung. Es konnte, gerade<br />

was die gute Hauptstadtversorgung ang<strong>in</strong>g, nur kurzfristig aufrechterhalten wer<strong>den</strong> und g<strong>in</strong>g zu Lasten<br />

des Restes der Republik. Dauerhafte Zustimmung konnte mit derart zweischneidigen Maßnahmen<br />

nicht generiert wer<strong>den</strong>.<br />

Thijs kommt zum Ergebnis, dass <strong>in</strong> allen drei Fällen die Diskurse <strong>in</strong> dom<strong>in</strong>ante Narrative, Leittexte,<br />

mündeten, wobei er auf die unterschiedlichen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen der Abläufe <strong>in</strong> Diktatur und<br />

Demokratie verweist. S<strong>in</strong>d die Ergebnisse im Falle der bei<strong>den</strong> unter Diktaturbed<strong>in</strong>gungen vorbereiteten<br />

Jubiläen durchaus nachvollziehbar, so drängen sich <strong>für</strong> <strong>den</strong> West-Berl<strong>in</strong>er Fall Fragen auf. Lassen<br />

sich Pluralität und die Ablehnung geschlossener, verordneter Geschichtsbilder als Konstrukt bezeichnen,<br />

das als Bild der „pluralistischen Stadt“ aufmerksam „gepflegt wor<strong>den</strong>“ sei (192)? Zweifelsohne<br />

stan<strong>den</strong> die bei<strong>den</strong> Stadthälften im systemischen Konkurrenzkampf und natürlich war der<br />

westlichen Hälfte daran gelegen, gegenüber „dem Osten“ die freiheitliche, offene Alternative zu verkörpern.<br />

Aber war dies nur konstruiert? War der <strong>in</strong> kontroverser Debatte schließlich akzeptierte<br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


73 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Entwurf von Rürup/Korff e<strong>in</strong> „Postulat“, e<strong>in</strong> „neues Regulativ der Geschichtserzählung von Berl<strong>in</strong>“<br />

(146)? Oder haben wir es nicht mit e<strong>in</strong>em Produkt kritischer Geschichtsreflexion eben <strong>in</strong> Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

mit der zurückliegen<strong>den</strong> 700-Jahrfeier wie auch faktisch als Gegenentwurf zur marxistischlen<strong>in</strong>istischen<br />

Fortschrittsgeschichte zu tun?<br />

Von diesen E<strong>in</strong>wän<strong>den</strong> abgesehen, gel<strong>in</strong>gt es dem Autor die jeweiligen Debatten und Ause<strong>in</strong>andersetzungen<br />

detailreich zu schildern. Trotz aller Diskursterm<strong>in</strong>ologie bleibt er <strong>in</strong> der Darstellung wie <strong>in</strong><br />

der Quellenfundierung auf konventionellen Pfa<strong>den</strong>. Dies ändert sich bei der vergleichen<strong>den</strong> Textanalyse<br />

der von ihm als dom<strong>in</strong>ante Narrative ausgemachten Versionen der Stadtgeschichte, die Thijs mit<br />

e<strong>in</strong>em aus der Literaturwissenschaft entlehnten Instrumentarium e<strong>in</strong>er „Narratologie“ erarbeiten will.<br />

Die präsentierten Ergebnisse dieses Textvergleichs s<strong>in</strong>d theoretisch anspruchsvoll e<strong>in</strong>geführt, <strong>in</strong> der<br />

Substanz aber kaum spektakulär. Die Erkenntnis, dass die verschie<strong>den</strong>en Autoren und Autorengruppen<br />

1937, 1987-Ost und 1987-West „ihre“ Stadtgeschichten mit unterschiedlichen, jeweils systemkompatiblen<br />

Begriffen sowie unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen versahen, kann nicht überraschen.<br />

Dies gilt ebenso <strong>für</strong> Feststellungen wie jener, dass die Geschichte der Berl<strong>in</strong>er Ju<strong>den</strong> <strong>in</strong> der<br />

Fassung des NS-Autors anders dargestellt wor<strong>den</strong> sei als <strong>in</strong> <strong>den</strong> Versionen 1987. Natürlich bedienten<br />

sich die marxistisch-len<strong>in</strong>istischer Geschichtsauffassung verpflichteten „Thesen“ e<strong>in</strong>er anderen Begrifflichkeit<br />

als die West-Berl<strong>in</strong>er Autoren und beide wiederum e<strong>in</strong>er anderen als die „volksgeme<strong>in</strong>schaflich“<br />

orientierte, nationalsozialistische Stadtgeschichte, <strong>in</strong> der die Stadtgründung als e<strong>in</strong> Akt im<br />

„organischen“ Wer<strong>den</strong> von <strong>den</strong> Anfängen der Menschheit bis zum Nationalsozialismus erschien. All<br />

dies hätte vermutlich auch ohne die „Erzählwissenschaft der Narratologie“ und die vom Autor erläuterten<br />

„narrativen Elemente <strong>in</strong> der Narratologie“ (286ff.) erarbeitet wer<strong>den</strong> können.<br />

Alle<strong>in</strong> bei der Textauswahl kommen Zweifel an Thijs’ Methode auf. In allen drei Fällen wur<strong>den</strong><br />

neben ausführlicheren Stadtgeschichten auch kürzere prägnante Texte veröffentlicht, die laut Thijs<br />

„die narrative Grundstruktur der drei Geschichtserzählungen“ deutlicher als die Gesamtdarstellungen<br />

zum Ausdruck br<strong>in</strong>gen (282). Für das West-Berl<strong>in</strong>er Jubiläum steuerte Re<strong>in</strong>hard Rürup e<strong>in</strong>en stadtgeschichtlichen<br />

Abriss bei. E<strong>in</strong>e ausführliche Berl<strong>in</strong>geschichte entstand unter der Herausgeberschaft<br />

Wolfgang Ribbes, Mitglied der Historischen Kommission zu Berl<strong>in</strong>. In se<strong>in</strong>er „Diskursanalyse“ hatte<br />

Thijs die stadtgeschichtlichen Projekte der Historischen Kommission nahezu als „Gegennarrativ“<br />

zum Leitnarrativ (Rürup/Korff) erkannt. Tatsächlich konnte die ehrwürdige Historikervere<strong>in</strong>igung<br />

gegenüber dem dynamischen „Berl<strong>in</strong>, Berl<strong>in</strong>“-Konzept kaum reüssieren – nun sollen beide aber <strong>für</strong><br />

die „narrative Grundstruktur“ der Berl<strong>in</strong>er „Erzählung“ stehen, gar zu e<strong>in</strong>em städtischen „master<br />

narrative“ zusammengebun<strong>den</strong> wer<strong>den</strong>? Es s<strong>in</strong>d diese Vergröberungen, die <strong>in</strong>sbesondere im West-<br />

Berl<strong>in</strong>er Fall außeror<strong>den</strong>tlich irritieren. Wenn selbst „counter narratives“ und „Alternativerzählungen“<br />

zu Teilen des „master narratives“ deklariert wer<strong>den</strong>, was kann dieser Begriff als trennscharfe<br />

Analysekategorie zumal <strong>in</strong> der Komparatistik dann leisten? Wenn „demokratischer Pluralismus“ an<br />

sich schon zum „master narrative“ wird und darunter dann alle möglichen „narratives“ e<strong>in</strong>geordnet<br />

wer<strong>den</strong> können, dann wird Beliebigkeit zum Forschungskonzept.<br />

Es bleibt e<strong>in</strong> zwiespältiger Gesamte<strong>in</strong>druck. E<strong>in</strong>em der „neuen“ Kulturgeschichte verpflichteter<br />

Ansatz, der wenig spektakuläre Ergebnisse präsentiert, steht e<strong>in</strong>e detaillierte Skizzierung stadt-<br />

geschichtlicher Diskurse zur Seite. Vom Autor vermutlich anders <strong>in</strong>tendiert, s<strong>in</strong>d diese Abschnitte<br />

der Studie die eigentlich substanziellen, die die Erkenntnisse über Stadtrepräsentationen und opportun<br />

modellierte Geschichtsversionen erweitern.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


Matthias Uhl: Die Teilung Deutschlands. Niederlage, Ost-West-Spaltung und Wiederaufbau<br />

1945–1949, (= Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert; Bd. 11), Berl<strong>in</strong>: be.bra verlag 2009,<br />

208 S., ISBN 978-3-89809-411-5, EUR 19,90.<br />

Rezensiert von Heike Amos<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 12<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/12/16215.html<br />

Obwohl mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Mai 1945<br />

noch nicht entschie<strong>den</strong> war, dass es zur Bildung zweier deutscher<br />

Staaten – der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen<br />

Demokratischen Republik – und deren Integration <strong>in</strong><br />

gegensätzliche Machtblöcke kommen würde, deutete sich bereits<br />

früh an, dass der Kalte Krieg und die folgende Teilung<br />

Europas und Deutschlands die wahrsche<strong>in</strong>lichste Lösung des<br />

Konflikts zwischen der UdSSR und <strong>den</strong> Westmächten wer<strong>den</strong><br />

würde. Damit entwickelte sich das <strong>in</strong> der Mitte Europas gelegene<br />

Deutschland nicht, wie ursprünglich erhofft und vorgesehen,<br />

zum Stabilisierungsfaktor zwischen <strong>den</strong> bei<strong>den</strong> Großmächten,<br />

sondern zum Objekt und Opfer ihrer Ause<strong>in</strong>andersetzungen.<br />

„Dass diese Konfrontation nicht plötzlich e<strong>in</strong>trat<br />

und dass zwischen 1945 und 1949 immer wieder Chancen <strong>für</strong><br />

e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Lösung der deutschen Frage bestan<strong>den</strong>“ (9 f.),<br />

zeigt der Autor <strong>in</strong> sieben Kapiteln.<br />

Anhand der Darstellung des unmittelbaren Kriegsendes, der<br />

akuten Nachkriegsprobleme wie Hunger, Wohnungsnot, Trümmerlandschaften,<br />

Umgang mit Kriegsverbrechern, NS-Opferentschädigung<br />

sowie dem Schicksal der Vertriebenen, Kriegsgefangenen, Repatriierten und Remigranten<br />

wer<strong>den</strong> ähnliche, aber auch erste unterschiedliche Entwicklungswege <strong>in</strong> Ost- und Westdeutschland<br />

aufgezeigt. In allgeme<strong>in</strong> verständlicher Weise wird die sowjetische der westlichen Besatzungsherrschaft<br />

gegenübergestellt. Entwicklungen <strong>in</strong> der Sowjetischen Besatzungszone wer<strong>den</strong> mit <strong>den</strong>en<br />

der westlichen Bizone (bzw. Trizone) verglichen. Der beg<strong>in</strong>nende Kalte Krieg wird an <strong>den</strong> Währungsreformen<br />

1948 und der Berl<strong>in</strong>-Blockade festgemacht. Die Studie schließt mit dem Vollzug der<br />

staatlichen Teilung Deutschlands durch die Konstituierung der Bundesrepublik und der DDR. An<br />

e<strong>in</strong>zelnen Eckpunkten – wie der Parteienbildung <strong>in</strong> <strong>den</strong> vier Zonen, dem Aufbau der Zentralverwaltungen<br />

im Osten und der Bizonen-Verwaltung im Westen, der Volkskongressbewegung mit dem<br />

Deutschen Volksrat sowie der Bildung und Arbeit des Parlamentarischen Rates – macht der Band<br />

auch deutlich, „dass unter dem E<strong>in</strong>fluss der jeweiligen Besatzungsmächte die Deutschen [...] <strong>in</strong> West<br />

und Ost [...] <strong>den</strong> Weg zur deutschen Zweistaatlichkeit teils sogar bereitwillig beschritten“ (10).<br />

Sehr gut gelungen s<strong>in</strong>d die vergleichen<strong>den</strong> Abschnitte über die unterschiedlichen, <strong>in</strong>sbesondere<br />

ökonomischen Ausgangsbed<strong>in</strong>gungen, Reparationen und Demontagen und über die Vorgehensweise<br />

<strong>in</strong> der Entnazifizierung und die Reeducation-Pläne der vier alliierten Besatzungsmächte. Ausgewogen


75 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

erörtert wird die „erste Schlacht des Kalten Krieges 1948“ (165) anhand der Währungsreformen, der<br />

Berl<strong>in</strong>-Blockade und der alliierten Luftbrücke.<br />

Dass der Historiker Matthias Uhl e<strong>in</strong> Spezialist <strong>für</strong> die historische Erforschung der sowjetischen<br />

Geheim- und Nachrichtendienste im Kalten Krieg ist, wird <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Kapitelabschnitten allzu deutlich,<br />

was der populären Überblicksdarstellung nicht zuträglich ist. Das Kapitel über die sowjetische<br />

Besatzungsherrschaft bzw. SBZ ist überfrachtet mit Fakten und Zahlen über <strong>den</strong> Aufbau des sowjetischen<br />

Sicherheitsapparates <strong>in</strong> <strong>den</strong> von der Roten Armee besetzten Gebieten. Der sowjetische Geheimdienst<br />

– der NKWD/NKGB-Apparat und die Militärabwehr Smersch – hatte die Aufgabe, nicht nur<br />

Kriegs- und Naziverbrecher, verbliebene faschistische Untergrundgruppen und politische Gegner der<br />

UdSSR zu verfolgen sondern auch Informationen über politische Vorgänge im besetzten Deutschland,<br />

beispielsweise die parteipolitische Situation <strong>in</strong> der SBZ zu beschaffen und e<strong>in</strong> Spionagenetz <strong>in</strong><br />

<strong>den</strong> westlichen Besatzungszonen zu <strong>in</strong>stallieren. Für <strong>den</strong> Zeithistoriker s<strong>in</strong>d diese und die detaillierten<br />

Ausführungen über die sowjetischen Spionageagenturen und Spionageoperationen <strong>in</strong> <strong>den</strong> westlichen<br />

Besatzungszonen <strong>in</strong>teressant, aber es fehlt jeder Vergleich mit <strong>den</strong> Spionageapparaten der<br />

Amerikaner, Briten und Franzosen im Zonen-Deutschland und im sektorengeteilten Berl<strong>in</strong>, die es<br />

doch auch gegeben hat.<br />

Die vorliegende Band wendet sich an e<strong>in</strong>en breiten, an der deutschen <strong>Zeitgeschichte</strong> allgeme<strong>in</strong> <strong>in</strong>teressierten<br />

Leserkreis. Er ist <strong>in</strong> weiten Teilen populär und allgeme<strong>in</strong> verständlich geschrieben und<br />

gibt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Auswahlbibliographie Literaturempfehlungen <strong>für</strong> jene, die sich mit e<strong>in</strong>zelnen Fragen<br />

und Themen der Ost-West-Spaltung Deutschlands und des beg<strong>in</strong>nen<strong>den</strong> Wiederaufbaus <strong>in</strong> <strong>den</strong> Jahren<br />

zwischen 1945 und 1949 vertieft und <strong>in</strong>tensiver beschäftigen wollen.<br />

Redaktionelle Betreuung:<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


Alena Wagnerová (Hrsg.): Hel<strong>den</strong> der Hoffnung – die anderen Deutschen aus <strong>den</strong> Sudeten<br />

1938–1989, Berl<strong>in</strong>: Aufbau-Verlag 2008, 272 S., ISBN 978-3-351-02657-8, EUR 24,95<br />

Rezensiert von Raimund Paleczek<br />

Sudetendeutsches <strong>Institut</strong> e.V., München<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 10<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/10/15700.html<br />

Im August 2005 hat die Regierung der Tschechischen Republik<br />

e<strong>in</strong>e Erklärung verabschiedet, <strong>in</strong> der sie sich bei „<strong>den</strong>jenigen<br />

tschechoslowakischen Staatsbürgern [...] deutscher Abstammung“<br />

<strong>für</strong> Taten entschuldigt, die an ihnen „im Widerspruch<br />

zu der damals gültigen Gesetzlage“ nach dem Ende des Zweiten<br />

Weltkrieges verübt wur<strong>den</strong>. Der Adressat wird e<strong>in</strong>gegrenzt<br />

auf diejenigen Deutschen, die „während des Zweiten Weltkriegs<br />

der Tschechoslowakischen Republik treu blieben und<br />

aktiv an dem Kampf <strong>für</strong> deren Befreiung beteiligt waren oder<br />

unter dem nazistischen Terror litten.“ (6) Diese Personengruppe<br />

wird geme<strong>in</strong>h<strong>in</strong> als „Antifaschisten“ bezeichnet. Mit<br />

der vorgenommenen Auswahl hat die tschechische Regierung<br />

allerd<strong>in</strong>gs die Kriterien und die Wortwahl der tschechoslowakischen<br />

Nachkriegsregierung 1945/46 übernommen, die im<br />

H<strong>in</strong>blick auf ihre Rechtsauffassung und demokratische Legitimität<br />

erhebliche Defizite aufweist. Auf diesen Makel hat im<br />

Herbst 2008 auch der Historiker Detlef Brandes h<strong>in</strong>gewiesen.<br />

[1]<br />

Im Rahmen der Entschuldigung hat die tschechische Regierung<br />

30 Millionen Kronen zur Erforschung des Schicksals<br />

der aktiven, „erfahrenen Gegner des Nazismus“ (14) zur Verfügung<br />

gestellt. Die Anzahl dieser Gruppe, die 1945/46 <strong>in</strong> Antifa-Transporten trotz ihres privilegierten<br />

Status als Angehörige der deutschen M<strong>in</strong>derheit ausgesiedelt wurde oder freiwillig aussiedelte, wird<br />

mit 130000 Personen beziffert. Davon waren 79000 Sozialdemokraten und 50000 Kommunisten (9).<br />

E<strong>in</strong> Ergebnis des staatlich geförderten Projektes ist die von A. Wagnerová, St. Döll<strong>in</strong>g, G. Schwarz,<br />

P. Fiedler, E. Schmutzer und R. Mieder überarbeitete Darstellung von 15 E<strong>in</strong>zelschicksalen. Grundlage<br />

waren Interviews von fast 100 Zeitzeugen, die sich an ihre Erlebnisse zwischen <strong>den</strong> zwanziger<br />

und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts er<strong>in</strong>nerten. Allen Zeitzeugen ist geme<strong>in</strong>sam, dass sie<br />

parteipolitisch aktiv waren, darunter s<strong>in</strong>d acht kommunistische und fünf sozialdemokratische Aktivisten.<br />

Lediglich zwei Schicksale von Angehörigen des „Bundes der Landwirte“ (BdL), die auch e<strong>in</strong>e<br />

kirchliche B<strong>in</strong>dung aufweisen, s<strong>in</strong>d vertreten. Der Mangel, <strong>den</strong> kirchlichen Widerstand nicht erfasst<br />

zu haben, war auch der Herausgeber<strong>in</strong> bewusst. Die Erklärung, dass man bei der Zeitzeugensuche<br />

„aus dem nächsten Familienumfeld der katholischen Geistlichen, die vielfach e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>dividuellen<br />

Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime leisteten, an ihre Grenze“ (12) gestoßen sei, ist


77 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

aber nicht befriedigend. Hier<strong>in</strong> zeigt sich e<strong>in</strong>mal mehr die grundlegende Schwäche der Beschränkung<br />

auf die oral-historische Methode. Deutlich wird das an <strong>den</strong> unvermeidlichen Anmerkungen, die<br />

E<strong>in</strong>zelbegriffe und historische Zusammenhänge erläutern oder ergänzen. Ihre knappe Auswahl am<br />

Ende des Buches (253-66) ist zwar angemessen, aber leider z.T. unzulänglich. Die Aussage zweier<br />

Zeitzeugen, dass es erst seit 1937 mit dem Sender Mělník deutschsprachige Sendungen gegeben hat,<br />

wird <strong>in</strong> der Anmerkung irreführend korrigiert: „Deutschsprachige Sendungen im tschechischen<br />

Rundfunk gab es schon seit Oktober 1925.“ (254, Anm. 3) Richtig ist, dass seit 1. November 1925<br />

e<strong>in</strong> deutschsprachiges Radio Journal gesendet wurde. Der Umfang der re<strong>in</strong> kulturellen Sendungen<br />

betrug aber lediglich e<strong>in</strong>e Viertelstunde täglich, das Journal konnte also ke<strong>in</strong>eswegs über gesellschaftliche<br />

und politische Entwicklungen <strong>in</strong>formieren. [2] Das war der entschei<strong>den</strong>de Grund da<strong>für</strong>,<br />

dass die Sudetendeutschen <strong>den</strong> reichsdeutschen Rundfunk hörten. Der H<strong>in</strong>weis, die Aussiedlung der<br />

gesamten deutschen Bevölkerung habe schon 1944 festgestan<strong>den</strong> (263, Anm. 3), entspricht nicht<br />

dem Forschungsstand. [3] Vielmehr wur<strong>den</strong> die als „wilde Vertreibungen“ bezeichneten Gewaltmaßnahmen<br />

von der tschechischen Führung zwischen Mai und August 1945 geplant.<br />

In allen Berichten, „Porträts“ genannt, äußern die Zeitzeugen ihr Unverständnis über <strong>den</strong> rapi<strong>den</strong><br />

Stimmungswandel im Frühjahr 1938 und über die nachfolgende Ausgrenzung aus der Geme<strong>in</strong>schaft<br />

der deutschen Mitbürger („Als me<strong>in</strong>e Mutter verhaftet wor<strong>den</strong> war, haben mich die Klassenkamerad<strong>in</strong>nen<br />

die Treppe h<strong>in</strong>unter gestoßen, mich angespuckt“; Beitrag A. H<strong>in</strong>ke, 202). Diese Entwicklung<br />

bleibt wohl e<strong>in</strong> psychologisch-soziologisches Phänomen, das mit <strong>den</strong> enttäuschten Lebensentwürfen<br />

<strong>in</strong>folge jahrelanger Arbeitslosigkeit und mit der bis zuletzt mangelhaften Nationalitätenpolitik der<br />

Prager Regierung alle<strong>in</strong> nicht erklärt wer<strong>den</strong> kann (vgl. Beitrag M. Halke, 237).<br />

Wertvoll s<strong>in</strong>d Details, die manche sudetendeutschen Spezifika erklären, die aus wissenschaftlichen<br />

Darstellungen selten erhellen. So s<strong>in</strong>d die Pf<strong>in</strong>gsttreffen als Forum politischer Kundgebungen ke<strong>in</strong>eswegs<br />

e<strong>in</strong>e Erf<strong>in</strong>dung des organisierten Sudetendeutschtums nach 1948, sie wur<strong>den</strong> bereits <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

zwanziger Jahren von <strong>den</strong> kirchenfernen sozialdemokratischen und kommunistischen Verbän<strong>den</strong><br />

veranstaltet (193). Auch der Grund da<strong>für</strong>, dass 1938 so viele Sozialdemokraten gerade nach Kanada<br />

auswandern konnten, lohnt e<strong>in</strong>er Überprüfung: „Kanada war das e<strong>in</strong>zige Land, welches sich bereit<br />

erklärt hatte, e<strong>in</strong>e unbegrenzte Anzahl von politischen Flüchtl<strong>in</strong>gen aufzunehmen. Da<strong>für</strong> gab es natürlich<br />

e<strong>in</strong>en Grund: Sie wollten ke<strong>in</strong>e Ju<strong>den</strong> haben.“ (47)<br />

Alles <strong>in</strong> allem ist das Buch e<strong>in</strong> wichtiger und verdienstvoller Bauste<strong>in</strong> <strong>für</strong> die Aufarbeitung der<br />

Nachkriegsgeschichte im tschechischen Landesteil der ehemaligen Tschechoslowakei. E<strong>in</strong>ige Zeitzeugen<br />

können allerd<strong>in</strong>gs immer noch nicht akzeptieren, dass das sozialistische Modell politisch und<br />

moralisch gescheitert ist: „Die sozialen Errungenschaften, die <strong>in</strong>ternationale Solidarität und die frie<strong>den</strong>sfördernde<br />

Politik der DDR wer<strong>den</strong> nie ernsthaft zu bestreiten se<strong>in</strong>.“ (166) – „Vieles hat sich <strong>in</strong><br />

der DDR erfüllt, was von Vorteil <strong>für</strong> die Menschen und <strong>für</strong> ihr Leben ist.“ (212) Das lässt doch<br />

Zweifel darüber aufkommen, ob alle ausgewählten Zeitzeugen geeignet waren, mit dem vorliegen<strong>den</strong><br />

Werk e<strong>in</strong> Forum <strong>für</strong> ihre Er<strong>in</strong>nerungen zu erhalten und als „Hel<strong>den</strong> der Hoffnung“ präsentiert zu<br />

wer<strong>den</strong>. Falsche Geschichtsdeutungen („Die kommunistische Partei war /1948/ bereit, die Macht mit<br />

bürgerlichen Parteien zu teilen“, 155) s<strong>in</strong>d ärgerlich, zumal sie nicht kommentiert wer<strong>den</strong>.<br />

Es bleibt zu wünschen, dass die vorliegende Darstellung nicht der letzte Versuch bleibt, gemäß<br />

dem Werktitel „die anderen Deutschen aus <strong>den</strong> Sudeten [...]“ – also die moralisch ‚besserenʻ – auf<br />

die Antifabewegung e<strong>in</strong>zuschränken. Mit gleichem Aufwand sollte man sich dem <strong>in</strong>dividuell und<br />

jenseits von Parteipolitik geleisteten Widerstand widmen.<br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


78 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Anmerkungen:<br />

[1] Notiz des Rezensenten aus dem bisher unveröffentlichten Redebeitrag D. Brandes’ während der<br />

Eröffnungsveranstaltung der Ausstellung „Zapomenutí hrd<strong>in</strong>ové – Vergessene Hel<strong>den</strong>“ <strong>in</strong> Aussig/Ústí<br />

n.L. am 11.9.2008.<br />

[2] Vgl. E. Jirgens: Der Deutsche Rundfunk der 1. Tschechoslowakischen Republik. 2 Teile, Frankfurt<br />

a.M. u.a. 2005. – Rezension von A. Knechtel <strong>in</strong>: Stifter-Jahrbuch NF 20, München 2006,<br />

266-70.<br />

[3] D. Brandes: Der Weg zur Vertreibung 1938–1945 [...], München 2005, 315-24, weist nach, dass<br />

die westlichen Alliierten bis Kriegsende e<strong>in</strong>er Vertreibung von etwa 2–2,5 Millionen Sudetendeutschen,<br />

also etwa zwei Drittel der sudetendeutschen Bevölkerung, zustimmten. 800000 hätten<br />

bleiben dürfen.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


Jens Wegener: Die Organisation Gehlen und die USA. Deutsch-amerikanische<br />

Geheimdienstbeziehungen, 1945–1949 (= Studies <strong>in</strong> Intelligence History; Vol. 2), Münster/<br />

Hamburg/Berl<strong>in</strong>/London: LIT 2008, 146 S., ISBN 978-3-8258-1395-6, EUR 19,90<br />

Rezensiert von Arm<strong>in</strong> Wagner<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Frie<strong>den</strong>sforschung und Sicherheitspolitik, Hamburg<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 10<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/10/15013.html<br />

Jahrzehntelang stammten alle Informationen über die Anfangsjahre<br />

des westdeutschen Auslandsnachrichtendienstes aus nur<br />

zwei Quellen: Den 1971 veröffentlichten Memoiren „Der<br />

Dienst“ von dessen Chef Re<strong>in</strong>hard Gehlen und dem im selben<br />

Jahr erschienenen Buch „Pullach <strong>in</strong>tern“ der Journalisten<br />

Hermann Zoll<strong>in</strong>g und He<strong>in</strong>z Höhne. Zoll<strong>in</strong>g und Höhne waren<br />

über die Spionagetätigkeit der „Organisation Gehlen“ (OG)<br />

und des Bundesnachrichtendienstes (BND), wie der Apparat<br />

seit Übernahme <strong>in</strong> die Verwaltung des Bundes 1956 hieß,<br />

nicht schlecht <strong>in</strong>formiert. Ihr Buch war jedoch auch e<strong>in</strong> politisches<br />

Projekt: Es sollte nicht zuletzt zeigen, welcher Machtkampf<br />

sich h<strong>in</strong>ter <strong>den</strong> Mauern des Dienstsitzes <strong>in</strong> Pullach bei<br />

München nach Übernahme der Regierungsgeschäfte durch<br />

die SPD/FDP-Koalition 1969 abspielte. Kanzleramtsm<strong>in</strong>ister<br />

Horst Ehmke und von ihm ausgewählte Spitzenbeamte zielten<br />

darauf, die alten Seilschaften aus <strong>den</strong> Tagen des ‚Dritten Reichesʻ<br />

und der Ära A<strong>den</strong>auer unter Kontrolle zu bekommen.<br />

Trotz ihres kritischen Zugangs folgen aber letztlich auch Zoll<strong>in</strong>g<br />

und Höhne mit wenigen Abstrichen dem Gründungsmythos Gehlens, dieser habe <strong>den</strong> Amerikanern<br />

quasi die Spielregeln <strong>für</strong> <strong>den</strong> Aufbau des Dienstes diktiert. Nur wenige Generale der Wehrmacht<br />

mögen am Bild der sauber kämpfen<strong>den</strong> Truppe, die durch politisches Vabanque <strong>in</strong> <strong>den</strong> Ru<strong>in</strong><br />

geführt wurde, so erfolgreich gefeilt haben wie Erich von Manste<strong>in</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en „Verlorenen Siegen“.<br />

Ganz sicher aber hat es ke<strong>in</strong> anderer so gut verstan<strong>den</strong>, um sich herum e<strong>in</strong>en Schleier des Geheimnisses<br />

aufzubauen wie Re<strong>in</strong>hard Gehlen, der seit 1942 im Generalstab des Heeres die Abteilung<br />

„Fremde Heere Ost“ geleitet hatte und nach Kriegsende bis 1968 an der Spitze der OG und des BND<br />

stand. Besonders die Gründungsgeschichte der OG ersche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> Gehlens Memoiren als Deal zwischen<br />

Amerikanern und – gleichberechtigten – deutschen Offizieren.<br />

Erst <strong>in</strong> <strong>den</strong> vergangenen Jahren brachten freigegebene Akten neue Kenntnisse ans Licht und zogen<br />

weitere Publikationen nach sich. [1] So hat Wolfgang Krieger auf der Grundlage der amerikanischen<br />

Aktenedition <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Aufsatz die entschei<strong>den</strong>de Rolle des amerikanischen Militärs und der nachrichtendienstlichen<br />

Community <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton hervorgehoben. [2] In se<strong>in</strong>er Magisterarbeit folgt Jens<br />

Wegener diesem Pfad. Er stützt sich neben der noch immer überschaubaren Literatur vor allem auf<br />

Quellen aus <strong>den</strong> National Archives <strong>in</strong> Maryland. In se<strong>in</strong>em schmalen Bändchen wird aus der vornehmlich<br />

deutschen Saga Gehlens e<strong>in</strong>e sehr amerikanische Geschichte, welche die Gründung der


80 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

OG <strong>in</strong> gelungener Weise <strong>in</strong> die Entnazifizierungs- und Entmilitarisierungspolitik sowie die unterschiedlichen<br />

Konzeptionen nachrichtendienstlicher Tätigkeit gegen die Sowjets e<strong>in</strong>bettet.<br />

Während Gehlen mit e<strong>in</strong>igen se<strong>in</strong>er Mitarbeiter im August 1945 zu Verhören <strong>in</strong> die USA aus-<br />

geflogen wurde, begann schon im Spätsommer dieses Jahres durch deutsche Wehrmachtoffiziere die<br />

Informationsbeschaffung aus der Sowjetischen Besatzungszone – unter Leitung der U.S. Army. Hermann<br />

Baun, e<strong>in</strong> des Russischen mächtiger Profi der früheren deutschen UdSSR-Aufklärung, führte<br />

auf deutscher Seite die Offiziersgruppe. Doch die Interessen der Amerikaner waren durchaus widersprüchlich.<br />

Während die Army und <strong>in</strong> der ersten Berl<strong>in</strong>krise alsbald auch die Air Force schnell<br />

Kenntnisse zum Streitkräftedispositiv der Sowjets und deren taktisch-operativen Möglichkeiten erlangen<br />

wollten, misstraute die Heeresspionageabwehr <strong>den</strong> deutschen Offizieren. Das nicht etwa vorrangig,<br />

weil dort Nazis saßen – das CIC kooperierte selbst zum Beispiel mit dem ehemaligen Gestapo-<br />

Chef von Lyon, Klaus Barbie. Vielmehr wollte man unmittelbar nach dem Krieg ke<strong>in</strong>en offensiv<br />

agieren<strong>den</strong> deutschen Geheimdienst unter amerikanischer Flagge gegen <strong>den</strong> sowjetischen Kriegsalliierten<br />

<strong>in</strong> Stellung br<strong>in</strong>gen. Die hohe Zahl von Wehrmachtoffizieren gab Anlass zu der Sorge, dass <strong>in</strong><br />

Pullach der deutsche Generalstab verdeckt überlebte. Die neu gegründete zivile Central Intelligence<br />

Group, aus der 1947 die Central Intelligence Agency (CIA) hervorg<strong>in</strong>g, teilte zunächst solche Vorbehalte<br />

und erkannte zu Recht, dass <strong>in</strong> Pullach zwei Projekte parallel liefen: Denn <strong>in</strong> der Tat versammelte<br />

Gehlen um sich ehemalige Generalstabsoffiziere, die bei Weitem nicht alle e<strong>in</strong>en nachrichtendienstlichen<br />

H<strong>in</strong>tergrund besaßen. Damit bildete der Aufklärungsdienst zugleich e<strong>in</strong> Reservoir<br />

<strong>für</strong> <strong>den</strong> vorerst nicht absehbaren, bei <strong>den</strong> Offizieren aber <strong>für</strong> früher oder später wahrsche<strong>in</strong>lich<br />

gehaltenen Wiederaufbau e<strong>in</strong>er bewaffneten deutschen Macht.<br />

Entschei<strong>den</strong>d aus amerikanischer Sicht war allerd<strong>in</strong>gs, dass die CIA als ziviler Geheimdienst an<br />

politisch-strategischem Wissen und nicht an militärischen Fakten aus der Graswurzelperspektive<br />

<strong>in</strong>teressiert war. Doch als 1946/47 deutlich wurde, dass sich die Sowjetunion zum weltpolitischen<br />

Gegenspieler wandelte, begannen auch die US-Geheimdienste allmählich, die militärischen Kenntnisse<br />

von Gehlens Leuten zu schätzen. Wichtiger noch, die Agency erkannte die Möglichkeit, mit<br />

<strong>den</strong> Informationen aus deutscher Hand die eigene Stellung gegenüber dem State Department wesentlich<br />

zu verbessern und mit dem militärischem Sachverstand des deutschen Dienstes auch gegenüber<br />

dem Pentagon zu punkten. Die Army musste dagegen e<strong>in</strong>sehen, dass die Kosten <strong>für</strong> die Pullacher<br />

Aufklärer längst die eigenen f<strong>in</strong>anziellen Möglichkeiten überstiegen: Für das F<strong>in</strong>anzjahr 1950 beanspruchten<br />

die Deutschen e<strong>in</strong> Budget von 12 Millionen Dollar, <strong>in</strong> Europa stan<strong>den</strong> der Army <strong>für</strong> diese<br />

sogenannten G2-Geschäfte aber überhaupt nur 2,6 Millionen Dollar zur Verfügung. Im Juli 1949<br />

schließlich übernahm die CIA nach längerem R<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton <strong>den</strong> deutschen Aufklärungsdienst.<br />

Wegeners Arbeit br<strong>in</strong>gt mehr Licht <strong>in</strong> das Dunkel der frühen Jahre der „Organisation Gehlen“ –<br />

e<strong>in</strong> Name, der erst im Nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> von dem CIA-Berater James Critchfield Ende 1948 geprägt wurde,<br />

nicht von der U.S. Army und nicht von Gehlen selbst. Dessen Geschick, sich gegenüber se<strong>in</strong>em <strong>in</strong>ternen<br />

Konkurrenten Baun durchzusetzen, die Zügel <strong>in</strong>nerhalb des Dienstes <strong>in</strong> der Hand zu halten<br />

und sich im politischen Bonn als der richtige Mann <strong>für</strong> die Leitung der westdeutschen Spionage zu<br />

positionieren, bleibt unbestritten. Aber zwischen 1945 und 1949 war er nicht das masterm<strong>in</strong>d, das<br />

über das Schicksal des Dienstes bestimmte, wie es Gehlen später selbst gerne darstellte. Er profitierte<br />

allerd<strong>in</strong>gs von der <strong>in</strong>neramerikanischen Kontroverse um Kontrolle und Zukunft des deutschen<br />

Apparates.<br />

E<strong>in</strong>e Reihe von naheliegen<strong>den</strong> Schlussfolgerungen führt <strong>den</strong> Autor zu neuen Interpretationen auch<br />

im Detail. Die quellengestützte Beweisführung muss hier und da noch ausgeweitet wer<strong>den</strong>, das<br />

Thema ist nicht ausgeschöpft. Aber um zu verstehen, was sich <strong>in</strong> Pullach abspielte, muss der Historiker<br />

künftig verstärkt darauf achten, was eigentlich h<strong>in</strong>ter <strong>den</strong> Kulissen <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton geschah.<br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


81 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Anmerkungen:<br />

[1] Vgl. Donald Steury (ed.): On the Front L<strong>in</strong>es of the Cold War. Documents on the Intelligence<br />

War <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, 1946 to 1961. Wash<strong>in</strong>gton (D.C.) 1999; James H. Critchfield: Partners at the<br />

Creation. The Men Beh<strong>in</strong>d Postwar Germany’s Defense and Intelligence Establishment, Anna-<br />

polis 2003; Timothy Naftali: Re<strong>in</strong>hard Gehlen and the United States, <strong>in</strong>: Richard Breitmann (et<br />

al.): U.S. Intelligence and the Nazis, Wash<strong>in</strong>gton (D.C.) 2004, 375-418.<br />

[2] Vgl. Wolfgang Krieger: US patronage of German postwar <strong>in</strong>telligence, <strong>in</strong>: Loch K. Johnson<br />

(ed.): Handbook of Intelligence Studies, London/New York 2007, 91-102.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


Stefan Zahlmann: Autobiographische Verarbeitungen gesellschaftlichen Scheiterns. Die Eliten<br />

der amerikanischen Südstaaten nach 1865 und der DDR nach 1989, Köln/Weimar/Wien:<br />

Böhlau 2009, 347 S., ISBN 978-3-412-20288-0, EUR 42,90<br />

Rezensiert von Arnd Bauerkämper<br />

Berl<strong>in</strong>er Kolleg <strong>für</strong> Vergleichende Geschichte Europas<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 9<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/09/15914.html<br />

Die Auswirkungen politischer Umbrüche auf Lebensverläufe<br />

und Lebensentwürfe s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> Grundproblem kultur-, sozial-<br />

und geschichtswissenschaftlicher Forschung. Das Scheitern<br />

der amerikanischen Südstaaten (Confederate States of America,<br />

CSA), mit der Sezession von der Union ihre politische und<br />

ökonomische Selbständigkeit zu sichern, im Bürgerkrieg<br />

(1861–1865) und der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik<br />

(nach Artikel 23 des Grundgesetzes) konfrontierten die jeweiligen<br />

Eliten mit der Herausforderung, die entsprechen<strong>den</strong><br />

Transformationen zu bewältigen. Sowohl <strong>in</strong> <strong>den</strong> Vere<strong>in</strong>igten<br />

Staaten nach 1865 als auch <strong>in</strong> Deutschland nach der Wiedervere<strong>in</strong>igung<br />

1990 setzten sich die Führungsgruppen auch autobiografisch<br />

mit dem Scheitern ihrer biografischen Projekte<br />

ause<strong>in</strong>ander. Dem Vergleich dieser Prozesse ist das Buch gewidmet,<br />

mit dem Stefan Zahlmann e<strong>in</strong>e überarbeitete Fassung<br />

se<strong>in</strong>er Habilitationsschrift vorgelegt hat.<br />

Der Autor, der bereits mit Studien zum (auto-)biografischen<br />

Umgang mit Umbrüchen hervorgetreten ist, vergleicht die autobiografischen<br />

Er<strong>in</strong>nerungen der Führungskräfte aus <strong>den</strong> Südstaaten und aus Ostdeutschland und unterscheidet<br />

dabei zwischen <strong>den</strong> „alten Eliten“, die <strong>in</strong> <strong>den</strong> CSA und <strong>in</strong> der DDR maßgeblich und regelmäßig<br />

an Entscheidungen mitgewirkt hatten, <strong>den</strong> „Gegeneliten“, <strong>den</strong>en diese Beteiligung verwehrt<br />

wor<strong>den</strong> war, und <strong>den</strong> „neuen Eliten“, die aus <strong>den</strong> CSA und der DDR stammten und im vere<strong>in</strong>igten<br />

Amerika und Deutschland verantwortliche Positionen mit gesamtgesellschaftlichem E<strong>in</strong>fluss übernahmen.<br />

Diese Anlage der Untersuchung vermag e<strong>in</strong>erseits die Genese und <strong>den</strong> Wandel autobiografischer<br />

Er<strong>in</strong>nerungskulturen komparativ nachzuzeichnen und zu erklären. Dabei weisen nicht nur die Konstellationen<br />

deutliche Ähnlichkeiten auf, sondern auch die Themen der mit dem Scheitern verbun<strong>den</strong>en<br />

Reflexionen, so die Sklaverei und der „Sozialismus“ als offizielle Selbstzuschreibungen <strong>in</strong> <strong>den</strong> CSA<br />

bzw. <strong>in</strong> der DDR und die Darstellung des Nor<strong>den</strong>s bzw. Westens <strong>in</strong> <strong>den</strong> bei<strong>den</strong> Räumen.<br />

Andererseits ist der Vergleich nicht nur asynchron, sondern auch ansonsten überaus komplex. Die<br />

Südstaaten hatten sich zwar bereits vor dem Bürgerkrieg besonders h<strong>in</strong>sichtlich ihrer sozioökonomischen<br />

Struktur deutlich vom Nor<strong>den</strong> der USA unterschie<strong>den</strong> und <strong>in</strong> der Ause<strong>in</strong>andersetzung mit der<br />

Gesetzgebung der Bundesregierung auf der e<strong>in</strong>zelstaatlichen Souveränität bestan<strong>den</strong>. Sie hatten sich


83 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

aber erst 1860/61 von <strong>den</strong> USA getrennt. Schon vier Jahre später konnten die siegreichen Nordstaaten<br />

diese Sezession zurücknehmen. Demgegenüber bestand die DDR vier Jahrzehnte. Zudem konnte<br />

Zahlmann <strong>für</strong> die DDR nur die Jahre von 1990 bis 2004 berücksichtigten, während der untersuchte<br />

Zeitraum <strong>für</strong> die CSA mit 56 Jahren (1866–1922) sehr viel umfassender ist. Wenn man berücksichtigt,<br />

dass – wie der Autor selbst betont – <strong>in</strong> <strong>den</strong> USA die tiefen Gegensätze und markanten Unterschiede<br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong> autobiografischen Er<strong>in</strong>nerungskulturen erst im frühen 20. Jahrhundert zugunsten e<strong>in</strong>es<br />

Konsenses zurückgetreten s<strong>in</strong>d, ist dieser Umstand bei e<strong>in</strong>er vergleichen<strong>den</strong> Betrachtung umfassend<br />

<strong>in</strong> Rechnung zu stellen. Diese Probleme des Vergleichs wer<strong>den</strong> <strong>in</strong> dem Buch, <strong>in</strong> dem die historische<br />

E<strong>in</strong>ordnung <strong>in</strong>sgesamt unterbelichtet bleibt, nicht h<strong>in</strong>reichend berücksichtigt, sodass die Befunde mit<br />

erheblichen Vorbehalten zu <strong>in</strong>terpretieren s<strong>in</strong>d.<br />

Dennoch gel<strong>in</strong>gen Zahlmann <strong>in</strong>struktive E<strong>in</strong>sichten. So löste der staatliche Zusammenbruch <strong>in</strong><br />

<strong>den</strong> Vere<strong>in</strong>igten Staaten und <strong>in</strong> der DDR Er<strong>in</strong>nerungskonflikte aus, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en sich die alten Eliten<br />

verteidigten, aber auch die neuen Eliten nach Repräsentativität und Verb<strong>in</strong>dlichkeit ihrer spezifischen<br />

autobiografischen Reflexionen strebten. Damit sollte jeweils die Er<strong>in</strong>nerungskultur der Vere<strong>in</strong>igungsgesellschaft<br />

geprägt wer<strong>den</strong>. Die autobiografischen Texte bewirkten deshalb gleichermaßen<br />

e<strong>in</strong>e „E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung der <strong>in</strong>dividuellen Biographie <strong>in</strong> das Schicksal e<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>schaft und zugleich die<br />

Historisierung der eigenen Er<strong>in</strong>nerung als Teil e<strong>in</strong>er national erlebten geschichtlichen Entwicklung.“<br />

[67])<br />

Auch darüber h<strong>in</strong>aus treten frappierende Ähnlichkeiten der autobiografischen Er<strong>in</strong>nerungen hervor.<br />

So war aus der Sicht der alten Eliten mit <strong>den</strong> CSA bzw. der DDR zwar der Staat, <strong>in</strong> dem sie Leitungsfunktionen<br />

übernommen hatten, gescheitert, ke<strong>in</strong>esfalls aber ihrem biografischen Anliegen<br />

nachhaltig der Bo<strong>den</strong> entzogen wor<strong>den</strong>. Vielmehr hofften die alten Eliten auf e<strong>in</strong> günstiges Urteil<br />

künftiger Generationen. Individuelles oder kollektives Scheitern war <strong>in</strong> <strong>den</strong> autobiografischen Rückblicken<br />

nicht vorgesehen. Es bleibt aber zu prüfen, ob und <strong>in</strong>wiefern Erkenntnisse der psychologischen<br />

Forschung über Traumata und Verdrängung zur Interpretation dieser Befunde beizutragen<br />

vermögen.<br />

Wie Zahlmann aber überzeugend erläutert, ban<strong>den</strong> auch die Gegeneliten ihren Kampf um die<br />

„Sache“ an ihre <strong>in</strong>dividuelle Biografie. Allerd<strong>in</strong>gs verteidigten sie nicht jeweils e<strong>in</strong>en separaten<br />

Staat, sondern universale Normen und Werte wie Gerechtigkeit. Diese Autoren kritisierten deshalb<br />

die Führungen der untergegangenen CSA bzw. DDR. Alte Eliten, die auch <strong>in</strong> der vere<strong>in</strong>igten Gesellschaft<br />

Führungspositionen e<strong>in</strong>nahmen, und Vertreter der neuen Eliten beklagten die Distanzierung<br />

der alten Eliten von der jeweiligen Bevölkerung und die von ihnen betriebene Spaltung der Nation.<br />

Damit wandten sie sich gegen e<strong>in</strong>e enge Interessenpolitik, ohne aber die „Sache“ des „Sozialismus“<br />

oder der e<strong>in</strong>zelstaatlichen Souveränität gegenüber der deutschen oder amerikanischen Bundesregierung<br />

aufzugeben.<br />

Die auffallen<strong>den</strong> Ähnlichkeiten der autobiografischen Er<strong>in</strong>nerungskulturen <strong>in</strong> <strong>den</strong> Südstaaten<br />

nach 1865 und <strong>in</strong> Ostdeutschland im Anschluss an die Wiedervere<strong>in</strong>igung erklärt der Verfasser unmittelbar<br />

nachvollziehbar mit der „Gleichartigkeit der Praktiken, e<strong>in</strong> solches Ereignis kulturell zu<br />

verarbeiten: Die enge Beziehung zwischen Er<strong>in</strong>nerungsmedium, er<strong>in</strong>nern<strong>den</strong> Personen und er<strong>in</strong>nertem<br />

Ereignis lassen e<strong>in</strong> spezifisches Verhältnis erkennen, das zwischen e<strong>in</strong>em kulturellen Gedächtnis<br />

und der historischen Situation der westlichen Moderne besteht, <strong>in</strong> der es realisiert wird.“ (291) In<br />

<strong>den</strong> skizzierten drei Typen von Texten waren autobiografische Form, der Stellenwert des Scheiterns<br />

und die Bewertung der vere<strong>in</strong>igten Gesellschaften eng mite<strong>in</strong>ander verschränkt.<br />

Dabei vollzog sich <strong>in</strong> <strong>den</strong> Südstaaten und <strong>in</strong> Ostdeutschland nach 1865 bzw. 1990 zunächst e<strong>in</strong>e<br />

„Versachlichung“, mit der die alten Eliten und Gegeneliten die Bedeutung ihres Scheiterns zu relativieren<br />

bestrebt waren, bevor diese Führungsgruppen <strong>den</strong> Zerfall der Staaten, mit <strong>den</strong>en sie sich i<strong>den</strong>tifiziert<br />

hatten, biografisch zugunsten der Gründung der CSA bzw. der DDR verdrängten. In e<strong>in</strong>em<br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


84 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

weiteren Stadium neutralisierten die Vertreter der neuen Eliten das Scheitern ihrer Reform- und Erneuerungsprojekte<br />

im Rahmen der Zweistaatlichkeit, <strong>in</strong>dem sie auf die Vorzüge der Vere<strong>in</strong>igungsgesellschaften<br />

verwiesen. Wie angedeutet, ist aber auch der Phasenvergleich schwierig, da sich<br />

die Abfolge autobiografischer „Versachlichung“, „Biographisierung“ und „Neutralisierung“ (292)<br />

des Scheiterns z.T. auf unterschiedliche Führungsgruppen bezieht.<br />

Stefan Zahlmanns Monografie zeigt exemplarisch, dass auch die komparative Untersuchung sehr<br />

unterschiedlicher Gesellschaften und Kulturen <strong>in</strong>struktive, neue Befunde erbr<strong>in</strong>gen, weiterführende<br />

E<strong>in</strong>sichten vermitteln und damit der Forschung erhebliche Impulse vermitteln kann. Allerd<strong>in</strong>gs treten<br />

<strong>in</strong> dem Buch dabei die spezifischen Kontexte <strong>in</strong>sgesamt zu sehr <strong>in</strong> <strong>den</strong> H<strong>in</strong>tergrund. Überdies<br />

verdienen Transfers gerade <strong>in</strong> asynchron vergleichen<strong>den</strong> Studien besondere Aufmerksamkeit, <strong>den</strong>n<br />

die später leben<strong>den</strong> Akteure hatten die Möglichkeit, vorangegangene Prozesse wahrzunehmen, aufzugreifen<br />

oder aus ihnen zu lernen. Auch wenn die ostdeutschen Eliten die autobiografischen Er<strong>in</strong>nerungen<br />

der Führungsgruppen <strong>in</strong> <strong>den</strong> Südstaaten der USA offenbar von 1990 bis 2004 nicht systematisch<br />

studiert und direkt aufgenommen oder explizit zurückgewiesen haben, bleibt die Verflechtungsgeschichte<br />

autobiografischer Verarbeitungen gesellschaftlichen Scheiterns e<strong>in</strong> Forschungsdesiderat.<br />

Insgesamt hat Stefan Zahlmanns Buch die kultur-, geschichts- und literaturwissenschaftliche<br />

Forschung zum Umgang mit e<strong>in</strong>schnei<strong>den</strong><strong>den</strong> politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen durch<br />

wichtige Erkenntnisse und kräftige Impulse bereichert.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Länder- und epochenübergreifende Darstellungen


Erster Weltkrieg und Weimarer Republik<br />

Ralph Bless<strong>in</strong>g: Der mögliche Frie<strong>den</strong>. Die Modernisierung der Außenpolitik und die deutschfranzösischen<br />

Beziehungen 1923–1929, München: Ol<strong>den</strong>bourg 2008, 507 S., ISBN 978-3-486-<br />

58027-3, EUR 59,80<br />

Rezensiert von Wolfgang Elz<br />

Johannes Gutenberg-Universität, Ma<strong>in</strong>z<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 2<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/02/11526.html<br />

Bless<strong>in</strong>gs überarbeitete Dissertation (Humboldt-Universität<br />

Berl<strong>in</strong>) bietet zweierlei. Auf der ersten Ebene liefert sie e<strong>in</strong>e<br />

sehr detaillierte und die Ereignisabläufe gelegentlich auch breit<br />

schildernde Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen<br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong> mittleren Jahren der Weimarer Republik (unter E<strong>in</strong>beziehung<br />

der Vorgeschichte seit dem Ende des Ersten Weltkriegs<br />

und mit e<strong>in</strong>em Ausgriff auf das Jahr 1930). Um es also<br />

an e<strong>in</strong>igen markanten Punkten festzumachen: Es geht um die<br />

Ruhrbesetzung und <strong>den</strong> „Ruhrkampf“ von 1923, <strong>den</strong> Dawesplan<br />

von 1924, die Locarnoverträge von 1925, <strong>den</strong> deutschen<br />

Völkerbundbeitritt und das Gespräch von Thoiry von 1926,<br />

<strong>den</strong> deutsch-französischen Handelsvertrag von 1927, <strong>den</strong><br />

Briand-Kellogg-Pakt von 1928, <strong>den</strong> Youngplan von 1929,<br />

Briands Europa<strong>in</strong>itiative von 1929/30. Schon die Beispiele<br />

zeigen, dass Bless<strong>in</strong>g dabei an vielen Stellen die zum Verständnis<br />

unverzichtbaren Grundl<strong>in</strong>ien der Beziehungen beider<br />

Staaten zu Großbritannien und <strong>den</strong> USA e<strong>in</strong>beziehen muss.<br />

Im Bereich der deutsch-französischen Beziehungen ist bereits<br />

viel erforscht und veröffentlicht wor<strong>den</strong> und somit das<br />

meiste nicht ganz unbekannt. Bless<strong>in</strong>g kann jedoch durch se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive Auswertung der <strong>für</strong> die<br />

betreffen<strong>den</strong> Jahre immer noch nicht veröffentlichten französischen Akten die e<strong>in</strong>e oder andere<br />

Facette h<strong>in</strong>zufügen und damit vor allem das französische Handeln <strong>in</strong> manchen Punkten plausibler<br />

machen. Zwei Handlungsfelder hat er dabei im Blick: Das außenpolitische Agieren im engeren S<strong>in</strong>ne<br />

und die Außenwirtschaftspolitik. Die gesellschaftlichen Beziehungen und deren Auswirkungen auf<br />

die Politik, die <strong>in</strong> <strong>den</strong> letzten Jahren wiederholt <strong>in</strong> der Forschung Berücksichtigung fan<strong>den</strong>, übersieht<br />

er nicht völlig, aber sie wer<strong>den</strong> nur am Rande gestreift. Leider m<strong>in</strong>dert Bless<strong>in</strong>g die Nutzung des<br />

Buches als Nachschlagewerk <strong>für</strong> <strong>den</strong>jenigen, der es lediglich <strong>für</strong> e<strong>in</strong>zelne Fragestellungen der deutschfranzösischen<br />

politischen Beziehungen jener Jahre konsultieren will, weil er sich auf e<strong>in</strong> Personenregister<br />

beschränkt und das bei der ausgebreiteten Materialfülle an sich unverzichtbare Sachregister<br />

fehlt.


86 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Auf e<strong>in</strong>er zweiten Ebene sucht Bless<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>e Antwort auf die Frage, ob und <strong>in</strong>wieweit sich die<br />

„Modernisierung“ der Außenpolitik <strong>in</strong> Frankreich und Deutschland durchgesetzt und auf die Beziehungen<br />

ausgewirkt bzw. was ihr noch gefehlt habe, um nach 1929 nicht gleich wieder zum Scheitern<br />

der Verständigung zu führen. „Modernisierung“ wird dabei <strong>in</strong> Anlehnung an Schumpeter als Prozess<br />

verstan<strong>den</strong>, der Innovationen umsetzt; im konkreten Fall bezieht sich das auf das „liberale Modell<br />

der Frie<strong>den</strong>ssicherung“ (15), dessen drei Hauptl<strong>in</strong>ien „kollektive Sicherheit, wirtschaftliche Liberalisierung<br />

und Demokratisierung“ darstellen (180). Zum Ende e<strong>in</strong>es je<strong>den</strong> e<strong>in</strong>zelnen Abschnitts wird –<br />

e<strong>in</strong> wenig mechanisch – danach gefragt, <strong>in</strong>wieweit das jeweils Beschriebene nun der Modernisierung<br />

im erläuterten S<strong>in</strong>ne geholfen habe, wobei ganz überwiegend die Sicherheitsfrage und der Aspekt<br />

der wirtschaftlichen Liberalisierung Berücksichtigung f<strong>in</strong><strong>den</strong>, während offenbar „Demokratisierung“<br />

als gegeben angenommen wird.<br />

Dieses methodische Herangehen ist natürlich völlig legitim und von der Idee her nicht ohne Reiz:<br />

Die deutsch-französischen Beziehungen <strong>in</strong> <strong>den</strong> mittleren Jahren der Weimarer Republik und das<br />

Handeln der Hauptakteure dürften <strong>in</strong>zwischen h<strong>in</strong>reichend beschrieben se<strong>in</strong>, sodass wohl nur noch<br />

neue Fragestellungen auch neue Erkenntnisse erhoffen lassen. Aber bei Bless<strong>in</strong>gs Umsetzung kommt<br />

doch e<strong>in</strong> wenig Zweifel an der Tragfähigkeit se<strong>in</strong>es konzeptionellen Herangehens auf. Das mag an<br />

e<strong>in</strong>em Aspekt erläutert wer<strong>den</strong>: Immer wieder steht bei ihm auf der e<strong>in</strong>en Seite das französische<br />

Sicherheitsstreben, auf der anderen Seite der deutsche Revisionismus. Das ist an sich nichts Neues<br />

und wird grosso modo auch von der bisherigen Forschung zu <strong>den</strong> deutsch-französischen Beziehungen<br />

<strong>in</strong> der Zeit der Weimarer Republik so gesehen. Nun sche<strong>in</strong>t jedoch <strong>für</strong> Bless<strong>in</strong>g das französische<br />

Sicherheitsstreben nicht grundsätzlich der Modernisierung entgegenzustehen, sofern es sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />

System kollektiver Sicherheit habe <strong>in</strong>tegrieren lassen – während der deutsche Revisionismus offenbar<br />

damit strukturell nicht vere<strong>in</strong>bar gewesen se<strong>in</strong> soll. Diese E<strong>in</strong>schätzung hängt wohl damit zusammen,<br />

dass der Autor offenbar <strong>den</strong> Versailler Vertrag <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e geeignete Basis oder je<strong>den</strong>falls e<strong>in</strong>en<br />

h<strong>in</strong>reichen<strong>den</strong> Ausgangspunkt <strong>für</strong> e<strong>in</strong> System kollektiver Sicherheit hält. Dies wird besonders<br />

deutlich, wo er – ohne das wirklich beweisen zu können – <strong>in</strong>s<strong>in</strong>uiert, Po<strong>in</strong>caré sei es 1923 mit der<br />

Ruhrbesetzung möglicherweise nur um die strikte E<strong>in</strong>haltung des Versailler Vertrags und damit um<br />

<strong>den</strong> Erhalt „e<strong>in</strong>es festgelegten Rechtssystems“ (138) gegangen, also sei se<strong>in</strong> Vorgehen letztlich „modernisierend“<br />

gewesen.<br />

Aber was wäre das <strong>für</strong> e<strong>in</strong> stabiles „System kollektiver Sicherheit“, <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>e Seite auf dasjenige<br />

verzichtet, was sie <strong>für</strong> ihre nationalen Interessen hält, während die andere Seite ihr nationales Anliegen<br />

erfüllt sieht? Muss nicht auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em solchen System e<strong>in</strong> Mechanismus <strong>für</strong> <strong>den</strong> Interessenausgleich<br />

wirken, um überhaupt erst kollektive Sicherheit zu ermöglichen? E<strong>in</strong> hartgesottener Vertreter<br />

der „realistischen Schule“ würde außerdem fragen: Kann es e<strong>in</strong>e solche kollektive Sicherheit bei<br />

grundlegend divergieren<strong>den</strong> Interessen <strong>in</strong>nerhalb des Systems überhaupt geben, sofern sie nicht (vorübergehend)<br />

von e<strong>in</strong>em Hegemon oktroyiert wird? Und schließlich e<strong>in</strong>e <strong>für</strong> <strong>den</strong> Historiker bei aller<br />

Theoriebildung stets mitzube<strong>den</strong>kende Frage: Inwieweit muss <strong>den</strong> e<strong>in</strong>zelnen Hauptakteuren, also<br />

<strong>den</strong> verantwortlichen Politikern (die bei Bless<strong>in</strong>g eher blass bleiben), eigentlich selbst der tatsächliche<br />

oder verme<strong>in</strong>tliche Widerspruch ihrer Interessenpolitik gegenüber <strong>den</strong> „modernen“ Ideen bewusst<br />

gewesen se<strong>in</strong>, damit die Fragestellung nicht <strong>in</strong> die Gefahr des Anachronismus gerät?<br />

Freilich zeigen solche Nachfragen an Bless<strong>in</strong>gs Studie <strong>den</strong> Wert se<strong>in</strong>er Suche nach neuen Fragestellungen<br />

– und wenn der Leser nicht auf Anhieb und restlos überzeugt ist, so bedeutet das doch<br />

ke<strong>in</strong>eswegs, dass diese Suche nach neuen Erkundungswegen nicht an sich wertvoll und erkenntnisfördernd<br />

wäre.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Erster Weltkrieg und Weimarer Republik


William Mulligan: The Creation of the Modern German Army. General Walther Re<strong>in</strong>hardt<br />

and the Weimar Republic, 1914–1930 (= Monographs <strong>in</strong> German History; Vol. 12), Oxford:<br />

Berghahn Books 2005, viii + 247 S., ISBN 978-1-57181-908-6, USD 70,00<br />

Rezensiert von Rüdiger Bergien<br />

Historisches <strong>Institut</strong>, Universität Potsdam<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 10<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/10/15484.html<br />

Der Name „Walther Re<strong>in</strong>hardt“ steht <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en der wenigen<br />

explizit republikanisch e<strong>in</strong>gestellten Reichswehroffiziere, <strong>für</strong><br />

<strong>den</strong> engen Mitarbeiter des Reichswehrm<strong>in</strong>isters Gustav Noske,<br />

<strong>für</strong> <strong>den</strong> e<strong>in</strong>zigen General, der am Morgen des 13. März 1920<br />

bewaffneten Widerstand gegen die auf Berl<strong>in</strong> marschierende<br />

Mar<strong>in</strong>ebrigade Ehrhardt forderte. Die Weimarforschung stilisierte<br />

Re<strong>in</strong>hardt zur rühmlichen Ausnahme <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er<br />

überwiegend republikfe<strong>in</strong>dlichen und revisionistischen militärischen<br />

Elite. Positionen und Aktionen Re<strong>in</strong>hardts, die sich<br />

mit diesem Bild weniger gut <strong>in</strong> Übere<strong>in</strong>stimmung br<strong>in</strong>gen<br />

ließen, wur<strong>den</strong> eher ausgeblendet: Beispielsweise se<strong>in</strong> E<strong>in</strong>treten<br />

<strong>für</strong> e<strong>in</strong>en preußisch-deutschen „Oststaat“ [1], von dem aus<br />

im Sommer 1919 der „Endkampf“ gegen die Alliierten geführt<br />

wer<strong>den</strong> sollte, oder die von ihm als Befehlshaber des<br />

Wehrkreises V betriebene militärische Intervention gegen die<br />

thür<strong>in</strong>gische SPD-KPD-Regierung im Herbst 1923.<br />

Der <strong>in</strong> Dubl<strong>in</strong> lehrende Historiker William Mulligan hat<br />

sich der Rolle des Generals Walther Re<strong>in</strong>hardt <strong>in</strong> der Weimarer<br />

Republik angenommen. Den größten Teil der Darstellung nehmen die Monate zwischen der Novemberrevolution<br />

1918 und dem Kapp-Lüttwitz-Putsch 1920 e<strong>in</strong>, also die Zeit, <strong>in</strong> der Re<strong>in</strong>hardt als letzter<br />

preußischer Kriegsm<strong>in</strong>ister und als Chef der Heeresleitung über besonderen politischen E<strong>in</strong>fluss<br />

verfügte. Mulligans kompakte Studie kann jedem und jeder an der Epoche Interessierten empfohlen<br />

wer<strong>den</strong>. Denn es gel<strong>in</strong>gt dem Autor nicht nur, die verme<strong>in</strong>tlichen Inkonsistenzen im Denken und<br />

Handeln Re<strong>in</strong>hardts plausibel zu machen. Indem er die Gründungsphase der Republik aus der Perspektive<br />

e<strong>in</strong>es von der Forschung vernachlässigten, gleichwohl an entschei<strong>den</strong>der Stelle tätigen<br />

Akteurs <strong>in</strong> <strong>den</strong> Blick nimmt, eröffnet er zugleich e<strong>in</strong>e neue, weiterführende Perspektive auf diese so<br />

„durchforschte“ Gründungsphase der Weimarer Republik.<br />

Die Vorkriegsbiografie se<strong>in</strong>es Protagonisten streift Mulligan nur knapp, die Quellenlage setzt hier<br />

enge Grenzen. Immerh<strong>in</strong> kann er nachweisen, dass dem <strong>in</strong> der württembergischen Armee dienen<strong>den</strong><br />

Re<strong>in</strong>hardt bereits vor 1914 der Ruf e<strong>in</strong>es „L<strong>in</strong>ken“ (und sogar der e<strong>in</strong>es Philosemiten) anhaftete.<br />

Zwar konnte e<strong>in</strong> Offizier im Wilhelm<strong>in</strong>ismus schon als l<strong>in</strong>ks gelten, wenn er sich der Sozialdemokratie<br />

gegenüber nicht völlig ablehnend zeigte und viel weiter g<strong>in</strong>gen Re<strong>in</strong>hardts „l<strong>in</strong>ke“ Positionen<br />

offenbar auch nicht. Nichtsdestoweniger, im Dezember 1918 erwies sich diese Zuschreibung als<br />

Vorteil: Sie machte Re<strong>in</strong>hardt, seit November bereits Leiter der Demobilmachungsabteilung im


88 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

preußischen Kriegsm<strong>in</strong>isterium, zu e<strong>in</strong>em akzeptablen Nachfolger des preußischen Kriegsm<strong>in</strong>isters<br />

He<strong>in</strong>rich Scheüch.<br />

Für <strong>den</strong> Rat der Volksbeauftragten erwies sich Re<strong>in</strong>hardt als e<strong>in</strong>e gute Wahl; durch se<strong>in</strong>e Flexibilität<br />

und Kompromissfähigkeit nahm er etwa <strong>den</strong> im Offizierkorps berüchtigten „Hamburger Punkten“<br />

ihre revolutionäre Spitze. Zugleich besaß Re<strong>in</strong>hardt e<strong>in</strong>en ausgeprägten politischen Gestaltungswillen<br />

und wurde <strong>in</strong> mehr als e<strong>in</strong>er H<strong>in</strong>sicht zum „Creator of the modern German army“.<br />

So übte Re<strong>in</strong>hardt maßgeblichen E<strong>in</strong>fluss auf die Formulierung des Reichswehrgesetzes vom<br />

5. März 1919 aus. Gegen <strong>den</strong> Widerstand Bayerns und Württembergs verwirklichte er se<strong>in</strong>e Vorstellung<br />

e<strong>in</strong>es zentralen Reichswehrm<strong>in</strong>isteriums (was das Ende der preußischen, bayerischen, sächsischen<br />

und württembergischen Kriegsm<strong>in</strong>isterien bedeutete). Schließlich setzte er im Sommer 1919<br />

se<strong>in</strong>e Version von der künftigen militärischen Spitzenorganisation durch: Die neu geschaffene (und<br />

seit dem Herbst 1919 von ihm selbst besetzte) Position des Chefs der Heeresleitung komb<strong>in</strong>ierte die<br />

militärische Kommandogewalt über das Heer mit der Befehlsgewalt über die Heeresverwaltung und<br />

bedeutete dadurch e<strong>in</strong>en Bruch mit der Kommandostruktur des Kaiserreichs. Re<strong>in</strong>hardt, und nicht<br />

etwa Seeckt – dessen Gegenentwurf anstelle des Chefs der Heeresleitung e<strong>in</strong>en starken Chef des<br />

Truppenamts vorgesehen hatte –, war der „erste Architekt der Reichswehr.“ [2]<br />

Se<strong>in</strong>e Bereitschaft, nach der Novemberrevolution 1918 mit <strong>den</strong> Vertretern der neuen Ordnung zu<br />

kooperieren, hatte dem im Jahre 1919 erst 47-jährigen Re<strong>in</strong>hardt also großen E<strong>in</strong>fluss auf die Gestaltung<br />

der neuen deutschen Armee verschafft, freilich um <strong>den</strong> Preis fehlen<strong>den</strong> Rückhalts im Offizierkorps,<br />

das ihm zu große Nachgiebigkeit gegenüber <strong>den</strong> „Sozialisten“ vorhielt. E<strong>in</strong>en Opportunisten<br />

wird man ihn jedoch nicht nennen können. Denn, so argumentiert Mulligan, Re<strong>in</strong>hardts Kooperation<br />

mit der „Republik“ war mehr als das Nutzen von Gelegenheiten, sie korrespondierte vielmehr auch<br />

mit se<strong>in</strong>en wehrpolitischen Leitbildern. Re<strong>in</strong>hardt gehörte, wie etwa Joachim von Stülpnagel, zu jenen<br />

Offizieren, die aus <strong>den</strong> neuen Formen des Krieges, wie sie sich im Ersten Weltkrieg manifestiert hatten,<br />

radikale Konsequenzen zogen. Künftige Kriege galten ihnen nur noch dann als führbar, wenn<br />

die Auflösung der Grenzen zwischen Militär und ziviler Gesellschaft bereits im Frie<strong>den</strong> vorweggenommen<br />

wurde. Das bedeutete, das gesamte „Volk“ als Träger der Kriegführung zu sehen, das<br />

bedurfte e<strong>in</strong>er „Wehrhaftmachung“ aller Bevölkerungsteile und das hieß, dass die „<strong>in</strong>nere E<strong>in</strong>heit“<br />

zwischen Armee, Volk und Regierung zu e<strong>in</strong>er Prämisse erfolgreicher Wehrpolitik wurde. Dieses<br />

Leitbild der <strong>in</strong>neren E<strong>in</strong>heit bildet <strong>den</strong> Schlüssel zu <strong>den</strong> nur auf <strong>den</strong> ersten Blick widersprüchlichen<br />

Positionierungen Re<strong>in</strong>hardts im ersten Jahrfünft der Weimarer Republik.<br />

Denn ausgehend von dem Primat der „<strong>in</strong>neren E<strong>in</strong>heit“ war die Kooperation mit der Sozialdemokratie,<br />

die 1918/19 die Mehrheit der Bevölkerung zu repräsentieren schien, ke<strong>in</strong>e Anbiederei, sondern<br />

militärische Notwendigkeit. Der Primat der E<strong>in</strong>heit und weniger e<strong>in</strong> „katastrophischer Nationalismus“<br />

ließ es Re<strong>in</strong>hardt im Juni 1919 geraten sche<strong>in</strong>en, <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Ablehnung des Versailler Vertrags<br />

e<strong>in</strong>zutreten, da aus se<strong>in</strong>er Sicht nur so e<strong>in</strong> Bruch der zivil-militärischen „E<strong>in</strong>heitsfront“[3] verh<strong>in</strong>dert<br />

wer<strong>den</strong> konnte.<br />

Der Wunsch, <strong>den</strong> Bruch zwischen Arbeiterschaft und Reichswehr zu vermei<strong>den</strong> (und weniger republikanische<br />

Überzeugungen), veranlasste ihn am Morgen des 13. März 1920, <strong>für</strong> <strong>den</strong> E<strong>in</strong>satz von<br />

Reichswehrtruppen gegen die Mar<strong>in</strong>ebrigade Ehrhardt e<strong>in</strong>zutreten. Se<strong>in</strong> Konfrontationskurs gegen<br />

die „Arbeiterregierung“ Frölich <strong>in</strong> Thür<strong>in</strong>gen im Herbst 1923 schließlich diente dem Ziel, weitere<br />

Erhebungen der radikalen Rechten zu verh<strong>in</strong>dern und zugleich die separatistischen Ten<strong>den</strong>zen <strong>in</strong> der<br />

bayerischen Staatsregierung e<strong>in</strong>zudämmen. Das Leitbild des gesamtgesellschaftlich zu führen<strong>den</strong><br />

Krieges, weniger politische Präferenzen, bildete die Matrix <strong>für</strong> das Handeln des Generals Walther<br />

Re<strong>in</strong>hardt.<br />

Ob man ihn deshalb mit Mulligan e<strong>in</strong>en „radikalen Militaristen“ [4] nennen will, sei dah<strong>in</strong> gestellt,<br />

e<strong>in</strong>en analytischen Mehrwert bietet diese (etwas zu häufig fallende) Bezeichnung je<strong>den</strong>falls<br />

Erster Weltkrieg und Weimarer Republik


89 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

nicht. Doch zweifellos leistet Mulligans Studie e<strong>in</strong>en wichtigen Beitrag zur Dekonstruktion jenes<br />

dichotomischen Bildes von <strong>den</strong> zivil-militärischen Beziehungen <strong>in</strong> der Weimarer Republik, dessen<br />

Vertreter von der Vorrangigkeit politischer Überzeugungen gegenüber der sozialen Praxis ausgehen.<br />

Tatsächlich waren Pragmatismus, Kosten-Nutzen-Erwägungen und Leitbilder wie das der „<strong>in</strong>neren<br />

E<strong>in</strong>heit“ <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Positionierung <strong>für</strong> oder gegen die Republik vielfach wichtiger als e<strong>in</strong>e demokratische<br />

oder antidemokratische Ges<strong>in</strong>nung – hier<strong>in</strong> unterschied sich das Militär der ersten nur wenig<br />

von dem der zweiten deutschen Demokratie.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Siehe hierzu noch immer grundlegend Hagen Schulze: Der Oststaat-Plan, <strong>in</strong>: Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong> 18 (1970), Nr. 2, 123-163.<br />

[2] Mulligan: The Creation of the Modern German Army, 134.<br />

[3] Der Begriff bei He<strong>in</strong>z Hürten: Der Kapp-Putsch als Wende: über Rahmenbed<strong>in</strong>gungen der<br />

Weimarer Republik seit dem Frühjahr 1920, Opla<strong>den</strong> 1989, 33f.<br />

[4] Mulligan: The Creation of the Modern German Army, bes. 13, 169.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Erster Weltkrieg und Weimarer Republik


Michael Schultheiß/Julia Roßberg (Hrsg.): Weimar und die Republik. Geburtsstunde<br />

e<strong>in</strong>es demokratischen Deutschlands, Weimar: Weimarer Verlagsgesellschaft 2009, 255 S.,<br />

ISBN 978-3-939964-45-2, EUR 19,90<br />

Rezensiert von Wolfgang Elz<br />

Ma<strong>in</strong>z<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 4<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/04/15804.html<br />

Auch wenn angesichts der aktuellen Banken- und Wirtschaftskrise<br />

so manchem Feuilletonisten derzeit schnell der Vergleich<br />

mit der 1929 e<strong>in</strong>setzen<strong>den</strong> Weltwirtschaftskrise aus der<br />

Feder fließt und ihm dabei assoziativ der Zusammenbruch der<br />

Demokratie <strong>in</strong> Deutschland e<strong>in</strong>fällt: Siebene<strong>in</strong>halb Jahrzehnte<br />

nach ihrem Untergang „qualmt“ die Geschichte der Weimarer<br />

Republik nicht mehr, wie man <strong>in</strong> Abwandlung e<strong>in</strong>es Zitats<br />

von Barbara Tuchman <strong>den</strong> Prozess beschreiben könnte, <strong>den</strong><br />

Zeithistoriker prosaischer „Historisierung“ nennen. Deswegen<br />

kann diese Republik heute auch eher nach ihren positiven<br />

Seiten und ihren Chancen befragt wer<strong>den</strong> anstatt nur als Kontrastfolie<br />

zu dienen – wie <strong>in</strong> <strong>den</strong> Anfangsjahrzehnten der „Bonner“<br />

Republik („Bonn ist nicht Weimar“). Wie zahlreiche<br />

neuere Veröffentlichungen ist auch das bildungspolitische Projekt<br />

„Weimar und die Republik“ der Friedrich-Ebert-Stiftung<br />

und ihres Landesbüros Thür<strong>in</strong>gen diesem Ansatz verpflichtet.<br />

Das Projekt wird seit 2006 betrieben und legt nun – pünktlich<br />

zur Er<strong>in</strong>nerung an das Zusammentreten der Nationalversammlung<br />

<strong>in</strong> Weimar vor neunzig Jahren – e<strong>in</strong>e erste und mit vielen Fotos garnierte Veröffentlichung<br />

vor, nämlich jener Vorträge, die im Rahmen des Projekts bisher gehalten wur<strong>den</strong>.<br />

Dass die Konstituante nicht <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, sondern <strong>in</strong> Weimar tagte und damit der Republik zu ihrem<br />

Namen verhalf, resultierte aus der unsicheren Lage <strong>in</strong> der Hauptstadt im W<strong>in</strong>ter 1918/19, wo die<br />

Möglichkeit der militärischen Sicherung der Nationalversammlung zweifelhaft erschien. Die kle<strong>in</strong>e<br />

vormalige Resi<strong>den</strong>zstadt von Sachsen-Weimar war dagegen gut zu kontrollieren, und auch die be<strong>für</strong>chteten<br />

Unterbr<strong>in</strong>gungs- und Versorgungsprobleme erwiesen sich schnell als lösbar, wie Stefan<br />

Gerber ausführt. Motiv <strong>für</strong> die Ortswahl war also ke<strong>in</strong>eswegs der „Geist von Weimar“ als dem Zentrum<br />

der deutschen Klassik, auch wenn dieser bald von <strong>den</strong> Rednern <strong>in</strong> der Versammlung entdeckt<br />

wurde und mit se<strong>in</strong>em Schatzkästle<strong>in</strong> an Zitaten so manche Rede dekorierte.<br />

Wilhelm Ribhegge und Hans Mommsen widmen sich mit unterschiedlicher Perspektive der ersten<br />

Hauptaufgabe der Konstituante, nämlich der Schaffung e<strong>in</strong>er Verfassung; sie bestätigen dabei <strong>den</strong><br />

nun schon länger erreichten Historikerkonsens, mit dem e<strong>in</strong>e ältere Forschungsme<strong>in</strong>ung überwun<strong>den</strong><br />

wurde: Die Weimarer Republik ist sicher nicht an ihrer Verfassung als solcher gescheitert; vielmehr<br />

bewegte diese sich im Wesentlichen auf der Höhe der damaligen Staatsrechtslehre, auch wenn noch


91 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

die e<strong>in</strong>e oder andere Rem<strong>in</strong>iszenz an das 19. Jahrhundert zu beobachten ist. Ob man deswegen die<br />

Weimarer Nationalversammlung zum „Er<strong>in</strong>nerungsort“ stilisieren sollte und ob mit der Verfassungsdiskussion<br />

tatsächlich die „Geburt der pluralistischen Gesellschaft <strong>in</strong> Deutschland“ (Ribhegge,<br />

48) anzusetzen ist, mag angesichts der begrifflichen Vagheit dah<strong>in</strong>gestellt bleiben.<br />

Was bei Ribhegge schon ankl<strong>in</strong>gt, wird <strong>in</strong> zwei weiteren Beiträgen thematisiert: Die Verfassungsdiskussion<br />

wurde im Mai 1919 jäh durchkreuzt von der Bekanntgabe der Frie<strong>den</strong>sbed<strong>in</strong>gungen <strong>in</strong><br />

Versailles und von <strong>den</strong> heftigen und hektischen Diskussionen der Nationalversammlung über <strong>den</strong><br />

künftigen Frie<strong>den</strong>svertrag. Diese Ko<strong>in</strong>zi<strong>den</strong>z von Staatswerdung und als Demütigung empfun<strong>den</strong>em<br />

Frie<strong>den</strong>sschluss blieb e<strong>in</strong> dauernder Ballast, <strong>den</strong> <strong>in</strong> späteren Jahren vor allem die politischen Rechten<br />

<strong>in</strong> ihrem Kampf gegen die Republik weidlich ausschlachteten. E<strong>in</strong>em kurzen Überblick Stefan Gerbers<br />

über die Bed<strong>in</strong>gungen des Vertrags folgt die offenbar mit Absicht kaum bearbeitete Mitschrift<br />

e<strong>in</strong>es Gesprächs zwischen Etienne François und Gerd Krumeich: Wunderbar „politisch <strong>in</strong>korrekt“<br />

wischt Krumeich <strong>den</strong> nach und nach erreichten Historikerkonsens über <strong>den</strong> Versailler Vertrag beiseite,<br />

der etwa lautet: Angesichts der Erfahrungen von 1945 sei 1919 e<strong>in</strong> „Kompromissfrie<strong>den</strong>“ (im S<strong>in</strong>ne<br />

e<strong>in</strong>es Kompromisses zwischen <strong>den</strong> Siegern) geschlossen wor<strong>den</strong>, der nach Lage der D<strong>in</strong>ge kaum anders<br />

ausfallen konnte und <strong>für</strong> Deutschland durchaus Möglichkeiten offen ließ. Krumeich will nun<br />

dies nicht als Maßstab <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e „vernünftige“ deutsche Reaktion auf <strong>den</strong> Vertrag gelten lassen und<br />

besteht darauf, als Ausgangspunkt und um der Gerechtigkeit willen die damalige Wahrnehmung der<br />

Deutschen zu nehmen, die sich eben tatsächlich gedemütigt fühlten. Ebenso souverän vermittelt<br />

François, dass er als Franzose bei Versailles zunächst viele andere historische Assoziationen empf<strong>in</strong>det,<br />

ehe ihm der Versailler Vertrag e<strong>in</strong>fällt.<br />

Drei Beiträge zur Schnittmenge von kulturhistorischen und historisch-politischen Themen komplettieren<br />

das Buch und zeigen auch hier, wo Möglichkeiten, aber auch Grenzen der Weimarer Republik<br />

lagen. Zunächst skizziert Bernd Buchner die Streitigkeiten über die Symbole der Republik. Zu ihnen<br />

hätte auch das Reichsehrenmal <strong>für</strong> die Gefallenen des Weltkriegs bei Bad Berka südlich von Weimar<br />

gehören sollen, wenn es <strong>den</strong>n jemals errichtet wor<strong>den</strong> wäre; über se<strong>in</strong>e gescheiterte Geschichte liefert<br />

Henrik Hilbrig e<strong>in</strong>en Abriss. Schließlich schreibt Christian Welzbacher über <strong>den</strong> zwar weitgehend<br />

machtlosen, aber nicht unwirksamen „Reichskunstwart“ Edw<strong>in</strong> Redslob, der im Dschungel zwischen<br />

Länder- und Ämter<strong>in</strong>teressen kämpfte.<br />

E<strong>in</strong>e durch entsprechende Fotografien illustrierte Anleitung zum „Stadtrundgang“ auf <strong>den</strong> Spuren<br />

der Ereignisse von 1919 macht noch e<strong>in</strong>mal deutlich, welchem Zweck die Veröffentlichung sich <strong>in</strong><br />

erster L<strong>in</strong>ie verpflichtet fühlt: Der politischen Bildung und dort – wie im Untertitel angedeutet – der<br />

Traditionsschaffung im demokratisch-republikanischen S<strong>in</strong>n. Nimmt man diese als Nennwährung<br />

und misst nicht je<strong>den</strong> e<strong>in</strong>zelnen Beitrag am Goldstandard wissenschaftlicher Orig<strong>in</strong>alität und Differenzierung,<br />

kann man <strong>den</strong> Band durchaus als gelungen bezeichnen.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Erster Weltkrieg und Weimarer Republik


Peter Tauber: Vom Schützengraben auf <strong>den</strong> grünen Rasen. Der Erste Weltkrieg und<br />

die Entwicklung des Sports <strong>in</strong> Deutschland (= Studien zur Geschichte des Sports; Bd. 3),<br />

Münster/Hamburg/Berl<strong>in</strong>/London: LIT 2008, 490 S., ISBN 978-3-8258-0675-0, EUR 39,90<br />

Rezensiert von Peter Lieb<br />

Royal Military Academy Sandhurst<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 7/8<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/07/14829.html<br />

Obwohl die Sportgeschichtsschreibung <strong>in</strong> jüngster Zeit deutliche<br />

Fortschritte gemacht hat, zeigen sich immer wieder erstaunliche<br />

Forschungslücken. Die vorliegende Frankfurter<br />

Dissertation von Peter Tauber nimmt sich e<strong>in</strong>es jener Desiderate<br />

an: Der Entwicklung des Sports und des Turnens <strong>in</strong>nerhalb<br />

der deutschen Armee während des Ersten Weltkriegs an<br />

Front und Etappe. Die Arbeit lässt sich allerd<strong>in</strong>gs nicht ausschließlich<br />

der Sportgeschichte zuordnen, sondern bef<strong>in</strong>det sich<br />

vielmehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Schnittmenge mit der „modernen“ Militärgeschichte.<br />

Tauber schafft es, se<strong>in</strong>e Arbeit schlüssig und überzeugend<br />

<strong>in</strong> die bisherige Forschung beider Felder e<strong>in</strong>zuordnen. Die<br />

Explosion der Sportbegeisterung <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1920er Jahren <strong>in</strong><br />

Deutschland kam nicht aus dem Nichts; vielmehr hatte der<br />

moderne Sport bereits während des ‚Großen Kriegsʻ tiefe<br />

Wurzeln bei <strong>den</strong> deutschen Soldaten und somit <strong>in</strong> der deutschen<br />

Gesellschaft geschlagen, so die zentrale These Taubers.<br />

Bei Kriegsausbruch 1914 ließen sich auch die Turn- und<br />

Sportvere<strong>in</strong>e von der Kriegsbegeisterung anstecken und leisteten <strong>in</strong> <strong>den</strong> Folgemonaten und -jahren<br />

e<strong>in</strong>en aktiven Beitrag zur physischen und psychologischen Mobilisierung des Deutschen Reichs im<br />

<strong>in</strong>dustrialisierten Massenkrieg. Man sollte aber – so Tauber – diesen Beitrag nicht überschätzen, was<br />

anhand des fehlgeschlagenen Versuchs e<strong>in</strong>er paramilitärischen Ausbildung <strong>in</strong> <strong>den</strong> Vere<strong>in</strong>en auch<br />

schlüssig nachgewiesen wird. Die Vere<strong>in</strong>sarbeit erlebte während des Krieges durch die E<strong>in</strong>berufung<br />

vieler Mitglieder zum Militär e<strong>in</strong>en starken E<strong>in</strong>bruch. Doch diese organisatorische Notlage betraf<br />

nicht die eigentliche sportliche Betätigung: So trugen die mobilisierten Vere<strong>in</strong>smitglieder nun <strong>den</strong><br />

grauen Soldatenrock, ihre bevorzugte Freizeitbeschäftigung vergaßen sie aber freilich nicht; das Geschehen<br />

verlagert sich nun vielfach von <strong>den</strong> zivilen Vere<strong>in</strong>en <strong>in</strong> der Heimat h<strong>in</strong> zum Militär an Front<br />

und Etappe.<br />

Wenngleich die Armee sich bereits vor 1914 dem Sport geöffnet hatte, so hatte <strong>in</strong> Frie<strong>den</strong>szeiten<br />

doch meist Kasernenhofdrill vorgeherrscht. Das änderte sich allerd<strong>in</strong>gs nach dem Kriegsausbruch<br />

beträchtlich. Zum e<strong>in</strong>en erkannte man auf höherer Ebene bald die Motivationswirkung des Sports<br />

und des Turnens <strong>für</strong> die Soldaten. Beispielsweise organisierte man <strong>in</strong> der Etappe regelmäßig größere<br />

Turn- und Sportveranstaltungen, die erst mit der sich dramatisch verschlechtern<strong>den</strong> Kriegslage <strong>in</strong>


93 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

<strong>den</strong> Sommermonaten 1918 zum Erliegen kamen. Zum anderen galten Sport und Turnen aber nicht<br />

nur als e<strong>in</strong> Mittel zur Hebung der Moral <strong>in</strong>nerhalb der Truppe, um dem gleichermaßen grauen wie<br />

grausamen militärischen Alltag zu entkommen. Vielmehr erfüllten sie nun auch zweckgebun<strong>den</strong>e<br />

Funktionen. Noch bei Kriegsbeg<strong>in</strong>n hatten die Militärs zur Leibesertüchtigung ganz überwiegend<br />

das als „deutsch“ und bürgerlich betrachtete Turnen dem „englischen“ Sport vorgezogen. Im Krieg<br />

setzte sich dann allerd<strong>in</strong>gs mehr und mehr der Sport auf Kosten des Turnens durch. Gerade jüngere<br />

Offiziere sahen im Sport e<strong>in</strong> probates Mittel, um e<strong>in</strong>en Leistungsanreiz <strong>in</strong> der Ausbildung zu bieten.<br />

Dieser Leistungsgedanke, gepaart mit dem Verschw<strong>in</strong><strong>den</strong> bisheriger sozialer Barrieren, erwies sich<br />

dann später im E<strong>in</strong>satz der sogenannten „kle<strong>in</strong>en Kampfgeme<strong>in</strong>schaft“ häufig als lebensnotwendig.<br />

Daraus ließe sich sogar e<strong>in</strong>e weiterführende überspitzte These formulieren: Letztlich besiegte Großbritannien<br />

das Deutsche Reich im Ersten Weltkrieg nicht nur militärisch auf dem Schlachtfeld; auch<br />

kulturell gewann <strong>in</strong>nerhalb der deutschen Armee der „englische Sport“ über das „deutsche Turnen“<br />

die Oberhand.<br />

Der Siegeszug des Sports wirkte nach 1918 nicht nur <strong>in</strong> der militärischen Ausbildung nach, sondern<br />

hatte auch e<strong>in</strong>e politische Dimension. Wie die „kle<strong>in</strong>e Kampfgeme<strong>in</strong>schaft“ so wurde auch der<br />

Sport <strong>für</strong> viele Soldaten als gelebte Volksgeme<strong>in</strong>schaft der „Ideen von 1914“ empfun<strong>den</strong>. Unter diesen<br />

Voraussetzungen konnten und wollten sich die Sportvere<strong>in</strong>e <strong>in</strong> der Weimarer Republik nicht als<br />

stabilisierend <strong>für</strong> das demokratische System erweisen. Nach 1933 mussten die Nationalsozialisten<br />

also <strong>den</strong> Sport nur mehr organisatorisch, aber nicht mehr geistig gleichschalten.<br />

Vielleicht hätte dem Buch an e<strong>in</strong>igen Stellen e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche Straffung genutzt, doch <strong>in</strong>sgesamt ist<br />

Peter Tauber e<strong>in</strong>e durchweg überzeugende Analyse der Entwicklung des Sports im Ersten Weltkrieg<br />

gelungen. Im Gegensatz zu vielen anderen kulturhistorischen Studien besticht die Arbeit durch klare<br />

Thesen und e<strong>in</strong>e flüssige Sprache. Das Buch hat sicherlich se<strong>in</strong>en Platz <strong>in</strong> der deutschen Sport-<br />

geschichte verdient.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Erster Weltkrieg und Weimarer Republik


Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg<br />

Petra Fuchs/Maike Rotzoll/Ulrich Müller u.a. (Hrsg.): „Das Vergessen der Vernichtung<br />

ist Teil der Vernichtung selbst“. Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen<br />

‚Euthanasieʻ, Gött<strong>in</strong>gen: Wallste<strong>in</strong> 2007, 387 S., ISBN 978-3-8353-0146-7, EUR 29,90<br />

Ernst Berger (Hrsg.): Verfolgte K<strong>in</strong>dheit. K<strong>in</strong>der und Jugendliche als Opfer der NS-Sozialverwaltung,<br />

Wien: Böhlau 2007, 458 S., 18 Abb., ISBN 978-3-205-77511-9, EUR 39,00<br />

Rezensiert von Annette Eberle<br />

Dachau<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 9<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/09/13643.html<br />

Die bei<strong>den</strong> Publikationen geben wichtige E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

Stand der <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ären Bearbeitung des Themas. Dabei<br />

wer<strong>den</strong> die maßgeblichen Mechanismen durch e<strong>in</strong>e vergleichende<br />

Darstellung von Opfer-, (Mit-)Täter- und Fach – bzw.<br />

Systemperspektive herausgearbeitet und <strong>in</strong> <strong>den</strong> zeithistorischen<br />

Kontext der Vor- und Nachkriegsgeschichte e<strong>in</strong>gebettet. Zudem<br />

verrät bei bei<strong>den</strong> Publikationen bereits der Titel, dass<br />

sich die Autoren, <strong>in</strong> der Mehrheit Mediz<strong>in</strong>historiker und Psychiater,<br />

mit ihrer Forschungsarbeit e<strong>in</strong>er gesellschaftlichen<br />

Ge<strong>den</strong>kkultur verpflichtet fühlen. Ihnen lag daran, die sowohl<br />

<strong>in</strong> Deutschland als auch <strong>in</strong> Österreich „randständige und stigmatisierte<br />

Position der psychisch kranken und beh<strong>in</strong>derten<br />

Menschen“ (Das Vergessen, 15) als Verfolgtengruppe der NS-<br />

Verbrechen zu durchbrechen. Dies gel<strong>in</strong>gt bei<strong>den</strong> Publikationen<br />

<strong>in</strong> unterschiedlicher Weise: In <strong>den</strong> Lebensgeschichten des<br />

Bandes von Fuchs et al. wird die Verschränkung von Lebenssituationen<br />

und Krankheit der Betroffenen deutlich, die sie <strong>in</strong><br />

die abgetrennte Welt der Anstaltspsychiatrie führte und von<br />

dort schließlich <strong>in</strong> <strong>den</strong> gewaltsamen Tod. Wie sehr dies auch<br />

K<strong>in</strong>der und Jugendliche betraf, die unter dem Verdacht der „Asozialität“ zu Opfern e<strong>in</strong>er im Nationalsozialismus<br />

praktizierten Fürsorge und Psychiatrie des „Ausmerzens“ wur<strong>den</strong>, belegt der Band<br />

„Verfolgte K<strong>in</strong>dheit“.<br />

Die Anonymisierung der Euthanasieopfer aufzubrechen, die nicht nur Folge sondern Bestandteil<br />

der „Vernichtung selbst“ war, lag wohl der Entscheidung des Autorenteams um Fuchs et al. zugrunde,<br />

erste Ergebnisse ihres langjährigen Forschungsprojektes zur Auswertung der (nur noch) 300 überlieferten<br />

Karteikarten der T4-Aktion <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er biografischen Annäherung zu veröffentlichen. Damit


95 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

gelang es ihnen, nicht nur e<strong>in</strong>e breitere Leserschaft zu erreichen (die zweite Auflage ist bereits auf<br />

dem Markt), sondern auch publizistisch Neuland zu betreten. E<strong>in</strong> wissenschaftlich-analytischer Band<br />

soll <strong>in</strong> Kürze folgen. Mit <strong>den</strong> 23 erzählten Lebensgeschichten (99-336), die bis <strong>in</strong> die Psychiatrie des<br />

Kaiserreichs reichen, haben die Autoren e<strong>in</strong>en Perspektivwechsel auf der Basis der Krankenakten<br />

und damit der Täterüberlieferung versucht.<br />

Die auffällige Differenz <strong>in</strong> der Entscheidung über die Erzählzeit<br />

– Präsens oder Vergangenheit – ist e<strong>in</strong> Indiz, das dem<br />

Leser verrät, wie bewusst sich die Autoren dabei mit der<br />

Problematik der eigenen Perspektive ause<strong>in</strong>andersetzten, die<br />

e<strong>in</strong>e gespaltene ist: Die des e<strong>in</strong>fühlen<strong>den</strong> und die des quellenkritisch<br />

distanzierten Forschers. Die Lebensgeschichten wer<strong>den</strong><br />

gerade dann nachvollziehbar, wenn es <strong>den</strong> Autoren gel<strong>in</strong>gt,<br />

<strong>den</strong> selbst gewählten Anspruch, „die Patient<strong>in</strong>nen und Patienten<br />

[nicht] <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er simplifizieren<strong>den</strong> Opfer-Täter-Dichotomie zu<br />

zeigen“ (19), anschaulich zu unterfüttern und Widersprüche<br />

zuzulassen. Hier seien nur zwei Beispiele hervorgehoben:<br />

Friedrich L. (geboren 1896), „Ich teile dem Amtsgericht Leipzig<br />

mit, dass ich nicht Irrs<strong>in</strong>nig b<strong>in</strong>“ (191-200), hatte die K<strong>in</strong>dheit<br />

<strong>in</strong> Armut im Gegensatz zu fünf se<strong>in</strong>er Geschwister überlebt.<br />

Se<strong>in</strong> weiterer Lebensweg gleicht e<strong>in</strong>er „Verlegungskette“<br />

zwischen Fürsorgeerziehungsanstalt, Arbeitshaus und Psychiatrie.<br />

Im Jahr 1932 versuchte er mit der freiwilligen Kastration<br />

– er war u.a. wegen sexuellen Missbrauchs mehrfach vorbestraft – aus diesem Prozess von Krim<strong>in</strong>alität,<br />

Krankheit und Des<strong>in</strong>tegration herauszuf<strong>in</strong><strong>den</strong>. Vergebens, bis zu se<strong>in</strong>er Ermordung im Februar<br />

1941 wurde er noch <strong>in</strong> vier weitere Anstalten verlegt. Die Ablehnung se<strong>in</strong>es letzten Entlassungsgesuchs<br />

wurde im Jahr 1939 mit angeblich mangelnder Arbeitsfähigkeit begründet. Auch die Geschichte von<br />

Therese W., „Zwischen <strong>den</strong> Welten“ (308-336), handelt von vielen vergeblichen Versuchen des<br />

„Gesundwer<strong>den</strong>s“. Sie kommt als Fabrikantentochter und Ehefrau e<strong>in</strong>es angesehenen Professors aus<br />

e<strong>in</strong>er gänzlich anderen sozialen Realität. Ihre Lebensgeschichte verläuft „im Spannungsfeld von Emanzipation<br />

und Unterwerfung unter die zeitgenössischen Rollenerwartungen an Frauen.“ Sie wurde<br />

zum ersten Mal im Jahr 1924 nach e<strong>in</strong>em angekündigten Ausbruchsversuch aus ihrer Ehe auf<br />

Betreiben ihres Mannes <strong>in</strong> die Psychiatrische Kl<strong>in</strong>ik Leipzig e<strong>in</strong>gewiesen. Bis zum Jahr 1935 wurde<br />

sie ambulant von e<strong>in</strong>em jüdischen Psychiater behandelt. Nach dessen Berufsverbot und Emigration<br />

erfolgte ihre erneute stationäre E<strong>in</strong>weisung. Der Tonfall der Ärzte und die Diagnose <strong>in</strong> ihrer Krankenakte<br />

veränderten sich immer mehr zu ihren Ungunsten. Sechs Jahre später, nach vielen auch von<br />

der Familie abgelehnten Entlassungsgesuchen, wurde sie im Februar 1941 <strong>in</strong> der Heil- und Pflegeanstalt<br />

„Pirna Sonnenste<strong>in</strong>“ ermordet.<br />

Die Unterschiede <strong>in</strong> <strong>den</strong> Erzählweisen der Lebensgeschichten, wie Länge, Ausführlichkeit von<br />

Personen- und Krankengeschichte, E<strong>in</strong>bezug von Selbstaussagen der Opfer etc., basieren vor allem<br />

auf der Zufälligkeit der Überlieferung. Kaum e<strong>in</strong>e der Krankenakten, die „im Idealfall“ aus Personalakte<br />

und Krankengeschichte bestehen sollten, ist lückenlos erhalten. Zudem unterlag die Aktenführung<br />

sehr unterschiedlichen Konventionen <strong>in</strong>nerhalb der e<strong>in</strong>zelnen Anstalten. Doch, je näher die<br />

Überlieferung dem Todesdatum kommt, desto karger, anonymer und aussageloser gestalteten sich<br />

die E<strong>in</strong>träge. Oft gelang es <strong>den</strong> Autoren, zusätzliche Dokumente <strong>in</strong> Archiven oder durch Kontakte zu<br />

<strong>den</strong> Familien zu erschließen. E<strong>in</strong>e Geschichte fällt dabei aus dem rekonstruktiven Erzählmuster heraus:<br />

Das Porträt e<strong>in</strong>es Sohnes über <strong>den</strong> Vater, das sich auf überlieferte persönliche Aufzeichnungen<br />

stützen konnte und der Familie nun die Er<strong>in</strong>nerung an <strong>den</strong> Ermordeten ermöglicht (105-122).<br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


96 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Der historische und methodische Rahmen wird <strong>in</strong> fünf e<strong>in</strong>führen<strong>den</strong> Beiträgen abgesteckt. Maike<br />

Rotzoll skizziert die Entwicklung der Anstaltspsychiatrie <strong>in</strong> Deutschland seit dem 19. Jahrhundert<br />

(24-35) und stellt diese <strong>in</strong> <strong>den</strong> Zusammenhang mit der Programmatik von „Heilen und Vernichten“<br />

der NS-Psychiatrie. Unmittelbar daran knüpft Gerrit Hohendorf mit se<strong>in</strong>em Beitrag „Ideengeschichte<br />

und Realgeschichte der nationalsozialistischen ‚Euthanasieʻ im Überblick“ an (36-52). Sehr prägnant<br />

und auch <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e mit dem Fachdiskurs nicht vertraute Leserschaft verständlich zeichnet er das Zusammentreffen<br />

von „Rassenhygiene und Euthanasie“ nach und gibt e<strong>in</strong>en Überblick über die e<strong>in</strong>zelnen<br />

Mordaktionen, die unter <strong>den</strong> Verbrechen der „NS-Euthanasie“ subsumiert wer<strong>den</strong>. Petra Fuchs<br />

liefert mit ihrer kollektivbiografisch angelegten Studie über die Gruppe der Opfer der „Euthanasie“<br />

(53-72) <strong>den</strong> notwendigen H<strong>in</strong>tergrund, um die e<strong>in</strong>zelnen Lebensgeschichten h<strong>in</strong>sichtlich sozialer<br />

Lebensrealität, mediz<strong>in</strong>isch-psychiatrischer Diagnostik und der <strong>für</strong> die Mordselektion entschei<strong>den</strong><strong>den</strong><br />

Kriterien aufe<strong>in</strong>ander beziehen bzw. mite<strong>in</strong>ander vergleichen zu können. Notwendige metho<strong>den</strong>-<br />

und quellenkritische H<strong>in</strong>weise f<strong>in</strong><strong>den</strong> sich <strong>in</strong> <strong>den</strong> Beiträgen von Paul Richter über „das Spannungsfeld<br />

zwischen E<strong>in</strong>zelfall und Statistik“ (73-79) und von Ulrich Müller zu „Krankenakten als Quelle“<br />

(80-98).<br />

Das <strong>in</strong> vielen der Lebensgeschichten offensichtlich gewor<strong>den</strong>e Zusammenwirken von Psychiatrie,<br />

Fürsorge und auch Polizei war e<strong>in</strong>e Folge der Modernisierung der Sozialverwaltungen ab <strong>den</strong> Zwanzigerjahren.<br />

Wie diese dann <strong>in</strong> <strong>den</strong> Dienst der nationalsozialistischen Rassen- und Bevölkerungspolitik<br />

genommen wurde und welche Folgen bis heute zu konstatieren s<strong>in</strong>d, untersucht der Band „Verfolgte<br />

K<strong>in</strong>dheit“. Der Schwerpunkt liegt auf <strong>den</strong> Fürsorge<strong>in</strong>stitutionen <strong>in</strong> Wien. Das <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>äre Konzept<br />

wird <strong>in</strong> der Aufteilung der Studie <strong>in</strong> vier Hauptabschnitte deutlich. In Teil e<strong>in</strong>s geht es um die<br />

„Geschichte der Jugend<strong>für</strong>sorge“, um <strong>den</strong> sich verändern<strong>den</strong> gesellschaftlichen und politischen<br />

Rahmen und um <strong>den</strong> wachsen<strong>den</strong> E<strong>in</strong>fluss psychiatrischer Instrumentarien <strong>in</strong> der pädagogischen<br />

Diagnostik. Dieser wird <strong>in</strong> dem Beitrag von Clarissa Rudolph und Gerhard Benetka „Zur Geschichte<br />

der Intelligenzmessung im Wiener Fürsorgesystem vor und <strong>in</strong> der NS-Zeit“ unter der Fragestellung<br />

„Kont<strong>in</strong>uität oder Bruch?“ skizziert (15-40). Der zweite Abschnitt widmet sich der „K<strong>in</strong>dererziehung<br />

im Nationalsozialismus“ (91-138) und wird mit vier Beiträgen des Historikers Peter Mal<strong>in</strong>a<br />

bestritten. Hier geht es um <strong>den</strong> spezifischen Charakter e<strong>in</strong>er „nationalsozialistischen Erziehung“ mit<br />

se<strong>in</strong>en autoritären Zügen und der ihm <strong>in</strong>newohnen<strong>den</strong> Notwendigkeit der „Aussonderung“ sowohl <strong>in</strong><br />

der Familie als auch <strong>in</strong> <strong>den</strong> staatlichen Erziehungs<strong>in</strong>stitutionen. Im dritten Hauptabschnitt, der mit<br />

zehn Beiträgen auch der zentrale des Bandes ist, stehen die e<strong>in</strong>zelnen „<strong>Institut</strong>ionen der NS-<br />

Fürsorge“ (139-334) und ihre Vorgeschichte <strong>in</strong> <strong>den</strong> Dreißigerjahren im Mittelpunkt der Betrachtungen.<br />

E<strong>in</strong>führend gibt Vera Janrits e<strong>in</strong>en Überblick „Zur Struktur des Fürsorgewesens im NS-Wien“.<br />

Peter Mal<strong>in</strong>a stellt <strong>in</strong> zwei Beiträgen <strong>den</strong> „Spiegelgrund“, die bekannteste Wiener Anstalt, vor, wobei<br />

vor allem Repression und Terror <strong>in</strong> der Psychiatrie und <strong>in</strong> der Fürsorgeerziehung von 1939 bis<br />

1945 thematisiert wer<strong>den</strong>. Gegründet als psychiatrische Reformanstalt wurde die Heil- und Pflegeanstalt<br />

„Am Ste<strong>in</strong>hof“ nach 1938 zum Zentrum der nationalsozialistischen Tötungsmediz<strong>in</strong>, die<br />

m<strong>in</strong>destens 7.500 Patient<strong>in</strong>nen und Patienten das Leben kosten sollte. Von 1940 bis 1945 existierte<br />

auf dem Anstaltsgelände unter der Bezeichnung „Am Spiegelgrund“ e<strong>in</strong>e sogenannte „K<strong>in</strong>derfachabteilung“,<br />

<strong>in</strong> der rund 800 kranke oder beh<strong>in</strong>derte K<strong>in</strong>der und Jugendliche ermordet wur<strong>den</strong>. Nicht<br />

wenige von ihnen wur<strong>den</strong> von der gleichnamigen städtischen Jugend<strong>für</strong>sorgeerziehungsanstalt überstellt,<br />

die sich ebenfalls auf dem Gelände befand. Heute vielfach noch unbekannt ist, dass <strong>in</strong>nerhalb<br />

des Anstaltskomplexes auch e<strong>in</strong> „Arbeitserziehungslager“ <strong>für</strong> Frauen untergebracht war. Die E<strong>in</strong>weisung<br />

erfolgte unter Mitarbeit der Sozialverwaltung.<br />

Ergebnis e<strong>in</strong>er längeren Forschungsarbeit s<strong>in</strong>d die vier Beiträge über die Geschichte der Wiener<br />

K<strong>in</strong>derübernahmestelle und das Sozialprofil der dort untergebrachten K<strong>in</strong>der. Im Anhang f<strong>in</strong><strong>den</strong> sich<br />

Tabellen über die statistische Auswertung der K<strong>in</strong>derkarteikarten der Geburtenjahrgänge 1931 und<br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


97 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

1938. Auch diese E<strong>in</strong>richtung, gegründet im Jahr 1925 von dem Arzt und sozialdemokratischen<br />

Politiker Julius Tander, g<strong>in</strong>g auf die Reformbemühungen von Fürsorge und Psychiatrie zurück. Sie<br />

fungierte als Aufnahme- und Vermittlungsstelle <strong>für</strong> hilfsbedürftige K<strong>in</strong>der. Dort sollte e<strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuelles<br />

Begutachtungsverfahren die Entscheidung der Sozialverwaltung über weitere Fürsorgemaßnahmen<br />

(Pflegefamilie, E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> Fürsorge- oder Pflegeanstalten) vorbereiten. Für die NS-Zeit<br />

konstatieren Vera Jandrisits und Reg<strong>in</strong>e Böhler e<strong>in</strong>e zunehmende Differenzierung <strong>in</strong>nerhalb der<br />

Jugend<strong>für</strong>sorge<strong>in</strong>stitutionen wie auch e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>gespielte Arbeitsteilung von Fürsorgern, Erziehungsberatern,<br />

Mediz<strong>in</strong>ern und Psychiatern bei der Erfassung und Klassifizierung nach psychiatrischen<br />

und somato-mediz<strong>in</strong>ischen Kategorien. Demgegenüber bewirkte e<strong>in</strong> immer größer wer<strong>den</strong>der ökonomischer<br />

Druck die wachsende Unterversorgung der Schutzbedürftigen. Dass die repressiven Mechanismen<br />

der „Aussonderung von Geme<strong>in</strong>schaftsfrem<strong>den</strong>“ <strong>in</strong>nerhalb des Wiener Jugendamtes auch zur<br />

Überstellung <strong>in</strong> die Hände der Krim<strong>in</strong>alpolizei geführt haben, damit beschäftigt sich der Beitrag von<br />

Reg<strong>in</strong>a Fritz über die Geschichte der bei<strong>den</strong> Jugendschutzlager Mor<strong>in</strong>gen und Uckermark. Offen<br />

bleibt, <strong>in</strong> welchem Umfang dies geschah.<br />

Im vierten Teil „Überlegungen zur Beschäftigung mit Überleben<strong>den</strong> aus psychoanalytischer und<br />

psychiatrischer Sicht“ (335-388) geht es um die Folgen der erlittenen Repression und Traumata <strong>für</strong><br />

die Betroffenen. Vorab führt Marie Luise Kronenberger mit ihrem Beitrag „Krankengeschichten und<br />

Diagnosen“ vor, nach welchen Kriterien e<strong>in</strong>e kritische Lesart der <strong>den</strong> repressiven Maßnahmen<br />

zugrunde liegen<strong>den</strong> Diagnosen wie „angeborener“ und „moralischer Schwachs<strong>in</strong>n“ oder „erbkrank“<br />

erfolgen kann. In <strong>den</strong> weiteren drei Beiträgen wer<strong>den</strong> die Interviews und Gespräche mit Überleben<strong>den</strong><br />

aus dem „Spiegelgrund“, die von der Forschergruppe um Marie-Luise Kronberger, Ernst Berger<br />

und Elisabeth Bra<strong>in</strong><strong>in</strong> geführt wur<strong>den</strong>, ausgewertet und <strong>in</strong> <strong>den</strong> Kontext des <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ären Forschungsvorhabens<br />

gesetzt. Analysiert wer<strong>den</strong> <strong>in</strong>dividuelle und kollektive Bewältigungsversuche der<br />

ehemaligen „Spiegelgrundk<strong>in</strong>der“. So trugen „I<strong>den</strong>tifizierungen mit hilfreichen Aspekten schützender<br />

Objekte sowohl während als auch nach dem Anstaltsaufenthalt“ (383) zur Stärkung des <strong>in</strong>neren<br />

Haltes wie des Selbstwertes bei, was vielen e<strong>in</strong>en wichtigen Schutz <strong>für</strong> die spätere Verarbeitung bieten<br />

konnte. E<strong>in</strong>igen Gesprächspartnern half zudem, dass sie sich als Zeitzeugen <strong>für</strong> Gespräche zur<br />

Verfügung stellten und sich mit <strong>den</strong> zeithistorischen Bed<strong>in</strong>gungen ihrer Repressionserfahrung ause<strong>in</strong>andersetzten.<br />

Dass sich die Betroffenen erst Mitte der Neunzigerjahre als „Spiegelgrundk<strong>in</strong>der“<br />

suchten und sich seitdem auch regelmäßig trafen, lag daran, dass erst zu diesem Zeitpunkt e<strong>in</strong>e öffentliche<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzung um Anerkennung und Entschädigung dieser „vergessenen“ Verfolgtengruppe<br />

<strong>in</strong> Österreich begonnen hat.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


Konstanze Braun: Dr. Otto Georg Thierack (1889–1946) (= Rechtshistorische Reihe; Bd. 325),<br />

Bern/Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2005, 287 S., ISBN 978-3-631-54457-0, EUR 51,50<br />

Rezensiert von Jürgen Zarusky<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 4<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/04/12543.html<br />

Die prom<strong>in</strong>enteste historische Figur unter <strong>den</strong> Juristen des<br />

NS-Regimes, die <strong>den</strong> Paragraphen zum Mordwerkzeug umschmiedeten,<br />

ist zweifelsohne Roland Freisler. Vor allem die<br />

„Kunst“ des vormaligen Staatssekretärs im Justizm<strong>in</strong>isterium,<br />

sich und se<strong>in</strong>e „Rechtsprechung“ als Präsi<strong>den</strong>t des Volks-<br />

gerichtshofs von 1942 bis 1945 effektvoll <strong>in</strong> Szene zu setzen,<br />

die bei <strong>den</strong> Prozessen gegen die Angehörigen des 20. Juli<br />

1944 auch filmisch festgehalten wurde, hat ihm e<strong>in</strong>er dauerhaften<br />

Platz im historischen Gedächtnis verschafft. Immerh<strong>in</strong><br />

zwei Biographien und e<strong>in</strong>e rechtsphilosophische Studie s<strong>in</strong>d<br />

ihm gewidmet [1]. Auch zu Hitlers erstem Justizm<strong>in</strong>ister, Franz<br />

Gürtner, liegen zwei Biographien vor [2]. Und während selbst<br />

zu <strong>den</strong> Staatssekretären im Justizm<strong>in</strong>isterium Schlegelberger<br />

[3] und Rothenberger [4] biographische Studien geschrieben<br />

wur<strong>den</strong>, ist Freislers Vorgänger als Volksgerichtshofspräsi<strong>den</strong>t<br />

und Gürtners Nachfolger als Justizm<strong>in</strong>ister Otto Georg<br />

Thierack lange Zeit im Schatten geblieben. In diese Lücke ist<br />

Konstanze Braun mit ihrer Studie vorgestoßen, die 2005 an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät<br />

der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als Dissertation angenommen wurde und an – je<strong>den</strong>falls<br />

<strong>für</strong> das prom<strong>in</strong>ente Thema – etwas entlegener Stelle erschienen ist.<br />

Als Objekt e<strong>in</strong>er Biographie ist der am 19. April 1889 im sächsischen Wurzen als Sohne e<strong>in</strong>er<br />

Kaufmannsfamilie geborene Otto Georg Thierack allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> doppelter H<strong>in</strong>sicht wenig attraktiv.<br />

Zu e<strong>in</strong>en ist ke<strong>in</strong> persönlicher Nachlass überliefert, zum anderen war er offenbar alles andere als e<strong>in</strong>e<br />

vielschichtige Persönlichkeit. Folgt man Brauns Darstellung, ergibt sich das Bild e<strong>in</strong>es typischen Nazikarrieristen,<br />

der – def<strong>in</strong>itionsgemäß – über Leichen g<strong>in</strong>g. Mit durchschnittlichen Examensnoten und<br />

nach e<strong>in</strong>er vierjährigen Erfahrung als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg, trat er 1920 <strong>in</strong> <strong>den</strong> sächsischen<br />

Justizdienst e<strong>in</strong>, wo er <strong>in</strong> verschie<strong>den</strong>en Staatsanwaltschaften tätig war, offenbar ohne sonderlich<br />

aufzufallen. Dass der 1932 der NSDAP Beigetretene übermittelbar nach der Machtübernahme<br />

zum sächsischen Justizm<strong>in</strong>ister wurde, legt nahe, dass spätere H<strong>in</strong>weise, er habe schon als Staatsanwalt<br />

der „Bewegung“ wertvolle Dienste geleistet, nicht ganz ohne Substanz s<strong>in</strong>d.<br />

Die Position e<strong>in</strong>es Landesjustizm<strong>in</strong>isters war im „Dritten Reich“ e<strong>in</strong>e befristete, da das NS-<br />

Regime die „Verreichlichung“ der Justiz energisch vorantrieb. Im Unterschied zu se<strong>in</strong>en Kollegen<br />

Hans Frank (Bayern) und Hans Kerrl (Preußen), die sich dabei <strong>in</strong> Positionskämpfe verstrickten, gab<br />

sich Thierack als loyaler Vollstrecker übergeordneter Interessen und wurde nach Auflösung se<strong>in</strong>es


99 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

M<strong>in</strong>isteriums 1935 mit der Position e<strong>in</strong>es Vizepräsi<strong>den</strong>ten des Reichsgerichts bedacht – <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en<br />

Mann, der zuvor noch nie e<strong>in</strong> Richteramt bekleidet hatte, e<strong>in</strong> beachtlicher Sprung. Nach e<strong>in</strong>em Jahr<br />

wurde Thierack am 1. Juni 1936 zum Präsi<strong>den</strong>t des im Juli 1934 errichteten Volksgerichtshofs ernannt,<br />

e<strong>in</strong>e Position, die wegen des Todes se<strong>in</strong>es Vorgängers Fritz Rehn im September 1934 anderthalb<br />

Jahre lang verwaist gewesen war. Dem Volksgerichtshof waren die Kompetenzen des Reichsgerichts<br />

<strong>in</strong> Hoch- und Landesverratsverfahren übertragen waren. Thierack setzte sich energisch <strong>für</strong><br />

die Gleichstellung des erst kurz vor se<strong>in</strong>em Amtsamtritt überhaupt or<strong>den</strong>tlich etatisierten VGH mit<br />

dem Reichsgericht e<strong>in</strong>. Er war es, der <strong>den</strong> VGH zu dem berüchtigten justitiellen Terror<strong>in</strong>strument<br />

machte. Er nutzte ihn auch als Instrument <strong>für</strong> se<strong>in</strong> eigenes Fortkommen, als er 1941 im E<strong>in</strong>vernehmen<br />

mit Re<strong>in</strong>hard Heydrich und gegen grundlegende Normen verstoßend, <strong>den</strong> Prozess gegen <strong>den</strong><br />

M<strong>in</strong>isterpräsi<strong>den</strong>ten des Reichsprotektorats Böhmen und Mähren, Alois Eliáš, ohne E<strong>in</strong>schaltung des<br />

Oberreichsanwalts führte und die Gestapo als Anklagebehörde auftreten ließ. Die daraus folgende<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzung mit Schlegelberger, der nach dem Tod Gürtners das Justizm<strong>in</strong>isterium kommissarisch<br />

leitete, gewann Thierack, der sich als Richter nach dem Geschmack Hitlers und der SS profiliert<br />

hatte, auf der ganzen L<strong>in</strong>ie. Während er im August 1942 als Chef <strong>in</strong> das M<strong>in</strong>isterium e<strong>in</strong>zog,<br />

wurde Schlegelberger <strong>in</strong> <strong>den</strong> Ruhestand versetzt. Staatssekretär Freisler übernahm <strong>den</strong> VGH. Von<br />

dem <strong>in</strong> Ungnade gefallenen Hans Frank erbte Thierack auch das Amt des Präsi<strong>den</strong>ten der Akademie<br />

<strong>für</strong> Deutsches Recht und des Leiters des Rechtswahrerbundes.<br />

Dieses Revirement <strong>in</strong> unmittelbarer zeitlicher Nähe von Hitlers Richterschelte im April 1942 vor<br />

dem Reichstag markierte e<strong>in</strong>en Quantensprung bei der Radikalisierung der nationalsozialistischen<br />

Justiz. Kurz nach se<strong>in</strong>em Amtsantritt e<strong>in</strong>igte sich Thierack mit Himmler darauf, strafgefangene Ju<strong>den</strong>,<br />

„Zigeuner“, Russen und Ukra<strong>in</strong>er, ferner unter bestimmten Bed<strong>in</strong>gungen, Polen, Tschechen, Sicherheitsverwahrte<br />

und deutsche politische Widerständler an die SS auszuliefern. Der Vizepräsi<strong>den</strong>t des<br />

Volksgerichtshofs Karl Engert, e<strong>in</strong> „Alter Kämpfer“, der als Leiter der Abteilung XV des Justizm<strong>in</strong>isteriums<br />

unmittelbar an der Überstellung von Justizhäftl<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> KZs zur „Vernichtung durch<br />

Arbeit“ beteiligt war, behauptete nach dem Krieg, Thierack sei damit e<strong>in</strong>em Vorstoß Himmlers beim<br />

„Führer“ zuvorgekommen. Doch gibt es wenig Anlass zu glauben, Thierack habe wie noch Gürtner<br />

„Schlimmeres verh<strong>in</strong>dern“ wollen und dazu e<strong>in</strong>e Strategie des „kle<strong>in</strong>eren Übels“ verfolgt. Vielmehr<br />

hatte er schon als Präsi<strong>den</strong>t des Volksgerichtshofs da<strong>für</strong> plädiert, weniger wichtige Fälle durch polizeiliche<br />

E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> Konzentrationslager zu erledigen. Und bei der Tagung der „Chefpräsi<strong>den</strong>ten“<br />

und Generalstaatsanwälte, die am 29. September 1942, elf Tage nach der Besprechung mit Himmler<br />

stattfand, erklärte er <strong>den</strong> Verzicht auf die Strafgewalt gegenüber Polen, Ju<strong>den</strong>, Russen, Ukra<strong>in</strong>ern<br />

und „Zigeunern“ damit, dass die Justiz nicht geeignet sei, Wesentliches zur Ausrottung dieser Völker<br />

beizutragen. Er bezeichnete es als „Wahns<strong>in</strong>n“, <strong>in</strong> <strong>den</strong> besetzten Gebieten Osteuropas „Gerichte<br />

aufzuziehen, noch dazu deutsche Gerichte“.<br />

Nicht nur die Vollstreckung von H<strong>in</strong>richtungen, auch die Lenkung der Rechtsprechung trieb Thierack,<br />

wie se<strong>in</strong>e Biograph<strong>in</strong> ausführt, energisch voran. Es blieb nicht bei <strong>den</strong> Richterbriefen und <strong>den</strong><br />

von se<strong>in</strong>em ungeliebten und bald wieder verdrängten Staatssekretär Rothenberger erfun<strong>den</strong>en Vor-<br />

und Nachschauen von Verhandlungen. Zuweilen griff der von Untergebenen als rücksichtslos und<br />

autokratisch geschilderte Thierack <strong>in</strong> Verfahren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Weise e<strong>in</strong>, die nicht e<strong>in</strong>mal mehr <strong>den</strong> eigentlich<br />

angestrebten Sche<strong>in</strong> richterlicher Unabhängigkeit wahrte. E<strong>in</strong>e nichtpolitische Strafsache, von<br />

der Hitler aus der Zeitung erfahren hatte und <strong>in</strong> der er das Urteil <strong>für</strong> zu milde hielt, wollte der frisch<br />

gebackene Justizm<strong>in</strong>ister gar dazu nutzen, sich als „Oberster Reichsrichter“ e<strong>in</strong>setzen zu lassen, um<br />

als solcher e<strong>in</strong> Urteil nach dem Gusto des „Führers“ zu fällen; er machte dann aber e<strong>in</strong>en Rückzieher.<br />

Das Vertrauen Hitlers genoss er je<strong>den</strong>falls, <strong>den</strong>n dieser verfügte <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em „politischen Testament“,<br />

dass Thierack <strong>in</strong> der Dönitz’schen Gespensterregierung weiterh<strong>in</strong> als Justizm<strong>in</strong>ister fungieren<br />

sollte. Dönitz entschied sich aber <strong>für</strong> Thieracks letzten Staatssekretär Klemm. Als er sich im Nürn-<br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


100 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

berger Juristenprozess se<strong>in</strong>er Verantwortung stellen sollte, flüchtete sich der <strong>in</strong> britischem Gewahrsam<br />

bef<strong>in</strong>dliche Thierack am 26. Oktober 1946 <strong>in</strong> <strong>den</strong> Suizid.<br />

Konstanze Braun stellt se<strong>in</strong>en Werdegang <strong>in</strong> klarer und schnörkelloser Sprache auf der Basis umfangreicher<br />

Quellenrecherchen dar. Der methodische Ansatz der Arbeit ist jedoch e<strong>in</strong> re<strong>in</strong> positivistischer,<br />

ohne dass dies <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Weise reflektiert wäre. Hier und auch der unzureichen<strong>den</strong> E<strong>in</strong>ordnung<br />

<strong>in</strong> das Gesamtgeschehen zeigen sich typische Schwächen e<strong>in</strong>er als juristisches Nebenfach<br />

betriebenen Zeitgeschichtsschreibung, die Anlass geben, e<strong>in</strong>mal mehr <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e stärkere gegenseitige<br />

Wahrnehmung der <strong>in</strong> vieler H<strong>in</strong>sicht unmittelbar benachbarten Diszipl<strong>in</strong>en Rechtsgeschichte und<br />

<strong>Zeitgeschichte</strong> zu appellieren. In Brauns Thierack-Biographie wird etwa der persönliche Anteil ihres<br />

Protagonisten an der Berufsverbotspolitik <strong>für</strong> jüdische Juristen nicht klar, weil sie auf das sogenannte<br />

Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums ebenso wenig e<strong>in</strong>geht wie etwa vergleichend<br />

auf die Praxis <strong>in</strong> Preußen oder Bayern. Auch Thieracks wichtige Rolle bei der Nacht- und Nebeljustiz,<br />

bei der er ebenfalls große Bereitwilligkeit zur Kooperation mit SS und Gestapo an <strong>den</strong> Tag legte [5],<br />

bleibt unbeleuchtet. Selbst der Versuch e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>ordnung des Justizm<strong>in</strong>isters <strong>in</strong> das Herrschaftsgefüge<br />

des NS-Regimes unterbleibt. So ist Konstanze Brauns Studie gewiss nicht das letzte Wort zu Thierack.<br />

Nichtsdestoweniger hat sie e<strong>in</strong> lesenswertes Buch vorgelegt und die Erforschung der NS-Justiz<br />

um e<strong>in</strong>en wichtigen Schritt vorwärts gebracht.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Gert Buchheit: Richter <strong>in</strong> roter Robe. Freisler, Präsi<strong>den</strong>t des Volksgerichtshofes. München 1968;<br />

Helmut Ortner: Der H<strong>in</strong>richter. Roland Freisler, Mörder im Dienste Hitlers. Wien 1993. Stephan<br />

Breun<strong>in</strong>g: Roland Freisler: Rechtsideologien im III. Reich. Neuhegelianismus kontra Hegel.<br />

Hamburg 2002.<br />

[2] Neben Ekkehard Reitter: Franz Gürtner, politische Biographie e<strong>in</strong>es deutschen Juristen 1881 –<br />

1941. Berl<strong>in</strong> 1976, ist auch Lothar Gruchmann zu <strong>den</strong> Gürtner-Biographen zu zählen, der se<strong>in</strong><br />

Grundlagenwerk zur Justiz <strong>in</strong> der Ära Gürtner mit e<strong>in</strong>em umfangreichen biographischen Abriss<br />

beg<strong>in</strong>nt; vgl. Lothar Gruchmann: Justiz im Dritten Reich 1933 – 1940. Anpassung und Unterwerfung<br />

<strong>in</strong> der Ära Gürtner. 3., verbesserte Auflage. München 2001, dar<strong>in</strong> Kapitel I (9 – 83):<br />

Justizm<strong>in</strong>ister unter Hitler. Das Schicksal des national-konservativen Beamten Franz Gürtner<br />

(1881 – 1941).<br />

[3] Michael Förster: Jurist im Dienst des Unrechts. Leben und Werk des ehemaligen Staatssekretärs<br />

im Reichsjustizm<strong>in</strong>isterium, Franz Schlegelberger (1876 – 1970), Ba<strong>den</strong>-Ba<strong>den</strong> 1995.<br />

[4] Susanne Schott: Curt Rothenberger – e<strong>in</strong>e politische Biographie. Halle/Saale 2001.<br />

[5] Vgl. Lothar Gruchmann: „Nacht- und Nebel“-Justiz. Die Mitwirkung deutscher Strafgerichte an<br />

der Bekämpfung des Widerstandes <strong>in</strong> <strong>den</strong> besetzten europäischen Ländern 1942–1944, <strong>in</strong>: Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong> 29 (1981), 342-396.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


Mart<strong>in</strong> L. Davies/Claus-Christian W. Szejnmann (eds.): How the Holocaust Looks Now:<br />

International Perspectives, Bas<strong>in</strong>gstoke: Palgrave Macmillan 2007, xxxix + 282 S.,<br />

ISBN 978-0-230-00147-3, USD 79,95<br />

Rezensiert von Anna Hájková<br />

Department of History, University of Toronto<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 3<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/03/15913.html<br />

The last fifteen years have seen a significant growth of scholarly<br />

<strong>in</strong>terest <strong>in</strong> the Holocaust. Follow<strong>in</strong>g an <strong>in</strong>itial focus on<br />

empirical analysis on the atrocities of the Nazi regime, a<br />

whole branch of study has turned to issues of memory <strong>in</strong> recent<br />

years. Why did societies wait for such a long time to<br />

study the horrible past systematically and try to make sense<br />

of what happened? The collection of essays at hand, edited by<br />

Mart<strong>in</strong> Davies and Claus-Christian Szejnmann, focuses on<br />

the role of the Holocaust <strong>in</strong> such different fields as popular<br />

memory and commemoration, representation <strong>in</strong> art and literature,<br />

and survivors testimonies and education. The volume<br />

struggles a number of imbalances: it presents itself as an <strong>in</strong>ternational<br />

project, yet eleven of twenty-three contributions<br />

have German authors and five are written by Swedish contributors<br />

(all of them associated with a s<strong>in</strong>gle <strong>in</strong>stitution).<br />

Some of the authors offer descriptive accounts, while others<br />

pursue a more analytical exam<strong>in</strong>ation. Also, some authors’ attempts<br />

to relate their analyses to theoretical concepts are<br />

more successful than others. In the follow<strong>in</strong>g, I shall discuss<br />

the strengths and weaknesses of the volume <strong>in</strong> greater detail on the basis of four articles, concentrat<strong>in</strong>g<br />

on the more successful ones, which deserve the attention of wider public.<br />

Olaf Jensen exam<strong>in</strong>es how different German postwar generations perceived their families’ past <strong>in</strong><br />

the Second World War. The essay summarizes a larger project that spawned a vivacious discussion<br />

<strong>in</strong> Germany upon its publication <strong>in</strong> 2002. [1] An <strong>in</strong>terdiscipl<strong>in</strong>ary research team conducted over 180<br />

<strong>in</strong>terviews with 40 German, non-Jewish families; they talked to grandparents (witnesses), their children,<br />

and grandchildren. Exam<strong>in</strong>ation of the <strong>in</strong>terviews produced some genu<strong>in</strong>ely ironic results.<br />

Accord<strong>in</strong>g to the author, the generation of grandchildren tend to see their grandparents as “good<br />

guys,” largely ignorant about the Nazi crimes. The grandparents, however, provide a more complex<br />

narrative and often acknowledge their own crimes as soldiers or their knowledge of them. These<br />

f<strong>in</strong>d<strong>in</strong>gs are even more strik<strong>in</strong>g, as they occur before the background of the thorough Holocaust education<br />

common <strong>in</strong> German schools. The second and third generations of <strong>in</strong>terviewees were well<br />

aware of the crim<strong>in</strong>ality of the Nazi regime. Jensen expla<strong>in</strong>s this paradox with the way the children<br />

assign mean<strong>in</strong>g to family narratives. Endow<strong>in</strong>g <strong>in</strong>dividual narratives with mean<strong>in</strong>g takes place


102 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

with<strong>in</strong> a social discourse that precedes prevail<strong>in</strong>g patterns <strong>in</strong> education and commemoration. Children<br />

understandably do not want Nazi grandparents and unconsciously attribute aspects of the narratives<br />

of suffer<strong>in</strong>g they know from school to their grandparents.<br />

Jensen’s article is particularly reward<strong>in</strong>g because it makes us aware of the extent to which German<br />

grandchildren’s treatment of family narratives is noth<strong>in</strong>g specifically German. All narrators<br />

strive to give their narratives i<strong>den</strong>tity and <strong>in</strong>ner logic; these stories are shaped by the autobiographic<br />

specificity of the protagonist (“my grandfather was the only lucky one who survived the battle”). We<br />

can see the same patterns <strong>in</strong> other narratives, for example, <strong>in</strong> those by Holocaust survivors. Veronika<br />

Zangl, whose article I discuss below, mentions similar aspects. These f<strong>in</strong>d<strong>in</strong>gs are also confirmed <strong>in</strong><br />

Isabella Matauschek’s essay on <strong>in</strong>terfamilial narratives <strong>in</strong> Denmark and the Netherlands. As <strong>in</strong> the<br />

German case, Danish and Dutch youth <strong>in</strong>terpret the past <strong>in</strong> a black-and-white manner and attribute to<br />

their grandparents the roles of overwhelm<strong>in</strong>g heroes. To be sure, there are national specificities: In<br />

the Netherlands and Denmark more than <strong>in</strong> Germany, the Holocaust <strong>in</strong> general and the story of Anne<br />

Frank <strong>in</strong> particular provide the dom<strong>in</strong>ant frame of reference. Family memories persist, but the ways<br />

<strong>in</strong> which they are <strong>in</strong>terpreted and by which they are assigned mean<strong>in</strong>g is <strong>in</strong>fluenced by a larger framework<br />

about the Holocaust.<br />

While Jensen and Matauschek analyse the shift<strong>in</strong>g of memory as a phenomenon per se, Barbara<br />

Törnquist Plewa’s essay takes a more partisan and alas less discern<strong>in</strong>g approach. In her contribution,<br />

she analyses how non-Jewish <strong>in</strong>habitants of Szydłowiec, a town <strong>in</strong> Mazovian Poland, dealt with the<br />

memory of the large Jewish community that had lived there before the war. After years of neglect<strong>in</strong>g<br />

“the Jewish marks <strong>in</strong> the urban landscape” (117), as she calls them, young Warsaw <strong>in</strong>tellectuals began<br />

to discover the Jewish cemetery <strong>in</strong> the 1970s. This, together with post-1989 signals from the<br />

Polish government to take care of the Jewish heritage, changed the municipal leadership’s attitude<br />

toward the town’s Jewish past. The author argues that, on a small scale <strong>in</strong> Szydłowiec and on a large<br />

scale <strong>in</strong> Poland as a whole, Jewish memory is currently becom<strong>in</strong>g part of the Polish national memory.<br />

Törnquist Plewa expla<strong>in</strong>s Szydłowiec’s historical amnesia as a consequence of Polish anti-<br />

Semitism and the local population’s belief <strong>in</strong> the early postwar era <strong>in</strong> the existence of a close l<strong>in</strong>k between<br />

the communist regime and Jews.<br />

Plewa’s article is problematic for two reasons: the superficial usage of a theoretical concept that<br />

she misunderstands, and a ten<strong>den</strong>cy to draw simplistic conclusions. The goal of the article is to “f<strong>in</strong>d<br />

out how local decision makers organise collective memory, of what they choose to rem<strong>in</strong>d people,<br />

and what is suppressed” (116). For one, collective memory is never explicit, nor can it be planned.<br />

Inherent to a group i<strong>den</strong>tity, it is an emotionally charged, <strong>in</strong>strumentalis<strong>in</strong>g view of the past used to<br />

make sense of the present and of the “self.” To expla<strong>in</strong> it, we should analyse how and what people<br />

remember, if and <strong>in</strong> what way they commemorate a different group, and try to f<strong>in</strong>d its function. As<br />

far as the latter task goes, much material rema<strong>in</strong>s to be studied regard<strong>in</strong>g Polish-Jewish postwar remember<strong>in</strong>g<br />

and <strong>in</strong>teraction, but it demands greater openness for complexities and a more thorough<br />

theoretical background. [2] I f<strong>in</strong>d Törnquist Plewa’s depiction of the present Polish <strong>in</strong>terest <strong>in</strong> former<br />

Jewish neighbours as a positive development ill-conceived: Does remember<strong>in</strong>g m<strong>in</strong>ority groups<br />

make us better people? And can this sort of “memory” really serve as an analytical category? Moreover,<br />

the author’s moraliz<strong>in</strong>g approach leaves the reader uncomfortable. For example, she relates<br />

how local youngsters used the site of the Jewish cemetery as a venue for their “dr<strong>in</strong>k<strong>in</strong>g orgies”<br />

(120). Mark<strong>in</strong>g this activity as symptomatic of anti-Semitism without further discussion of the significance<br />

of cemeteries <strong>in</strong> the town seems out of place to me: Teenagers worldwide look for an undisturbed<br />

spot to experiment with alcohol; it is a rite of passage.<br />

In contrast, the last piece to be mentioned here makes an abundant use of theoretical concepts, and<br />

is possibly the most excit<strong>in</strong>g one <strong>in</strong> the volume. In it, Veronika Zangl discusses the nature of survivor<br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


103 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

narratives and problems of Holocaust representation. The author argues that the Holocaust narratives,<br />

to a large degree, are <strong>in</strong>fluenced by surround<strong>in</strong>g social structures. Holocaust survivors, like all<br />

narrators, relate to exist<strong>in</strong>g narrative frames <strong>in</strong> formulat<strong>in</strong>g their <strong>in</strong>dividual narratives. What makes a<br />

narrative an <strong>in</strong>dividual one is the specific way <strong>in</strong> which the material is arranged. Accord<strong>in</strong>g to Zangl,<br />

Holocaust testimonies are a narrated entity, but at the same time they represent a narrative void. Exist<strong>in</strong>g<br />

language is not capable of captur<strong>in</strong>g the horror of one’s experience, and words are pushed to<br />

the edge of their possibilities, and become comical. Before the Holocaust, meta-narratives steered<br />

<strong>in</strong>dividual and collective narratives. If old narratives failed to do justice to fundamental changes <strong>in</strong><br />

society and <strong>in</strong>dividual life, new “great stories” (such as the Odyssey) emerged. Referr<strong>in</strong>g to Jean-<br />

François Lyotard and Walter Benjam<strong>in</strong>, Zangl argues that the time of “great stories” had passed <strong>in</strong><br />

the high modern era, at least before the outbreak of World War II. Hence, the survivors’ failure to<br />

describe the Holocaust “adequately” appears to have two causes: the nature of event itself, and the<br />

specifics of narrative framework conditions. At the same time, the Holocaust can be depicted by the<br />

eyewitness on the poetic level: it can be narrated, but not described.<br />

Zangl’s article offers much food for thought. She makes clear that Holocaust testimonies share the<br />

same factors of every autobiographical story: the construction of i<strong>den</strong>tity, narrative frameworks, and<br />

the use of literary genres, topoi, and motifs. I am not entirely persuaded by her argument about the<br />

Holocaust as narrative void, <strong>in</strong> which exist<strong>in</strong>g languages becomes unsuitable to tell others about the<br />

Holocaust. Some <strong>in</strong>-depth analysis of examples would help readers to understand the argument better.<br />

It deserves readers’ attention.<br />

Overall, Zangl’s text, like those by other authors, would have benefited from more str<strong>in</strong>gent edit<strong>in</strong>g.<br />

Most of the authors are not native speakers of English and come from different cultures of academic<br />

writ<strong>in</strong>g, some more easily accessible than others. It is not reasonable to expect the reader to<br />

read passages repeatedly to make sense of them. Although the editors sought to reach beyond a specialist<br />

readership, they did not achieve this goal, and the price of the volume is too high to reverse<br />

the impression created by the essays. [3]<br />

Hence, my reaction is ambivalent. The book offers several remarkable contributions, mak<strong>in</strong>g <strong>in</strong>trigu<strong>in</strong>g<br />

scholarship available <strong>in</strong> English. Altogether, the volume is a mélange of essays of differ<strong>in</strong>g<br />

heuristic quality, level of abstraction, and consistency. The more felicitous essays offer readers <strong>in</strong>sight<br />

<strong>in</strong>to the current state of research on the historical culture of the Holocaust and its methodological<br />

and conceptual trends. Moreover, the gaps <strong>in</strong> consistency mentioned above are possibly not only a<br />

problem of the volume at hand, but also of the entire research branch. In future, such specialised collections<br />

of essays should seek to pursue greater theoretical and conceptual precision.<br />

Notes:<br />

[1] Harald Welzer/Sab<strong>in</strong>e Moller/Karol<strong>in</strong>e Tschuggnall: Opa war ke<strong>in</strong> Nazi. Nationalsozialismus<br />

und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt/Ma<strong>in</strong> 2002.<br />

[2] For a more balanced approach cf. Erica Lehrer: “Bear<strong>in</strong>g False Witness? Vicarious Jewish I<strong>den</strong>tity<br />

and the Politics of Aff<strong>in</strong>ity”, <strong>in</strong>: Imag<strong>in</strong>ary Neighbors. Mediat<strong>in</strong>g Polish-Jewish Relations<br />

after the Holocaust, edited by Dorota Glowacka and Joanna Zyl<strong>in</strong>ska, 84-109, L<strong>in</strong>coln, NE 2007.<br />

[3] See the CfP at http://hsozkult.geschichte.hu-berl<strong>in</strong>.de/term<strong>in</strong>e/id=2627<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


Shalom Eilati: Cross<strong>in</strong>g the River. Aus dem Hebräischen übersetzt von Vern Lenz, Tuscaloosa,<br />

AL: University of Alabama Press 2008, 320 S., ISBN 978-0-8173-1631-0, USD 29,95<br />

Rezensiert von Edith Raim<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/05/16124.html<br />

Obwohl der Holocaust bereits vielfach <strong>für</strong> völlig erforscht<br />

erklärt wurde, entdecken wir stets neue „weiße Flecken“ auf<br />

unserer Landkarte des Wissens. Die am <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Zeit-<br />

geschichte München-Berl<strong>in</strong> vergangenes Jahr abgehaltene<br />

Gettorententagung hat deutlich gemacht, wie ger<strong>in</strong>g unser<br />

Wissen über die osteuropäischen Gettos ist. Dies gilt auch <strong>für</strong><br />

das Getto/KZ Kaunas/Kauen <strong>in</strong> Litauen, das neben Litzmannstadt<br />

und Riga e<strong>in</strong>es der langlebigsten nazistischen Gettos<br />

war und zu dem bis heute ke<strong>in</strong>e größere wissenschaftliche<br />

Abhandlung veröffentlicht ist. [1] Dabei ist die Überlieferung<br />

– anders als bei <strong>den</strong> meisten anderen osteuropäischen Gettos<br />

– eigentlich sehr gut: Dokumente des Ju<strong>den</strong>rats s<strong>in</strong>d ebenso<br />

erhalten wie Fotografien, die der Fotograf Zwi Kadush<strong>in</strong> heimlich<br />

anfertigte. Der stellvertretende Vorsitzende des Ju<strong>den</strong>rats,<br />

Leib Garfunkel, und der Sekretär des Ju<strong>den</strong>rats, Abraham<br />

Tory, haben ihre Tagebücher und Erfahrungsberichte publiziert.<br />

Zahlreiche Überlebende haben ihre Memoiren vorgelegt.<br />

Außerdem existieren e<strong>in</strong>gehende Ermittlungen der Ludwigsburger<br />

Zentralen Stelle sowie deutscher Staatsanwaltschaften zur Rolle der Täter.<br />

H<strong>in</strong>zu kommt, dass das Getto Kaunas zahlreiche Beziehungen zur deutschen oder genauer bayerischen<br />

Geschichte hat. Der SA-Brigadeführer Hans Cramer, Dachauer Bürgermeister von 1937 bis<br />

1939, avancierte <strong>in</strong> Kaunas im August 1941 zum Chef der deutschen Zivilverwaltung, <strong>in</strong> dessen Zuständigkeit<br />

damit auch das Getto fiel. Im November 1941 wur<strong>den</strong> etwa fünftausend aus dem Reich<br />

verschleppte Ju<strong>den</strong> im IX. Fort, e<strong>in</strong>er zaristischen Befestigungsanlage bei Kaunas, erschossen, unter<br />

ihnen auch über e<strong>in</strong>tausend Münchner Ju<strong>den</strong>. Im Juli 1944 wur<strong>den</strong> nach der Liquidierung des KZ<br />

Kauen e<strong>in</strong>ige tausend männliche Überlebende <strong>in</strong> die umgekehrte Richtung deportiert, um <strong>in</strong> dem<br />

Dachauer Außenlagerkomplex Kaufer<strong>in</strong>g Zwangsarbeit zu leisten. Der Ju<strong>den</strong>älteste von Kaunas, der<br />

Arzt Dr. Elchanan Elkes, liegt auf e<strong>in</strong>em KZ-Friedhof im Gewerbegebiet von Landsberg am Lech<br />

begraben. In der frühen Nachkriegszeit wur<strong>den</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong> Displaced-Persons (DP)-Lagern <strong>in</strong> Bayern die<br />

ersten Er<strong>in</strong>nerungen an <strong>den</strong> Holocaust gesammelt, niedergeschrieben und veröffentlicht, bevor die<br />

Überleben<strong>den</strong> <strong>in</strong> Israel und <strong>den</strong> USA e<strong>in</strong> neues Leben begannen. In München wurde mit der von<br />

1946 bis 1948 ersche<strong>in</strong>en<strong>den</strong> jiddischsprachigen Publikation „Fun Letztn Churbn“ (Von der letzten<br />

Vernichtung) die erste wissenschaftliche Zeitschrift herausgegeben, die sich ausschließlich der Holocaustgeschichtsschreibung<br />

widmete. [2]


105 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Kaunas hatte im Juni 1941 etwa 40.000 jüdische E<strong>in</strong>wohner, von <strong>den</strong>en bei Kriegsende nur noch<br />

schätzungsweise 2.000 – zumeist verstreut an anderen Orten <strong>in</strong> Europa – am Leben waren. Der Holocaust<br />

<strong>in</strong> Litauen nahm dabei e<strong>in</strong>en fundamental anderen Verlauf als etwa <strong>in</strong> Polen: Vom ersten Tag<br />

der deutschen Besatzung an fan<strong>den</strong> Massenmorde statt, sodass Ende 1941 bereits 80 Prozent aller litauischen<br />

Ju<strong>den</strong> tot waren, während <strong>in</strong> Polen die Mordaktionen vor allem <strong>in</strong> die Jahre 1942 und 1943<br />

fallen. In Kaunas selbst wur<strong>den</strong> alle<strong>in</strong> im Juni und Juli 1941 zwischen 8.000 und 10.000 Menschen<br />

ermordet, sodass zum 15. August 1941 lediglich noch drei Viertel der früheren jüdischen Bevölkerung<br />

von Kaunas <strong>in</strong> <strong>den</strong> ärmlichen Vorort Vilijampolė (jiddisch Slobodka) <strong>in</strong> das Getto gezwungen<br />

wer<strong>den</strong> konnten.<br />

Insgesamt schätzt man, dass etwa 95 Prozent der litauischen Ju<strong>den</strong> getötet wur<strong>den</strong>. Die Zahl der<br />

überleben<strong>den</strong> litauischen jüdischen K<strong>in</strong>der betrug Schätzungen zufolge um 200, wobei viele von ihnen<br />

zwangsweise zum Katholizismus bekehrt und häufig gegen nicht unbeträchtliche Geldsummen bei<br />

nicht jüdischen Familien versteckt wor<strong>den</strong> waren.<br />

Die Autobiografie e<strong>in</strong>es dieser K<strong>in</strong>der liegt jetzt auf Englisch vor. Shalom Eilati, damals Sholik<br />

Kaplan, wurde 1933 als erstes K<strong>in</strong>d der Dichter<strong>in</strong> und Krankenschwester Leah Greenste<strong>in</strong>-Kaplan<br />

und des Lehrers und Historikers Israel Kaplan geboren. Erst seit e<strong>in</strong>iger Zeit berücksichtigt die Forschung<br />

auch die Erfahrungen der jugendlichen Holocaust-Überleben<strong>den</strong>. [3] E<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d er<strong>in</strong>nert sich<br />

nicht zuletzt an andere K<strong>in</strong>der – dies ist gerade hier von besonderer Bedeutung, da so vielen von ihnen<br />

ke<strong>in</strong> Leben vergönnt war, so etwa dem Schulfreund Hans Haber (71), dessen Familie Ende der 30er<br />

Jahr aus Innsbruck nach Kaunas geflohen war [4], oder Eilatis Freun<strong>den</strong> Arke und Maimke, die von<br />

Kaunas mit e<strong>in</strong>em Transport von 129 acht bis 14-jährigen Jungen via Kaufer<strong>in</strong>g nach Auschwitz-<br />

Birkenau deportiert und dort ermordet wur<strong>den</strong>.<br />

Naturgemäß behält e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d weniger die Orte, Namen und Daten im Gedächtnis. Nichtsdestoweniger<br />

s<strong>in</strong>d manche Er<strong>in</strong>nerungen <strong>in</strong> ihrer Reduziertheit vielleicht treffender als die mancher Erwachsener.<br />

Lakonisch schreibt Eilati <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Er<strong>in</strong>nerungen an die „Große Aktion“ vom 28. Oktober 1941, bei<br />

der 9.200 E<strong>in</strong>wohner des Gettos von dem SS-Hauptscharführer Herbert Rauca selektiert und anschließend<br />

im IX. Fort ermordet wur<strong>den</strong>: „Achtung, halt, kaput(t) – the entire story of the ghetto <strong>in</strong> three<br />

short words.“ (44)<br />

Ruth Klüger stellte fest, dass die entsetzlichen Umstände die Familien ke<strong>in</strong>eswegs enger zusammenrücken<br />

ließen. „Wo es mehr auszuhalten gibt, wird auch die immer prekäre Duldsamkeit <strong>für</strong> <strong>den</strong><br />

Nächsten fa<strong>den</strong>sche<strong>in</strong>iger, und die Familienbande wer<strong>den</strong> rissiger. Während e<strong>in</strong>es Erdbebens zerbricht<br />

erfahrungsgemäß mehr Porzellan als sonst.“ [5] Dies deckt sich mit Eilatis Erfahrung: Mit e<strong>in</strong>er<br />

Cous<strong>in</strong>e, die sich um e<strong>in</strong>e junge Nichte der Mutter kümmern sollte, diese aber während der „Großen<br />

Aktion“ <strong>in</strong> der Obhut älterer Nachbarn ließ, die alle selektiert und getötet wur<strong>den</strong>, wird die Mutter<br />

nie wieder e<strong>in</strong> Wort wechseln (49). Der etwas weltfremde Vater verschw<strong>in</strong>det ebenfalls fast wortlos<br />

aus der Geschichte, da er sich – gegen <strong>den</strong> Rat der Mutter – freiwillig zu e<strong>in</strong>em Appell begibt, nachdem<br />

ihm von <strong>den</strong> Funktionären im Getto zugesagt wor<strong>den</strong> war, er würde nicht <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en geplanten<br />

Transport nach Riga rekrutiert wer<strong>den</strong>. Er hofft, nach e<strong>in</strong>er Inspektion se<strong>in</strong>er Arbeitspapiere wieder<br />

weggeschickt zu wer<strong>den</strong>, stattdessen wer<strong>den</strong> alle, die zum Sammelplatz gekommen waren, <strong>für</strong> <strong>den</strong><br />

Transport zurückbehalten. Vergeblich s<strong>in</strong>d die Anstrengungen der Mutter und von Angehörigen des<br />

Ju<strong>den</strong>rats, ihn aus der ausgewählten Gruppe auszulösen.<br />

Warum litauische Ju<strong>den</strong> aus Kaunas im Februar 1942 (und erneut im Oktober 1942) nach Riga<br />

deportiert wur<strong>den</strong>, nachdem dort lettische Ju<strong>den</strong> zu Zehntausen<strong>den</strong> im November und Dezember<br />

1941 ermordet wor<strong>den</strong> war, muss wohl das Geheimnis der deutschen Besatzer bleiben. Die Mutter<br />

wird sich <strong>für</strong> <strong>den</strong> Rest ihres kurzen Lebens vorwerfen, dass sie sich nicht genügend beim Ju<strong>den</strong>rat<br />

um die Freilassung ihres Mannes bemüht hat, weil sie <strong>in</strong> der Nacht vor dem Abtransport des Vaters<br />

bei ihrem kranken Sohn bleiben musste. Der Sohn fühlt sich mitschuldig gegenüber se<strong>in</strong>er jüngeren<br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


106 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Schwester, weil er sich nicht von ihr verabschiedet, als sie aus dem Getto geschmuggelt wird. Er<br />

wird sie nie wiedersehen.<br />

Das Buch ist vor allem e<strong>in</strong>e Hommage an Eilatis Mutter, die sich dem Untergrund anschließt und<br />

die es – auch durch Aufbr<strong>in</strong>gung großer Summen Geldes – schafft, <strong>für</strong> ihre bei<strong>den</strong> K<strong>in</strong>der Verstecke zu<br />

f<strong>in</strong><strong>den</strong>. Als die Vernichtung des Gettos Wilna (September 1943) und die „K<strong>in</strong>deraktion“ im Getto/KZ<br />

Schaulen (November 1943) <strong>in</strong> Kaunas bekannt wer<strong>den</strong>, wird auch hier die Liquidierung be<strong>für</strong>chtet.<br />

Im Dezember 1943 br<strong>in</strong>gt die Mutter die sechse<strong>in</strong>halbjährige Tochter Yehudith jenseits des Flusses<br />

Neris, der <strong>den</strong> Gettovorort Vilijampolė von der Stadt Kaunas trennt, bei e<strong>in</strong>er litauischen Bekannten<br />

unter, nach der „K<strong>in</strong>deraktion“ vom März 1944 im Getto/KZ Kauen rettet sie auch <strong>den</strong> Sohn, der bei<br />

mehreren litauischen Familien die letzten Monate bis zur Befreiung übersteht und im August 1944 <strong>in</strong><br />

die Ru<strong>in</strong>en des Gettos zurückkehrt. Dem Sohn schenkt die Mutter zweimal das Leben: E<strong>in</strong>mal bei<br />

se<strong>in</strong>er Geburt und e<strong>in</strong> zweites Mal, als sie ihn von sich wegschickt mit der strengen Auflage, sich auf<br />

se<strong>in</strong>em Weg aus dem Getto nicht umzudrehen, um ke<strong>in</strong>en Verdacht zu erregen. Die jüngere Tochter<br />

Yehudith dagegen wird von ihrer „Gastfamilie“ noch im Sommer 1944 <strong>den</strong> deutschen Behör<strong>den</strong><br />

ausgeliefert, die Mutter stirbt kurz vor der Befreiung bei e<strong>in</strong>em Fluchtversuch aus dem Getto/KZ.<br />

Sholik Kaplan erfährt <strong>in</strong> der frühen Nachkriegszeit durch e<strong>in</strong>en Brief se<strong>in</strong>es Vaters, dass dieser <strong>in</strong><br />

München lebt und reist über Wilna, M<strong>in</strong>sk, Brest-Litowsk, Warschau, Lodz, Posen, Stett<strong>in</strong> und Berl<strong>in</strong><br />

nach Nürnberg, wo ihn der Vater abholt. In München wohnen sie <strong>in</strong> der Borstei – ausgerechnet<br />

an der Straße, die nach Dachau führt, wie der Sohn bemerkt (251).<br />

Das Buch erzählt von dem großen Schmerz, der die überleben<strong>den</strong> Familienangehörigen pe<strong>in</strong>igt.<br />

Der Sohn wirft dem Vater vor, die Mutter grundlos mit zwei kle<strong>in</strong>en K<strong>in</strong>dern alle<strong>in</strong>gelassen zu haben.<br />

Der Vater leidet daran, dass er Ehefrau und Tochter nicht vor der Vernichtung bewahren konnte und<br />

wird bis an se<strong>in</strong> Lebensende nicht über ihren Tod sprechen, ja selbst ihren Namen im Totengebet<br />

nicht erwähnen können. Den Sohn quält, dass se<strong>in</strong> Vater ihn nicht nach se<strong>in</strong>em Schicksal fragt:<br />

„What happened to me, to me and no one else, what I had lived through and was hurt by, what frightened<br />

me and grieved me, how I worried and feared – he never discovered that, because he never<br />

asked.“ (254) Dabei befragt der Vater, e<strong>in</strong> Pionier der Holocausthistoriografie und Herausgeber der<br />

Zeitschrift „Fun Letztn Churbn“, so viele andere, als er im DP-Lager, der Münchner Flakkaserne,<br />

Zeugnisse der Überleben<strong>den</strong> der Gettos und KZ sammelt und auf jiddisch veröffentlicht. (Die Dokumente<br />

sollten später e<strong>in</strong>en ersten wesentlichen Bestandteil des Archivs von Yad Vashem bil<strong>den</strong>). So<br />

schreibt der Sohn se<strong>in</strong>e Geschichte <strong>für</strong> die Mutter, die nicht überlebte, <strong>den</strong> Vater, der nie fragte, aber<br />

auch <strong>für</strong> se<strong>in</strong>e eigenen K<strong>in</strong>der und nicht zuletzt <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressierte Nachwelt (261).<br />

Franz Kafka hat 1904 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Brief an se<strong>in</strong>en Freund Oscar Pollak formuliert: „Wir brauchen<br />

aber die Bücher, die auf uns wirken wie e<strong>in</strong> Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod e<strong>in</strong>es, <strong>den</strong><br />

wir lieber hatten als uns, wie wenn wir <strong>in</strong> Wälder verstoßen wür<strong>den</strong>, von allen Menschen weg, wie<br />

e<strong>in</strong> Selbstmord, e<strong>in</strong> Buch muss die Axt se<strong>in</strong> <strong>für</strong> das gefrorene Meer <strong>in</strong> uns.“ Ja, das hier ist so e<strong>in</strong><br />

Buch. Und ja, hier gilt: „Aufbewahren <strong>für</strong> alle Zeit“.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Die immer noch beste knappe Darstellung bietet Christoph Dieckmann: Das Getto und das<br />

Konzentrationslager <strong>in</strong> Kaunas, 1941–1944, <strong>in</strong>: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager.<br />

Entwicklung und Struktur, hrsg. von Ulrich Herbert/Kar<strong>in</strong> Orth/Christoph Dieckmann, Gött<strong>in</strong>gen<br />

1998, Bd. 1, 438-471. E<strong>in</strong>en guten E<strong>in</strong>druck von der Fülle schriftlicher und bildlicher Zeugnisse<br />

des Gettos gibt der Ausstellungsband Hid<strong>den</strong> History of the Kovno Ghetto, Wash<strong>in</strong>gton D.C. 1997.<br />

[2] Vgl. Laura Jockusch: Jüdische Geschichtsforschung im Lande Amaleks. Jüdische historische<br />

Kommissionen <strong>in</strong> Deutschland 1945–1949, <strong>in</strong>: Zwischen Er<strong>in</strong>nerung und Neubeg<strong>in</strong>n. Zur<br />

deutsch-jüdischen Geschichte nach 1945. hrsg. von Susanne Schönborn, München 2006, 20-41.<br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


107 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

[3] Vgl. Feliks Tych u.a. (Hrsg.): K<strong>in</strong>der über <strong>den</strong> Holocaust. Frühe Zeugnisse 1944–1948, Berl<strong>in</strong><br />

2008; auch Boaz Cohen: The Children’s Voice: Post-War Collection of Testimonies from Children<br />

Survivors of the Holocaust, <strong>in</strong>: Holocaust and Genocide Studies, Spr<strong>in</strong>g 2007, 74-95.<br />

[4] Der e<strong>in</strong>zige Überlebende der vierköpfigen Familie war der ältere Bruder Ernst David Haber.<br />

Vgl. David Ben-Dor: Die schwarze Mütze. Geschichte e<strong>in</strong>es Mitschuldigen. Leipzig 2000.<br />

[5] Ruth Klüger: weiter leben. E<strong>in</strong>e Jugend. Gött<strong>in</strong>gen 1992, 55.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


Gianluca Falanga: Mussol<strong>in</strong>is Vorposten <strong>in</strong> Hitlers Reich. Italiens Politik <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> 1933–1945,<br />

Berl<strong>in</strong>: L<strong>in</strong>ks 2008, ISBN 978-3-86153-493-8, 334 S., EUR 29,90<br />

Rezensiert von Patrick Bernhard<br />

Deutsches Historisches <strong>Institut</strong>, Rom<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 7/8<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/07/15336.html<br />

Es mag erstaunlich kl<strong>in</strong>gen, aber auch nach über 60 Jahren <strong>in</strong>tensiver<br />

Forschung zu Faschismus und Nationalsozialismus<br />

steht e<strong>in</strong>e Gesamtgeschichte der „Achse“ Berl<strong>in</strong> – Rom noch<br />

immer aus. [1] Diese Lücke versucht nun Gianluca Falanga,<br />

e<strong>in</strong> <strong>in</strong> Deutschland lebender junger Publizist, zu schließen. Er<br />

nähert sich dem Thema aus der Perspektive der italienischen<br />

Botschaft <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> an – Mussol<strong>in</strong>is „Vorposten“ <strong>in</strong> Deutschland,<br />

wie der Autor formuliert. Er möchte auf diese Weise<br />

h<strong>in</strong>ter die Kulissen der unheilvollen Allianz blicken und deren<br />

Dynamik, aber auch deren <strong>in</strong>nere Konflikte besser verstehen.<br />

Dazu stützt sich Falanga primär auf die e<strong>in</strong>schlägigen Aktenpublikationen<br />

der Außenm<strong>in</strong>isterien <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> und Rom sowie<br />

auf die reichhaltige Memoirenliteratur des beteiligten diplomatischen<br />

Personals aus <strong>den</strong> Jahren nach 1945.<br />

Um es vorab zu sagen: Die Studie h<strong>in</strong>terlässt e<strong>in</strong>en zwiespältigen<br />

E<strong>in</strong>druck. Das liegt erstens an der schmalen und nicht<br />

immer unproblematischen Materialgrundlage der Arbeit: Nicht<br />

publizierte Quellen wur<strong>den</strong> so gut wie gar nicht herangezogen,<br />

zudem s<strong>in</strong>d die Memoiren und Tagebücher der italienischen Botschaftsangehörigen, die Falanga<br />

zu Rate zieht, allesamt nach 1945 erschienen. Falanga hat sich hier nicht e<strong>in</strong>mal die Frage gestellt,<br />

<strong>in</strong>wieweit sich die Er<strong>in</strong>nerung der Akteure <strong>in</strong> der Rückschau überformte; immerh<strong>in</strong> galt es ja e<strong>in</strong>e<br />

beschönigende Erklärung da<strong>für</strong> zu f<strong>in</strong><strong>den</strong>, dass man e<strong>in</strong>er Diktatur zugearbeitet hatte. Diese Egodokumente<br />

sagen deshalb möglicherweise mehr über die Rechtfertigungsstrategien belasteter konservativer<br />

Eliten <strong>in</strong> der jungen italienischen Demokratie aus als über deren Agieren im Faschismus.<br />

Das leitet über auf <strong>den</strong> zweiten problematischen Punkt: Den Ansatz der Arbeit. Bereits Jens Petersen<br />

hatte größte Be<strong>den</strong>ken, se<strong>in</strong>e Studie zur Genesis der „Achse“ Berl<strong>in</strong> – Rom als klassische Diplomatiegeschichte<br />

zu schreiben. Handelte es sich mit Nationalsozialismus und Faschismus doch um zwei<br />

revolutionäre Bewegungen, die gerade die traditionelle Bürokratie zu überw<strong>in</strong><strong>den</strong> suchten – nicht<br />

zuletzt durch <strong>den</strong> Aufbau konkurrierender Parteistellen. Entsprechend bildete sich auch e<strong>in</strong>e Paralleldiplomatie<br />

aus. Wie Falanga selbst e<strong>in</strong>räumt, waren die Botschaften <strong>in</strong> Rom und Berl<strong>in</strong> bald bei wichtigen<br />

Themen nur mehr Zaungäste, die lediglich zur Organisation von Besuchsreisen von Staats- und<br />

Parteigrößen h<strong>in</strong>zugezogen wur<strong>den</strong>. Vom italienischen Überfall auf Albanien erfuhren die Botschaftsangehörigen<br />

<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> beispielsweise aus dem Radio.


109 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Auch bei Falanga sche<strong>in</strong>t zum<strong>in</strong>dest ansatzweise immer wieder auf, dass es sich bei der „Achse“<br />

um weitaus mehr handelte als e<strong>in</strong> herkömmliches Bündnis. In <strong>den</strong> zehn Jahren zwischen der „Machtergreifung“<br />

Hitlers und dem Sturz Mussol<strong>in</strong>is entwickelte sich vielmehr auf allen Ebenen – sei es<br />

Wirtschaft, Militär oder Staat – e<strong>in</strong> dichtes Netz von bilateralen Kontakten zwischen <strong>den</strong> bei<strong>den</strong><br />

Diktaturen. Falanga verweist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang etwa kurz auf die Zusammenarbeit zwischen<br />

<strong>den</strong> bei<strong>den</strong> politischen Polizeien sowie auf die Beziehungen zwischen der NSDAP und der Faschistischen<br />

Partei. All das lässt es sehr fraglich ersche<strong>in</strong>en, ob man über die diplomatischen Beziehungen<br />

im engeren S<strong>in</strong>ne wirklich zu vertieften E<strong>in</strong>sichten <strong>in</strong> <strong>den</strong> Charakter des faschistischen Achsenbündnisses<br />

gelangen kann.<br />

Gravierender noch s<strong>in</strong>d drittens die vielen Inkonsistenzen <strong>in</strong> der Argumentation Falangas. Der<br />

Autor beruft sich nämlich <strong>in</strong> der Darstellung auf zwei völlig konträre historiografische Deutungen<br />

des Faschismus. Zum e<strong>in</strong>en betont er unter Berufung auf Renzo De Felice, <strong>den</strong> man wohl als revisionistischen<br />

Historiker bezeichnen muss, wie unterschiedlich die bei<strong>den</strong> faschistischen Diktaturen angeblich<br />

gewesen seien. E<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Weltanschauung habe es nicht gegeben, so Falanga ganz<br />

explizit, der sich damit <strong>in</strong> das Fahrwasser des umstrittenen Mussol<strong>in</strong>ibiografen begibt (10). Nach<br />

Falangas festem Da<strong>für</strong>halten habe sich das faschistische Achsenbündnis im Gegenteil durch divergierende<br />

Interessen und machtpolitische Rivalitäten ausgezeichnet und sei daran letztlich auch gescheitert.<br />

Auf der anderen Seite weist Falanga jedoch – gestützt auf neueste, De Felice massiv widersprechende<br />

Forschungsliteratur [2] – auf weitreichende gegenseitige E<strong>in</strong>flussnahmen, enge Kooperationen<br />

und wachsende Aff<strong>in</strong>itäten <strong>in</strong> der faschistischen Allianz h<strong>in</strong>; hier liegen dann auch die Stärken des<br />

Buches. So macht der Autor etwa deutlich, wie sehr das bereits seit 1922 herrschende faschistische<br />

Regime nach der Machtergreifung Hitlers auf die noch junge deutsche Diktatur ausstrahlte: In zentralen<br />

Bereichen des nationalsozialistischen Herrschaftssystems kam es zu Lern- und Adaptionsprozessen.<br />

Falanga macht nicht nur darauf aufmerksam, dass die NS-Freizeitorganisation „Kraft durch<br />

Freude“ e<strong>in</strong>e be<strong>in</strong>ahe detailgetreue Kopie des faschistischen Dopolavoro darstellte. E<strong>in</strong>iges spricht<br />

zudem da<strong>für</strong>, dass sich auch die HJ von der faschistischen Jugendorganisation Balilla <strong>in</strong>spirieren<br />

ließ. Selbst <strong>in</strong> der Frage von Gewalt und Repression nahm sich das ‚Dritte Reichʻ allem Ansche<strong>in</strong><br />

nach am Faschismus e<strong>in</strong> Beispiel. Falanga kann hier gleich mit e<strong>in</strong>er ganzen Reihe e<strong>in</strong>deutiger<br />

Äußerungen Hitlers und se<strong>in</strong>es engsten Führungskreises aufwarten. Besonders aufschlussreich ist e<strong>in</strong><br />

Gespräch, das der neue Reichskanzler mit Botschafter Vittorio Cerrutti am 5. Februar 1933 führte.<br />

Gegenüber se<strong>in</strong>em italienischen Gesprächspartner zeigte sich Hitler voller Bewunderung da<strong>für</strong>, wie<br />

sehr es Italien seit der Machtergreifung Mussol<strong>in</strong>is verstan<strong>den</strong> habe, sich gegen <strong>den</strong> „Marxismus zu<br />

verteidigen“. Er werde <strong>in</strong> kurzer Zeit ebenfalls unter Beweis stellen, wie man mit dem Fe<strong>in</strong>d umzugehen<br />

habe. Das war nur zwei Wochen vor dem Reichstagsbrand, der Hitler dann als Vorwand diente,<br />

se<strong>in</strong>e Drohungen gegenüber der KPD und SPD wahr zu machen. Hier zeigt sich überaus e<strong>in</strong>drucksvoll,<br />

welch außeror<strong>den</strong>tliche Referenzpunkte der Faschismus und <strong>in</strong>sbesondere Mussol<strong>in</strong>i <strong>für</strong> Hitler<br />

darstellten.<br />

Wie das jedoch zusammengehen soll mit e<strong>in</strong>er „wachsen<strong>den</strong> Entfremdung“ der bei<strong>den</strong> Regime,<br />

die der Autor bereits <strong>für</strong> das Jahr 1933 attestiert, bleibt völlig unklar (41). Es s<strong>in</strong>d grundlegende Widersprüche<br />

dieser Art, die wohl verh<strong>in</strong>dern wer<strong>den</strong>, dass das Buch zu e<strong>in</strong>em Referenzpunkt der Forschung<br />

wer<strong>den</strong> wird, auch wenn der Autor <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Punkten zu <strong>in</strong>teressanten neuen E<strong>in</strong>sichten<br />

gelangt.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Bislang liegen lediglich die Studie von Jens Petersen zur Entstehung des faschistischen Achsenbündnisses<br />

sowie die entsprechen<strong>den</strong> Arbeiten von Lutz Kl<strong>in</strong>khammer und Frederick Deak<strong>in</strong><br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


110 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

vor, die aber erst <strong>in</strong> der Endphase des Bündnisses e<strong>in</strong>setzen. MacGregor Knox konzentriert sich,<br />

anders als es die Titel se<strong>in</strong>er Arbeiten erwarten lassen, stark auf die militärischen Aspekte der<br />

Allianz. Vgl. Jens Petersen: Hitler – Mussol<strong>in</strong>i. Die Entstehung der Achse Berl<strong>in</strong> – Rom 1933–<br />

1936, Tüb<strong>in</strong>gen 1973; Frederick W. Deak<strong>in</strong>: Die brutale Freundschaft. Hitler, Mussol<strong>in</strong>i und der<br />

Untergang des italienischen Faschismus, Zürich 1962; MacGregor Knox: Common Dest<strong>in</strong>y.<br />

Dictatorship, Foreign Policy, and War <strong>in</strong> Fascist Italy and Nazi Germany, Cambridge 2000; ders.:<br />

To the Threshold of Power, 1922/33: Orig<strong>in</strong>s and Dynamics of the Fascist and National Socialist<br />

Dictatorships, Bd. 1, Cambridge 2007.<br />

[2] Vgl. etwa Thomas Schlemmer (Hrsg.): Die Italiener an der Ostfront 1942/43. Dokumente zu Mussol<strong>in</strong>is<br />

Krieg gegen die Sowjetunion, München 2005.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


Monica Fioravanzo: Mussol<strong>in</strong>i e Hitler. La Repubblica sociale sotto il Terzo Reich, Rom:<br />

Donzelli editore 2009, ISBN 978-88-6036-333-6, 215 S., EUR 16,00<br />

Rezensiert von Amedeo Osti Guerrazzi<br />

Deutsches Historisches <strong>Institut</strong>, Rom<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 6<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/06/16146.html<br />

Wenn von der Repubblica Sociale Italiana (RSI) die Rede ist,<br />

so ist <strong>in</strong> Wissenschaft und Politik am häufigsten die Frage<br />

nach der Rolle Mussol<strong>in</strong>is <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en bei<strong>den</strong> letzten Lebensjahren<br />

diskutiert wor<strong>den</strong>. Die diesbezügliche Debatte hat nicht<br />

nur die Historiker umgetrieben, sondern auch e<strong>in</strong> lebhaftes<br />

Echo <strong>in</strong> <strong>den</strong> Massenmedien gefun<strong>den</strong> – mit dem Ergebnis e<strong>in</strong>er<br />

öffentlichen Ause<strong>in</strong>andersetzung, die nicht ohne Folgen <strong>für</strong><br />

<strong>den</strong> politischen Diskurs geblieben ist. Das Urteil über Mussol<strong>in</strong>i,<br />

<strong>in</strong>sbesondere über <strong>den</strong> republikanischen Faschisten der<br />

Jahre 1943 bis 1945, ist nämlich untrennbar mit dem Urteil<br />

über die Widerstandsbewegung gegen die deutsche Besatzung<br />

und gegen <strong>den</strong> Faschismus verknüpft, deren Überzeugungen<br />

<strong>in</strong> die Verfassung des demokratischen Nachkriegsitalien e<strong>in</strong>geflossen<br />

s<strong>in</strong>d und das politisch-normative System des Staates<br />

bis heute prägen. Wer also von der RSI spricht, kann von<br />

ihren Gegnern und damit auch von <strong>den</strong> politisch-kulturellen<br />

Wurzeln der italienischen Demokratie nicht schweigen. Wir<br />

haben es mit e<strong>in</strong>em Thema zu tun, das die Gelehrten <strong>in</strong> ihren<br />

Studierstuben gleichermaßen bewegt wie viele Zeitgenossen (oder gar Zeitzeugen) und oft zu heftigen<br />

politisch-emotionalen Ausbrüchen führt.<br />

Es ist kaum zu glauben, wie viele Protagonisten der RSI sich nach 1945 zu Wort gemeldet haben;<br />

ihre Er<strong>in</strong>nerungen, Streitschriften, Rekonstruktionen und Reflexionen füllen ganze Bibliotheksregale.<br />

Die Funktionäre, die am meisten auf dem Kerbholz hatten und bei der Bevölkerung besonders verhasst<br />

waren, waren am 28 April erschossen und – wie Alessandro Pavol<strong>in</strong>i, der Generalsekretär der<br />

faschistischen Partei, oder Roberto Far<strong>in</strong>acci, der als Mann der Deutschen galt – zusammen mit<br />

Mussol<strong>in</strong>i <strong>in</strong> Mailand an <strong>den</strong> Füßen aufgehängt zur Schau gestellt wor<strong>den</strong>. Viele andere wur<strong>den</strong> vor<br />

Gericht gestellt und zu Haftstrafen verurteilt, die sie jedoch aufgrund der 1946 von Justizm<strong>in</strong>ister<br />

Palmiro Togliatti verkündeten Amnestie nicht oder nicht vollständig verbüßen mussten. Wieder <strong>in</strong><br />

Freiheit, machten sie sich nicht selten daran, ihre Erlebnisse niederzuschreiben und zu veröffent-<br />

lichen. Zu <strong>den</strong> profiliertesten von ihnen zählten sicherlich Journalisten wie Ugo Manunta, Concetto<br />

Pett<strong>in</strong>ato, Giorgio P<strong>in</strong>i und Bruno Spampanato. Ungeachtet der unübersehbaren Absicht, sich selbst<br />

freizusprechen, und ungeachtet ihrer Polemik gegen die antifaschistischen Kräfte, hat diese Form der<br />

Publizistik nicht nur die öffentliche Me<strong>in</strong>ung (die „kultivierten“ Zeitungsleser), sondern auch die Historiografie<br />

stark bee<strong>in</strong>flusst. Dabei lebten diese Darstellungen von e<strong>in</strong>er bemerkenswerten Persona-


112 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

lisierung der Geschehnisse, sodass sich die Geschichte der RSI auf Mussol<strong>in</strong>i zuzuspitzen schien.<br />

Daraus ergab sich e<strong>in</strong>e Deutung, die ganz auf der L<strong>in</strong>ie der neofaschistischen wie der konservativen<br />

Vulgata lag. Das faschistische Regime erschien als „weiche“ Diktatur, die man auch auf die Persönlichkeit<br />

des „Duce“ zurückführte, der häufig als humaner, ja als grundsätzlich von se<strong>in</strong>em nationalsozialistischen<br />

Gegenstück verschie<strong>den</strong> beschrieben wurde.<br />

Diese weichzeichnende Verzerrung schien ihre Bestätigung nicht zuletzt <strong>in</strong> <strong>den</strong> Anfängen der RSI<br />

zu f<strong>in</strong><strong>den</strong>, wie sie von bestimmten Zeitzeugen geschildert wur<strong>den</strong>. Danach sei der gestürzte Diktator<br />

bei se<strong>in</strong>er Befreiung durch deutsche Fallschirmjäger am 12. September 1943 e<strong>in</strong> gebrochener Mann<br />

gewesen, der nur noch <strong>den</strong> Wunsch gehabt habe, sich <strong>in</strong>s Privatleben zurückzuziehen. In Deutschland<br />

angekommen, sei er jedoch von Hitler, der Inkarnation des Bösen, dazu gezwungen wor<strong>den</strong>, auf<br />

die politische Bühne zurückzukehren und die Zügel noch e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> die Hand zu nehmen. Hätte er<br />

sich geweigert, so wäre Italien gleichsam kolonisiert und auf <strong>den</strong> Status des Generalgouvernements<br />

herabgedrückt wor<strong>den</strong> – jeder staatlichen Struktur beraubt und der Rache der Deutschen ausgeliefert.<br />

Wer e<strong>in</strong>e wissenschaftliche Bestätigung dieser Sicht der D<strong>in</strong>ge suchte, konnte bei Renzo De Felice<br />

nachschlagen. Der bekannte Mussol<strong>in</strong>i-Biograf bekräftigte im letzten Band se<strong>in</strong>es monumentalen<br />

Werks diese Interpretation, stützte sich jedoch ausschließlich auf die Aufzeichnungen von Carlo Silvestri,<br />

e<strong>in</strong>es ehemaligen Sozialisten, der sich <strong>in</strong> <strong>den</strong> letzten Kriegsmonaten Mussol<strong>in</strong>i und der RSI<br />

angenähert hatte.<br />

Monica Fioravanzo hat sich vorgenommen, von dieser Deutung nichts übrig zu lassen. Im ersten<br />

Teil ihres Buches analysiert die Autor<strong>in</strong> De Felices Quellen und setzt sich <strong>in</strong>sbesondere mit Silvestri<br />

ause<strong>in</strong>ander, dessen Aussagen sie im Lichte anderer Zeitzeugenberichte und Dokumente – auch aus<br />

deutschen Archiven – prüft. Daraus ergibt sich, dass Mussol<strong>in</strong>is Motive nichts mit e<strong>in</strong>em freiwilligen<br />

Opfergang zur Verteidigung der Italiener gegen <strong>den</strong> furor teutonicus zu tun hatten. Mussol<strong>in</strong>i<br />

sei im Gegenteil von dem Willen beseelt gewesen, wieder die Macht zu übernehmen und Rache<br />

zu üben, und zwar „im Zeichen e<strong>in</strong>er von politisch-ideologischen Überzeugungen bestimmten Kont<strong>in</strong>uität.“<br />

(54)<br />

Dieses Kapitel ist das beste und orig<strong>in</strong>ellste des Buches, auch wenn es auf e<strong>in</strong>em bereits vor e<strong>in</strong>igen<br />

Jahren veröffentlichten Aufsatz der Autor<strong>in</strong> beruht. Die übrigen Teile analysieren e<strong>in</strong>ige ausgewählte<br />

Aspekte des deutsch-italienischen Bündnisses zwischen 1943 und 1945, darunter die Deportation der<br />

Ju<strong>den</strong>, die Wirtschaftsbeziehungen sowie die Geschichte der Operationszonen Adriatisches Küstenland<br />

und Alpenvorland. Überdies erörtert Monica Fioravanzo generell die Frage nach <strong>den</strong> autonomen<br />

Handlungsspielräumen der faschistischen Regierung. Alles <strong>in</strong> allem zeigt das Buch die totale<br />

Abhängigkeit der RSI von deutschen Weisungen und bestätigt damit bereits h<strong>in</strong>länglich bekannte<br />

Thesen. Wirklich Neues weiß die Autor<strong>in</strong> auch zu <strong>den</strong> Deportationen und zu <strong>den</strong> Wirtschaftsbeziehungen<br />

nicht zu berichten; hier haben Michele Sarfatti (von Renzo De Felices frühen Arbeiten nicht<br />

zu re<strong>den</strong>) und Lutz Kl<strong>in</strong>khammer bereits das Wichtigste gesagt. Monica Fioravanzos Buch ist e<strong>in</strong>e<br />

nützliche Zusammenfassung, angereichert mit e<strong>in</strong>igen neuen Dokumenten. Das historiografische<br />

Problem, das die Autor<strong>in</strong> behandelt, ist jedoch nicht mehr so drängend, wie es ihr zuweilen emphatischer<br />

Ton suggeriert.<br />

Aus dem Italienischen übersetzt von Thomas Schlemmer.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


Stefan Geck: Dulag Luft – Auswertestelle West. Vernehmungslager der Luftwaffe <strong>für</strong> westalliierte<br />

Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg (= Europäische Hochschulschriften, Reihe III:<br />

Geschichte und ihre Hilfswissenschaften; Bd. 1057), Bern/Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang<br />

2008, xx + 544 S., ISBN 978-3-631-57791-2, EUR 86,00<br />

Rezensiert von Felix Römer<br />

Ma<strong>in</strong>z<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 11<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/11/15162.html<br />

Die Historiographie zur Geschichte der modernen Militärnachrichtendienste<br />

wendet sich zunehmend neuen Fragestellungen<br />

zu, nachdem die Defizite der bisherigen Forschung zuletzt<br />

immer mehr zu Tage getreten s<strong>in</strong>d. In der deutschen Forschungslandschaft<br />

erfuhr die Entwicklung der Military Intelligence<br />

<strong>in</strong> der Vergangenheit generell höchstens stiefmütterliche<br />

Aufmerksamkeit. Die englischsprachige Forschung konzentrierte<br />

sich bislang fast ausschließlich auf die griffige Erfolgsstory<br />

der so genannten Signals Intelligence, der mit <strong>den</strong><br />

groß angelegten Programmen „Ultra“ und „Magic“ im Zweiten<br />

Weltkrieg der heimliche E<strong>in</strong>bruch <strong>in</strong> die deutschen Kommunikationskanäle<br />

gelungen war. Weitgehend vernachlässigt blieb<br />

h<strong>in</strong>gegen der Bereich der Human Intelligence, also die nachrichtendienstliche<br />

Abschöpfung gegnerischer Kriegsgefangener.<br />

Ebenso wenig fan<strong>den</strong> neue Ansätze wie transnationale<br />

und kulturalistische Perspektiven auf die Geheimdienste der<br />

kriegführen<strong>den</strong> Mächte Berücksichtigung <strong>in</strong> der Forschung.<br />

Dabei hat sich das Potential solcher Zugänge bereits <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

jüngsten Untersuchungen über die alliierten Speziallager abgezeichnet, die Briten und Amerikaner<br />

zwischen 1939 und 1945 auf dem ganzen Erdball betrieben, um dort <strong>in</strong>ternierte Soldaten der Achsenmächte<br />

zu vernehmen und heimlich <strong>in</strong> ihren Unterkünften abzuhören. Das umfangreiche Aktenmaterial<br />

aus diesen Lauschangriffen gibt nicht nur über Perzeptionsmuster und Mentalitäten der abgeschöpften<br />

Soldaten Auskunft, sondern gewährt zudem tiefe E<strong>in</strong>blicke, wie sehr die Auffassungen<br />

der westlichen Verbündeten von Military Intelligence und Psychological Warfare divergierten. Es<br />

zählt zu <strong>den</strong> zukunftsweisen<strong>den</strong> Forschungsfragen, <strong>in</strong>wieweit sich <strong>in</strong> diesen unterschiedlichen nachrichtendienstlichen<br />

Kulturen zugleich national spezifische Vorstellungen von Militär und Krieg artikulierten.<br />

Stefan Geck hat mit se<strong>in</strong>er Würzburger Dissertation nun die Grundlagenforschung über die deutschen<br />

Anstrengungen auf dem Gebiet der Human Intelligence während des Zweiten Weltkrieges erheblich<br />

vorangebracht. Mit bemerkenswerter Akribie hat er alle verfügbaren Quellen aus deutschen,<br />

britischen und amerikanischen Archiven zusammengetragen, um die erste und wohl auch endgültige<br />

wissenschaftliche Darstellung der Geschichte des sogenannten Dulag Luft vorzulegen. Als Gegen-


114 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

stück zu <strong>den</strong> alliierten Interrogation Centers war dieses Verhörlager von der deutschen Luftwaffe<br />

e<strong>in</strong>gerichtet wor<strong>den</strong>, um an das Wissen von gefangenem Air Force-Personal zu gelangen und als<br />

„Nachrichtenzentrum“ des Luftwaffenführungsstabes zu fungieren. An <strong>den</strong> Standorten <strong>in</strong> Oberursel,<br />

Frankfurt am Ma<strong>in</strong> und Wetzlar g<strong>in</strong>gen von 1939 bis 1945 <strong>in</strong>sgesamt etwa 40.000 britische und<br />

amerikanische Luftwaffenangehörige durch das Dulag Luft, etwa 25.000 davon wur<strong>den</strong> verhört. Im<br />

Gegensatz zu <strong>den</strong> Aktenbergen aus <strong>den</strong> alliierten Vernehmungslagern liegen vom Dulag Luft lediglich<br />

Überlieferungsfragmente vor, die ke<strong>in</strong>e wörtlichen Vernehmungsberichte oder gar Abhörprotokolle<br />

enthalten. Anders als die alliierten Materialien eröffnen die erhaltenen Quellen zum Dulag Luft<br />

also ke<strong>in</strong>e mentalitätsgeschichtlichen Zugänge zu <strong>den</strong> abgeschöpften Kriegsgefangenen. Auf e<strong>in</strong>er<br />

Quellengrundlage, die sich vor allem aus <strong>den</strong> Rechercheergebnissen der alliierten Nachrichtendienste<br />

speist, verfolgt der Autor daher <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie das Ziel, die Lagergeschichte <strong>in</strong> allen Facetten zu rekonstruieren<br />

und „die deutschen und westalliierten Intelligence-Strukturen/-Metho<strong>den</strong>“ (1) mite<strong>in</strong>ander<br />

zu vergleichen.<br />

In <strong>den</strong> ersten bei<strong>den</strong> Hauptteilen se<strong>in</strong>er erschöpfen<strong>den</strong> Studie zeichnet Geck die Entstehungs- und<br />

Organisationsgeschichte des Dulag Luft <strong>in</strong> allen E<strong>in</strong>zelheiten nach. Hervorzuheben s<strong>in</strong>d unter anderem<br />

Gecks anregen<strong>den</strong> Ausführungen zum Sozialprofil des Lagerpersonals. In se<strong>in</strong>er Heterogenität,<br />

Überalterung, Akademisierung und der Abwesenheit von Berufsmilitärs (251ff.) spiegelte sich e<strong>in</strong>e<br />

ähnliche H<strong>in</strong>tansetzung der Nachrichtendienste wie <strong>in</strong> <strong>den</strong> alliierten Military Intelligence Divisions.<br />

Zu e<strong>in</strong>er eigentümlichen, spezifisch deutschen Konstellation führten h<strong>in</strong>gegen die überwiegend erfolglosen<br />

Bemühungen der Lagerleitung, die Interventionsversuche ziviler <strong>Institut</strong>ionen zurückzudrängen.<br />

So musste das Dulag Luft seit Frühjahr 1944 die E<strong>in</strong>richtung e<strong>in</strong>es Gestapo-Postens sowie<br />

die Installation e<strong>in</strong>es Verb<strong>in</strong>dungsoffiziers aus Goebbels’ Propagandam<strong>in</strong>isterium h<strong>in</strong>nehmen. Während<br />

sich die Anwesenheit des RSHA offenbar nicht auf die Verhörpraxis auswirkte und vor allem<br />

zur Kontrolle des Lagerpersonals diente (104), erwies sich der Repräsentant des Propagandam<strong>in</strong>isteriums<br />

als fruchtbarer „Impulsgeber“ <strong>für</strong> das bis dah<strong>in</strong> h<strong>in</strong>tangestellte politische Vernehmungswesen.<br />

Erst durch diese Erweiterung, so Geck, habe das Dulag Luft „das Fundament der deutschen psychologischen<br />

Kriegführung geschaffen“ (214) – mit deutlicher Verspätung gegenüber <strong>den</strong> alliierten Vorreitern<br />

auf diesem Gebiet. Mangelndes Verständnis <strong>für</strong> moderne Kriegführung äußerte sich wiederum<br />

dar<strong>in</strong>, wie weitgehend rüstungswirtschaftliche Aspekte <strong>in</strong> <strong>den</strong> Vernehmungen vernachlässigt<br />

wur<strong>den</strong> (207f.). Der Arbeit der Dokumentenauswertung im Dulag Luft attestiert Geck <strong>den</strong>noch e<strong>in</strong>e<br />

„recht hohe Güte“; der alliierte Nachrichtendienst g<strong>in</strong>g sogar davon aus, dass bis zu 80 % der im Dulag<br />

Luft gewonnenen Informationen aus dieser Abteilung stammten (287 f.).<br />

Die Vernehmungen, die Geck im vierten Hauptteil se<strong>in</strong>er Arbeit umfassend analysiert, hätten<br />

demnach lediglich zu etwa e<strong>in</strong>em Fünftel zur Nachrichtengew<strong>in</strong>nung im Dulag Luft beigetragen; der<br />

alliierte Befund e<strong>in</strong>er „ger<strong>in</strong>gen quantitativen Effizienz der Vernehmungsabteilung“ ist anhand der<br />

überlieferten Quellen allerd<strong>in</strong>gs kaum verifizierbar (292). Was die Vernehmungsmetho<strong>den</strong> anbelangte,<br />

die zwischen „weichen“ und „harten“ Ansätzen changierten, aber das Völkerrecht <strong>in</strong> der Regel nicht<br />

verletzten, stellt Geck immerh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e weitreichende Kongruenz mit <strong>den</strong> britischen Verhörtaktiken<br />

fest (337 ff.). Große Unterschiede zeigten sich h<strong>in</strong>gegen bei der Anlage der Lauschangriffe. Zwar<br />

verfügte das Lager über herausragende Abhörtechnologie, doch setzte man nicht annähernd genügend<br />

Personal <strong>für</strong> die Überwachung der Räume und die Auswertung der belauschten Gespräche e<strong>in</strong>, so<br />

dass das „systematische Abhören von Kriegsgefangenen“ im Dulag Luft „e<strong>in</strong>e Randersche<strong>in</strong>ung“<br />

blieb (356f.). Da die deutsche Führung offenbar „ke<strong>in</strong> Gespür <strong>für</strong> das Potential technischen Fortschritts<br />

im nachrichtendienstlichen Tagesgeschäft“ besaß (356), dienten die sporadischen Lauschangriffe<br />

lediglich dazu, die e<strong>in</strong>gesetzten Spitzel zu kontrollieren und die eigenen Vernehmungsoffiziere<br />

auf ihre Zuverlässigkeit zu überprüfen (352f.). Ähnlich konzeptionslos gestaltete sich, trotz<br />

mancher Erfolge, auch der E<strong>in</strong>satz von V-Leuten im Dulag Luft (396f.). Es bleibt e<strong>in</strong>e zentrale Frage,<br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


115 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

warum das deutsche Militär auf diesen Feldern so weit h<strong>in</strong>ter der <strong>in</strong>ternationalen Entwicklung zurückblieb.<br />

Die „Sonderaspekte“, die Geck abschließend behandelt, fördern auf Umwegen zusätzliche Erkenntnisse<br />

über das Dulag Luft zu Tage. Die Beschäftigung mit dem Mythos der „Scharff-Methode“, der<br />

sich bis <strong>in</strong> die Gegenwart als Lehrbeispiel <strong>für</strong> Verhöre <strong>in</strong> <strong>den</strong> US-Streitkräften hielt (14f.), wirft weiteres<br />

Licht auf <strong>den</strong> Alltag der Vernehmungen (440ff.). Die Analyse des Dulag Luft-Prozesses im<br />

Jahre 1945 beleuchtet das Phänomen der Gefangenenmisshandlungen, <strong>für</strong> die Offiziere des Lagers<br />

zu Haftstrafen verurteilt wur<strong>den</strong>, auch wenn sich solche punktuellen Völkerrechtsverletzungen <strong>in</strong><br />

<strong>den</strong> westalliierten Verhörlagern kaum seltener ereignet hatten.<br />

Die Analyse der „beträchtliche[n] Menge von Vernehmungsberichten, Beute- und Nachrichtenauswertungen“,<br />

die im Dulag Luft entstan<strong>den</strong> ist und <strong>in</strong> Gecks Studie bewusst ausgeklammert bleibt<br />

(2), bildet e<strong>in</strong>en anregen<strong>den</strong> Anknüpfungspunkt <strong>für</strong> die weitere Forschung. Gleiches gilt <strong>für</strong> die<br />

komparativen Fragestellungen, zu <strong>den</strong>en der Autor <strong>in</strong> vielen se<strong>in</strong>er Kapitel angesetzt hat. Mit se<strong>in</strong>er<br />

m<strong>in</strong>utiösen Studie hat Geck wichtige Grundlagen <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Weiterführung der Forschung zu <strong>den</strong><br />

Strukturen der Militärnachrichtendienste des Zweiten Weltkrieges geschaffen und zudem e<strong>in</strong>e Lücke<br />

<strong>in</strong> der deutschen Militärgeschichte geschlossen.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


Eleonor Hancock: Ernst Röhm. Hitler’s SA Chief of Staff, Bas<strong>in</strong>gstoke: Palgrave Macmillan<br />

2008, xiii + 273 S., ISBN 978-0-230-60402-5, GBP 42,50<br />

Rezensiert von Bastian He<strong>in</strong><br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 9<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/09/15586.html<br />

Angesichts der Tatsache, dass sich der sogenannte Röhm-<br />

Putsch dieser Tage zum 75. Mal jährte, ist es erstaunlich, dass<br />

zum „Namensgeber“ dieses ebenso bedeutsamen wie gut erforschten<br />

Ereignisses, dem <strong>in</strong> der „Kampfzeit“ und der Machtergreifungsphase<br />

so wichtigen Stabschef der SA Ernst Röhm<br />

bis dato nur zwei kürzere Porträts vorlagen. [1]<br />

Die bisherige Zurückhaltung der Forschung ist nicht zuletzt<br />

auf die Quellenlage zurückzuführen. Nachdem die Nationalsozialisten<br />

Röhm ermordet hatten, beschlagnahmten sie<br />

se<strong>in</strong>e persönlichen Akten. Der umfangreiche Bestand ist nach<br />

dem Krieg nicht wieder aufgetaucht. Diese Tatsache zw<strong>in</strong>gt<br />

die australische Militärhistoriker<strong>in</strong> Eleanor Hancock dazu, ihre<br />

Quellen aus zahlreichen deutschen und ausländischen Archiven<br />

zusammenzutragen. E<strong>in</strong>e zentrale Rolle muss sie zudem<br />

der 1928 erschienenen und danach bis 1934 <strong>in</strong> mehreren Auflagen<br />

erweiterten Autobiografie Röhms e<strong>in</strong>räumen [2], deren<br />

Aussagen sie aber wo immer möglich mit erhaltenen Parallelüberlieferungen<br />

abgleicht. E<strong>in</strong>ige verbleibende Lücken etwa zu<br />

<strong>den</strong> so brisanten Jahren 1933 und 1934 wer<strong>den</strong> wohl nie zu<br />

schließen se<strong>in</strong>, wie Hancock selbst freimütig e<strong>in</strong>räumt (4-5).<br />

Hancock hat e<strong>in</strong> mit <strong>in</strong>sgesamt 179 Textseiten <strong>für</strong> deutsche Verhältnisse ungewöhnlich knappes<br />

und nicht zuletzt deshalb gut lesbares Werk vorgelegt, das <strong>in</strong> Methodik und Gliederung ganz traditionell<br />

angelegt ist. Nach e<strong>in</strong>er äußerst kurzen E<strong>in</strong>leitung wird Röhms Lebensweg <strong>in</strong> 14 teilweise etwas<br />

kle<strong>in</strong>teiligen Kapiteln nachgezeichnet. Auf diese folgt e<strong>in</strong> nicht m<strong>in</strong>der knapper Schluss, <strong>in</strong> dem sich<br />

Hancock mit <strong>den</strong> Mythen ause<strong>in</strong>andersetzt, die sich um die Person Röhm ranken, und e<strong>in</strong>e eigene<br />

Bewertung versucht.<br />

Es gab im Leben Röhms zwei politisch zentrale Phasen: 1920 bis 1923 belieferte er als „Masch<strong>in</strong>engewehrkönig“<br />

von Bayern aus der Reichswehr heraus die rechte paramilitärische und antirepublikanische<br />

Szene mit Waffen und half sie zu organisieren. Dieser Lebensabschnitt endete mit dem Scheitern<br />

des Hitlerputsches, an dem Röhm aktiv teilnahm. In <strong>den</strong> Jahren 1931 bis 1934 organisierte er als<br />

Stabschef der SA <strong>den</strong> Sturmlauf der Nazis gegen die Weimarer Republik mit und half diese schließlich<br />

<strong>in</strong>s ‚Dritte Reichʻ umzuformen. Über beide Abschnitte erfährt man bei Hancock <strong>in</strong>sgesamt wenig<br />

Neues.


117 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bislang Unbekanntes kann sie dagegen zum jungen Röhm anbieten, der aus e<strong>in</strong>er Beamtenfamilie<br />

stammte und sich nach dem Besuch des humanistischen Gymnasiums <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Laufbahn als königlich-bayerischer<br />

Offizier entschied, die bis zum Ersten Weltkrieg unsche<strong>in</strong>bar verlief. Wohl <strong>in</strong> dieser<br />

Phase eignete sich Röhm e<strong>in</strong>en bürgerlichen Habitus an, der unter anderem e<strong>in</strong>e Liebe zur klassischen<br />

Musik und Literatur umfasste, <strong>den</strong> er trotz aller rhetorischen Referenzen an die NS-„Volksgeme<strong>in</strong>schaft“<br />

nie völlig ablegte und der zu dem von Röhm selbst gepflegten und noch immer weit verbreiteten<br />

Bild vom derben Landsknecht an der Spitze der proletarischen SA so gar nicht passt.<br />

Erst im Weltkrieg konnte sich Röhm sowohl als äußerst tapferer Frontoffizier als auch nach mehreren<br />

schweren Verwundungen und Auszeichnungen als fähiger Organisator <strong>in</strong> der Etappe auszeichnen.<br />

Umso härter trafen ihn die deutsche Niederlage und die Novemberrevolution, die all se<strong>in</strong>e Opfer als<br />

letztlich s<strong>in</strong>nlos ersche<strong>in</strong>en ließen, se<strong>in</strong> hohes Sozialprestige als Offizier <strong>in</strong>frage stellten und ihn somit<br />

politisierten und radikalisierten.<br />

Neu ist auch das, was Hancock zu <strong>den</strong> Jahren 1924 bis 1930 zutage gefördert hat. In Berl<strong>in</strong>, woh<strong>in</strong><br />

es ihn 1924 als Reichstagsabgeordneten der Nationalsozialistischen bzw. Deutschvölkischen Freiheitspartei<br />

verschlug, fand Röhm zu se<strong>in</strong>er homosexuellen I<strong>den</strong>tität, die er trotz der allgeme<strong>in</strong>en gesellschaftlichen<br />

Ächtung sowie der Strafbewehrung des § 175 erstaunlich offen lebte, wie Hancock<br />

anhand e<strong>in</strong>iger verblüffender Episo<strong>den</strong> belegen kann (89). Die Sexualität ist im Fall Röhm – im Gegensatz<br />

z.B. zum Fall Hitler [3] – von echter historischer Bedeutung, da sie mehrfach politisch relevant<br />

wurde – u.a. als die sozialdemokratische Presse 1931 bis 1932 e<strong>in</strong>e entsprechende Schmutzkampagne<br />

gegen Röhm <strong>in</strong>szenierte, um der SA zu scha<strong>den</strong>, oder als die Nationalsozialisten sie 1934 nutzten,<br />

um die Ermordung Röhms zu legitimieren.<br />

Nach dem Bruch mit Hitler, dessen primär parteipolitisch motiviertem Legalitätskurs Röhm 1925<br />

nicht folgen wollte, versuchte sich Röhm <strong>in</strong> mehreren Berufen. Se<strong>in</strong>e Erfolglosigkeit zwang ihn dazu,<br />

zunächst weiter bei se<strong>in</strong>er Mutter zu wohnen und 1928 der Anwerbung der bolivianischen Armee zu<br />

folgen, die ihm e<strong>in</strong>e lukrative Stellung als Oberstleutnant und Militärberater anbot.<br />

Diese Stellung gab Röhm 1930 auf, um dem Ruf Hitlers zurück <strong>in</strong> die nationalsozialistische Bewegung<br />

zu folgen, so wie er auch schon 1923 freiwillig <strong>den</strong> Dienst <strong>in</strong> der Reichswehr zugunsten se<strong>in</strong>er<br />

politischen Aktivitäten quittiert hatte. Dieser Sachverhalt passt schlecht zu Hancocks mehrfach vorgebrachter<br />

These, dass Röhm stets eher Soldat als Politiker gewesen sei. Problematisch ist diese<br />

Deutung auch deshalb, weil sie ten<strong>den</strong>ziell Röhms Gewicht als NS-Täter ersten Ranges [4] verharmlost.<br />

Hier sche<strong>in</strong>t Eleanor Hancocks Blick nicht nur durch die Anlehnung an die Selbstdeutung der<br />

Autobiografie, sondern auch durch die Tatsache getrübt, dass Röhm letztlich auch Opfer der Nazis<br />

wurde. Der Schlusssatz der Darstellung „He died like a soldier“ (172) h<strong>in</strong>terlässt je<strong>den</strong>falls e<strong>in</strong>en<br />

etwas problematischen Beigeschmack, <strong>den</strong> das ansonsten sehr sorgfältig gearbeitete und <strong>in</strong>formative<br />

Werk <strong>in</strong>sgesamt nicht verdient hat.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Zum sog. ‚Röhm-Putschʻ u.a. He<strong>in</strong>z Höhne: Mordsache Röhm. Hitlers Durchbruch zur Alle<strong>in</strong>herrschaft<br />

1933–1934, Hamburg 1984; zur Person Röhm bislang v.a. Joachim Fest: Ernst Röhm<br />

und die verlorene Generation, <strong>in</strong>: ders.: Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile e<strong>in</strong>er totalitären<br />

Herrschaft, München 1963, 190-206; und Conan Fischer: Ernst Julius Röhm – Stabschef der<br />

SA und unentbehrlicher Außenseiter, <strong>in</strong>: Die braune Elite 1. 22 biografische Skizzen, hrsg. von<br />

Roland Smelser u.a., Darmstadt 41999, 212-222.<br />

[2] Ernst Röhm: Die Geschichte e<strong>in</strong>es Hochverräters, München 81934.<br />

[3] Vgl. die sensationslüsternen, aber wenig ergiebigen Spekulationen <strong>in</strong> Lothar Machtan: Hitlers<br />

Geheimnis. Das Doppelleben e<strong>in</strong>es Diktators, Berl<strong>in</strong> 2001; bzw. die „Enthüllungen“ der briti-<br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


118 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

schen „Sun“ und des deutschen „Spiegel“ über Hitlers angebliche Teilkastration im Ersten<br />

Weltkrieg aus dem Jahr 2008.<br />

[4] Zur Bedeutung und Brutalität der SA v.a. Sven Reichardt: Faschistische Kampfbünde. Gewalt<br />

und Geme<strong>in</strong>schaft im italienischen Squadrismus und <strong>in</strong> der deutschen SA, Köln 2002.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


Johannes Ibel (Hrsg.): E<strong>in</strong>vernehmliche Zusammenarbeit? Wehrmacht, Gestapo, SS<br />

und sowjetische Kriegsgefangene, Berl<strong>in</strong>: Metropol 2008, 225 S., ISBN 978-3-938690-65-9,<br />

EUR 19,00<br />

Rezensiert von Andreas Hilger<br />

Hamburg<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/05/14807.html<br />

Das Cover des Sammelbandes stört auf: Unter <strong>den</strong> ausgemergelten,<br />

kahl rasierten Häftl<strong>in</strong>gen des KZ Mauthausen-Gusen<br />

ist ganz vorne im Bild der sowjetische Kriegsgefangene Il’ja<br />

Grigorevič Kičig<strong>in</strong> zu sehen. Auf se<strong>in</strong>er Brust ist deutlich die<br />

e<strong>in</strong>tätowierte Erkennungsmarkennummer der Wehrmacht 40697<br />

zu lesen. Der Tierarzt starb am 24. Februar 1942 <strong>in</strong> Mauthausen.<br />

Se<strong>in</strong> KZ-Schicksal steht <strong>für</strong> das von Zehntausen<strong>den</strong> sowjetischen<br />

Kriegsgefangenen <strong>in</strong> deutschem Gewahrsam, und es<br />

war <strong>in</strong>tegraler Bestandteil e<strong>in</strong>es „der großen Verbrechenskomplexe<br />

deutscher Kriegführung <strong>in</strong> der Sowjetunion.“ Ungeachtet<br />

der Monstrosität dieser Verbrechen sowie unbee<strong>in</strong>druckt<br />

von der Tatsache, dass die E<strong>in</strong>bettung deutscher Kriegsgefangenenpolitik<br />

<strong>in</strong> Vernichtungskrieg, ausbeuterische Besatzungspolitik,<br />

<strong>in</strong> Holocaust und <strong>in</strong> das gesamte <strong>in</strong>ner- und<br />

außerdeutsche Sicherheits- und Terrorregime <strong>in</strong> der Forschung<br />

längst nachgewiesen ist, s<strong>in</strong>d die „Lei<strong>den</strong> der sowjetischen<br />

Kriegsgefangenen im deutschen Geschichtsbewusstse<strong>in</strong> [...]<br />

vergleichsweise wenig präsent.“ [1] Die Beiträge des Bandes,<br />

die auf e<strong>in</strong>e Tagung der KZ-Ge<strong>den</strong>kstätte Flossenbürg im Jahr<br />

2004 zurückgehen, reflektieren diesen ambivalenten Zugang zur Geschichte sowjetischer Kriegsgefangener<br />

im ‚Dritten Reichʻ. Sie dokumentieren vorzüglich <strong>den</strong> erreichten Forschungsstand zu<br />

wesentlichen Aspekten dieser Geschichte (besonders Keller/Otto; Schulte), sie stellen wichtige Forschungsdesiderata<br />

vor (Angrick; Strebel), bieten E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> wichtige Forschungsvorhaben und Lagerspezifika<br />

(Ibel; Speckner) und sie beschreiben ausführlich <strong>den</strong> halbherzigen, zögerlichen und gewun<strong>den</strong>en<br />

öffentlichen Umgang mit diesen Schicksalen (Hammermann; Drieschner/Schulz; Volland;<br />

Burger). Dabei wird erneut die Relevanz und Langzeitwirkung der spezifischen Ausgangssituationen<br />

der Er<strong>in</strong>nerungspolitik <strong>in</strong> Ost und West im Rahmen von Kaltem Krieg und Wiederaufbau mit ihren<br />

e<strong>in</strong>deutigen Fe<strong>in</strong>dbildern und Prämissen vor Augen geführt. Der aktuelle Missbrauch etwa, der <strong>in</strong><br />

ukra<strong>in</strong>ischen Machtkämpfen Anfang 2008 mit der Kriegsgefangenschaft des Vaters von Präsi<strong>den</strong>t<br />

Viktor Juščenko getrieben wurde, lebte vom Rückgriff auf altstal<strong>in</strong>istische Fe<strong>in</strong>dbilder. In Deutschland<br />

wiederum kamen <strong>in</strong> der Debatte um die Entschädigung von Zwangsarbeitern alte Aufrechnungsreflexe<br />

zum Vorsche<strong>in</strong>: Gegen e<strong>in</strong>e adäquate E<strong>in</strong>beziehung sowjetischer Kriegsgefangener <strong>in</strong><br />

das deutsche Gesetz sprach demnach unter anderem, dass „mit dem E<strong>in</strong>satz von Kriegsgefangenen


120 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

zur Zwangsarbeit (besonders <strong>in</strong> der Sowjetunion) auch <strong>in</strong> Deutschland und Österreich sensitive<br />

Materien berührt wur<strong>den</strong>, deren potentielle Sprengkraft die quer durch die Parteien gehende deutsche<br />

Bereitschaft zu e<strong>in</strong>er ansehnlichen Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter gefähr<strong>den</strong> konnte.“<br />

[2] Vor diesem H<strong>in</strong>tergrund lässt sich die Vernachlässigung sowjetischer Kriegsgefangener <strong>in</strong> der<br />

öffentlichen Wahrnehmung <strong>in</strong> Deutschland – und natürlich auch <strong>in</strong> <strong>den</strong> postsowjetischen Staaten –<br />

zwar vordergründig auf die fehlende Lobby und auf entsprechende Mechanismen <strong>in</strong> der „Wahrnehmungskonkurrenz<br />

der NS-Opfergruppen“ zurückführen (8, 10). Sie verweist aber auf e<strong>in</strong>e mangelhafte<br />

Er<strong>in</strong>nerungsbereitschaft und damit auf e<strong>in</strong> immer noch gebrochenes Selbstverständnis der beteiligten<br />

Gesellschaften zurück. Die öffentlichen Verhandlungen über angemessenes oder auch nur<br />

nützliches Ge<strong>den</strong>ken s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>eswegs abgeschlossen. Das zeigen im Band die Bestandsaufnahmen<br />

zur Ge<strong>den</strong>kstättenarbeit <strong>in</strong> Deutschland. Die russische Diplomatie wiederum regte 2001 an, zum<br />

60. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die UdSSR auf dem SS-Schießplatz Hebertshausen (KZ<br />

Dachau) e<strong>in</strong>en Ge<strong>den</strong>kste<strong>in</strong> <strong>für</strong> ermordete Kriegsgefangene zu errichten und e<strong>in</strong> neues nationales<br />

Ge<strong>den</strong>kprojekt Russlands über die „Verteidiger des Vaterlands“ <strong>in</strong> und nach dem ‚Großen Vaterländischen<br />

Kriegʻ erfasst eben auch verstorbene Kriegsgefangene (14). [3]<br />

Die weitreichende Bedeutung, die der Verb<strong>in</strong>dung von SS und Wehrmacht im Kriegsgefangenenwesen<br />

zukommt, steht außer Frage. Die Übergabe von Gefangenen an die SS markierte prägnant die<br />

grundsätzliche Missachtung von Völkerrecht oder Humanität, die <strong>den</strong> gesamten deutschen Umgang<br />

mit sowjetischen Kriegsgefangenen durchzog. In diesem Komplex wird die militärische Bereitschaft<br />

zur bürokratischen und ideologischen Zusammenarbeit, zur aktiven Mitwirkung an völkerrechtswidrigen<br />

und mörderischen Programmen beispielhaft durchexerziert. Kriegsgefangene wur<strong>den</strong> nicht nur<br />

zur Exekution im Rahmen der berüchtigten „Aussonderungen“ an Konzentrationslager überstellt.<br />

E<strong>in</strong>e zweite große Gruppe stellten Gefangene dar, welche die Wehrmacht der SS als Arbeitskräfte<br />

<strong>für</strong> Himmlers ambitionierte Bau- und Raumprogramme überließ. Schließlich galten die Konzentrationslager<br />

der Wehrmacht wie der SS als probates Mittel, um Widerstands- und Fluchtbewegung der Gefangenen<br />

zu bekämpfen. Nach derzeitigem Kenntnisstand fielen im Deutschen Reich m<strong>in</strong>destens<br />

40000 sowjetische Kriegsgefangene <strong>den</strong> direkten Aussonderungen zum Opfer. Rund 35000 sowjetische<br />

Gefangene wur<strong>den</strong> der SS zu „Arbeitszwecken“ überstellt. E<strong>in</strong>zelmeldungen der Konzentrationslager<br />

belegen, dass auch diese Gefangenen massenhaft zugrunde g<strong>in</strong>gen; dabei war es dem Rassen-<br />

und Vernichtungswahn des NS-Regimes geschuldet, dass die sogenannten „Arbeitsrussen“ <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

Konzentrationslagern weiterh<strong>in</strong> <strong>den</strong> allgeme<strong>in</strong>en Aussonderungen unterworfen blieben. Die Zahl der<br />

wegen Widerstands und Fluchtversuchen <strong>in</strong> KZ-Haft überführten Soldaten wird auf m<strong>in</strong>destens<br />

50000 Gefangene geschätzt.<br />

Noch unbestimmter s<strong>in</strong>d die Größenordnungen zweier anderer Gefangenengruppen: Der E<strong>in</strong>satz<br />

geeigneter Kriegsgefangener im „Unternehmen Zeppel<strong>in</strong>“ sollte ursprünglich die „chronische Informationsmisere“<br />

des RSHA (Amt VI) mildern, entwickelte sich im Kriegsverlauf aber zunehmend zu<br />

e<strong>in</strong>em „Stoßtrupp- und Zersetzungsunternehmen.“ (61, 68) Missliebigen Aktivisten drohten KZ und<br />

Tod und auch ehemals kriegsgefangene Angehörige der Freiwilligenverbände konnten <strong>in</strong> KZ abgeschoben<br />

wer<strong>den</strong>, wenn sie <strong>den</strong> deutschen Erwartungen nicht gerecht wur<strong>den</strong>. Alle<strong>in</strong> <strong>für</strong> Mauthausen<br />

lassen sich 5100 derartige Fälle nachweisen (53). Schließlich waren Konzentrationslager der Ort, an<br />

dem deutsch-männliche Vorbehalte und Fe<strong>in</strong>dbilder über kriegsgefangene Rotarmist<strong>in</strong>nen zusammenliefen.<br />

Insgesamt wur<strong>den</strong> rund 1000 kriegsgefangene Frauen an das KZ Ravensbrück überstellt.<br />

Anfangs hatte e<strong>in</strong> deutsches Armeeoberkommando „Fl<strong>in</strong>tenweiber“ gar nicht erst gefangen nehmen<br />

wollen und noch 1944 war sich das OKW sicher, dass die „sicherheitspolizeiliche Untersuchung <strong>in</strong><br />

der Regel die politische Unzuverlässigkeit dieser Frauen ergeben“ würde (162-165). „Unbelastete“<br />

kriegsgefangene Frauen waren zu diesem Zeitpunkt aus der Kriegsgefangenschaft <strong>in</strong> die Zwangsarbeit<br />

als „Ostarbeiter<strong>in</strong>“ zu überführen. Diese Anweisung ist e<strong>in</strong> weiterer Beleg <strong>für</strong> die bereits erwähnte<br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


121 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

grundsätzliche Ignoranz gegenüber dem Völkerrecht. Sie lenkt zugleich <strong>den</strong> Blick zurück auf die<br />

rücksichtslose Ausnutzung sowjetischer Kriegsgefangener als Arbeitskräfte. Der <strong>in</strong>tendierte Arbeitse<strong>in</strong>satz<br />

<strong>für</strong> die SS scheiterte an <strong>den</strong> von der SS bewusst geschaffenen verheeren<strong>den</strong> Arbeits- und<br />

Lebensbed<strong>in</strong>gungen sowie an dem von der Wehrmacht zu verantworten<strong>den</strong> Massensterben. In der<br />

Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener <strong>in</strong> <strong>den</strong> Konzentrationslagern kulm<strong>in</strong>ierte somit die mehrdimensionale,<br />

immer erbarmungslose Logik des „Unternehmens Barbarossa“, ganz gleich, ob die<br />

Kriegsgefangenen formal der Wehrmacht oder der SS unterstan<strong>den</strong>. Die E<strong>in</strong>zelbeiträge führen diese<br />

tiefe Verankerung deutscher Kriegsgefangenenpolitik <strong>in</strong> <strong>den</strong> Eroberungs- und Vernichtungskrieg<br />

e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich vor Augen. Es ist, das demonstriert der Band ebenso kompetent, notwendig und an der<br />

Zeit, dem Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener im ‚Dritten Reichʻ se<strong>in</strong>en Platz <strong>in</strong> der deutschen<br />

und <strong>in</strong>ternationalen Er<strong>in</strong>nerungsarbeit e<strong>in</strong>zuräumen.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Das erste Zitat von Johannes Hürter: Hitlers Heerführer. Die deutschen Oberbefehlshaber im<br />

Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42, München 2006, 359; das zweite von Jörg Osterloh: Die<br />

vergessenen Kriegsgefangenen. Christian Streit und der Mythos der „sauberen Wehrmacht“, <strong>in</strong>:<br />

50 Klassiker der <strong>Zeitgeschichte</strong>, hrsg. von Jürgen Danyel u.a., Gött<strong>in</strong>gen 2007, 148-152, hier 151.<br />

[2] Lutz Niethammer: Von der Zwangsarbeit im Dritten Reich zur Stiftung „Er<strong>in</strong>nerung, Verantwortung<br />

und Zukunft“. E<strong>in</strong>e Vor-Geschichte, <strong>in</strong>: „Geme<strong>in</strong>same Verantwortung und moralische<br />

Pflicht“. Abschlussbericht zu <strong>den</strong> Auszahlungsprogrammen der Stiftung „Er<strong>in</strong>nerung, Verantwortung<br />

und Zukunft“, hrsg. von Michael Jansen/Günter Saathoff, Gött<strong>in</strong>gen 2007, 13-84, hier 62f.<br />

[3] http://www.obd-memorial.ru Hier waren zum 28.1.2009 1000 Verstorbene aus dem Stalag Neuhammer<br />

erfasst.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


Stefan Karner/Othmar Pickl (Hrsg.): Die Rote Armee <strong>in</strong> der Steiermark. Sowjetische<br />

Besatzung 1945 (= Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-<strong>Institut</strong>s <strong>für</strong> Kriegsfolgen-<br />

Forschung, Graz/Wien/Klagenfurt; Sonderband 8), Graz: Leykam Buchverlag 2008, 462 S.,<br />

ISBN 978-3-7011-0110-8, EUR 29,90<br />

Rezensiert von Andreas Hilger<br />

Hamburg<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 2<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/02/15057.html<br />

Österreich stellte e<strong>in</strong>en besatzungspolitischen „Sonderfall“ der<br />

europäischen Nachkriegsentwicklung dar [1]: Die langjährige<br />

sowjetische Besatzung bis 1955 führte nicht zur Sowjetisierung<br />

der sowjetischen Zone und die alliierte Herrschaft resultierte<br />

nicht <strong>in</strong> der Teilung, sondern <strong>in</strong> der garantierten Neutralität<br />

des Landes. Es ist <strong>in</strong> der Forschung, die sich mittlerweile<br />

auf e<strong>in</strong>en breiten Fundus sowjetischer Akten stützen kann,<br />

umstritten, ob Stal<strong>in</strong> nach ersten Enttäuschungen mit der Regierung<br />

Renner und freien Wahlen überhaupt noch die Umwandlung<br />

Österreichs <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e sozialistische „Volksdemokratie“<br />

verfolgte. [2] Die Dokumente des vorliegen<strong>den</strong> Bandes können<br />

ke<strong>in</strong>en unmittelbaren E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> sowjetische Überlegungen<br />

ab Ende 1945 geben: Die sowjetische Armee räumte<br />

gemäß alliierter Zonenabsprachen ihre Stellungen <strong>in</strong> der Steiermark<br />

nach rund zehn Wochen Besatzungszeit. Zudem befan<strong>den</strong><br />

sich während dieser frühen Phase neben sowjetischen<br />

auch amerikanische und britische, bulgarische sowie jugo-<br />

slawische E<strong>in</strong>heiten <strong>in</strong> diesem Bundesland. Die hier publizierten<br />

– und e<strong>in</strong>wandfrei übersetzten! – Archivalien dokumentieren somit Ansätze e<strong>in</strong>er sowjetischen<br />

Besatzung, die durch <strong>den</strong> Truppenabzug abrupt abgebrochen wur<strong>den</strong>. Die dichte Beschreibung sowjetischer<br />

Aktivitäten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kurzen Zeitraum erhellt wesentliche sowjetische Grunddispositionen<br />

und Besatzungspraktiken, die im übrigen Okkupationsbereich ihre langfristige Wirkung entfalten<br />

konnten.<br />

Die Provenienz der präsentierten Dokumente – sie entstammen v.a. dem Militärarchiv sowie dem<br />

Zentralarchiv des russischen Verteidigungsm<strong>in</strong>isteriums – spiegelt sowjetische Prioritäten und Strukturen<br />

wider. Politische und wirtschaftliche Bestandsaufnahmen der Politabteilungen der Armee oder<br />

Lageberichte der <strong>für</strong> <strong>den</strong> „Schutz des H<strong>in</strong>terlandes“ der 3. Ukra<strong>in</strong>ischen Front zuständigen NKVD-<br />

Truppen belegen e<strong>in</strong>e detaillierte Beobachtung regionaler Entwicklungen. Die sowjetische Wahrnehmung<br />

war aber von ideologischen wie „tschekistischen“ Gewissheiten vorgeprägt. Die Interna<br />

enthüllen ganz nebenbei das tief sitzende Misstrauen sowjetischer Bürokratien gegenüber dem britischen<br />

Bundesgenossen sowie ihre Aversionen gegenüber jugoslawischen Selbstständigkeiten (Doku-


123 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

mente 3; 98). Die Dokumentation der <strong>in</strong>tensiven Kampfe<strong>in</strong>sätze bis zur deutschen Kapitulation<br />

schärft <strong>den</strong> Blick <strong>für</strong> die gewalttätige Ausgangssituation sowjetischer Besatzungsherrschaft. Die<br />

Zahl der Gefechtsmeldungen wie auch späterer Organisations- respektive Stellungsbefehle hätte allerd<strong>in</strong>gs<br />

ohne <strong>in</strong>haltliche Verluste reduziert wer<strong>den</strong> können.<br />

Die Aktivitäten sowjetischer Machtträger <strong>in</strong> der besetzten Steiermark fügen sich naturgemäß <strong>in</strong><br />

das Gesamtbild sowjetischer Besatzung <strong>in</strong> Österreich e<strong>in</strong>. Zudem weisen sie e<strong>in</strong> hohes Maß an Übere<strong>in</strong>stimmung<br />

mit ersten Maßnahmen <strong>in</strong> der Sowjetischen Besatzungszone <strong>in</strong> Deutschland auf. So<br />

bemühten sich Politoffiziere der sowjetischen Armee darum, österreichische Kommunisten, Sozialisten<br />

und die Volkspartei unter e<strong>in</strong>em Dach zusammenzuhalten. Darüber h<strong>in</strong>aus ließen sich die Besatzer<br />

im Alltag von ihrer seit der Vorkriegszeit ausgeprägten Furcht vor verme<strong>in</strong>tlich allgegenwärtigen,<br />

sogenannten konterrevolutionären Verschwörungen leiten. In der Aufgabenbeschreibung <strong>für</strong> die Sicherungstruppen<br />

stan<strong>den</strong> Maßnahmen gegen „Spione“, „Diversanten“ und „Terroristen“ ganz oben (u.a.<br />

Dokument 30). Dagegen wurde die Aufklärung von Kriegs- und nationalsozialistischen Gewaltverbrechen<br />

weitaus weniger <strong>in</strong>tensiv betrieben. Damit korrespondierte die besondere Aufmerksamkeit der<br />

sowjetischen Vertreter <strong>für</strong> <strong>in</strong> das Dritte Reich deportierte sowjetische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene.<br />

Moskau sorgte sich hierbei bekanntermaßen weniger um das Wohl der verschleppten<br />

Bürger, als um deren Loyalität. Im Fall der von <strong>den</strong> britischen Truppen ausgelieferten Verbände, die<br />

<strong>für</strong> Deutschland gekämpft hatten, g<strong>in</strong>g es <strong>den</strong>n auch gar nicht um e<strong>in</strong>e Aufarbeitung von Motiven<br />

und Handlungen der „Vaterlandsverräter“: Vielmehr stimmten sich sowjetische Behör<strong>den</strong> mit politischen<br />

Vorträgen über „,Vlasov-Leuteʻ – Verräter der Heimat“ auf die Übernahme e<strong>in</strong> (Dokument 108).<br />

Für die österreichische Bevölkerung waren gezielte Verhaftungen e<strong>in</strong> wesentlicher Aspekt sowjetischer<br />

Besatzungsherrschaft. Für konkretes Erleben und historisches Gedächtnis spielten befehlswidrige,<br />

ständig wiederkehrende Übergriffe sowjetischer Soldaten e<strong>in</strong>e ebenso große Rolle. Plünderungen<br />

und Diebstähle sowie zahlreiche Vergewaltigungen durch nüchterne oder alkoholisierte Besatzungssoldaten<br />

trugen ihren Teil dazu bei, dass die Steirer im Juli 1945 die Briten als „doppelte<br />

‚Befreierʻ“ (42) herbeisehnten. Sowjetische Dokumente verweisen <strong>in</strong> diesem Zusammenhang wohl<br />

mit e<strong>in</strong>igem Recht darauf, dass Österreicher – wie Deutsche – <strong>den</strong> E<strong>in</strong>marsch von Osten her grundsätzlich<br />

ganz anders betrachteten als das Vorrücken der westlichen Verbündeten. In österreichischen<br />

Augen stan<strong>den</strong> alle sowjetischen Militärangehörigen offenbar auf e<strong>in</strong>er Stufe mit <strong>den</strong> vielgeschmähten<br />

„dunkelhäutigen“ Kolonialtruppen Großbritanniens (Dokument 59, 226). Es s<strong>in</strong>d derlei E<strong>in</strong>zelansichten<br />

über Besatzungsalltag oder -mechanismen, die die Lektüre des recht umfangreichen Dokumententeils<br />

besonders lohnend ersche<strong>in</strong>en lassen. So setzte sich der Chef der NKVD-Truppen im Juni 1945<br />

mit unerwarteten Rückwirkungen sowjetischer Kriegspropaganda ause<strong>in</strong>ander und bemängelte, dass<br />

Gefechtsberichte se<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>heiten vor „unangebrachten, ausschweifen<strong>den</strong> Formulierungen, z.B.: [...]<br />

neuerliche Hunderte Leichen der Hitler-Soldaten lagen vor der Verteidigungsl<strong>in</strong>ie“ strotzten, aber<br />

ohne je<strong>den</strong> militärischen Nutzen waren (Dokument 84). Derselbe Bericht verdeutlicht e<strong>in</strong>mal mehr,<br />

dass <strong>in</strong> der real existieren<strong>den</strong> Sicherheitspolitik die Meldung von wenigen Festnahmen von „Verdächtigen“<br />

bei Vorgesetzten zunächst e<strong>in</strong>mal Kritik und Argwohn hervorrief (313).<br />

Als Fazit ist festzuhalten, dass der Dokumentenband vor allem E<strong>in</strong>sichten <strong>in</strong> das frühe sowjetische<br />

Besatzungsprozedere und deren Prioritäten bestätigt und zugleich weiterführende E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong><br />

Perspektiven und Wahrnehmungsmuster von Besatzern und Besiegten zulässt.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Begriff nach Manfried Rauchenste<strong>in</strong>er: Der Sonderfall. Die Besatzungszeit <strong>in</strong> Österreich 1945 bis<br />

1955, Graz 1995.<br />

[2] Beispielhaft die Debatte im Jahrbuch <strong>für</strong> Historische Kommunismusforschung (2005): Wolfgang<br />

Mueller: Die gescheiterte Volksdemokratie. Zur Österreich-Politik von KPÖ und Sowjetunion<br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


124 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

1945 bis 1955, 141-170; sowie Stefan Karner/Peter Ruggenthaler: Stal<strong>in</strong> und Österreich. Sowjetische<br />

Österreich-Politik 1938 bis 1953, 102-140.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


Malte König: Kooperation als Machtkampf. Das faschistische Achsenbündnis Berl<strong>in</strong>–<br />

Rom im Krieg 1940/41 (= Italien <strong>in</strong> der Moderne; Bd. 14), Köln: SH-Verlag 2007, 368 S.,<br />

ISBN 978-3-89498-175-4, EUR 34,80<br />

Rezensiert von MacGregor Knox<br />

London School of Economics and Political Science<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/05/13630.html<br />

This former doctoral thesis rests on extensive research <strong>in</strong><br />

German archives and on archival sound<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> Italy, Brita<strong>in</strong>,<br />

and the United States. At its best it provides a multidimensional<br />

analysis of some aspects of the Axis alliance <strong>in</strong><br />

1941/41, and of the mutual perceptions of the elites and peoples<br />

on both sides of the Alps. But difficulties <strong>in</strong> questionfram<strong>in</strong>g,<br />

perspective, source base, and topical and chronological<br />

coverage also suggest that it represents a noteworthy<br />

missed opportunity.<br />

In his <strong>in</strong>troduction König proclaims as his chief purpose<br />

the fill<strong>in</strong>g of a perceived gap <strong>in</strong> the literature, and proposes to<br />

fill it by analyz<strong>in</strong>g the extent to which Mussol<strong>in</strong>i’s débâcle <strong>in</strong><br />

Greece altered the <strong>in</strong>ternal dynamics of the alliance and the<br />

relationship between the two dictatorships (13-14). He structures<br />

the book <strong>in</strong>to seven topical chapters cover<strong>in</strong>g Italo-<br />

German cooperation and conflict <strong>in</strong> key areas: the military<br />

alliance; armaments production and economic relations; press<br />

and radio; Balkan occupation policy; the former South Tyrol<br />

and Italy’s surreptitious efforts to fortify its German frontiers; Italians <strong>in</strong> Germany (as workers) and<br />

Germans <strong>in</strong> Italy (as soldiers); and the attitudes on both sides of the Alps toward the alliance, as revealed<br />

<strong>in</strong> the flood of rumors and recrim<strong>in</strong>ations that accompanied Italy’s military failures and Germany’s<br />

Balkan and Mediterranean successes.<br />

The overrid<strong>in</strong>g difficulty with this approach is that a cross-section or snapshot conf<strong>in</strong>ed to 1940–<br />

41 cannot do justice to longer-term issues and causal forces central to the alliance. Worse still, what<br />

others have or have not written about the narrow chronological band König has chosen to explore<br />

appears to constitute the author’s primary frame of reference. No effort to tie the analysis to a broader<br />

understand<strong>in</strong>g of the historical trajectories of the two nations and regimes is perceptible. Perhaps<br />

<strong>in</strong> consequence the necessary effort to expla<strong>in</strong> <strong>in</strong> an orig<strong>in</strong>al way why th<strong>in</strong>gs happened as they did<br />

and not otherwise is largely lack<strong>in</strong>g. Understand<strong>in</strong>g the work<strong>in</strong>gs of the alliance – even <strong>in</strong> 1940/41 –<br />

requires <strong>in</strong>cisive treatment, however brief, both of its orig<strong>in</strong>s and of what the dictators, their pr<strong>in</strong>cipal<br />

subord<strong>in</strong>ates, and their key <strong>in</strong>stitutions saw <strong>in</strong> it, and sought from it.<br />

In the absence of a structured explanation of the prehistory of the Axis alliance and of the objectives<br />

that each dictator pursued through it, central issues appear seem<strong>in</strong>gly at random. Not until page


126 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

201 does the reader learn that the Germans had promised <strong>in</strong> spr<strong>in</strong>g 1939 to respect Fascist Italy’s<br />

Mediterranean-Balkan “spazio vitale” – an undertak<strong>in</strong>g clearly consigned by 1941 to the Wilhelmstrasse’s<br />

extensive collection of broken agreements. A broader frame of reference might have also<br />

helped to analyze phenomena such as Hitler’s dogged <strong>in</strong>sistence – despite the pressures of other<br />

fronts, the perceived strategic, operational, and tactical <strong>in</strong>competence of the Italians, and the skepticism<br />

of many of his pr<strong>in</strong>cipal subord<strong>in</strong>ates – on shor<strong>in</strong>g up Fascist Italy’s war effort. That <strong>in</strong>sistence<br />

only comes <strong>in</strong>to focus briefly <strong>in</strong> König’s conclusion (331-332). But Hitler had sought an Italian alliance<br />

from the beg<strong>in</strong>n<strong>in</strong>g of his career, and its achievement <strong>in</strong> 1936 to 1939 tied German power and<br />

prestige to Fascist Italy’s fate. Hence the Führer’s notable concern, amply on display <strong>in</strong> 1943, over<br />

the potential damage that Italian collapse might <strong>in</strong>flict upon his own charisma, domestic prestige,<br />

and control over the German armed forces. The sources of Hitler’s well-founded mistrust of the Italian<br />

monarchy and of key Mussol<strong>in</strong>i subord<strong>in</strong>ates such as the foreign m<strong>in</strong>ister and heir-apparent,<br />

Count Galeazzo Ciano, also rema<strong>in</strong> mysterious; König seems unaware of German <strong>in</strong>terception of<br />

Ciano’s w<strong>in</strong>ter 1939 to 1940 <strong>in</strong>discretions to the Belgians and Dutch about Germany’s impend<strong>in</strong>g<br />

western offensive. On the Italian side, König appears to ascribe Mussol<strong>in</strong>i’s option for war alongside<br />

Germany <strong>in</strong> 1939 to 1940 largely to the economic pressures of the moment (93-96, 328) – a stance<br />

that even a Marxist might condemn as “economism” <strong>in</strong> view of Mussol<strong>in</strong>i’s relentless quest s<strong>in</strong>ce<br />

1919 for a great ally similarly committed to overthrow<strong>in</strong>g the post-1918 world order.<br />

The author’s source base is also far too narrow for accuracy. König uses only six rolls out of over<br />

five hundred conta<strong>in</strong>ed <strong>in</strong> the easily accessible and vitally important U.S. National Archives microfilm<br />

collection of Italian army and high command documents captured <strong>in</strong> 1943 to 1945. He does not<br />

refer, <strong>in</strong> his discussion of Italy’s military-economic embarrassment <strong>in</strong> w<strong>in</strong>ter 1939 to 1940, to the<br />

rich British foreign office and cab<strong>in</strong>et documents, which might have thrown Mussol<strong>in</strong>i’s obduracy <strong>in</strong><br />

cl<strong>in</strong>g<strong>in</strong>g to the Axis <strong>in</strong>to sharper relief. König’s command of the Italian secondary literature is also<br />

sketchy. On the basis of contemporary German sources (124-125) he credits the Italians with nefarious<br />

schemes to pirate German tank designs; <strong>in</strong> actuality the German high command appears to have<br />

offered the Panzerkampfwagen III design freely and seems to have wanted to see German tanks produced<br />

<strong>in</strong> Italy – but Italian <strong>in</strong>dustry was perversely wedded to its own combat-<strong>in</strong>effective but more<br />

lucrative mach<strong>in</strong>es. [1] König also fails to def<strong>in</strong>e clearly the prece<strong>den</strong>ts and f<strong>in</strong>al objectives on both<br />

sides <strong>in</strong> the uneasy jo<strong>in</strong>t occupation of the Balkans. As a result, his discussion of occupation policy<br />

lacks perspective and direction.<br />

The military core of the Axis alliance comes up shortest <strong>in</strong> König’s analysis. He focuses on the<br />

high commands, but without break<strong>in</strong>g new conceptual or substantive ground, or explor<strong>in</strong>g the tactical<br />

and operational levels at which Italian performance and German condescension expla<strong>in</strong> so much<br />

about the alliance’s nature and fate. Insofar as König’s chapter on military cooperation has a purpose,<br />

it is to test the extent to which Italy preserved some small degree of freedom of movement<br />

with<strong>in</strong> the alliance after its <strong>in</strong>itial Balkan, Mediterranean, and North African disasters, and its subsequent<br />

desperate pleas for immediate military and economic aid from Berl<strong>in</strong>. König claims that Italy<br />

after December 1940 to January 1941 was not a “satellite”. But from that po<strong>in</strong>t onward only Hitler’s<br />

<strong>in</strong>sistence on sav<strong>in</strong>g the Duce’s prestige imperfectly masked German dom<strong>in</strong>ation of all essential<br />

strategic and operational decisions, and Italy’s total military-economic depen<strong>den</strong>ce on the Reich.<br />

Any residual power with<strong>in</strong> the alliance that Italy possessed depended on an <strong>in</strong>creas<strong>in</strong>gly overt threat<br />

to collapse. That threat, characteristic of client states and often notably effective, was hardly evi<strong>den</strong>ce<br />

of Italian freedom. Inexplicably, the author also mentions only <strong>in</strong> pass<strong>in</strong>g, <strong>in</strong> connection with<br />

public op<strong>in</strong>ion, the one genu<strong>in</strong>ely significant Italian strategic <strong>in</strong>itiative from 1941 onward, Mussol<strong>in</strong>i’s<br />

harebra<strong>in</strong>ed <strong>in</strong>sistence, to Berl<strong>in</strong>’s <strong>in</strong>itial embarrassment, on jo<strong>in</strong><strong>in</strong>g Germany’s war of annihilation<br />

aga<strong>in</strong>st Soviet Russia. König is <strong>in</strong>deed correct <strong>in</strong> suggest<strong>in</strong>g that the history of the Axis alli-<br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


127 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

ance is worthy of further <strong>in</strong>vestigation. But this work lacks the necessary breadth, depth, and conceptual<br />

imag<strong>in</strong>ation.<br />

Note:<br />

[1] Lucio Ceva/Andrea Curami: La meccanizzazione dell’esercito italiano dalle orig<strong>in</strong>i al 1943,<br />

Rome 1989, vol. 1, 363-76 – a sem<strong>in</strong>al work König does not cite.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


Leonid Luks: Zwei Gesichter des Totalitarismus. Bolschewismus und Nationalsozialismus<br />

im Vergleich. 16 Skizzen, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2007, 306 S., ISBN 978-3-412-20007-7,<br />

EUR 24,90<br />

Rezensiert von Thomas Widera<br />

Hannah-Arendt-<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Totalitarismusforschung e.V. an der Technischen Universität, Dres<strong>den</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 11<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/11/13971.html<br />

Die vorliegende Aufsatzsammlung trägt absichtsvoll im Untertitel<br />

<strong>den</strong> Zusatz „16 Skizzen“. Dem Leser wird signalisiert,<br />

dass ihn ke<strong>in</strong> systematisch angelegter, nach Geme<strong>in</strong>samkeiten<br />

und Unterschie<strong>den</strong> fragender Vergleich erwartet. Der Band<br />

enthält vielmehr Detailstudien zu jenen bei<strong>den</strong> Großdiktaturen,<br />

die das 20. Jahrhundert prägten. Bis auf e<strong>in</strong>e Ausnahme<br />

veröffentlichte der Lehrstuhl<strong>in</strong>haber <strong>für</strong> Mittel- und Osteuropäische<br />

<strong>Zeitgeschichte</strong> an der Katholischen Universität Eichstätt,<br />

Leonid Luks, die Beiträge <strong>in</strong> <strong>den</strong> Jahren 1988 bis 2007<br />

<strong>in</strong> Zeitschriften. Kenntnisreich unterzieht er zentrale Elemente<br />

des Nationalsozialismus und des Bolschewismus e<strong>in</strong>er vergleichen<strong>den</strong><br />

Betrachtung, um zwischen Besonderem und Typischem<br />

der Diktaturen zu differenzieren und Pauschalurteile<br />

über beide politischen Systeme auszuräumen und zu widerlegen.<br />

Mit profunder Sachkenntnis sucht er nach Antworten<br />

auf die Frage, warum es Auschwitz und <strong>den</strong> Archipel Gulag<br />

gab und warum die bei<strong>den</strong> von ihm analysierten „zivilisationsfe<strong>in</strong>dlichen<br />

Strömungen ausgerechnet <strong>in</strong> Russland und <strong>in</strong><br />

Deutschland ihre radikalste Ausprägung“ fan<strong>den</strong> (8).<br />

Der Sammelband ist untergliedert <strong>in</strong> drei Rubriken und wendet sich im ersten Teil zunächst <strong>den</strong><br />

geistigen Grundlagen der Entstehung von Bolschewismus und Nationalsozialismus zu. Ehe Luks auf<br />

die Zusammenarbeit Len<strong>in</strong>s mit der Obersten Heeresleitung des Wilhelm<strong>in</strong>ischen Kaiserreichs und<br />

die Totalitarismusanalyse des russischen Philosophen Semen L. Frank e<strong>in</strong>geht, vergleicht er die Ausführungen<br />

Dostoevskijs und He<strong>in</strong>rich von Treitschkes zu Nationalismus und Antisemitismus sowie<br />

die Len<strong>in</strong>s und Chamberla<strong>in</strong>s zur Revolution. Die Kampfschrift des nachmaligen Revolutionärs<br />

„Was tun?“ und das Elaborat „Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts“ betrachtet Luks als<br />

zunächst utopische Entwürfe, die aber von <strong>den</strong> Diktatoren als Vorlagen politischen Handelns betrachtet<br />

wor<strong>den</strong> seien (69).<br />

Im zweiten Teil untersucht Luks konkrete Phänomene der Verwandtschaft und Differenz von Bolschewismus,<br />

Faschismus und Nationalsozialismus. Zunächst fasst er <strong>in</strong> dem Aufsatz „Ursachen <strong>für</strong><br />

die Fehle<strong>in</strong>schätzung der rechtsextremen Massenbewegungen durch die Bolschewiki“ die Ergebnisse<br />

se<strong>in</strong>er Habilitationsschrift über die kommunistische Faschismustheorie zusammen. [1] Danach kritisiert<br />

Luks die unausgewogene Deutung des Nationalsozialismus als e<strong>in</strong>er Reaktion auf die bolsche-


129 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

wistische Bedrohung (Ernst Nolte) sowie <strong>den</strong> ähnlich gelagerten Versuch e<strong>in</strong>er Erklärung des Holocaust<br />

durch Johannes Rogalla von Bieberste<strong>in</strong>. Größere Erklärungskraft <strong>für</strong> die Entstehungsbed<strong>in</strong>gungen<br />

totalitärer Herrschaft f<strong>in</strong>det er <strong>in</strong> <strong>den</strong> biographisch gesättigten Schilderungen des stal<strong>in</strong>istischen<br />

Terrors durch die Schriftsteller Vasilij Grossman und Aleksander Wat. Beide betrachteten die Komplizenschaft<br />

zahlreicher Parteimitglieder und ihre Involvierung <strong>in</strong> die Verbrechen als e<strong>in</strong>e wesentliche<br />

Ursache ihrer Unfähigkeit, sich gegen das Terrorregime Stal<strong>in</strong>s aufzulehnen. Auf der anderen Seite<br />

sei der reibungslose Ablauf des Holocaust „ohne die unterwürfige H<strong>in</strong>nahme dieser Mordorgie durch<br />

die Mehrheit der Bevölkerung <strong>in</strong> allen Gebieten“ des nationalsozialistischen Machtbereichs nicht<br />

möglich gewesen (210).<br />

Nachdem Luks Vergleiche des britischen Historikers Richard Overy zwischen dem rassistischen<br />

Eroberungskrieg der Wehrmacht gegen die Sowjetunion und dem gegenwärtigen Krieg im Irak als<br />

irreführend zurückgewiesen hat, kommt er im abschließen<strong>den</strong> Teil III zu <strong>den</strong> Betrachtungen über die<br />

Gefahren des russischen Rechtsextremismus <strong>in</strong> der Gegenwart. Gerade bei diesen überaus <strong>in</strong>teressanten,<br />

weil von e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>timen Kenner der Verhältnisse verfassten Beiträgen über die extremistischen<br />

Konstellationen <strong>in</strong> der russischen Gesellschaft macht sich e<strong>in</strong> konzeptioneller Mangel des<br />

Sammelbandes bemerkbar. Zwar erwähnte Luks <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>leitung e<strong>in</strong>schränkend, das Buch habe <strong>den</strong><br />

Charakter e<strong>in</strong>er thematischen Annäherung und deshalb dürfe e<strong>in</strong>e erschöpfende Auskunft nicht erwartet<br />

wer<strong>den</strong>, aber es fehlt <strong>den</strong>noch e<strong>in</strong>e Bilanz und die E<strong>in</strong>ordnung der ja teils bis zu zwei Jahrzehnte<br />

zurückliegen<strong>den</strong> Erstveröffentlichungen <strong>in</strong> <strong>den</strong> aktuellen Forschungskontext.<br />

Luks war sich dieses Problems bewusst. In e<strong>in</strong>em FAZ-Artikel vom Dezember 1993 über <strong>den</strong><br />

Wahlsieg Vladimir Zir<strong>in</strong>ovskijs warnte er unter H<strong>in</strong>weis auf entsprechende historische Prozesse <strong>in</strong><br />

der Weimarer Republik vor e<strong>in</strong>er Unterschätzung der russischen Rechtsextremisten. Jetzt fügt Luks<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er nachträglichen Schlussbemerkung h<strong>in</strong>zu, dass, obwohl sich e<strong>in</strong>ige se<strong>in</strong>er damaligen Be<strong>für</strong>chtungen<br />

nicht bestätigten, „die faschistische Herausforderung auch heute noch e<strong>in</strong>e akute Gefahr<br />

<strong>für</strong> das postsowjetische Russland“ darstelle (278). Doch dieser knappen Aussage wird ke<strong>in</strong>erlei Erklärung<br />

nachgeschoben und der Leser kann sie lediglich registrieren. Daraus erwächst der E<strong>in</strong>druck,<br />

der Autor habe die Schwachstelle e<strong>in</strong>er bloßen Aufsatzsammlung wahrgenommen und sich trotzdem<br />

nicht der Mühe e<strong>in</strong>er bilanzieren<strong>den</strong> Analyse unterzogen. Tatsächlich spiegeln die Beiträge e<strong>in</strong>en<br />

jetzt zum<strong>in</strong>dest partiell ergänzungsbedürftigen „Forschungsstand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung<br />

wider“ (12), und damit e<strong>in</strong>e verpasste Gelegenheit.<br />

Luks demonstriert mit se<strong>in</strong>en scharfs<strong>in</strong>nigen und prägnanten E<strong>in</strong>wän<strong>den</strong> gegen Noltes e<strong>in</strong>seitige<br />

Interpretation der nationalsozialistischen Herrschaft, wie überaus <strong>in</strong>teressant und aufschlussreich die<br />

komparative Diktaturforschung se<strong>in</strong> kann. Dazu wären allerd<strong>in</strong>gs grundlegende theoretische Überlegungen<br />

zur Beschaffenheit e<strong>in</strong>es Analyserasters erforderlich, das allgeme<strong>in</strong>gültige Kriterien <strong>für</strong> die<br />

Zuordnung e<strong>in</strong>zelner totalitärer Phänomene zu e<strong>in</strong>em bestimmten Herrschaftstypus bereitstellte.<br />

Auch fehlt e<strong>in</strong> Resümee über die Chancen und Grenzen des Vergleichs totalitärer Herrschaft anhand<br />

der vorgestellten Beispiele; dadurch wird e<strong>in</strong>e Möglichkeit versäumt, die Problemfelder, Perspektiven<br />

und Fragehorizonte des Systemvergleichs erneut <strong>in</strong> die Forschungsdebatte e<strong>in</strong>- und diese voranzubr<strong>in</strong>gen.<br />

Das ist zu bedauern, weil trotz langjähriger Ause<strong>in</strong>andersetzungen über die Reichweite der<br />

komparativen Diktaturforschung bislang ke<strong>in</strong> Forschungsdesign zur Verfügung steht, das breiter<br />

angelegt ist und nicht nur <strong>für</strong> enge Ausschnitte zutrifft. Ungeachtet dieser E<strong>in</strong>schränkungen zeichnet<br />

sich der mit e<strong>in</strong>em Personenregister abgerundete Band dadurch aus, dass er umfassend <strong>in</strong> die langjährigen<br />

Forschungen von Leonid Luks über <strong>den</strong> Totalitarismus e<strong>in</strong>führt und die Vielschichtigkeit<br />

se<strong>in</strong>es komplexen Werkes erschließt.<br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


130 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Anmerkung:<br />

[1] Leonid Luks: Entstehung der kommunistischen Faschismustheorie. Die Ause<strong>in</strong>andersetzung der<br />

Kom<strong>in</strong>tern mit Faschismus und Nationalsozialismus 1921–1935. Stuttgart 1984.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


Bogdan Musial: Kampfplatz Deutschland. Stal<strong>in</strong>s Kriegspläne gegen <strong>den</strong> Westen,<br />

Berl<strong>in</strong>/München: Propyläen 2008, 380 S., ISBN 978-3-549-07335-3, EUR 29,80<br />

Rezensiert von Bert Hoppe<br />

Edition Ju<strong>den</strong>verfolgung, Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 1<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/01/15397.html<br />

Bogdan Musial hat sich mit se<strong>in</strong>em neuen Werk nichts weniger<br />

vorgenommen, als <strong>den</strong> Generalschlüssel zum Verständnis<br />

der sowjetischen Geschichte bis 1941 zu präsentieren. Ob es<br />

sich um <strong>den</strong> Aufbau der Schwer<strong>in</strong>dustrie handelt oder um die<br />

‚Neue Ökonomische Politikʻ, um die Aufrüstung der Roten<br />

Armee oder die Deportationen von nationalen M<strong>in</strong>derheiten –<br />

jede politische Entscheidung Moskaus bis h<strong>in</strong> zur Ausgestaltung<br />

des staatlichen Alkoholmonopols leitete sich laut Musial<br />

aus Stal<strong>in</strong>s Drang ab, e<strong>in</strong>en Krieg gegen Westeuropa vom Zaun<br />

zu brechen. Letztlich sei ihm Hitler, als dieser am 22. Juni<br />

1941 die Wehrmacht nach Osten marschieren ließ, nur um e<strong>in</strong><br />

knappes Jahr zuvorgekommen. Spätestens seit dem Frühjahr<br />

1941 habe Stal<strong>in</strong> nämlich die „größte Invasionsarmee aller<br />

Zeiten“ im Westen der Sowjetunion zusammengezogen, um<br />

e<strong>in</strong>en – so wörtlich – „Vernichtungskrieg“ gegen Deutschland<br />

zu führen.<br />

Gleich zwei Tabubrüche <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Buch und obendre<strong>in</strong><br />

noch e<strong>in</strong>e vollständige Umwertung der Stal<strong>in</strong>schen Politik –<br />

großartig! Schade nur, dass sich diese Thesen nicht e<strong>in</strong>mal<br />

mit <strong>den</strong> zahlreichen Dokumenten aus russischen Archiven belegen<br />

lassen, die Musial <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch präsentiert; selten hat e<strong>in</strong> Historiker so souverän der Zumutung<br />

widerstan<strong>den</strong>, se<strong>in</strong>e Ausgangsthese anhand der Quellen zu revidieren. Auch nähere Informationen<br />

darüber, wie man sich <strong>den</strong> verme<strong>in</strong>tlich geplanten sowjetischen „Vernichtungskrieg“ gegen<br />

Deutschland genau vorzustellen habe, bleibt der Autor se<strong>in</strong>en Lesern schuldig.<br />

Dabei darf man Musial unterstellen, dass er e<strong>in</strong>en derart hochgradig sensiblen Begriff nicht gedankenlos<br />

<strong>in</strong> die Debatte wirft: Der breiten Öffentlichkeit ist er als der Historiker bekannt gewor<strong>den</strong>,<br />

der die erste Ausstellung des Hamburger <strong>Institut</strong>es <strong>für</strong> Sozialforschung über <strong>den</strong> nationalsozialistischen<br />

Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion zu Fall brachte; er hatte nachgewiesen, dass e<strong>in</strong>ige<br />

der dort gezeigten Fotos nicht Opfer der Wehrmacht, sondern des sowjetischen Geheimdienstes<br />

zeigten. Seitdem gibt er das Enfant terrible der deutschen Zeitgeschichtsforschung, regelmäßig kanzelt<br />

er die bisherige Forschung rüde ab. Auch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em neuen Buch wirft er der Mehrzahl se<strong>in</strong>er<br />

Kollegen pauschal vor, immer noch der kommunistischen Propaganda von der friedlieben<strong>den</strong> Sowjetunion<br />

aufzusitzen. Besser wäre es gewesen, er hätte e<strong>in</strong>ige ihrer Werke gelesen. Se<strong>in</strong>e Literaturbasis


132 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

ist nämlich recht schmal und teilweise grotesk veraltet, zentrale Bücher zu se<strong>in</strong>em Thema h<strong>in</strong>gegen<br />

– <strong>in</strong>sbesondere Gabriel Gorodetskys im Jahr 2001 auch auf deutsch erschienene, bahnbrechende<br />

Studie „Die große Täuschung“ über Stal<strong>in</strong> und <strong>den</strong> deutschen Überfall auf die Sowjetunion – tauchen<br />

bei ihm überhaupt nicht auf.<br />

E<strong>in</strong>e solch selektive Literatur- und Quellenrezeption hat freilich <strong>den</strong> Vorteil, sich nicht mit Argumenten<br />

und Fakten ause<strong>in</strong>andersetzen zu müssen, die die eigenen Thesen <strong>in</strong>frage stellen könnten. So<br />

lässt sich Stal<strong>in</strong> beispielsweise nur dann als bl<strong>in</strong>der Revolutionsexporteur darstellen, wenn man e<strong>in</strong>ige<br />

(teils schon lange bekannte) Dokumente stillschweigend übergeht: Mit ke<strong>in</strong>em Wort erwähnt Musial<br />

beispielsweise, dass Stal<strong>in</strong> die Erfolgsaussichten des von der Kom<strong>in</strong>tern geplanten Staatsstreiches im<br />

Jahr 1923 äußerst skeptisch beurteilte. „Wenn <strong>in</strong> Deutschland die Macht heutzutage stürzt und die<br />

Kommunisten sie aufheben, dann wer<strong>den</strong> sie mit Pauken und Trompeten scheitern“, hatte Stal<strong>in</strong> im<br />

August 1923 erklärt und daraus <strong>für</strong> die Umsturzpläne der KPD gefolgert: „Me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach<br />

muss man die Deutschen zurückhalten und nicht ermuntern.“ Nach dem absehbaren Scheitern der<br />

von se<strong>in</strong>em Rivalen Trotzki vorangetriebenen deutschen Revolutionspläne strich Stal<strong>in</strong> der KPD Ende<br />

1924 folgerichtig auch die Zuschüsse <strong>für</strong> deren „Militärarbeit“ zusammen. Thälmann nörgelte daraufh<strong>in</strong>,<br />

die KPD müsse nun von „der konsequenten Vorbereitung des Bürgerkrieges“ abrücken.<br />

Solche Kle<strong>in</strong>igkeiten <strong>in</strong>teressieren Musial nicht, er zitiert stattdessen ausführlich aus <strong>den</strong> Briefen<br />

und Aussagen Stal<strong>in</strong>s, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en sich dieser gegenüber se<strong>in</strong>er Gefolgschaft pflichtgemäß als Revolutionär<br />

und Haudegen stilisierte. Mit quellenkritischem Kle<strong>in</strong>-Kle<strong>in</strong> – also <strong>den</strong> Fragen wo, vor wem<br />

und warum der Diktator die jeweiligen Aussagen machte – hält sich Musial hierbei nicht auf. Daher<br />

nimmt er die Rede, die Stal<strong>in</strong> am 5. Mai 1941 vor Absolventen der Militärakademie hielt, <strong>für</strong> bare<br />

Münze – schließlich hatte der Diktator se<strong>in</strong>en Zuhörern ja e<strong>in</strong>geschärft, was er jetzt sage, sei geheim!<br />

Stal<strong>in</strong> zog damals über die „überheblich“ gewor<strong>den</strong>e Wehrmacht vom Leder und rühmte <strong>den</strong><br />

angeblich erfolgreichen Umbau der Roten Armee zu e<strong>in</strong>er modernen Angriffsarmee. Mit diesen<br />

Worten – so Musials ke<strong>in</strong>eswegs brandneue Interpretation – wollte Stal<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Soldaten auf e<strong>in</strong>en<br />

Angriff auf Deutschland vorbereiten, der „<strong>in</strong> naher Zukunft“ stattf<strong>in</strong><strong>den</strong> sollte, laut Musial möglicherweise<br />

schon im Frühjahr 1942.<br />

Mit <strong>den</strong> vielen anderen Dokumenten über <strong>den</strong> Stand der sowjetischen Aufrüstung, die Musial zitiert,<br />

lässt sich diese These allerd<strong>in</strong>gs nicht stützen. So hatte Stal<strong>in</strong> noch im November 1940 geklagt, die<br />

sowjetische Luftwaffe sei faktisch wertlos und müsse komplett neu aufgebaut wer<strong>den</strong>. Hätte Musial<br />

e<strong>in</strong> Buch über die Rückschläge der sowjetischen Rüstungsbemühungen schreiben wollen, hätte es<br />

e<strong>in</strong> bee<strong>in</strong>druckendes Werk wer<strong>den</strong> können: Detailliert schildert er, dass es <strong>den</strong> Truppen an Munition<br />

fehlte, hunderttausende Soldaten barfuß zum Dienst ersche<strong>in</strong>en mussten und wie häufig niemand die<br />

teuer e<strong>in</strong>gekauften, modernen Waffen zu bedienen wusste. Weshalb sich Stal<strong>in</strong> unter solchen Bed<strong>in</strong>gungen<br />

zum baldigen Angriff auf e<strong>in</strong>en übermächtigen und an Blitzsiege gewohnten Gegner entschlossen<br />

haben soll, bleibt Musials Geheimnis – er <strong>in</strong>terpretiert selbst <strong>den</strong> Beschluss, störanfällige<br />

Panzerketten auszutauschen, als Beleg <strong>für</strong> die Vorbereitung e<strong>in</strong>es Angriffskrieges.<br />

Auch aus <strong>den</strong> Worten des sowjetischen Generalstabschefs, wenn die Sowjetunion angegriffen<br />

werde, müsse die Rote Armee der fe<strong>in</strong>dlichen Armee „vernichtende Schläge“ versetzen, kann Musial<br />

nur offensive Absichten herauslesen. Folglich hält er die hysterischen Warnungen der Bolschewiki<br />

vor e<strong>in</strong>em drohen<strong>den</strong> Angriff kapitalistischer Mächte auf die Sowjetunion <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Propagandaf<strong>in</strong>te.<br />

Musial entgeht somit e<strong>in</strong> wesentliches Motiv sowjetischer Außenpolitik, <strong>den</strong>n tatsächlich wähnten<br />

sich die Bolschewiki seit ihrer Niederlage gegen Polen vor Warschau im August 1920 und seit <strong>den</strong><br />

alliierten Interventionen im sowjetischen Bürgerkrieg von Fe<strong>in</strong><strong>den</strong> umgeben, die nur auf e<strong>in</strong>e günstige<br />

Gelegenheit warteten, auf die Sowjetunion loszustürzen. Für Stal<strong>in</strong> war diese Bedrohung so real,<br />

dass er im Oktober 1930 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Brief an <strong>den</strong> Geheimdienstchef Mensch<strong>in</strong>ski anregte, die Arbeiter<br />

Westeuropas durch die Kom<strong>in</strong>tern über die angeblichen Angriffspläne der westlichen Regierungen<br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


133 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

aufzuklären. Auf diese Weise, so war Stal<strong>in</strong> überzeugt, ließen sich die alliierten „Interventionsversuche<br />

<strong>für</strong> die nächsten e<strong>in</strong> bis zwei Jahre paralysieren, torpedieren, was <strong>für</strong> uns nicht unwichtig ist.“<br />

Diese E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> das Denken der Bolschewiki relativieren ihre monströsen Massenverbrechen <strong>in</strong><br />

der Zwischenkriegszeit ke<strong>in</strong>eswegs – ohne die Kenntnis dieser paranoi<strong>den</strong> Furcht vor äußeren und<br />

<strong>in</strong>neren Fe<strong>in</strong><strong>den</strong> jedoch lässt sich die Dynamik des stal<strong>in</strong>istischen Terrors, lassen sich die Massenmorde<br />

an verme<strong>in</strong>tlichen „Volksfe<strong>in</strong><strong>den</strong>“ und die Deportationen „fe<strong>in</strong>dlicher nationaler M<strong>in</strong>derheiten“<br />

nicht erklären. Molotow rechtfertigte noch 1975 diese mörderische Logik, als er Stal<strong>in</strong>s Terrorkonzept<br />

zustimmend mit <strong>den</strong> Worten zusammenfasste: „Möglicherweise fällt e<strong>in</strong> Kopf zu viel, doch<br />

da<strong>für</strong> gibt es im Krieg und nach dem Krieg ke<strong>in</strong>e Schwankungen.“<br />

Derartige Überlegungen über die Motive der Täter und die Ursachen des Terrors s<strong>in</strong>d <strong>für</strong> Musial<br />

offensichtlich zu e<strong>in</strong>fühlsam. Er will Stal<strong>in</strong>s Verbrechen der Zwischenkriegszeit, die er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

Buch ausführlich schildert, nicht erklären. Es reicht ihm, sie zu verdammen. Da kann e<strong>in</strong> wenig spekulativer<br />

bodycount nicht scha<strong>den</strong>: Als seien die belegbaren Opferzahlen nicht hoch genug, errechnet<br />

Musial <strong>für</strong> die Sowjetunion und die sowjetisch besetzten Gebiete Osteuropas <strong>für</strong> die Zeit zwischen<br />

1917 und 1941 die „theoretische Zahl“ von 16 Millionen Opfern des kommunistischen Terrors – e<strong>in</strong>schließlich<br />

der ungezeugten K<strong>in</strong>der verhungerter und erschossener Bauern. Damit – so konstatiert<br />

Musial auf der letzten Seite se<strong>in</strong>es Buches – überstieg die Gesamtopferzahl des kommunistischen<br />

Terrors <strong>in</strong> Europa die des Nationalsozialismus. Man wird nach der Lektüre des Buches <strong>den</strong> E<strong>in</strong>druck<br />

nicht los, als sei diese Feststellung das eigentliche Ziel des Autors gewesen.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


Richard Overy: Die letzten zehn Tage. Europa am Vorabend des Zweiten Weltkriegs.<br />

24. August bis 3. September 1939. Aus dem Englischen von Klaus B<strong>in</strong>der, München: Pantheon<br />

2009, 159 S., ISBN 978-3-5705-5088-5, EUR 12,95<br />

Rezensiert von Leonid Luks<br />

Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 11<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/11/17038.html<br />

Während die Frage nach der Genese des Ersten Weltkriegs bis<br />

heute die Historikerzunft spaltet, steht <strong>für</strong> sie der Hauptverantwortliche<br />

<strong>für</strong> <strong>den</strong> Ausbruch des Zweiten Weltkriegs unmissverständlich<br />

fest. Der Krieg wurde von Adolf Hitler „entfesselt“.<br />

Diese Formulierung des Schweizer Historikers Walther<br />

Hofer [1] wird von der überwältigen<strong>den</strong> Mehrheit der Historiker<br />

nicht angezweifelt, wenn man von Exzentrikern wie A.J.P.<br />

Taylor e<strong>in</strong>mal absieht. [2] Dieser Konsens wird jetzt von Richard<br />

Overy zum<strong>in</strong>dest partiell <strong>in</strong> Frage gestellt. Der Zweite<br />

Weltkrieg hatte se<strong>in</strong>er Ansicht nicht nur Hitler als Urheber.<br />

An erster Stelle wird hier Polen genannt: „Vor allem die unnachgiebige<br />

Weigerung der Polen, ihrem mächtigen deutschen<br />

Nachbarn irgendwelche Zugeständnisse e<strong>in</strong>zuräumen,<br />

machte <strong>den</strong> Krieg fast unausweichlich“ (10).<br />

Für die zweite Polnische Republik (1918–1939), vor allem<br />

nach ihrer autoritären Wende im Jahre 1926 (nach dem Staatsstreich<br />

Piłsudskis), hat Overy auch sonst ke<strong>in</strong>e allzu großen<br />

Sympathien: „Die großen Staaten Westeuropa [...] betrachteten<br />

Polen nicht als möglichen Bundesgenossen. Der polnische<br />

Antisemitismus und der autoritäre Stil des Regimes waren<br />

nicht gerade hilfreich <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en Brückenschlag <strong>in</strong> <strong>den</strong> Westen. Und im Sommer 1938 be<strong>für</strong>wortete<br />

die polnische Führungsschicht sogar die Zerschlagung der Tschechoslowakei“ (13). Overys Kritik ist<br />

sicher berechtigt. Allerd<strong>in</strong>gs lässt er dabei außer Acht, dass die Westmächte zur gleichen Zeit durchaus<br />

bereit waren, Deutschland, <strong>in</strong> dem seit 1933 ke<strong>in</strong> autoritäres, sondern e<strong>in</strong> totalitäres Regime<br />

herrschte und dessen antisemitischer Kurs wesentlich radikaler war als derjenige Polens, als e<strong>in</strong>en<br />

seriösen Vertragspartner zu betrachten. Man erlaubte Deutschland 1933–38, be<strong>in</strong>ahe alle Restriktionen<br />

des Versailler Vertrags zu demontieren. Was die <strong>in</strong> der Tat beschämende Beteiligung Polens an<br />

der Aufteilung der Tschechoslowakei anbetrifft, so darf man nicht vergessen, dass dies nur deshalb<br />

möglich war, weil die Westmächte schon vorher die Tschechoslowakei – ihren treuesten Verbündeten<br />

<strong>in</strong> Mittelosteuropa und die e<strong>in</strong>zige Demokratie <strong>in</strong> der Region – <strong>in</strong> München verrieten und Hitlers<br />

Aggressivität auslieferten.<br />

Die Jahre 1933–38 lassen sich also als e<strong>in</strong>e Zeit e<strong>in</strong>es beispiellosen Versagens aller Garanten der<br />

europäischen Nachkriegsordnung – sowohl der Westmächte als auch Polens – bezeichnen. Voraus-


135 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

setzung <strong>für</strong> ihre be<strong>in</strong>ahe une<strong>in</strong>geschränkte Nachgiebigkeit gegenüber dem ‚Dritten Reichʻ war nicht<br />

zuletzt ihre Vorstellung, Hitlers politische Ziele seien begrenzter Natur.<br />

Abgesehen davon ließ sie auch Hitlers antikommunistische Rhetorik nicht unbee<strong>in</strong>druckt. Sie<br />

nahmen die Beteuerungen des deutschen Diktators, das ‚Dritte Reichʻ stelle e<strong>in</strong>e Bastion der abendländischen<br />

Zivilisation im Kampfe gegen die bolschewistische Gefahr dar, <strong>für</strong> bare Münze.<br />

Bereits Mitte der 30er Jahre – auf dem Höhepunkt der Appeasementpolitik – versuchte der sozialdemokratische<br />

Hitler-Biograph Konrad Hei<strong>den</strong> all diese Illusionen der außenpolitischen Partner Hitlers<br />

zu entlarven: Hitler sei niemand, so Hei<strong>den</strong>, mit dem e<strong>in</strong> Vernünftiger Verträge schließe, sondern<br />

vielmehr e<strong>in</strong> Phänomen, das man entweder erschlage oder von dem man sich erschlagen lasse.<br />

[3] Zu <strong>den</strong> ersten europäischen Regierungen, die sich über diesen Sachverhalt im Klaren waren, gehörte<br />

das Warschauer Kab<strong>in</strong>ett: „Hitler hat se<strong>in</strong>e Berechenbarkeit verloren“, zitiert Overy die Aussage<br />

des polnischen Außenm<strong>in</strong>isters Beck vom 24. März 1939: „Hitler muss mit e<strong>in</strong>er Entschlossenheit<br />

konfrontiert wer<strong>den</strong>, die ihm anderswo <strong>in</strong> Europa bisher nicht begegnet ist.“<br />

Die Tatsache, dass die polnischen Politiker nun nach e<strong>in</strong>er jahrelangen Fehle<strong>in</strong>schätzung des deutschen<br />

Diktators begannen, se<strong>in</strong> Wesen adäquat zu erfassen, setzt Overy aber mit Halsstarrigkeit<br />

gleich, die <strong>den</strong> Ausbruch des Zweiten Weltkrieges „unausweichlich machte“. Und so wird Polen –<br />

das erste Opfer der Hitlerschen Kriegssehnsucht – zu e<strong>in</strong>em der wichtigsten Mitverantwortlichen <strong>für</strong><br />

<strong>den</strong> Ausbruch des Zweiten Weltkriegs stilisiert.<br />

Nicht weniger erstaunlich s<strong>in</strong>d die Wissenslücken Overys <strong>in</strong> Bezug auf die Geschichte Polens,<br />

immerh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es der zentralen Protagonisten se<strong>in</strong>es Buches. So schreibt Overy: „1922, nach ihrem<br />

Sieg im russischen Bürgerkrieg, fielen Teile der revolutionären Roten Armee <strong>in</strong> Polen e<strong>in</strong> und versuchten,<br />

<strong>den</strong> gerade gebildeten polnischen Staat zu zerstören [...Die] schlecht ausgerüsteten Truppen<br />

unter General Michail Tuchatschewski [drohten] Warschau e<strong>in</strong>zuschließen“ (12).<br />

Alle<strong>in</strong> diese Passage enthält vier Fehler. Der polnisch-sowjetische Krieg fand 1920 und nicht<br />

1922 statt. An se<strong>in</strong>em Beg<strong>in</strong>n stand nicht der Überfall der Roten Armee auf Polen, sondern der am<br />

25. April 1920 begonnene Vormarsch der polnischen Streitkräfte <strong>in</strong> Richtung Kiew. Erst die im Mai/<br />

Juni 1920 begonnene sowjetische Gegenoffensive führte die Rote Armee vor die Tore Warschaus. Als<br />

der polnisch-sowjetische Krieg begann, war der russische Bürgerkrieg noch nicht beendet. Im Sü<strong>den</strong><br />

Russlands kämpfte damals noch die weiße Armee unter General Wrangel gegen die Bolschewiki.<br />

Und schließlich war der wohl bedeutendste sowjetische Feldherr Michail Tuchačevskij, <strong>den</strong> Stal<strong>in</strong><br />

1937 h<strong>in</strong>richten ließ, ke<strong>in</strong> General. Generalsränge wur<strong>den</strong> <strong>in</strong> der Roten Armee erst 1940 e<strong>in</strong>geführt.<br />

Overy ist auch nicht im Recht mit se<strong>in</strong>er These, der Schlacht von Warschau sei <strong>in</strong> historischen<br />

Berichten nie „das Gewicht gegeben wor<strong>den</strong>, das ihr gebührt, ...[obwohl sie] doch Osteuropa vor<br />

e<strong>in</strong>em kommunistischen Kreuzzug [rettete] und Polens Unabhängigkeit [verteidigte]“ (12). Es war<br />

e<strong>in</strong> Landsmann Overys, der englische Diplomat Lord D’Abernon, der das „Wunder an der Weichsel“<br />

als e<strong>in</strong>e der entschei<strong>den</strong>dsten Schlachten der Weltgeschichte bezeichnete. [4] (In der Passage, <strong>in</strong><br />

der Overy mangelnde westliche Resonanz auf <strong>den</strong> polnischen Sieg bei Warschau beklagt, ändert er<br />

übrigens se<strong>in</strong>e Zeitangabe und spricht vom Jahr 1920, <strong>in</strong> dem dieses Ereignis stattfand).<br />

Die Stärken dieses Buches kommen erst dann zum Vorsche<strong>in</strong>, wenn Overy das <strong>für</strong> ihn unsichere<br />

osteuropäische Terra<strong>in</strong> verlässt und sich mit dem Dreiecksverhältnis Berl<strong>in</strong>-London-Paris beschäftigt.<br />

M<strong>in</strong>uziös beschreibt er die Haltung Chamberla<strong>in</strong>s und Daladiers kurz vor dem Hitlerschen<br />

Überfall auf Polen und unmittelbar danach. Er weist darauf h<strong>in</strong>, wie stark das Trauma von München<br />

<strong>den</strong> Kurs dieser Politiker bestimmte. In Bezug auf Polen seien sie entschlossen gewesen, nicht <strong>den</strong><br />

gleichen Fehler zu machen: „In Paris wie <strong>in</strong> London hoffte man, dass die offenkundig feste Haltung<br />

des Westens Hitler abschrecken oder ihn dazu br<strong>in</strong>gen werde, ohne Gewaltanwendung zu verhandeln<br />

[...]. Für ke<strong>in</strong>en der bei<strong>den</strong> Staatsmänner lässt sich nachweisen, dass sie erwogen haben, Polen<br />

im Stich zu lassen, wenn Deutschland als Aggressor handelte“ (17, 21).<br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


136 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Overy nimmt Chamberla<strong>in</strong> und Daladier vor jenen Historikern <strong>in</strong> Schutz, die behaupten, sie seien<br />

„Appeasement-Politiker gewesen, die nach e<strong>in</strong>em Ausweg aus ihren Verpflichtungen gesucht hätten“<br />

(32). Nur der französische Außenm<strong>in</strong>ister Bonnet habe versucht, auch im Falle Polens e<strong>in</strong>e<br />

Münchner Lösung zu wiederholen, er sei allerd<strong>in</strong>gs im Pariser Kab<strong>in</strong>ett isoliert gewesen. Die Entschlossenheit<br />

der politischen Klasse Großbritanniens und Frankreichs, e<strong>in</strong> „zweites München“ nicht<br />

zuzulassen, habe <strong>den</strong> Handlungsspielraum von London und Paris e<strong>in</strong>geengt. Sie seien „auf die abschreckende<br />

Wirkung demonstrierter Standhaftigkeit [fixiert gewesen]“ (123). Was Overy <strong>in</strong> diesem<br />

Zusammenhang besonders irritiert, ist der aus se<strong>in</strong>er Sicht <strong>in</strong>flationäre Gebrauch des Begriffs „Ehre“<br />

durch westliche Politiker im Sommer 1939: „Entweder löste man, koste es, was es wolle, die <strong>den</strong> Polen<br />

gegebenen Garantien e<strong>in</strong>, oder die Nation verhielt sich unehrenhaft. Und unabhängig davon, ob e<strong>in</strong>e<br />

solche moralische B<strong>in</strong>dung noch tauglich war <strong>für</strong> die Diplomatie der 1930er Jahre oder nicht, sie<br />

wurde <strong>in</strong> <strong>den</strong> letzten Tagen der Krise regelmäßig wiederholt“ (124).<br />

Mit diesem Diktum lässt Overy folgendes außer Acht: Durch ihre Appeasementpoltik gegenüber<br />

<strong>den</strong> brutal agieren<strong>den</strong> rechtsextremen Diktatoren, vor allem durch <strong>den</strong> Verrat an ihrem tschechoslowakischen<br />

Verbündeten, hatten die westlichen Demokratien ihr wohl wichtigstes Kapital weitgehend<br />

verspielt – ihre Glaubwürdigkeit, nicht nur vor ihren Anhängern. Hitler selbst hielt sie <strong>für</strong><br />

„kle<strong>in</strong>e Würmchen“, die „zu mürbe und zu deka<strong>den</strong>t [s<strong>in</strong>d], um ernstlich <strong>den</strong> Krieg zu beg<strong>in</strong>nen“<br />

(20, 116). Den Zustand, <strong>in</strong> dem sich Europa <strong>in</strong>folge der Appeasementpoltik der Westmächte befand,<br />

beschrieb der britische Historiker Lewis B. Namier mit folgen<strong>den</strong> Worten: „Europe <strong>in</strong> decay.“ [5]<br />

Die Willenslähmung der westlichen Demokratien <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1930er Jahren stachelte Hitler nur dazu an,<br />

se<strong>in</strong>e Eroberungspläne immer maßloser zu gestalten. Dessenungeachtet wird Overy nicht müde zu<br />

betonen, Hitler habe 1939 „nur“ e<strong>in</strong>en begrenzten Krieg gegen Polen gewollt: „Nur wenige Historiker<br />

gehen davon aus, dass [Hitler] irgende<strong>in</strong>en Plan zur Welteroberung gehabt habe, <strong>in</strong> dem Polen<br />

das Sprungbrett <strong>für</strong> e<strong>in</strong> späteres deutsches Weltimperium war“ (114).<br />

Mit dieser haarsträuben<strong>den</strong> These von Hitlers angeblich beschränkten Zielen verkennt Overy<br />

weitgehend <strong>den</strong> Charakter von Hitlers Außenpolitik. Dieser wollte bekanntlich die bestehende europäische<br />

Ordnung aus <strong>den</strong> Angeln heben, um sie durch e<strong>in</strong>e völlig neue zu ersetzen, die auf rassenpolitischen<br />

Grundlagen basieren sollte. Er strebte also e<strong>in</strong>e Umwälzung an, die <strong>in</strong> ihren Auswirkungen<br />

noch radikaler wer<strong>den</strong> sollte als diejenige der Bolschewiki. Was ihn zusätzlich von <strong>den</strong> Bolschewiki<br />

unterschied, war se<strong>in</strong>e Ungeduld. Er wollte se<strong>in</strong>e außenpolitischen Endziele unbed<strong>in</strong>gt zu<br />

se<strong>in</strong>en Lebzeiten erreichen. (Darauf weisen viele NS-Forscher h<strong>in</strong>.) Die Kommunisten setzten h<strong>in</strong>gegen<br />

bei ihren weltrevolutionären Plänen ke<strong>in</strong>e konkreten Fristen. Als geschichtliche Determ<strong>in</strong>isten<br />

waren sie davon überzeugt, dass der Sieg des Kommunismus im weltweiten Maßstab ohneh<strong>in</strong> unvermeidlich<br />

sei. Um diesen Sieg herbeizuführen, mussten sie nicht unbed<strong>in</strong>gt alles auf e<strong>in</strong>e Karte setzen.<br />

Hitler h<strong>in</strong>gegen stand unter permanentem Zeitdruck. Am 5. November 1937, <strong>in</strong> dem von Oberst<br />

Hoßbach protokollierten und später viel zitierten Gespräch des Reichskanzlers mit führen<strong>den</strong> Politikern<br />

des Reiches, kündigte er se<strong>in</strong>en „unabänderlichen Entschluss“ an, die deutsche Raumfrage spätestens<br />

1943/45 zu lösen“. Dies könne nur über <strong>den</strong> Weg der Gewalt gehen. [6] Hitlers außenpolitisches<br />

Verhalten entsprach weitgehend dem Modell, das später von Henry A. Kiss<strong>in</strong>ger zur Charakterisierung<br />

der Außenpolitik e<strong>in</strong>er revolutionären Macht entwickelt wurde. E<strong>in</strong>e solche Macht sei im<br />

Grunde zur Selbstbeschränkung nicht fähig. Diplomatie im traditionellen S<strong>in</strong>ne, deren Wesen Kompromiss<br />

und Anerkennung der eigenen Grenzen sei, werde von e<strong>in</strong>em revolutionären Staatswesen<br />

praktisch aus <strong>den</strong> Angeln gehoben, da dieses unentwegt nach der Verwirklichung se<strong>in</strong>er Endziele<br />

strebe. [7]<br />

Welche Folgen hätte also die H<strong>in</strong>nahme der „begrenzten Forderungen“ des deutschen Diktators<br />

(Danzig, Korridor) durch die Westmächte, <strong>für</strong> die Overy <strong>in</strong>direkt plädiert, wohl gehabt? Die westlichen<br />

Demokratien hätten erneut, ähnlich wie <strong>in</strong> München, „unehrenhaft“ gehandelt und ihren Verbündeten<br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


137 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

preisgegeben. Sie hätten dadurch <strong>den</strong> Rest ihrer Glaubwürdigkeit e<strong>in</strong>gebüßt und Hitlers Ger<strong>in</strong>gschätzung<br />

der Demokratie weiter gesteigert. Ob London und Paris im Stande gewesen wären, sich<br />

nach dieser Kapitulation nochmals moralisch aufzurichten, ist fraglich. Das globale R<strong>in</strong>gen wäre<br />

dann wahrsche<strong>in</strong>lich <strong>für</strong> Jahre im S<strong>in</strong>ne Hitlers entschie<strong>den</strong>, und dieser Sieg des Nationalsozialismus<br />

hätte wahrsche<strong>in</strong>lich das vorläufige Ende der europäischen Zivilisation zur Folge gehabt.<br />

Auf e<strong>in</strong>em anderen Blatt steht die von Overy mit Recht hervorgehobene Tatsache, dass die Westmächte,<br />

trotz ihrer Kriegserklärung an das ‚Dritte Reichʻ, zunächst nicht bereit waren, Polen wirksam<br />

zu unterstützen. In der Zeit, <strong>in</strong> der ihr überfallener Verbündeter ums Überleben kämpfte, beschränkten<br />

sich die Kriegshandlungen der Westalliierten nur „auf das Abwerfen von Flugblättern“<br />

(110).<br />

Und <strong>in</strong> der Tat, solange die Symbolfiguren der Appeasementpolitik – Chamberla<strong>in</strong> und Daladier –<br />

<strong>für</strong> die Politik Großbritanniens und Frankreichs die Hauptverantwortung trugen, war e<strong>in</strong> entschei<strong>den</strong>der<br />

Bruch mit der Vergangenheit schwer durchführbar. Erst als der radikale Kritiker der Münchner<br />

Kapitulation – W<strong>in</strong>ston Churchill – die Regierungsgewalt übernahm, konnte e<strong>in</strong> solcher Bruch<br />

vollzogen wer<strong>den</strong>. Damit war das Schicksal Hitlers besiegelt: „Der Engländer ist zähe. Jetzt wird es<br />

lange dauern“, zitiert Overy die Worte des Generalstabschef Franz Halder vom 3. September 1939.<br />

Damit sollte der deutsche General auch Recht behalten.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Walther Hofer: Die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges, Wien u.a. 2007.<br />

[2] Alan J. P. Taylor: The Orig<strong>in</strong>s of the Second World War, London 1961.<br />

[3] Konrad Hei<strong>den</strong>: Adolf Hitler. E<strong>in</strong> Mann gegen Europa, Zürich 1937, 347.<br />

[4] Vgl. dazu Norman Davies: White Eagle, Red Star: The Polish-Soviet War 1919–20 and „the<br />

Miracle on the Vistula“, London 2003.<br />

[5] Lewis B. Namier: Europe <strong>in</strong> decay: a study <strong>in</strong> Dis<strong>in</strong>tegration 1936–1940, London 1950.<br />

[6] Zit. nach Hans-Ulrich Thamer: Verführung und Gewalt. Deutschland 1933–1945, Berl<strong>in</strong> 1986,<br />

559f. Bei e<strong>in</strong>er anderen geheimen Besprechung, diesmal mit <strong>den</strong> Propagandaleitern der Partei<br />

(Oktober 1937), führte Hitler aus: „Er Hitler, habe nach menschlichem Ermessen nicht mehr<br />

lange zu leben. In se<strong>in</strong>er Familie wür<strong>den</strong> die Menschen nicht alt [...]. Es sei daher notwendig,<br />

die Probleme, die gelöst wer<strong>den</strong> müssten (Lebensraum!), möglichst bald zu lösen, damit dies<br />

noch zu se<strong>in</strong>en Lebzeiten geschehe. Spätere Generationen wür<strong>den</strong> dies nicht mehr können. Nur<br />

se<strong>in</strong>e Person sei dazu noch <strong>in</strong> der Lage“ (Ebenda, 562).<br />

[7] Henry A. Kiss<strong>in</strong>ger: Großmacht Diplomatie. Von der Staatskunst Castlereighs und Metternichs,<br />

Düsseldorf 1962.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


Terry Parss<strong>in</strong>en: Die vergessene Verschwörung. Hans Oster und der militärische Widerstand<br />

gegen Hitler, München: Siedler 2008, 288 S., ISBN 978-3-88680-910-3, EUR 22,95<br />

Rezensiert von Klaus Michaelis<br />

Erlangen<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/05/15861.html<br />

Terry Parss<strong>in</strong>en von der Universität <strong>in</strong> Tampa (Florida) legt<br />

se<strong>in</strong> 2003 erschienenes Buch „The Oster-Conspiracy. The<br />

Unknown Story of the Military Plot to Kill Hitler“ unter dem<br />

Titel „Die vergessene Verschwörung“ <strong>in</strong> deutscher Übersetzung<br />

und <strong>in</strong> überarbeiteter Form vor. Das Buch sieht General<br />

Oster im Mittelpunkt der Aktivitäten deutscher Oppositioneller<br />

im Zusammenhang mit der Sudetenkrise, die 1938 durch<br />

die Ausschaltung Hitlers e<strong>in</strong>en Krieg verh<strong>in</strong>dern sollten.<br />

Die These, dass die Ausschaltung Hitlers durch Chamberla<strong>in</strong>s<br />

Reise nach München verh<strong>in</strong>dert wor<strong>den</strong> sei, hat erstmals<br />

der frühere Regierungsrat Gisevius als e<strong>in</strong>er der wenigen<br />

überleben<strong>den</strong> Zeitzeugen im Nürnberger Prozess im Februar<br />

1946 der Öffentlichkeit präsentiert. Der ehemalige Generalstabschef<br />

Halder stellte <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Vernehmungen <strong>in</strong> Nürnberg<br />

und se<strong>in</strong>em Entnazifizierungsverfahren die D<strong>in</strong>ge unter starker<br />

Betonung se<strong>in</strong>er eigenen Rolle dar. E<strong>in</strong> weiterer Zeitzeuge,<br />

der Abwehrfachmann He<strong>in</strong>z, damals Hauptmann, hat sich<br />

ebenfalls dazu geäußert. Allerd<strong>in</strong>gs hat schon 1954 der britische<br />

Historiker Wheeler-Bennet geme<strong>in</strong>t, dass der „Putsch<br />

vom September viel dem literarischen Genie Halders“ zu verdanken habe.<br />

Zweifellos hat es seit <strong>den</strong> Weisungen Hitlers vom Ende März 1938, <strong>den</strong> Krieg gegen die Tschechoslowakei<br />

zu planen, zahlreiche Gespräche und Kontakte zwischen verschie<strong>den</strong>en Personen gegeben,<br />

die <strong>den</strong> Krieg vermei<strong>den</strong> wollten. E<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>heitlich von allen Beteiligten akzeptierten Plan gab es<br />

nicht. He<strong>in</strong>z und Oster wollten Hitler bei e<strong>in</strong>em Stoßtruppunternehmen gegen die Reichskanzlei töten.<br />

Gisevius wollte ihn vor das Reichsgericht stellen und andere wollten Hitler durch e<strong>in</strong>en bekannten<br />

Neurologen <strong>für</strong> geisteskrank erklären lassen.<br />

Parss<strong>in</strong>en betont nun sehr stark die Rolle von General Oster, der 1945 als Widerständler des 20. Juli<br />

erschossen wor<strong>den</strong> ist. Er konnte das Privatarchiv Osters e<strong>in</strong>sehen, ohne allerd<strong>in</strong>gs nennenswerte<br />

Beweise <strong>für</strong> die Aktivitäten Osters zu gew<strong>in</strong>nen. Se<strong>in</strong> Buch gliedert er <strong>in</strong> vier Kapitel: Kapitel 1<br />

„Oster rekrutiert die Generale“, Kapitel 2 „Beck schließt sich an“, Kapitel 3 „Oster organisiert die<br />

Verschwörung“ und Kapitel 4 „Hitlers Messer an Chamberla<strong>in</strong>s Kehle“. Dabei baut er auf der bisherigen<br />

Literatur auf, die ihren Ausgang im Jahre 1956 mit e<strong>in</strong>er Arbeit über „Vorgeschichte und Beg<strong>in</strong>n<br />

des militärischen Widerstandes gegen Hitler“ von Helmut Krausnick vom Münchner <strong>Institut</strong> <strong>für</strong><br />

<strong>Zeitgeschichte</strong> genommen hat. Parss<strong>in</strong>en ergänzt die Sekundärliteratur durch e<strong>in</strong>e Fülle von Aussagen


139 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

aus zweiter und dritter Hand, von Vermutungen, Hypothesen und Analogien. Der Autor hat durch<br />

die Unterteilung der Kapitel <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelne Abschnitte, die sich auf Tage und Orte der Handlung beziehen,<br />

e<strong>in</strong>e spannende Darstellungsart gewählt. E<strong>in</strong>en Schwerpunkt legt er auf die Kontakte der deutschen<br />

Opposition mit offiziellen und privaten Stellen <strong>in</strong> Großbritannien – die Quellenlage ist hier<br />

besser als <strong>in</strong> Deutschland – und stellt ihr Scheitern deutlich dar.<br />

Leider fällt e<strong>in</strong>e Fülle von Unrichtigkeiten auf. Bei <strong>den</strong> Diensträngen der Offiziere s<strong>in</strong>d Vor- oder<br />

Nachdatierungen fast die Regel, sie wer<strong>den</strong> mit Rängen zitiert, die sie noch nicht oder früher bekleidet<br />

haben. Gör<strong>in</strong>g wird zum „Reichsfeldmarschall“ befördert. Der damalige Oberst Jodl, Chef der<br />

Abteilung Landesverteidigung im OKW, wird als „Artilleriegeneral“ bereits 1938 Chef des Wehrmachtsführungsamtes.<br />

Der Begriff „Reichsbürger“ aus <strong>den</strong> Nürnberger Gesetzen dient bei Parss<strong>in</strong>en<br />

zur Kennzeichnung der Ju<strong>den</strong>, obwohl er tatsächlich nur „Ariern“ vorbehalten war. Die Abschlussveranstaltung<br />

des Parteitages mit der Rede Hitlers f<strong>in</strong>det im Buch auf dem Märzfeld vor „Hunderttausen<strong>den</strong>“<br />

statt. In Wirklichkeit redete Hitler am Abend des 12. September <strong>in</strong> der Kongresshalle vor<br />

e<strong>in</strong>igen hundert höheren Parteifunktionären. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren.<br />

Auf e<strong>in</strong> Literaturverzeichnis verzichtet der Verfasser. Man ist so auf H<strong>in</strong>weise <strong>in</strong> <strong>den</strong> jeweiligen<br />

Fußnoten angewiesen. Das Personenregister bietet e<strong>in</strong>e recht eigenwillige Bewertung, wer als „Verschwörer“<br />

gelten kann. Ihre Anzahl ist erstaunlich hoch. Z.B. zählt Parss<strong>in</strong>en auch <strong>den</strong> Oberbefehlshaber<br />

des Heeres v. Brauchitsch dazu, obwohl dieser sich nach dem Kriege ausdrücklich vom Vorhaben<br />

distanziert hat.<br />

Das Buch hätte e<strong>in</strong> Lücke schließen können, wenn es neben der Darstellung h<strong>in</strong>länglich bekannter<br />

Tatsachen offene Punkte h<strong>in</strong>terfragt hätte. Warum z.B. Goerdeler, damals schon e<strong>in</strong>e zentrale Figur<br />

des Widerstandes, im kritischen September <strong>in</strong> der Schweiz auf Reisen war. Warum Beck schon im<br />

August und Halder im September <strong>den</strong> Kontakt mit <strong>den</strong> Oppositionellen aufgaben. Warum Gisevius,<br />

He<strong>in</strong>z und Oster, <strong>in</strong> Wirklichkeit doch nur untergeordnete Funktionäre, die entschei<strong>den</strong><strong>den</strong> Kräfte<br />

gewesen se<strong>in</strong> sollen.<br />

Von Interesse wäre auch gewesen, warum Ende Oktober nur zwei offenkundige Hitlergegner –<br />

Beck und Adam –, beide mit dem Titel e<strong>in</strong>es Generalobersten versehen, aus dem aktiven Heeresdienst<br />

entlassen wur<strong>den</strong>, aber ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger der „Verschwörer“ nach dem September 1938 vor Gericht gestellt,<br />

erschossen oder sonst wie bestraft wor<strong>den</strong> ist. General v. Witzleben, e<strong>in</strong>er der „Hauptverschwörer“,<br />

wurde als Nachfolger Adams Oberbefehlshaber der Heeresgruppe 2 <strong>in</strong> Frankfurt, 1939<br />

zum Generaloberst und 1940 sogar zum Generalfeldmarschall befördert. Auch der „Titelheld“ des<br />

Buches, der damalige Oberstleutnant Oster, stieg im Kriege 1942 zum Generalmajor auf. Beide,<br />

Witzleben wie Oster, wur<strong>den</strong> dann im Zusammenhang mit dem 20. Juli h<strong>in</strong>gerichtet. Das besagt<br />

doch, dass weder Gestapo noch SD irgendwelche Informationen über die Opposition im September<br />

1938 gehabt haben.<br />

Kritische Ansätze s<strong>in</strong>d also im Buch nicht zu erkennen. „Das Buch richtet sich vorwiegend an historisch<br />

<strong>in</strong>teressierte Laien und bietet e<strong>in</strong>e spannende Darstellung, die <strong>in</strong>des die Zweifel an der ‚Septemberverschwörungʻ<br />

nicht auszuräumen vermag.“<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


Karl-Theodor Schleicher/He<strong>in</strong>rich Walle (Hrsg.): Aus Feldpostbriefen junger Christen 1939–<br />

1945. E<strong>in</strong> Beitrag zur Geschichte der Katholischen Jugend im Felde. Mit e<strong>in</strong>em Vorwort des<br />

Katholischen Militärbischofs Walter Mixa (= Historische Mitteilungen; Bd. 60), Stuttgart:<br />

Franz Ste<strong>in</strong>er Verlag 2005, 413 S., ISBN 978-3-515-08759-9, EUR 32,00<br />

Rezensiert von Felix Römer<br />

Johannes Gutenberg-Universität, Ma<strong>in</strong>z<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 10<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/10/9624.html<br />

Feldpostbriefe gehören <strong>in</strong> der Forschung zur Mentalitäts-<br />

geschichte der Wehrmacht zu <strong>den</strong> wichtigsten Quellengattungen.<br />

Karl-Theodor Schleicher und He<strong>in</strong>rich Walle tragen<br />

hierzu mit der Edition von etwa 300 bislang unbekannten<br />

Feldpostbriefen bei, die von tiefgläubigen Soldaten unterer<br />

Rangstufen stammen, welche vor ihrem E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong> die Wehrmacht<br />

katholischen Jugendorganisationen angehört hatten.<br />

Gegenüber der bekannten Feldpost, die häufig nur verstreut<br />

und fragmentarisch überliefert ist, besteht die Besonderheit<br />

dieses Bestands <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Homogenität, die e<strong>in</strong>en konzentrierten<br />

Blick auf die Kriegswahrnehmung e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en, geschlossenen<br />

„M<strong>in</strong>derheit“ (26) <strong>in</strong> der Wehrmacht ermöglicht.<br />

Wie Walle <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>führung darlegt, stan<strong>den</strong> im Wertekanon<br />

der katholischen Jugendorganisationen „Vaterlandsliebe,<br />

Geme<strong>in</strong>schaftss<strong>in</strong>n, E<strong>in</strong>satz- und Opferbereitschaft“<br />

obenan (47). Bee<strong>in</strong>flusst durch die Jugendbewegung und völkische<br />

Elemente, korrespondierte ihre „Hochschätzung soldatischer<br />

Tugen<strong>den</strong>“ (47) mit der „Verherrlichung von Kraft,<br />

Ritterlichkeit, Kampfeswillen [...] sowie e<strong>in</strong>em starken Bedürfnis<br />

nach Autorität.“ (40) Die Bejahung des Wehrdienstes und e<strong>in</strong> „übersteigert ersche<strong>in</strong>ender<br />

Patriotismus“ war daher nicht nur e<strong>in</strong> „Erbe des Kulturkampfes“ (31f.) und mehr als e<strong>in</strong> taktisches<br />

Gewand, um die „staatsbürgerliche Gleichwertigkeit“ zu betonen sowie dem Vorwurf zu begegnen,<br />

„national nicht zuverlässig“ zu se<strong>in</strong> (47). Die fortwähren<strong>den</strong> Konflikte mit dem Regime verdeutlichten<br />

jedoch, dass allenfalls „Schnittmengen“, aber ke<strong>in</strong>e „Teili<strong>den</strong>tität“ mit der Weltanschauung der<br />

Nationalsozialisten bestan<strong>den</strong> (54), wie die Autoren betonen. Nach dem Verbot ihrer Organisationen<br />

1939 wahrte die katholische Jugend ihren Zusammenhalt über Feldpost und Rundschreiben.<br />

Im Unterschied zur Mehrheit der bekannten Feldpostbriefe ist das Reflektionsniveau der Briefe<br />

deutlich höher, aber überwiegend auf die theologische Bewältigung des Erlebens gerichtet und von<br />

der Erfahrungsebene vielfach gelöst. So geben die Briefe vor allem über die spezifische Wahrnehmung<br />

und Deutung der Soldaten Auskunft und weniger über ihr Handeln und das Kriegsgeschehen<br />

selbst. Nicht von ungefähr verwahrten sich manche Schreiber dagegen, dass Leser „dies alles als Autosuggestion<br />

auffassen“ könnten (328, 340).


141 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Der Dissens gegenüber dem Regime äußert sich <strong>in</strong> <strong>den</strong> Briefen durch die durchgängige Abwesenheit<br />

von Referenzen zum NS-Regime und se<strong>in</strong>er Rassenlehre. Für die Briefschreiber blieben alle<strong>in</strong><br />

„Gott und Volk [...] die bei<strong>den</strong> Lebenspole.“ (171) Sich dem Krieg zu verweigern, stand daher nicht<br />

zur Debatte. Die „stille tägliche Pflichterfüllung“ (215) <strong>für</strong> „des Vaterlands Ruhm, <strong>für</strong> der Heimat<br />

heiligen Bo<strong>den</strong>“ (97) bildete <strong>für</strong> die Katholiken e<strong>in</strong>en ebenso unverrückbaren Bezugspunkt wie der<br />

Stolz, Soldat zu se<strong>in</strong> (109, 113, 205), das Ersehnen und die Bejahung des Kampfe<strong>in</strong>satzes (166, 170,<br />

330), die Freude über militärische Auszeichnungen und Leistungen (199, 202, 213) sowie die Idealisierung<br />

von Tapferkeit (114, 229) und die Verachtung gegenüber allen „Halbe[n] und Laue[n]“ (74,<br />

357). Auch der Waffengang selbst erschien <strong>den</strong> Schreibern selbstverständlich (80, 130, 317). Den<br />

Krieg verklärten sie zu ihrem entschei<strong>den</strong><strong>den</strong> Bildungserlebnis, zur „Oberklasse unserer Lebensschule“<br />

(101, 229, 241), die sie „reifer gemacht“ (204, 211, 225) und erst zu „echte[n] Menschen“<br />

(217) geformt habe.<br />

An der Ostfront stimmten die meisten Soldaten zugleich mit dem Kriegsziel übere<strong>in</strong>, <strong>den</strong> „bolschewistischen<br />

Teufel [zu] vernichten“ (240, 81, 187, 189, 200, 211, 213, 256), auch wenn sich ke<strong>in</strong>er<br />

der Schreiber mit dem NS-Ideologem vom „jüdischen Bolschewismus“ i<strong>den</strong>tifizierte. Entgegen der<br />

Interpretation der Herausgeber (62) zeigt sich zudem, dass die Soldaten auch <strong>den</strong> Krieg an <strong>den</strong> übrigen<br />

Fronten als legitimen Abwehrkampf erlebten (98, 114, 149, 342), selbst wenn die Zweifel mit<br />

zunehmender Kriegsdauer wuchsen (149, 179, 199). Genauso wenig waren manche der katholischen<br />

Soldaten vor jenen Fe<strong>in</strong>dbildern gefeit, auf Grund derer „die Russen [...] zäh und feige wie die<br />

Bestien“ erschienen und mit „Hecken- und Baumschützen sowie Fl<strong>in</strong>tenweiber[n] [...] gründlich<br />

aufgeräumt“ wurde (187, 79, 184, 200, 201). An der Westfront empörte sich e<strong>in</strong> Soldat über die<br />

„Grausamkeit“ der gegnerischen „Neger“, die <strong>in</strong> der Gefangenschaft auf ihn „wie Tiere“ wirkten<br />

(129f.).<br />

Besonders gravierend ersche<strong>in</strong>en jedoch die theologischen Rationalisierungen, mit <strong>den</strong>en die Soldaten<br />

selbst im Angesicht des „Grauen[s] des Kriegsgeschehens“ Wege zum „Erkennen positiven<br />

S<strong>in</strong>nes [...] [ihres] Soldatentums“ (235) konstruierten, um daraus „Mut zum Weiterkämpfen“ (185)<br />

und „Durchhalten“ (329) zu gew<strong>in</strong>nen. In der Deutung vieler Schreiber verhalf ihnen erst der Krieg<br />

als göttliche „Probe“ (101) und „Kreuzweg“ (340) dazu, „so gottnah“ wie nie zu se<strong>in</strong>, sodass selbst<br />

das „Schrecklichste“, das sie „je erlebt“ hatten, als „großes Glück“ erschien (219). So erhielten selbst<br />

die traumatischsten Erlebnisse e<strong>in</strong>en transzen<strong>den</strong>talen S<strong>in</strong>n und gab es <strong>für</strong> die Soldaten „ke<strong>in</strong> Recht<br />

von e<strong>in</strong>em s<strong>in</strong>nlosen Schicksal zu sprechen, <strong>den</strong>n alles was geschieht, kommt ja von ihm, auch wenn<br />

er uns zermalmt.“ (354, 278, 344)<br />

Da es somit nichts geben konnte, was ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n ergab, konnte auch die von vielen Briefschreibern<br />

verabsolutierte Opferbereitschaft, die teilweise an Todessehnsucht grenzte (75), unter ke<strong>in</strong>en<br />

Umstän<strong>den</strong> <strong>in</strong> Frage gestellt wer<strong>den</strong>: Im „Waffendienst“ und der „Opferbereitschaft“, so forderte e<strong>in</strong><br />

Theologe <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Rundbrief, „soll uns niemand übertreffen!“ (114, 194, 357) Zwar widmeten die<br />

Soldaten das „schwerste Opfer“ dem „Herrn <strong>für</strong> Se<strong>in</strong> Reich <strong>in</strong> Deutschland“ (179), ignorierten dabei<br />

aber, dass ihre Bereitschaft zum „Hel<strong>den</strong>tod <strong>für</strong> Deutschland“ (198) im irdischen Geschehen zunächst<br />

alle<strong>in</strong> der deutschen Militärmasch<strong>in</strong>e diente. Ebenso schicksalsergeben sahen die Soldaten <strong>den</strong> Krieg<br />

nicht als menschengemachte Entwicklung, <strong>für</strong> die politische Verantwortung existierte, sondern zählten<br />

ihn zu <strong>den</strong> Naturgewalten und „Heimsuchungen Gottes“. (327, 215, 342) Wegen solcher Auffassungen<br />

mussten sich manche der Briefschreiber schon von ihren Zeitgenossen <strong>den</strong> Vorwurf e<strong>in</strong>er<br />

„fatalistische[n] Haltung“ gefallen lassen (329). Im Unterschied zu ihrem Bestreben, als „miles christi“<br />

selbst im Kampf zivilisatorische Normen zu wahren (100), ersche<strong>in</strong>t es fraglich, ob die bed<strong>in</strong>gungslose,<br />

apolitische E<strong>in</strong>satzbereitschaft dieser Soldaten tatsächlich dazu geeignet wäre, e<strong>in</strong> „Vermächtnis“<br />

<strong>für</strong> die Bundeswehr zu bil<strong>den</strong>, wie die Herausgeber, selbst ehemalige Offiziere und Bundesbrüder,<br />

es e<strong>in</strong>fordern (22).<br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


142 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Der Schluss, dass „Wehrmachtsoldaten aus bestimmten sozialen oder weltanschaulichen Gruppierungen<br />

gruppenspezifische Auffassungen vertraten“ (26), kann lediglich <strong>für</strong> <strong>den</strong> eng umgrenzten<br />

Kreis der im Sondermilieu der Jugendverbände sozialisierten, „praktizieren<strong>den</strong> Katholiken“ (28) gelten.<br />

Die Übertragung auf die <strong>den</strong>kbar heterogene Allgeme<strong>in</strong>heit der Wehrmachtssoldaten, die „aus<br />

ihrem christlichen Glauben heraus [...] ihre Pflicht <strong>für</strong> das Vaterland erfüllt“ hätten (21), ersche<strong>in</strong>t<br />

zweifelhaft. Forschungen zur Mentalitätsgeschichte haben gezeigt, dass die Kriegswahrnehmung der<br />

Soldaten ke<strong>in</strong>eswegs alle<strong>in</strong> von Parametern wie Konfession, Bildung oder Alter determ<strong>in</strong>iert wurde,<br />

von ihrem Handeln ganz zu schweigen.<br />

Die Edition bleibt ohneh<strong>in</strong> zum Teil h<strong>in</strong>ter dem Forschungsstand zurück. Das Bild vom Ostkrieg<br />

etwa, <strong>in</strong> dem alle „Ausschreitungen“ von „Amtsträgern“ der „deutschen Verwaltung“ ausg<strong>in</strong>gen (392),<br />

ist Jahrzehnte alt, um nur das augenfälligste Beispiel zu nennen. Letztlich ersche<strong>in</strong>t es auch fraglich,<br />

ob es <strong>den</strong> Briefschreibern gerecht wird, wenn man ihre Kriegsteilnahme auf die Formel reduziert,<br />

dass sie „hemmungslos missbraucht“ (20) wur<strong>den</strong>.<br />

So wirkt der Blick auf die katholischen Wehrmachtssoldaten sowohl <strong>in</strong> der ansonsten <strong>in</strong>struktiven<br />

E<strong>in</strong>führung als auch <strong>in</strong> der knappen Kommentierung der Briefe, <strong>in</strong> der weitere Erläuterungen zu <strong>den</strong><br />

zahlreichen theologischen Referenzen gew<strong>in</strong>nbr<strong>in</strong>gend gewesen wären, zuweilen idealistisch. Die<br />

edierten Feldpostbriefe s<strong>in</strong>d <strong>für</strong> die Wehrmachtsforschung jedoch zweifellos bereichernd, auch wenn<br />

der Krieg selbst <strong>in</strong> <strong>den</strong> Briefen oft im H<strong>in</strong>tergrund bleibt.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


Jan Erik Schulte (Hrsg.): Die SS, Himmler und die Wewelsburg (= Schriftenreihe des<br />

Kreismuseums Wewelsburg; Bd. 7), Paderborn: Schön<strong>in</strong>gh 2009, XXXV + 556 S.,<br />

ISBN 978-3-506-76374-7, EUR 34,90<br />

Rezensiert von Bastian He<strong>in</strong><br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 12<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/12/16765.html<br />

1933, nachdem die Nationalsozialisten die Staatsmacht <strong>in</strong> die<br />

Hand bekommen hatten, fasste He<strong>in</strong>rich Himmler <strong>den</strong> Entschluss,<br />

dass die SS e<strong>in</strong>e Burg haben müsse. Se<strong>in</strong>e noch ke<strong>in</strong>eswegs<br />

ausgereiften Vorstellungen g<strong>in</strong>gen dah<strong>in</strong>, diese als<br />

Schulungs- und Konferenzort, aber auch als „weltanschauliches<br />

Zentrum“ se<strong>in</strong>er Schutzstaffel auszubauen. Se<strong>in</strong>e Wahl<br />

fiel 1934 auf die westfälische Wewelsburg, e<strong>in</strong>e ehemalige<br />

Resi<strong>den</strong>z der Fürstbischöfe von Paderborn, die zuletzt als<br />

Wanderherberge und Heimatmuseum gedient hatte. Ausschlaggebend<br />

waren ihre Verfügbarkeit sowie vor allem ihre Lage<br />

<strong>in</strong> der Nähe „germanischer“ Geschichtsorte wie dem Teutoburger<br />

Hermanns<strong>den</strong>kmal oder <strong>den</strong> Externste<strong>in</strong>en, die Himmlers<br />

Fantasie beflügelten.<br />

Die anfangs eher schleppend vorangehen<strong>den</strong> Umbauarbeiten<br />

beschleunigten sich ab 1939, als die SS begann, e<strong>in</strong> Außenkommando<br />

des KZ Sachsenhausen zur Zwangsarbeit heranzuziehen.<br />

1941–43 bestand zur Realisierung der immer gigantomanischeren<br />

Pläne sogar das selbstständige KZ Niederhagen/<br />

Wewelsburg, <strong>in</strong> dem <strong>in</strong>sgesamt zirka 3.900 Menschen e<strong>in</strong>saßen, von <strong>den</strong>en rund e<strong>in</strong> Drittel umkamen.<br />

[1] Doch dann wur<strong>den</strong> die Bauarbeiten kriegsbed<strong>in</strong>gt gestoppt. Ke<strong>in</strong>e der ihr zugedachten SS-<br />

Funktionen füllte die Wewelsburg jemals voll aus. In Sachen Schulung waren etwa die Junkerschulen<br />

<strong>in</strong> Bad Tölz und Braunschweig oder die Reichsführerschule <strong>in</strong> Dachau weit wichtiger, die ranghöchsten<br />

SS-Führer trafen sich weit häufiger <strong>in</strong> München als auf der Wewelsburg, wo sie nur e<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>ziges Mal zusammen kamen.<br />

Die Wewelsburg sche<strong>in</strong>t also auf <strong>den</strong> ersten Blick e<strong>in</strong> eher zweitrangiger NS-Er<strong>in</strong>nerungsort zu<br />

se<strong>in</strong>, zumal vom KZ nur noch wenige bauliche Reste erhalten s<strong>in</strong>d. Dass dem nicht so ist, macht der<br />

hier vorgestellte Sammelband deutlich, der aus e<strong>in</strong>er im Jahr 2005 abgehaltenen Tagung hervorgegangen<br />

ist. [2] Sie bildete <strong>den</strong> Schlusspunkt der „Forschungsphase“ zur erneuerten Dauerausstellung<br />

über die Wewelsburg im ‚Dritten Reichʻ im dort angesiedelten Kreismuseum (IX), die voraussichtlich<br />

im Jahr 2010 eröffnet wird. Diese wird im Vergleich zur alten Ausstellung von 1982 nicht nur<br />

wesentlich größer und aktueller se<strong>in</strong>, sondern die Geschichte der Wewelsburg <strong>in</strong> <strong>den</strong> Kontext der<br />

Gesamtgeschichte der SS stellen.


144 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Dieses Konzept spiegelt sich <strong>in</strong> der „Architektur“ des vom Bochumer SS-Experten Jan Erik<br />

Schulte [3] herausgegebenen Bandes <strong>in</strong> zweifacher H<strong>in</strong>sicht wider. Zum e<strong>in</strong>en <strong>in</strong> der Auswahl der<br />

Autoren, die <strong>den</strong> zahlreichen Mitarbeitern der „Projektgruppe Neukonzeption“ e<strong>in</strong>ige bekannte NS-<br />

Historiker (u.a. Arm<strong>in</strong> Nolzen, Michael Wildt, Ruth Bett<strong>in</strong>a Birn, Mart<strong>in</strong> Cüppers) an die Seite stellt.<br />

Zum anderen dar<strong>in</strong>, dass sowohl dem Gesamtband als auch <strong>den</strong> thematischen Abschnitten jeweils<br />

allgeme<strong>in</strong>ere Aufsätze vorangestellt s<strong>in</strong>d, <strong>den</strong>en lokalgeschichtliche Spezialstudien folgen.<br />

Nach dem knappen und erfreulich klar strukturierten Literaturbericht Schultes (XI-XXXV) weisen<br />

die bei<strong>den</strong> folgen<strong>den</strong> Kapitel „Strukturen“ und „Radikalisierung“ zunächst noch ke<strong>in</strong>en unmittelbaren<br />

Bezug zur Wewelsburg auf. In ihnen wird deutlich, dass die seit <strong>den</strong> Nürnberger Prozessen andauernde<br />

Debatte um die Homo- bzw. Heterogenität der SS noch immer nicht abgeschlossen ist. Während Nolzen<br />

sie als extrem flexible „Adhokratie“ deutet (44), warnt Birn davor, das konstante Moment der Rassenlehre<br />

als zentralen „Glaubensartikel“ der SS zu unterschätzen (73). Weniger zu überzeugen vermag<br />

<strong>in</strong> diesem Teil der Aufsatz von Matthias Hambrock (79-101), der sich an e<strong>in</strong>er Neudeutung der SS-<br />

Ideologie versucht und dabei an die h<strong>in</strong>länglich bekannte Tatsache anknüpft, dass der Nationalsozialismus<br />

dazu neigte, sich als Geme<strong>in</strong>schaft unrechtmäßig Verfolgter zu <strong>in</strong>szenieren, um die eigenen Untaten<br />

als Notwehr zu legitimieren. Dass dieser Gestus zu wenig ernst genommen würde, kann seit der<br />

ausufern<strong>den</strong> Debatte um die Thesen Ernst Noltes eigentlich nicht mehr behauptet wer<strong>den</strong>.<br />

Der Abschnitt „Weltbilder und Selbstbilder“ bietet e<strong>in</strong>ige Aufsätze zu <strong>den</strong> ebenso vielfältigen wie<br />

vagen und <strong>in</strong> der Regel eher randständigen Projekten, die Himmler bzw. die „Burgmannschaft“ mit<br />

und auf der Wewelsburg verfolgten. Hier ist vor allem der zusammenfassende Aufsatz Markus<br />

Moors’ zu „Himmlers Plänen und Absichten <strong>in</strong> Wewelsburg“ (161-179) als nützlich hervorzuheben,<br />

während andere Texte wie z. B. das ebenfalls von Moors verfasste Porträt des Leiters der Wewelsburger<br />

SS-Bibliothek Hans Peter des Coudres (180-195) sehr speziell ausfallen.<br />

Die Sektionen „Hybris und Realität“ sowie „Ort des Terrors“ widmen sich dem Lager Niederhagen<br />

als Standort e<strong>in</strong>es SS-Lagers <strong>für</strong> „volksdeutsche“ Umsiedler bzw. als KZ. Methodisch bemerkenswert<br />

ist hier der Beitrag Dana Schlegelmilchs (395-413), die auf der Basis e<strong>in</strong>er Vielzahl von langfristig<br />

und behutsam im Umfeld des Kreismuseums gesammelter Zeitzeugen<strong>in</strong>terviews rekonstruiert,<br />

wie ambivalent die E<strong>in</strong>heimischen mit der Präsenz der SS bzw. ihrer Opfer <strong>in</strong> ihrem Heimatdorf<br />

umg<strong>in</strong>gen.<br />

Der Zeit nach 1945 ist das letzte Kapitel „Kont<strong>in</strong>uitäten“ gewidmet. Es enthält e<strong>in</strong>ige an und <strong>für</strong><br />

sich <strong>in</strong>teressante, aber nur lose <strong>in</strong> das Gesamtkonzept <strong>in</strong>tegrierte Aufsätze u.a. zur HIAG-Organisation<br />

der Waffen-SS-Veteranen (Karsten Wilke, 433-448) oder zum Wuppertaler Prozess gegen die<br />

Mitglieder e<strong>in</strong>es Polizeibataillons wegen des Massakers <strong>in</strong> Bialystok (Michael Okroy, 449-469).<br />

Deutlich stärker aufe<strong>in</strong>ander bezogen und damit <strong>in</strong> der Zusammenschau e<strong>in</strong>drucksvoller s<strong>in</strong>d die<br />

bei<strong>den</strong> Aufsätze zur Wewelsburg selbst. Wulff E. Brebeck, der Leiter des Kreismuseums, zeichnet<br />

<strong>den</strong> wechselvollen Weg bis zur Errichtung e<strong>in</strong>es Mahnmals <strong>für</strong> die Opfer von Niederhagen im Jahr<br />

2000 nach (470-487). Daniela Siepe untersucht, wie sowohl Okkultisten als auch Rechtsradikale<br />

nach dem Krieg begannen, e<strong>in</strong>e Art mythischen Kult um die Wewelsburg bzw. um Himmlers unscharfe<br />

und vielfach nie realisierte Pläne <strong>für</strong> diese zu <strong>in</strong>szenieren. Sie macht deutlich, dass auch die<br />

Fixierung ansonsten seriöser Autoren wie He<strong>in</strong>z Höhne auf die bizarr-spektakulären Facetten der SS<br />

dazu beigetragen hat, solche Vorstellungen zu verfestigen (488-510).<br />

Insgesamt stellt der mit zahlreichen Karten und Abbildungen aufwändig ausgestattete Band trotz<br />

der genannten kle<strong>in</strong>eren Schwächen <strong>in</strong> zweifacher H<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong>en Gew<strong>in</strong>n dar. Zum e<strong>in</strong>en bietet er<br />

e<strong>in</strong>en Überblick über die neuere Forschung zur SS, zum anderen demonstriert er das vor allem <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>en vielfältigen Anknüpfungsmöglichkeiten überzeugende Potenzial der Wewelsburg als NS-<br />

Er<strong>in</strong>nerungsort. Man darf gespannt se<strong>in</strong>, wie es der neuen Dauerausstellung gel<strong>in</strong>gen wird, dieses<br />

breit gefächerte Themenspektrum museumspädagogisch umzusetzen.<br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


145 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Anmerkungen:<br />

[1] Vgl. Kirsten John-Stucke: Niederhagen/Wewelsburg – Stammlager, <strong>in</strong>: Wolfgang Benz/Barbara<br />

Distel (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager,<br />

Bd. 7, München 2008, 17-29. Zur Geschichte der Wewelsburg im ‚Dritten Reichʻ bislang v.a.<br />

Karl Hüser/Wulff E. Brebeck: Wewelsburg 1933–1945, 4. überarb. Aufl., Münster 2002.<br />

[2] Vgl. Tagungsbericht Wewelsburg und die SS. 10.06.2005–12.06.2005, Büren-Wewelsburg, <strong>in</strong>:<br />

H-Soz-u-Kult, 08.07.2005, http://hsozkult.geschichte.hu-berl<strong>in</strong>.de/tagungsberichte/id=801.<br />

[3] V.a. Jan Erik Schulte: Zwangsarbeit und Vernichtung. Das Wirtschaftsimperium der SS. Oswald<br />

Pohl und das SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt 1933–1945, Paderborn u.a. 2001.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


Sergej S. Sluč (Hrsg.): SSSR, Vostočnaja Evropa i Vtoraja mirovaja vojna 1939–1941.<br />

Diskussii, kommentarii, razmyšlenija [Die UdSSR, Osteuropa und der Zweite Weltkrieg<br />

1939–1941. Diskussionen, Kommentare, Überlegungen], Moskau: Nauka 2007, 487 S.,<br />

ISBN 978-5-02-035514-9<br />

Rezensiert von Viktor Knoll<br />

Zentrum <strong>für</strong> Zeithistorische Forschung, Potsdam<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 6<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/06/16232.html<br />

Über e<strong>in</strong>en Zeitraum von vier Jahrzehnten war die Geschichte<br />

der sowjetischen Außenpolitik am Vorabend und zu Beg<strong>in</strong>n<br />

des Zweiten Weltkrieges <strong>in</strong> der Historiografie der UdSSR und<br />

der mit ihr verbündeten Länder Gegenstand grober Manipulation<br />

und Tabuisierung. An strikte politisch-ideologische<br />

Vorgaben gebun<strong>den</strong>, zeichnete die offizielle marxistische<br />

Geschichtsschreibung e<strong>in</strong> Bild der Ereignisse, das ke<strong>in</strong>erlei<br />

Zweifel an der Aufrichtigkeit der sowjetischen Bemühungen<br />

um e<strong>in</strong>e „E<strong>in</strong>dämmung der faschistischen Aggressionsgefahr“<br />

zuließ und die Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen<br />

Nichtangriffspaktes als e<strong>in</strong>en geradezu verzweifelten Akt der<br />

Selbstverteidigung rechtfertigte. Unbequeme Tatbestände wie<br />

der E<strong>in</strong>marsch der Roten Armee <strong>in</strong> Polen, die Unterzeichnung<br />

des deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrages,<br />

die Inkorporation der baltischen Staaten, der sowjetisch-f<strong>in</strong>nische<br />

W<strong>in</strong>terkrieg sowie die Besetzung Bessarabiens und der<br />

Nordbukow<strong>in</strong>a, die von weitaus weniger friedvollen Absichten<br />

der Moskauer Führung zeugten, wur<strong>den</strong> kurzerhand ausgeblendet.<br />

Praktisch geriet damit der gesamte Zeitabschnitt<br />

vom September 1939 bis zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion zu e<strong>in</strong>em historiografischen<br />

Sperrgebiet.<br />

Nicht nur im Westen stieß diese selektive, legitimatorischen Zwecken dienende Rezeptionspraxis<br />

auf Ablehnung und Unverständnis. Auch auf der anderen Seite des „Eisernen Vorhangs“ gab es<br />

nicht wenige Fachhistoriker, die der amtlichen Geschichtspropaganda durchaus kritisch gegenüberstan<strong>den</strong>.<br />

Bis <strong>in</strong> die zweite Hälfte der 80er Jahre verh<strong>in</strong>derten jedoch Zensur und politische Reglementierung<br />

e<strong>in</strong>e offene Ause<strong>in</strong>andersetzung mit der eigenen totalitären Vergangenheit. Möglichkeiten<br />

<strong>für</strong> e<strong>in</strong>e kritische Neubewertung der sowjetischen Diplomatiegeschichte eröffneten sich erst im Zuge<br />

der Gorbačëv’schen Perestroika. Nicht zuletzt unter dem E<strong>in</strong>druck der zunehmen<strong>den</strong> Sezessionsbestrebungen<br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong> baltischen Republiken rückte dabei zunächst die Frage nach <strong>den</strong> rechtlichen<br />

Grundlagen des Hitler-Stal<strong>in</strong>-Paktes <strong>in</strong> <strong>den</strong> Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Die damit verbun<strong>den</strong>e<br />

historiografische Debatte verließ allerd<strong>in</strong>gs sehr schnell <strong>den</strong> vorgegebenen Rahmen und<br />

mündete schließlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e umfassende Kontroverse über Ziele, Motive und Metho<strong>den</strong> der Stal<strong>in</strong>’schen<br />

Außenpolitik im Vorfeld des „Großen Vaterländischen Krieges“.


147 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Der vorliegende Band des Moskauer Historikers Sergej Sluč analysiert und dokumentiert Verlauf<br />

und Ergebnisse dieser Kontroverse, die <strong>in</strong> der russischen Geschichtsschreibung bis heute nachwirkt.<br />

Damit knüpft der Autor unmittelbar an Forschungen von Jan Lip<strong>in</strong>sky an, der im Rahmen se<strong>in</strong>er<br />

2004 veröffentlichten verdienstvollen Studie zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des geheimen<br />

Zusatzprotokolls zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt [1] bereits auf wesentliche Aspekte<br />

des sowjetischen „Historikerstreits“ e<strong>in</strong>gegangen ist.<br />

Auch Sluč widmet <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Untersuchung der Protokolldebatte breiten Raum. Anders als Lip<strong>in</strong>sky<br />

beschränkt er sich dabei bewusst auf die Evaluierung des akademischen Teils der Kontroverse,<br />

deren thematischen Bezugsrahmen er gleichwohl auf <strong>den</strong> gesamten Komplex der Stal<strong>in</strong>’schen Europapolitik<br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong> späten 30er und frühen 40er Jahren ausdehnt. Dies ermöglicht dem Autor nicht nur e<strong>in</strong>e<br />

schärfere Konturierung der zentralen Konfliktfelder der historiografischen Ause<strong>in</strong>andersetzungen,<br />

sondern gestattet es auch, die <strong>in</strong>nere Dynamik des schwierigen Prozesses der Loslösung der sowjetischen<br />

Geschichtsschreibung von parteipolitischer Bevormundung zu veranschaulichen. Dabei geht<br />

es Sluč jedoch nicht primär um die Klärung von Verantwortlichkeiten <strong>für</strong> das verme<strong>in</strong>tliche oder tatsächliche<br />

moralisch-ethische Versagen der Historikerzunft. Vielmehr nimmt er die Rekonstruktion<br />

der Debatte zum Anlass, um mit Blick auf <strong>den</strong> aktuellen Zustand der russischen Forschung zu diesem<br />

Thema nach <strong>den</strong> bleiben<strong>den</strong> Effekten der durch die Perestroika ausgelösten historiografischen<br />

Entwicklungen zu fragen.<br />

Dass der Autor der vorliegen<strong>den</strong> Arbeit bei der Suche nach e<strong>in</strong>er Antwort auf diese Frage zu<br />

Schlussfolgerungen gelangt, die von <strong>den</strong> Befun<strong>den</strong> se<strong>in</strong>es deutschen Kollegen Lip<strong>in</strong>sky abweichen,<br />

liegt zu e<strong>in</strong>em erheblichen Teil an der Unterschiedlichkeit der Bewertungskriterien, mit <strong>den</strong>en die<br />

bei<strong>den</strong> Untersuchungen operieren. Während Lip<strong>in</strong>sky <strong>den</strong> Kenntnisstand der westlichen Forschung<br />

zum Maßstab <strong>für</strong> die Evaluierung der Protokolldebatte erhebt, ist <strong>für</strong> Sluč neben dem empirischen<br />

Erkenntnisgew<strong>in</strong>n auch die wissenschaftspolitische Ausstrahlung der Kontroverse von Belang. Konsequenzen<br />

hat dies nicht nur <strong>für</strong> die allgeme<strong>in</strong>e Bewertung der Ergebnisse des sowjetischen „Historikerstreits“,<br />

dem Sluč zu Recht e<strong>in</strong>e beträchtliche emanzipatorische Wirkung besche<strong>in</strong>igt, sondern<br />

auch <strong>für</strong> die Beurteilung der <strong>in</strong>dividuellen Leistung der Akteure des Geschehens. So ist es ke<strong>in</strong> Zufall,<br />

dass Sluč se<strong>in</strong>e Arbeit dem An<strong>den</strong>ken des langjährigen Direktors des <strong>Institut</strong>s <strong>für</strong> Slawenkunde<br />

und Balkanistik der Akademie der Wissenschaften der UdSSR V.K. Volkov widmet, e<strong>in</strong>es Fachkollegen<br />

also, <strong>den</strong> Lip<strong>in</strong>sky eher im Lager der „Traditionalisten“ verortet. Es ist nicht der Grad der Übere<strong>in</strong>stimmung<br />

mit <strong>den</strong> Ansichten des Autors, der hier über die Zugehörigkeit zu der e<strong>in</strong>en oder anderen<br />

Fraktion entscheidet. Wohl aber ist es der konkrete Beitrag, <strong>den</strong> der e<strong>in</strong>zelne Historiker zur Verwissenschaftlichung<br />

des Diskurses und zur Herausbildung e<strong>in</strong>er pluralen Streitkultur beigesteuert hat.<br />

Unter diesem Gesichtspunkt ersche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>e Würdigung V.K. Volkovs, unter dessen Leitung das Slawenkunde-<strong>Institut</strong><br />

zu e<strong>in</strong>em wichtigen Vorposten der Perestroika <strong>in</strong> der sowjetischen Geschichtswissenschaft<br />

avancierte, mehr als gerechtfertigt.<br />

Die skizzierte Zielsetzung des Autors bestimmt auch die Struktur der vorliegen<strong>den</strong> Arbeit. E<strong>in</strong>leitend<br />

legt Sluč se<strong>in</strong>e Sicht auf die Entwicklung der sowjetischen Außenpolitik <strong>in</strong> <strong>den</strong> Jahren 1939 bis<br />

1941 dar, als deren wichtigsten Schauplatz er die deutsch-sowjetischen Beziehungen benennt. Für<br />

<strong>den</strong> Autor steht fest, dass die Unterzeichnung des Nichtangriffspaktes ke<strong>in</strong>e spontane Entscheidung<br />

der Moskauer Führung, sondern das Ergebnis langjähriger und zielgerichteter Bemühungen Stal<strong>in</strong>s<br />

um e<strong>in</strong>en Ausgleich mit Hitler war. Dabei habe sich Stal<strong>in</strong> sowohl von sicherheitspolitischen Erwägungen<br />

als auch von der Erwartung leiten lassen, auf der Grundlage e<strong>in</strong>er strategischen Partnerschaft mit<br />

dem nationalsozialistischen Deutschland zu e<strong>in</strong>er Erweiterung des sowjetischen Herrschafts- und<br />

E<strong>in</strong>flussbereiches zu gelangen (16). Hitler g<strong>in</strong>g jedoch erst dann auf die sowjetischen Offerten e<strong>in</strong>,<br />

als er Rückendeckung <strong>für</strong> <strong>den</strong> Überfall auf Polen benötigte. Der Abschluss der völkerrechtswidrigen<br />

Vere<strong>in</strong>barungen vom 23. August 1939 besiegelte das Schicksal des polnischen Staates und beförderte<br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


148 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

damit <strong>den</strong> Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, wobei sich die UdSSR durch ihren Truppene<strong>in</strong>marsch<br />

am 17. September 1939 de facto als e<strong>in</strong>e Krieg führende Partei auf Seiten des Aggressors positionierte<br />

(19). Während sich Stal<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong> folgen<strong>den</strong> Monaten auf die machtpolitische „Erschließung“<br />

der ihm durch die Verträge vom August und September 1939 zugestan<strong>den</strong>en Interessenssphäre konzentrierte,<br />

nutzte Hitler die Zusammenarbeit mit der UdSSR konsequent zur Stärkung des deutschen<br />

Kriegspotenzials. In völliger Verkennung der tatsächlichen Absichten se<strong>in</strong>es „Partners“ hielt Moskau<br />

selbst dann noch an der Kooperation mit dem „Dritten Reich“ fest, als im Verlauf der Berl<strong>in</strong>er<br />

Verhandlungen im November 1940 die weitgehende Unvere<strong>in</strong>barkeit der beiderseitigen Interessen<br />

offenbar wurde. Durch se<strong>in</strong>e realitätsfremde Politik, resümiert Sluč, habe Stal<strong>in</strong> wesentlich zur Stärkung<br />

des künftigen Kriegsgegners beigetragen und die UdSSR <strong>in</strong> der Stunde der größten Not ihrer<br />

natürlichen Verbündeten beraubt.<br />

In dem anschließen<strong>den</strong> Beitrag wendet sich der Autor der Rekonstruktion und Analyse jener Prozesse<br />

zu, die die Entwicklung der sowjetischen Historiografie <strong>in</strong> <strong>den</strong> Jahren der Perestroika prägten.<br />

Wie Lip<strong>in</strong>sky hebt auch Sluč hervor, dass der Geist der Reformen <strong>in</strong> diesem Bereich der historischen<br />

Forschung erst relativ spät E<strong>in</strong>zug gehalten hat. Obgleich die programmatische Rede Gorbačëvs auf<br />

dem Januarplenum des ZK der KPdSU bereits 1987 Freiräume <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e kritische Neubewertung der<br />

sowjetischen Geschichte geschaffen hatte, blieb die Sphäre der Außenpolitik vorerst außerhalb des<br />

akademischen Diskurses. Verantwortlich hier<strong>für</strong> waren, wie der Autor zeigt, sowohl zunft<strong>in</strong>terne<br />

Widerstände als auch der höchst <strong>in</strong>konsequente Öffnungskurs der politischen Führung, von der durchaus<br />

widersprüchliche „Signale“ ausg<strong>in</strong>gen (44-48).<br />

E<strong>in</strong>e Trendwende begann sich 1988 abzuzeichnen. Diese äußerte sich zunächst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er deutlichen<br />

Zunahme der Zahl von Publikationen zur Geschichte der sowjetischen Außenpolitik am Vorabend<br />

des Zweiten Weltkrieges. Der überwiegende Teil dieser Arbeiten folgte jedoch noch immer der bis<br />

dah<strong>in</strong> gültigen Interpretationsl<strong>in</strong>ie, wonach es <strong>für</strong> die UdSSR ke<strong>in</strong>e Alternative zum deutsch-sowjetischen<br />

Nichtangriffspakt gegeben habe.<br />

E<strong>in</strong>en qualitativen Durchbruch brachte erst das darauffolgende Jahr (70). Die nun e<strong>in</strong>setzende<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzung um die Bewertung der Ereignisse des Jahres 1939 führte erstmals zu e<strong>in</strong>em offenen<br />

massiven Schlagabtausch unter <strong>den</strong> Fachhistorikern. Dabei sah sich die Fraktion der „Revisionisten“,<br />

zu deren exponiertesten Vertretern neben M.I. Semirjaga und V.M. Kuliš auch der Autor des<br />

vorliegen<strong>den</strong> Bandes gehörte, heftigen Attacken seitens „traditionalistischer“ Historiker wie L.A.<br />

Bezymenskij, A.S. Orlov, O.A. Ržeševskij und V.Ja. Sipols ausgesetzt, die <strong>in</strong> V.M. Fal<strong>in</strong> ihren prom<strong>in</strong>entesten<br />

Fürsprecher fan<strong>den</strong>.<br />

Ungeachtet der anhalten<strong>den</strong> Gegenwehr der stal<strong>in</strong>istisch geprägten Geschichtsschreibung gewann<br />

die Debatte 1990 weiter an Dynamik und <strong>in</strong>haltlicher Tiefe. Begünstigt wurde diese Entwicklung<br />

durch die öffentliche Verurteilung des Hitler-Stal<strong>in</strong>-Paktes durch <strong>den</strong> sowjetischen Volkskongress<br />

im Dezember 1989. Zudem erhielten die Historiker die Möglichkeit, sich nicht nur auf westliche,<br />

sondern auch auf eigene neue Dokumenteneditionen zu stützen. Dies war umso wichtiger, als der<br />

Zugang zu <strong>den</strong> Archiven noch immer erheblichen Beschränkungen unterlag (108).<br />

Stan<strong>den</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong> bei<strong>den</strong> davorliegen<strong>den</strong> Jahren vor allem die Vorgeschichte und die Nachwirkungen<br />

des Nichtangriffspaktes im Mittelpunkt der Kontroverse, so galt das Interesse der historischen<br />

Forschung im letzten Jahr der Sowjetunion vor allem <strong>den</strong> deutsch-sowjetischen Beziehungen am<br />

Vorabend des „Großen Vaterländischen Krieges“. Zu <strong>den</strong> markantesten Entwicklungen dieses Jahres<br />

zählt Sluč die spürbare Verlangsamung des Reformprozesses <strong>in</strong> der sowjetischen Historiografie und<br />

e<strong>in</strong>e deutliche Zunahme der Ten<strong>den</strong>zen zur Konservierung des traditionellen Geschichtsbildes. Se<strong>in</strong>en<br />

Niederschlag fand dies nicht zuletzt <strong>in</strong> der Publikationspolitik e<strong>in</strong>iger Verlage und Zeitschriften,<br />

die die Herausgabe kritischer Manuskripte beh<strong>in</strong>derten (171).<br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


149 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Den Ertrag des sowjetischen „Historikerstreits“ evaluierend, gelangt der Autor zu e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>sgesamt<br />

positiven Urteil. Die Debatte habe nicht nur zu e<strong>in</strong>er grundlegen<strong>den</strong> Neubewertung zahlreicher historischer<br />

Tatbestände geführt, sondern auch alternativen konzeptionellen Ansätzen zum Durchbruch<br />

verholfen, die <strong>den</strong> Erkenntnishorizont der sowjetischen/russischen Forschung beträchtlich erweiterten<br />

(172). Diese Aussage untermauert Sluč, <strong>in</strong>dem er e<strong>in</strong>e bee<strong>in</strong>druckende Liste von Befun<strong>den</strong> anführt,<br />

die die Radikalität des Bruches mit <strong>den</strong> jahrzehntelang tradierten Mythen der stal<strong>in</strong>istisch geprägten<br />

Geschichtsschreibung veranschaulicht.<br />

E<strong>in</strong>en lebendigen E<strong>in</strong>druck von der Widersprüchlichkeit des Reformprozesses <strong>in</strong> der sowjetischen/russischen<br />

Geschichtswissenschaft vermittelt der dokumentarische Teil des Bandes. Er ist <strong>in</strong><br />

zwei chronologisch geordnete Blöcke untergliedert und enthält die Materialien von <strong>in</strong>sgesamt sechs<br />

„Run<strong>den</strong> Tischen“, die <strong>in</strong> <strong>den</strong> Jahren 1989 bis 1990 und 2000 bis 2002 am <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Slawenkunde<br />

der Akademie der Wissenschaften der UdSSR/Russlands zu dem hier <strong>in</strong>teressieren<strong>den</strong> Themenkomplex<br />

veranstaltet wur<strong>den</strong>. Grundlage der Publikation bil<strong>den</strong> die <strong>in</strong> der Zeitschrift „Sovetskoe slavjanove<strong>den</strong>ie“<br />

(später „Slavjanove<strong>den</strong>ie“) veröffentlichten ausführlichen Tagungsberichte, deren Wortlaut<br />

der Herausgeber ohne nennenswerte Veränderungen übernimmt.<br />

Durch die Erweiterung des zeitlichen Rahmens der Dokumentation auf die frühen 2000er Jahre<br />

versetzt Sluč <strong>den</strong> Betrachter <strong>in</strong> die Lage, die Kontroversen der Perestroika-Ära <strong>in</strong> <strong>den</strong> Kontext der<br />

nachfolgen<strong>den</strong> historiografischen Entwicklungen e<strong>in</strong>zub<strong>in</strong><strong>den</strong>. Stellt man die bei<strong>den</strong> Diskussionsrun<strong>den</strong><br />

vergleichend gegenüber, so fällt <strong>in</strong>sbesondere das deutlich höhere wissenschaftliche Niveau<br />

der späten „Run<strong>den</strong> Tische“ auf. G<strong>in</strong>g es <strong>in</strong> <strong>den</strong> früheren Debatten zunächst primär um die Rekonstruktion<br />

bis dah<strong>in</strong> tabuisierter historischer Abläufe, so wurde <strong>in</strong> der Folgezeit vor allem die unterschiedliche<br />

Zuordnung und Interpretation <strong>in</strong>zwischen allgeme<strong>in</strong> anerkannter Tatbestände zum Gegenstand<br />

heftiger Ause<strong>in</strong>andersetzungen. Umstritten blieben dabei <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie die handlungsleiten<strong>den</strong><br />

Motive der Stal<strong>in</strong>’schen Führung, e<strong>in</strong> Problem, das angesichts der unverändert unzureichen<strong>den</strong><br />

Quellenlage bis heute nichts an Aktualität e<strong>in</strong>gebüßt hat. Als Beleg <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e fortschreitende Professionalisierung<br />

des Diskurses kann ferner die zunehmende Differenzierung <strong>in</strong> <strong>den</strong> Positionen und<br />

Argumentationsansätzen der Diskussionsteilnehmer gelten, die sich <strong>in</strong> ihrer Beweisführung vermehrt<br />

auf westliche und neu erschlossene sowjetische Quellen stützten. Zu <strong>den</strong> anhalten<strong>den</strong> Defiziten s<strong>in</strong>d<br />

demgegenüber die mangelnde quellenkritische Aufbereitung und die mitunter ausgesprochen ten<strong>den</strong>ziöse<br />

Auslegung des präsentierten Materials sowie der fortwährend hohe Politisierungsgrad der<br />

Debatten zu zählen. Mehr noch als die professionellen Unzulänglichkeiten stimmt die <strong>in</strong> der jüngeren<br />

russischen Forschung generell festzustellende Ten<strong>den</strong>z skeptisch, althergebrachte Thesen der<br />

stal<strong>in</strong>istischen Geschichtsschreibung unter „patriotischen“ Vorzeichen zu reanimieren. Dies gilt <strong>in</strong><br />

besonderer Weise <strong>für</strong> die historische E<strong>in</strong>ordnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes, dessen<br />

„defensiver“ Charakter neuerd<strong>in</strong>gs wieder verstärkte Betonung f<strong>in</strong>det. Nicht ohne Grund sieht<br />

Sluč daher Anzeichen <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e schleichende Reideologisierung der russischen Geschichtswissenschaft<br />

(187). Solange die politische Führung des Landes der Kultivierung e<strong>in</strong>es „positiven“ Geschichtsbildes<br />

größere Bedeutung beimisst als der Öffnung der Archive, stellt der Autor fest, ist e<strong>in</strong>e<br />

weitere Verschärfung der restaurativen Ten<strong>den</strong>zen zu be<strong>für</strong>chten.<br />

Die vorliegende Arbeit, die mit e<strong>in</strong>em umfangreichen Verzeichnis der <strong>in</strong> Russland im Zeitraum<br />

zwischen 1992 und 2006 erschienenen Publikationen zum Thema schließt, bee<strong>in</strong>druckt durch ihren<br />

sensiblen und zugleich schonungslos offenen Umgang mit e<strong>in</strong>em Kapitel der sowjetischen Vergangenheit,<br />

die der Autor nicht nur als passiver Zeitzeuge, sondern als aktiver Teilnehmer der Ereignisse erlebte.<br />

Sie zeichnet <strong>den</strong> mühsamen Prozess der <strong>in</strong>tellektuellen Selbstf<strong>in</strong>dung der sowjetischen/russischen<br />

Geschichtswissenschaft nach und schärft <strong>den</strong> Blick <strong>für</strong> die Probleme, vor <strong>den</strong>en die russischen<br />

Zunftkollegen heute noch stehen.<br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


150 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Anmerkung:<br />

[1] Jan Lip<strong>in</strong>sky: Das Geheime Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag<br />

vom 23. August 1939 und se<strong>in</strong>e Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von 1939 bis 1999,<br />

Frankfurt am Ma<strong>in</strong> u.a. 2004.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


Kev<strong>in</strong> P. Spicer: Hitler’s Priests. Catholic Clergy and National Socialism, DeKalb, IL:<br />

Northern Ill<strong>in</strong>ois University Press 2008, xv + 369 S., ISBN 978-0-87580-384-5, USD 34,95<br />

Rezensiert von Christoph Kösters<br />

Kommission <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, Bonn<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 4<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/04/14719.html<br />

Die kirchliche Zeitgeschichtsforschung befasst sich seit geraumer<br />

Zeit verstärkt mit der deutschen Theologie und <strong>den</strong><br />

Theologen <strong>in</strong> der NS-Zeit. Dabei richtet sich das Interesse<br />

<strong>in</strong>sbesondere auf die Verstrickungen <strong>in</strong> die nationalsozialistische<br />

Ideologie und die NS-Herrschaft. Kev<strong>in</strong> Spicers 2004<br />

erschienene Monografie über <strong>den</strong> katholischen Klerus der<br />

Diözese Berl<strong>in</strong> im ‚Dritten Reichʻ enthielt bereits e<strong>in</strong> ausführliches<br />

Kapitel über die „braunen“ Priester, das schon 2002 im<br />

Historischen Jahrbuch als eigenständiger Aufsatz publiziert<br />

wor<strong>den</strong> war. [1] Das vorliegende Buch führt diese L<strong>in</strong>ie weiter<br />

fort, geht aber im Umfang darüber h<strong>in</strong>aus und kommt zu sehr<br />

viel weitreichenderen, <strong>den</strong> früheren Studien widersprechen<strong>den</strong><br />

Thesen.<br />

Auf der Basis <strong>in</strong>tensiver Archivrecherchen führt Spicer im<br />

Anhang die Namen und Angaben von 138 „braunen“ Priestern<br />

auf, also solchen katholischen Geistlichen, die der NSDAP<br />

und ihren Gliederungen angehörten oder <strong>in</strong> Wort und Schrift<br />

<strong>für</strong> die Ideen der Partei und ihres „Führers“ öffentlich e<strong>in</strong>traten.<br />

Damit wird e<strong>in</strong> wichtiger, das Gesamtbild ergänzender<br />

Kontrapunkt zur Dokumentation „Priester unter Hitlers Terror“[2] gesetzt. Immerh<strong>in</strong> 58 Priester waren<br />

registrierte Mitglieder der NSDAP, 28 gaben ihr Priesteramt auf. Die Liste ließe sich gewiss noch<br />

verlängern. Der Gesamtbefund <strong>in</strong>des entspricht der bereits 1973 von Frederic Spotts angeführten<br />

Anzahl von 150 Geistlichen, die die NS-Bewegung unterstützten. [3] Ihr Anteil von weniger als e<strong>in</strong>em<br />

Prozent an der Gesamtzahl von rund 27.000 Weltpriestern und weit über 15.000 Or<strong>den</strong>sgeistlichen,<br />

die zwischen 1933 und 1945 <strong>in</strong> <strong>den</strong> deutschen Diözesen tätig waren, war nicht nur m<strong>in</strong>oritär, sondern<br />

geradezu marg<strong>in</strong>al – zumal im Vergleich zu <strong>den</strong> protestantischen Pfarrern. Diese notwendigen<br />

Vergleichspunkte führt Spicer nicht an.<br />

Lässt man die diskussionswürdige Def<strong>in</strong>ition dessen, was e<strong>in</strong>en „braunen“ katholischen Priester<br />

ausmacht und e<strong>in</strong>e entsprechende Zahlenarithmetik als Mittel historischer Argumentation e<strong>in</strong>mal<br />

beiseite, so stellt sich doch die berechtigte Frage nach dem Phänomen als solchem. Spicer stellt vier<br />

Typen von „Hitler’s Priests“ vor: Erstens die „Alten Kämpfer“ wie Abt Schachleiter, <strong>den</strong> Or<strong>den</strong>spriester<br />

Bernhard Stempfle oder <strong>den</strong> späteren M<strong>in</strong>isterialbeamten im Reichskirchenm<strong>in</strong>isterium, Josef<br />

Roth; zweitens antimoderne „Warrior Priests“ wie <strong>den</strong> promovierten Theologen und Pfarrer Philipp<br />

Haeuser; drittens nationale Enthusiasten wie <strong>den</strong> Hitzhofener Pfarrer Anton Heuberger; viertens


152 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

germanisierende und ökumenische „Brückenbauer“ wie <strong>den</strong> Duderstädter Religionslehrer Richard<br />

Kle<strong>in</strong>e. Die Aufgliederung ließe sich gewiss noch um weitere Typen ergänzen, etwa um die von Spicer<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en früheren Forschungen angeführten „Opportunisten“ und „Abtrünnigen“ oder die von<br />

Wolfgang Dierker behandelten „Spalter und Spitzel“ des SD. [4]<br />

Spicer charakterisiert die Typen durch biografische Fallbeispiele. Die dadurch erreichte „Nahoptik“<br />

deckt die theologischen, spirituellen und persönlichen Abgründe der „braunen“ Priester <strong>in</strong> ganzer<br />

Breite und bislang nicht bekannter Tiefe auf. Dar<strong>in</strong> liegt der unbestreitbare Vorteil von Spicers Vorgehen<br />

und der Gew<strong>in</strong>n se<strong>in</strong>er Befunde <strong>für</strong> die Forschung. Andererseits fördert gerade diese „Nahoptik“<br />

<strong>in</strong> jedem E<strong>in</strong>zelfall e<strong>in</strong> Konglomerat verschie<strong>den</strong>er Motive und Handlungen zutage, das sich tatsächlich<br />

e<strong>in</strong>er typisieren<strong>den</strong> Zuordnung entzieht und somit methodisch e<strong>in</strong> Dilemma hervorruft.<br />

Zugleich verzichtet die Studie auf e<strong>in</strong>e historische E<strong>in</strong>ordnung der Befunde <strong>in</strong> Chronologie und<br />

Gesamtgeschichte der christlichen Kirchen zwischen 1933 und 1945. Wichtige, das <strong>in</strong>dividuelle<br />

Verhalten ausdeutende Bezüge fehlen somit. Lediglich im Schlusskapitel wird das Jahr 1936 als aufschlussreiche<br />

Zäsur erwähnt, die, von Ausnahmen abgesehen, bei <strong>den</strong> NS-Priestern selbst die E<strong>in</strong>sicht<br />

nährte, dass ihre Zeit abgelaufen war. Für die Gesamtdarstellung bleibt dieser Befund jedoch<br />

ohne erkennbare Bedeutung. Die nationalsozialistische Religionspolitik, die <strong>für</strong> die realen Handlungsmöglichkeiten<br />

der „braunen“ Priester wie der christlichen Kirchen <strong>in</strong>sgesamt von ausschlaggebender<br />

Bedeutung war, lässt Spicer unberücksichtigt.<br />

Durch se<strong>in</strong>en typisieren<strong>den</strong> Zugriff auf das Material beraubt er sich überdies der Möglichkeit, die<br />

aus se<strong>in</strong>en Fallbeispielen herausdestillierten Beweggründe katholischer „Brückenbau“-Versuche<br />

durch e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>ordnung <strong>in</strong> <strong>den</strong> historischen Kontext angemessen zu gewichten. Über <strong>den</strong> Kreis der<br />

„braunen“ Priester h<strong>in</strong>aus teilten <strong>in</strong> <strong>den</strong> Anfangsjahren der Diktatur zahlreiche Kleriker und Katholiken<br />

mit der Gesamtbevölkerung die Sympathie <strong>für</strong> <strong>den</strong> Kampf der neuen Regierung gegen „Versailles“,<br />

<strong>den</strong> Liberalismus, <strong>den</strong> „gottlosen“ Kommunismus und die laizistische Demokratie; <strong>für</strong> die I<strong>den</strong>tifikation<br />

mit „Führer“ und Vaterland war und blieb dies wichtiger als der Rassenantisemitismus der<br />

Nationalsozialisten.<br />

Statt solche historischen Unterscheidungen zur Geltung zu br<strong>in</strong>gen, sieht sich Spicer gezwungen,<br />

se<strong>in</strong>e vielgestaltigen Befunde mit e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen Generalthese zusammenzuzw<strong>in</strong>gen. Ausdrücklich<br />

knüpft er an David Kertzers Ansicht über die <strong>in</strong>nere E<strong>in</strong>heit von rassischem, sozialem, ökonomischem<br />

und kulturellem Antisemitismus an (9). Antiliberalismus, Antimodernismus und Antibolschewismus<br />

unter <strong>den</strong> Katholiken wer<strong>den</strong> gedanklich ebenso unter dem Antisemitismusbegriff subsumiert<br />

wie der im religiösen Denken der Kirchen verwurzelte Antijudaismus, der als „religiousbased<br />

antisemitism“ und „theologischer Antisemitismus“ (230) bezeichnet wird. Anders als <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

früheren, um Differenzierung bemühten Untersuchungen be<strong>für</strong>wortet Spicer nunmehr e<strong>in</strong>e monokausale<br />

Erklärung <strong>für</strong> das Verhalten der „braunen“ Priester. Zugleich löst er auch die bisher <strong>in</strong> der<br />

Forschung weitgehend anerkannte, analytisch hilfreiche und quellenmäßig gedeckte Unterscheidung<br />

zwischen rassischem Antisemitismus und Antijudaismus auf. Ambivalenzen, die unbestritten das<br />

Verhältnis der Katholiken zu <strong>den</strong> Ju<strong>den</strong> kennzeichneten, mutieren zu e<strong>in</strong>em verme<strong>in</strong>tlich e<strong>in</strong>deutigen<br />

katholischen Antisemitismus: Weil man katholisch war, war man antisemitisch.<br />

Diese Interpretation impliziert weitreichende Schlussfolgerungen. Das von Spicer umrissene Gesamtbild<br />

läuft <strong>den</strong> bisherigen Erkenntnissen zuwider und stellt sie auf <strong>den</strong> Kopf: „Hitler’s Priests“<br />

waren und blieben demnach Bestandteil des katholischen, per se antisemitischen Milieus. Sie repräsentierten<br />

e<strong>in</strong>en Klerus, der mental durch e<strong>in</strong>e auf Selbstbewahrung und negative Ausgrenzung der<br />

Ju<strong>den</strong> ausgerichtete Haltung geprägt war, das Regime schweigend unterstützte und dessen katholischer<br />

Antisemitismus <strong>den</strong> direkten Weg <strong>in</strong> <strong>den</strong> Holocaust mitbahnte (230f.). Dass die katholischen<br />

Bischöfe dem Wirken ihrer „braunen“ Priester ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>halt geboten, ersche<strong>in</strong>t vor diesem H<strong>in</strong>tergrund<br />

als Beleg da<strong>für</strong>, dass sie fester Bestandteil jener breiten, schweigen<strong>den</strong>, mit „Hitler’s Priests“<br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


153 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

sympathisieren<strong>den</strong> Mehrheit <strong>in</strong> der katholischen Kirche waren. Im Endeffekt, so legt diese Indizienkette<br />

nahe, waren die NS-Priester also ke<strong>in</strong>e marg<strong>in</strong>ale M<strong>in</strong>derheit, sondern vielmehr die Spitze<br />

e<strong>in</strong>es Eisbergs. Und wären die Nationalsozialisten nur schlauer und gerissener gewesen, anstatt gegen<br />

katholische Priester vorzugehen, so hätten sie auf deren selbstverständliche Unterstützung <strong>für</strong> ihre<br />

Verbrechen rechnen können.<br />

E<strong>in</strong> solch e<strong>in</strong>dimensionales Geschichtsbild h<strong>in</strong>terlässt Zweifel und wirft Fragen auf: War die nationalsozialistische,<br />

nachweislich vor allem gegen <strong>den</strong> Katholizismus gerichtete Religionspolitik tatsächlich<br />

nur unklug, wenn sie, wie <strong>in</strong> Österreich und Polen, auf dessen radikale Ausschaltung zielte?<br />

Erklärt sich die Vielzahl verhafteter und <strong>in</strong> KZ verschleppter katholischer Geistlicher nur aus dem<br />

Willen zu kirchlicher, gleichsam milieuegoistischer Selbstbewahrung? Wie lässt sich die Ablehnung<br />

<strong>in</strong>terpretieren, auf die die „braunen“ Priester im Kreis ihrer angeblich geistesverwandten Mitbrüder<br />

e<strong>in</strong>erseits und bei <strong>den</strong> nationalsozialistischen Machthabern andererseits stießen? Wie ist das bischöfliche<br />

E<strong>in</strong>schreiten gegen ihre „braunen“ Geistlichen zu bewerten, das anstatt zu sofortiger Amtsenthebung<br />

<strong>in</strong> vielen Fällen offenbar zur Degradierung führte? Und schließlich: Wie s<strong>in</strong>d die „stillschweigen<strong>den</strong>“<br />

Hilfen, die katholische Laien wie Priester <strong>den</strong> verfolgten Ju<strong>den</strong> – zum Teil unter dem<br />

Dach bischöflicher Ord<strong>in</strong>ariate – zukommen ließen, mit e<strong>in</strong>em katholischen Antisemitismus zu vere<strong>in</strong>baren?<br />

Um e<strong>in</strong>e lange offene Frage der Katholizismusforschung zu beantworten, hat Spicer mit<br />

se<strong>in</strong>er Studie neues, aufschlussreiches Quellenmaterial erhoben und aufbereitet. Dessen wissenschaft-<br />

liche Auswertung bedarf weiterer vertiefender Studien.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Kev<strong>in</strong> P. Spicer: Resist<strong>in</strong>g the Third Reich. The Catholic clergy <strong>in</strong> Hitler’s Berl<strong>in</strong>, DeKalb/Ill.<br />

2004; ders.: Gespaltene Loyalität. „Braune Priester“ im Dritten Reich am Beispiel der Diözese<br />

Berl<strong>in</strong>, <strong>in</strong>: Historisches Jahrbuch 122 (2002), 287-320.<br />

[2] Ulrich von Hehl/Christoph Kösters u.a. (Bearb.): Priester unter Hitlers Terror. E<strong>in</strong>e biografische<br />

und statistische Erhebung, 4., durchges. u. erg. Aufl., Paderborn 1998.<br />

[3] Frederic Spotts: The Churches and Politics <strong>in</strong> Germany, Middletown 1973, 109.<br />

[4] Wolfgang Dierker: Himmlers Glaubenskrieger. Der Sicherheitsdienst der SS und se<strong>in</strong>e Religionspolitik<br />

1933–1943, 2., durchges. Aufl., Paderborn 2003.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


Nathan Stoltzfus/Henry Friedlander (eds.): Nazi Crimes and the Law (= Publications of<br />

the German Historical <strong>Institut</strong>e Wash<strong>in</strong>gton D.C.), Cambridge: Cambridge University Press<br />

2008, ix + 225 S., ISBN 978-0-521-89974-1, GBP 45,00<br />

Rezensiert von Edith Raim<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 6<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/06/15904.html<br />

Zur gegenwärtigen Flut von Veröffentlichungen zur Ahndung<br />

von NS-Verbrechen gesellt sich nun auch der vorliegende<br />

Band. Ähnlich wie das von Patricia Heberer und Jürgen<br />

Matthäus herausgegebene (und <strong>in</strong> <strong>den</strong> <strong>sehepunkten</strong> bereits<br />

besprochene) Buch „Atrocities on Trial“ [1] versammelt er<br />

Beiträge <strong>in</strong>ternational renommierter Wissenschaftler<strong>in</strong>nen und<br />

Wissenschaftler aus <strong>den</strong> USA, <strong>den</strong> Niederlan<strong>den</strong>, Deutschland<br />

und Österreich.<br />

Henry Friedlander widmet sich der Perversion des Rechtssystems<br />

im NS-Staat und skizziert die rechtlichen Bed<strong>in</strong>gungen<br />

der Ahndung dieser Verbrechen nach 1945, die drei Beiträge<br />

von Gerhard L. We<strong>in</strong>berg, Patricia Heberer und Michael<br />

S. Bryant diskutieren die alliierten bzw. amerikanischen Prozesse<br />

zu NS-Verbrechen, wobei We<strong>in</strong>berg e<strong>in</strong>ige Forschungsdesiderate<br />

zu <strong>den</strong> Nürnberger Prozessen aufzeigt. Joachim<br />

Perels, Dick de Mildt und Nathan Stoltzfus befassen sich mit<br />

verschie<strong>den</strong>en Aspekten der westdeutschen NS-Verfahren,<br />

W<strong>in</strong>fried R. Garscha gibt e<strong>in</strong>en Überblick über die NS-Verbrechensverfolgung<br />

<strong>in</strong> Österreich, Annette We<strong>in</strong>ke lenkt <strong>den</strong><br />

Blick auf die deutsch-deutsche „Systemkonkurrenz“ bei der Ahndung, Elizabeth B. White fasst die<br />

amerikanischen Office of Special Investigation (OSI)-Verfahren zusammen und Christopher R.<br />

Brown<strong>in</strong>g analysiert die Problematik der Holocaustleugnung anhand der Verfahren gegen Ernst<br />

Zündel und David Irv<strong>in</strong>g und gibt e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Tätigkeit als Gutachter.<br />

Die lange Zeitspanne, die zwischen der vom Deutschen Historischen <strong>Institut</strong> <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton D.C.<br />

geförderten Konferenz, die 2003 <strong>in</strong> Amsterdam stattfand, und der schriftlichen Vorlage des Werkes<br />

vergangen ist, ist sichtlich nicht <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e sorgfältige Redaktion der Texte verwendet wor<strong>den</strong>. Vergessene<br />

Umlaute und Rechtschreibfehler bei deutschen Zitaten trüben die Lektüre. H<strong>in</strong><strong>den</strong>burg wird zu<br />

H<strong>in</strong><strong>den</strong>berg (Stoltzfus/Friedlander, 4); die alliierten Kriegsverbrecherhaftanstalten Landsberg am<br />

Lech, Wittlich und Werl mutieren zu „Landsberg, Werl and Lech“ (We<strong>in</strong>ke, 158) und Gutachten erfahren<br />

als „Gutakten“ e<strong>in</strong>en Bedeutungszuwachs (White, 180). H<strong>in</strong>zu kommen faktische Widersprüche<br />

zwischen <strong>den</strong> e<strong>in</strong>zelnen Beiträgen (We<strong>in</strong>berg me<strong>in</strong>t, deutsche Gerichte seien erst Jahre nach Kriegsende<br />

mit der Ahndung von Kriegsverbrechen betraut wor<strong>den</strong>, 36; Friedlander äußert dagegen zu<br />

Recht, die Verfahren vor deutschen Gerichten hätten im Spätjahr 1945 begonnen, 25).


155 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Auf Fehler und Miss<strong>in</strong>terpretationen, die bereits <strong>in</strong> der Besprechung „Atrocities on Trial“ von der<br />

Rezensent<strong>in</strong> moniert wur<strong>den</strong> und <strong>in</strong> dem vorliegen<strong>den</strong> Band perpetuiert wer<strong>den</strong>, wird hier nicht<br />

mehr näher e<strong>in</strong>gegangen. Erneut wird hier fälschlich behauptet, alle deutschen Gerichte hätten <strong>in</strong> der<br />

Besatzungszeit die Ermächtigung zur Anwendung des Kontrollratsgesetzes (KRG) Nr. 10 gehabt<br />

(Friedlander, 27; Heberer, 60), was <strong>für</strong> die amerikanische Zone aber eben nicht zutrifft. Dabei hätte<br />

e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger Blick auf die Anklage bzw. das Urteil des von Heberer analysierten Frankfurter Hadamar-Prozesses<br />

sie e<strong>in</strong>es Besseren belehrt: Dort war weder nach KRG 10 angeklagt noch verurteilt<br />

wor<strong>den</strong>. Bryant (64) verwechselt <strong>den</strong> Western Military District mit dem Eastern Military District<br />

und weiß offensichtlich nicht, dass Württemberg-Ba<strong>den</strong> und Ba<strong>den</strong>-Württemberg zwei unterschiedliche<br />

Entitäten darstellen, die zu unterschiedlichen Zeiten existierten bzw. existieren. Dass ausgerechnet<br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong> USA das Wissen über die amerikanische Zone so ger<strong>in</strong>g ist, ist enttäuschend.<br />

Bryants Aufsatz über die amerikanischen KZ-Prozesse <strong>in</strong> Dachau macht deutlich, dass man nur<br />

dann solide über die NS-Prozesse der Nachkriegszeit schreiben kann, wenn auch das Wissen über<br />

diese Verbrechen fundiert ist. Er bezieht sich bei e<strong>in</strong>er Zusammenfassung der Geschichte der Konzentrationslager<br />

Dachau, Buchenwald und Mauthausen auf die doch <strong>in</strong> weiten Teilen überholte „Enzyklopädie<br />

des Holocaust“, h<strong>in</strong>zu kommen falsche E<strong>in</strong>ordnungen (Mühldorf war ke<strong>in</strong> Hauptlager, 65)<br />

oder Unterordnungen der Außenlager (Allach gehörte nicht zum Kaufer<strong>in</strong>g-Komplex, 71). Wenn<br />

schon die Basis auf so wackeligen Füßen steht, kann das Ergebnis beim „Überbau“ nicht überzeugen.<br />

Zwar s<strong>in</strong>d die rechtlichen Überlegungen – E<strong>in</strong>stufung als „Exzesstaten“ durch die Anklage versus<br />

„Befehlstaten“ der Verteidigung – wichtig. Die Amerikaner wur<strong>den</strong> <strong>in</strong> diesen Prozessen aber von<br />

der Realität e<strong>in</strong>geholt, als sie sich e<strong>in</strong>em Sammelsurium von Angeklagten gegenübergestellt sahen,<br />

die meist über subalterne Dienstgrade nicht h<strong>in</strong>ausgekommen waren, weil die Haupttäter – wie etwa<br />

KZ-Kommandanten – nicht d<strong>in</strong>gfest gemacht wer<strong>den</strong> konnten oder sich ihren irdischen Richtern entzogen<br />

hatten. Lohnenswert wäre sicherlich e<strong>in</strong>e vergleichende Studie der drei großen Prozesse und<br />

ihrer Nachfolgeverfahren.<br />

Weitverbreitet <strong>in</strong> <strong>den</strong> Aufsätzen ist das „Juristen-Bash<strong>in</strong>g“, das verbale E<strong>in</strong>prügeln auf <strong>den</strong> Juristenstand,<br />

was zu bizarren E<strong>in</strong>schätzungen führt, wie etwa der Behauptung, e<strong>in</strong>er der Gründe <strong>für</strong> die<br />

massenmörderische Dimension der Ju<strong>den</strong>vernichtung sei das deutsche Justizwesen („The German<br />

judicial system was one reason the Holocaust resembled mach<strong>in</strong>e-like mass murder rather than a<br />

Czarist pogrom.“, Stoltzfus/Friedlander, 8) oder der Vorstellung, die westdeutsche Justiz habe primär<br />

der Re<strong>in</strong>waschung der Wehrmacht gedient („[...] the FRG judicial system was act<strong>in</strong>g primarily<br />

as an agency to clear the Wehrmacht’s record.“, Stoltzfus, 118). Ähnlich pauschal wirft Perels der<br />

Mehrzahl der westdeutschen Juristen vor, sie hätten <strong>in</strong> <strong>den</strong> Verfahren das Lei<strong>den</strong> der Opfer ignoriert<br />

(88) oder die Tötungen quasi juristisch legitimiert. Derart simplistische Vorstellungen degradieren<br />

die Justiz wirklich zur Magd der Politik. De Mildt kritisiert die Nichtverfolgung des vor e<strong>in</strong>em SS-<br />

und Polizeigericht Verurteilten Max Täubner, der wegen des Rechtspr<strong>in</strong>zips „ne bis <strong>in</strong> idem“ auch <strong>in</strong><br />

der Bundesrepublik nicht mehr angeklagt wer<strong>den</strong> konnte. Ähnliches trifft aber auch auf Verurteilte<br />

aus alliierten Verfahren zu. Aber hätte man e<strong>in</strong> bewährtes Rechtspr<strong>in</strong>zip opfern sollen, um <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen<br />

E<strong>in</strong>zelfällen Prozesse eröffnen zu können?<br />

Sowohl Stoltzfus als auch We<strong>in</strong>ke hängen der teils doch recht kru<strong>den</strong> Vorstellung an, politische<br />

E<strong>in</strong>flüsse hätten <strong>den</strong> Verlauf der (west-)deutschen Ahndung von NS-Verbrechen dom<strong>in</strong>iert. Beide<br />

Beiträge vermitteln e<strong>in</strong> wenig <strong>den</strong> E<strong>in</strong>druck, als würde die Justiz quasi tatenlos auf neue Trends oder<br />

„Konjunkturen“ der Politik warten, bis sie dann dieser diensteifrig zu Willen ist. We<strong>in</strong>ke me<strong>in</strong>t, viele<br />

Aspekte der Ahndung der NS-Verbrechen der 50er und 60er Jahre seien außerhalb des Kontexts des<br />

Kalten Krieges unverständlich, wobei die Bundesrepublik Deutschland stets auf Anwürfe aus der<br />

DDR habe reagieren müssen. Tatsache ist aber, dass die Mehrzahl aller Prozesse <strong>in</strong> Ost- und Westdeutschland<br />

vor 1950 stattfand, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeit, als die „Systemkonkurrenz“ nicht existierte bzw. ke<strong>in</strong>es-<br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


156 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

wegs so ausgeprägt war wie <strong>in</strong> späteren Jahren. Stoltzfus argumentiert ähnlich, das Anwachsen der<br />

Prozesszahlen ab dem Ende der 50er Jahre und die Gründung der Zentralen Stelle seien auf die<br />

Kampagnen aus der DDR zurückzuführen. Das Verfahren, das schließlich zur Gründung der Zentralen<br />

Stelle Ludwigsburg führte und als Ulmer E<strong>in</strong>satzgruppenprozess <strong>in</strong> die Geschichte e<strong>in</strong>g<strong>in</strong>g, f<strong>in</strong>g<br />

aber – ohne erkennbare politische E<strong>in</strong>flussnahme aus dem anderen deutschen Staat – als beschei<strong>den</strong>es<br />

Ermittlungsverfahren „Ulm 7 Js 6445/55“ im Jahr 1955 an. Stoltzfus moniert, dass die Ermittlungen<br />

zu dem Massaker an italienischen Soldaten vom September 1943 <strong>in</strong> Kephallonia sowohl<br />

1968 also auch 2006 e<strong>in</strong>gestellt wur<strong>den</strong>. Überraschen muss e<strong>in</strong>en das aber nicht wirklich: Die rechtliche<br />

Grundlage, das deutsche Strafgesetzbuch, war eben diesbezüglich dasselbe geblieben, die E<strong>in</strong>stufung<br />

der Tat als Totschlag ebenso.<br />

Perels führt das Versagen der Justiz bei der Verfolgung von NS-Verbrechen darauf zurück, dass<br />

die juristischen Eliten ihre Karrieren <strong>in</strong> der Bundesrepublik nahtlos fortsetzen konnten. Klare Nachweise,<br />

dass Angehörige der NS-Justiz auch wieder <strong>in</strong> Strafverfahren zur Ahndung von NS-Verbrechen<br />

verwendet wur<strong>den</strong>, bleibt der Autor jedoch schuldig. Waren aber Recht und Demokratie der<br />

Bundesrepublik wirklich gefährdet, wenn e<strong>in</strong> ehemaliger NSDAP-Angehöriger als Verkehrsrichter<br />

tätig war oder e<strong>in</strong> ehemaliger Sonderrichter nun Ehen schied?<br />

Leichtfertig ist auch die Behauptung von Stoltzfus (9, 114), die ostdeutschen NS-Prozesse seien<br />

zahlreicher als <strong>in</strong> Westdeutschland gewesen. Dies geschieht augensche<strong>in</strong>lich <strong>in</strong> Unkenntnis der Tatsache,<br />

dass die gern verbreitete <strong>in</strong>flationäre Zahl von NS-Prozessen <strong>in</strong> der SBZ/DDR kontam<strong>in</strong>iert<br />

ist durch die Vermengung von politischen Säuberungsverfahren und strafrechtlichen Prozessen, die<br />

<strong>in</strong> Ostdeutschland vor <strong>den</strong>selben Gerichten stattfan<strong>den</strong> (und damit stärker dem österreichischen Vorgehen<br />

ähneln als dem westdeutschen). E<strong>in</strong> vernünftiger Vergleich West- und Ostdeutschlands müsste<br />

daher entweder die westdeutschen Entnazifizierungsverfahren vor Spruchkammern und Spruchgerichten<br />

zu <strong>den</strong> strafrechtlichen Ermittlungen und Prozessen vor or<strong>den</strong>tlichen Gerichten h<strong>in</strong>zuzählen<br />

oder die ostdeutschen Säuberungsverfahren herausrechnen.<br />

Unklar bleibt bei dieser Betonung der politischen E<strong>in</strong>flussnahme auf die NS-Verfahren dann aber<br />

die Tatsache, dass auch im neutralen Österreich – dem Kalten Krieg ja nun deutlich weniger ausgesetzt<br />

– die Ahndungstätigkeit nach der Beendigung der Volksgerichtsbarkeit 1955 praktisch versiegte<br />

und dass ebenso <strong>in</strong> anderen Ländern ganz unterschiedlicher Blockzugehörigkeit wie etwa Polen<br />

oder <strong>den</strong> Niederlan<strong>den</strong> ab Anfang/Mitte der 50er Jahre der Impetus zur Verfolgung erlahmte.<br />

Sollte es noch Argumente brauchen, warum die politischen E<strong>in</strong>flüsse überschätzt wer<strong>den</strong>, so sei<br />

auf das <strong>in</strong> dem Band dargelegte amerikanische Beispiel der Verfahren zur Ausbürgerung von NS-<br />

Verbrechern verwiesen: E<strong>in</strong>e neutrale Öffentlichkeit, wohlme<strong>in</strong>ende Richter (die über je<strong>den</strong> Verdacht<br />

der Zugehörigkeit zur NS-Justiz erhaben waren!), ausgezeichnete Wissenschaftler, die Recherchen<br />

rund um <strong>den</strong> Globus unternehmen konnten und auf das angehäufte Wissen mehrerer Forschergenerationen<br />

zurückgreifen konnten, juristische Erfahrungen aus amerikanischen und deutschen NS-<br />

Prozessen, verbesserte und verfe<strong>in</strong>erte Ermittlungsmetho<strong>den</strong> – und trotzdem erzielte das seit 1979<br />

tätige OSI <strong>in</strong> <strong>den</strong> fast 30 Jahren se<strong>in</strong>er Arbeit das wenig ehrfurchtheischende Ergebnis von lediglich<br />

105 Anklagen, die <strong>in</strong> 85 Ausbürgerungen und 63 Ausweisungen endeten (White, 179). Fazit: Selbst<br />

unter besten Bed<strong>in</strong>gungen (nachweislich ohne politische E<strong>in</strong>flussnahme) ist die strafrechtliche Ahndung<br />

nicht immer e<strong>in</strong> Erfolg.<br />

Der Band h<strong>in</strong>terlässt – mit Ausnahme der solide recherchierten und <strong>in</strong>teressanten Beiträge von<br />

We<strong>in</strong>berg, Garscha und Brown<strong>in</strong>g – <strong>den</strong> etwas zwiespältigen E<strong>in</strong>druck, als hätten die Autoren das<br />

immer Gleiche (aber deswegen nicht notwendig Richtige) schon zu oft gesagt, und r<strong>in</strong>gt der Rezensent<strong>in</strong><br />

<strong>den</strong> Stoßseufzer ab, dass <strong>in</strong> Zukunft zu dem Thema hoffentlich mit derselben Verve geforscht<br />

wie bisher lediglich veröffentlicht wird.<br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


157 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Anmerkung:<br />

[1] Edith Raim: Rezension von: Patricia Heberer/Jürgen Matthäus (eds.): Atrocities on Trial. Historical<br />

Perspectives on the Politics of Prosecut<strong>in</strong>g War Crimes, L<strong>in</strong>coln: University of Nebraska<br />

Press 2008, <strong>in</strong>: sehepunkte 8 (2008), Nr. 9 [15.09.2008], URL: http://www.sehepunkte.de/2008/<br />

09/14859.html<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


Feliks Tych/Alfons Kenkmann/Elisabeth Kohlhaas/Andreas Eberhardt (Hrsg.): K<strong>in</strong>der über<br />

<strong>den</strong> Holocaust. Frühe Zeugnisse 1944-1948. Interviewprotokolle der Zentralen Jüdischen<br />

Historischen Kommission <strong>in</strong> Polen, Berl<strong>in</strong>: Metropol 2008, 327 S., ISBN 978-3-938690-08-6,<br />

EUR 19,00<br />

Rezensiert von Giles Bennett<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 10<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/10/14948.html<br />

Kaum e<strong>in</strong> polnisch-jüdisches K<strong>in</strong>d überlebte <strong>den</strong> Holocaust.<br />

Unmittelbar nach Beendigung des Krieges begannen Interviewer<br />

der Jüdischen Historischen Kommission <strong>in</strong> Polen damit,<br />

überlebende K<strong>in</strong>der und Jugendliche zu befragen. Im<br />

Gegensatz zu Befragungen, die teilweise Jahrzehnte später<br />

durchgeführt wur<strong>den</strong>, zeichnen sich die Aussagen durch zeitliche<br />

Nähe zu <strong>den</strong> Ereignissen sowie durch die besondere, relativ<br />

vorurteilsfreie k<strong>in</strong>dliche beziehungsweise jugendliche Perspektive<br />

aus.<br />

Der Band [1] enthält neben der ausführlichen E<strong>in</strong>leitung<br />

und <strong>den</strong> Anhängen erstmals <strong>in</strong> deutscher Übersetzung 55 Interviews<br />

<strong>in</strong> alphabetischer Reihenfolge aus e<strong>in</strong>em Gesamtbestand<br />

von 429 Berichten von K<strong>in</strong>dern und Jugendlichen der Jahrgänge<br />

1929 bis 1939. E<strong>in</strong>leitend wer<strong>den</strong> die Überlebenswege<br />

der K<strong>in</strong>der charakterisiert, anschließend die Entstehung der<br />

Interviews <strong>in</strong> ihrem <strong>in</strong>stitutionellen Rahmen beschrieben.<br />

Grundlage bildete e<strong>in</strong> eigens entwickelter Interviewleitfa<strong>den</strong>,<br />

der im Anhang auch <strong>in</strong> Übersetzung abgedruckt ist. Hier wird<br />

auch auf <strong>den</strong> E<strong>in</strong>fluss der Interviewer (Ziel war das „durchgängige Erzählen“) und die Grenzen der<br />

Quellengattung e<strong>in</strong>gegangen. Dabei wird ebenso die Geschichte der Befragungen von K<strong>in</strong>dern <strong>in</strong> der<br />

unmittelbaren Nachkriegszeit sowie die frühe Publikationsgeschichte von K<strong>in</strong>derberichten abgedeckt.<br />

Bei der Betrachtung des Gesamtbestands fällt auf, dass der Nordosten der polnischen Republik<br />

gar nicht (Woiwodschaften Nowogródek und Polesie) beziehungsweise kaum vertreten ist (Woiwodschaften<br />

Bialystok und Wilna). Ansonsten s<strong>in</strong>d alle wichtigen Gebiete mit e<strong>in</strong>em bedeuten<strong>den</strong> jüdischen<br />

Bevölkerungsanteil und gemäß der Präsenz im Gesamtbestand der Protokolle recht repräsentativ<br />

berücksichtigt, wodurch sich e<strong>in</strong>e starke Vertretung der Großstadt Warschau ergibt.<br />

In <strong>den</strong> Protokollen trifft der Leser auf sehr unterschiedliche (Über-) Lebenswege – <strong>in</strong> Gettos und<br />

Lagern, auf der „arischen Seite“ mit e<strong>in</strong>er angenommenen nichtjüdischen I<strong>den</strong>tität, <strong>in</strong> Kellern bei<br />

Polen versteckt, <strong>in</strong> jüdischen Waldlagern, ja sogar als Deutsche getarnt! Plastisch wer<strong>den</strong> die schwierigen<br />

Bed<strong>in</strong>gungen, unter <strong>den</strong>en e<strong>in</strong> falsches Wort <strong>den</strong> Tod bedeuten konnte, dem Leser nähergebracht.<br />

Teilweise mussten diese K<strong>in</strong>der <strong>den</strong> gewaltsamen Tod von engen Familienmitgliedern selbst unmittelbar<br />

miterleben, meist konnten sie selbst nur durch e<strong>in</strong>e Kette von äußerst glücklichen Umstän<strong>den</strong>


159 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

überleben. Dabei kommt es immer wieder zu verschie<strong>den</strong>sten, <strong>in</strong> anderen Quellen nur schwer zu f<strong>in</strong><strong>den</strong><strong>den</strong><br />

E<strong>in</strong>blicken <strong>in</strong> <strong>den</strong> Alltag <strong>in</strong> dieser extremen Situation. So berichtet Seweryn Dobrecki (geboren<br />

1936) davon, wie er als Pole getarnt mit polnischen K<strong>in</strong>dern beim „Ju<strong>den</strong>spielen“ dem betteln<strong>den</strong><br />

„Ju<strong>den</strong>mädchen“ e<strong>in</strong> Stück Brot verweigern muss, um ke<strong>in</strong>e Zweifel über se<strong>in</strong>e Tarni<strong>den</strong>tität aufkommen<br />

zu lassen. Sehr stark konnte besonders das Verhältnis zu polnischen und ukra<strong>in</strong>ischen „Beherbergern“<br />

schwanken; <strong>in</strong> mehreren Berichten ist sogar von (<strong>in</strong> diesen Fällen) gescheiterten Tötungsversuchen<br />

der von Angst belasteten „Wirte“ die Rede. Daneben s<strong>in</strong>d die Berichte auch Quellen <strong>für</strong><br />

die unmittelbare Nachkriegszeit, <strong>in</strong> der die K<strong>in</strong>der oft auf abenteuerlichen Wegen <strong>in</strong> Heime, auch <strong>in</strong><br />

<strong>den</strong> neuen polnischen Westgebieten, kamen.<br />

Obwohl die Quellen im Rahmen e<strong>in</strong>es Interviewvorhabens entstan<strong>den</strong>, differiert der Charakter der<br />

Texte doch stark, sodass dem Leser sehr unterschiedliche Texte präsentiert wer<strong>den</strong>. Neben kurzen<br />

telegrammartigen Zusammenfassungen stehen lange Berichte, neben Nacherzählungen <strong>in</strong> der dritten<br />

Person durch <strong>den</strong> Interviewer (<strong>in</strong>sbesondere bei sehr jungen K<strong>in</strong>dern) stehen gänzlich selbst vom<br />

K<strong>in</strong>d konzipierte Berichte. Nützliche Anhänge wie e<strong>in</strong> ausführliches, die E<strong>in</strong>zeldokumentkommentierung<br />

ergänzendes Glossar, ausgewählte Faksimiles sowie e<strong>in</strong> tief greifendes Orts- und Sachregister<br />

run<strong>den</strong> <strong>den</strong> Band ab.<br />

Die Quellenauswahl erlaubt es, sich vom Schicksal der schutzlosesten Opfer des systematischen<br />

Massenmordprogramms der Nationalsozialisten anhand von e<strong>in</strong>drücklichen Zeugenaussagen der wenigen<br />

überleben<strong>den</strong> jüdischen K<strong>in</strong>der e<strong>in</strong> Bild zu machen. Dabei erhält der Leser die Gelegenheit, sich<br />

mit e<strong>in</strong>igen der wichtigsten geografischen Räume des Holocaust <strong>in</strong> Ostmitteleuropa zu beschäftigen,<br />

deren Geschichte im deutschen Sprachraum <strong>in</strong> der Allgeme<strong>in</strong>heit noch wenig bekannt ist. Der vergleichsweise<br />

günstige Preis sowie die angekündigten zusätzlichen pädagogischen Begleitmaterialien<br />

lassen <strong>den</strong> Band neben der Nutzung durch das Fach- und das allgeme<strong>in</strong>e, historisch <strong>in</strong>teressierte Publikum<br />

gerade <strong>für</strong> <strong>den</strong> Gebrauch <strong>in</strong> allen Bildungsbereichen, darunter <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> Schulen, besonders<br />

geeignet ersche<strong>in</strong>en.<br />

Anmerkung:<br />

[1] Er entstand unter Mitarbeit von Edyta Kurek, Jürgen Hensel, Dennis Riffel und Michaela<br />

Christ, als (praktisch immer überaus kundige, <strong>den</strong> jeweiligen Duktus erhaltende) Übersetzer der<br />

meist, aber nicht ausschließlich polnischsprachigen Quellen wirkten Jürgen Hensel, Herbert Ulrich<br />

und Maciej Wójcicki. Getragen wurde die Veröffentlichung von Gegen Vergessen – Für<br />

Demokratie e.V. geme<strong>in</strong>sam mit dem Jüdischen Historischen <strong>Institut</strong> <strong>in</strong> Warschau und der Universität<br />

Leipzig, gefördert wurde sie von der Stiftung Er<strong>in</strong>nerung, Verantwortung und Zukunft.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


Wolfram Wette/Detlef Vogel (Hrsg.): Das letzte Tabu. NS-Militärjustiz und „Kriegsverrat“.<br />

Unter Mitarbeit von Ricarda Berthold und Helmut Kramer. Mit e<strong>in</strong>em Vorwort von Manfred<br />

Messerschmidt, Berl<strong>in</strong>: Aufbau-Verlag 2007, 507 S., 30 Abb., ISBN 978-3-351-02654-7,<br />

EUR 24,95<br />

Rezensiert von Jürgen Zarusky<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 3<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/03/14004.html<br />

E<strong>in</strong>en „Appell an <strong>den</strong> Gesetzgeber“ nennt Manfred Messerschmidt,<br />

der Nestor der deutschen Militärgeschichtsschreibung,<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Vorwort die Dokumentation „Das letzte Tabu“.<br />

Das <strong>in</strong> Rede stehende Tabu sehen die Herausgeber dar<strong>in</strong>, dass<br />

<strong>in</strong> dem 1998 verabschiedeten und 2002 novellierten „Gesetz<br />

zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile <strong>in</strong> der<br />

Strafrechtspflege“ (NS-AufhG) zwar die Entscheidungen des<br />

Volksgerichtshofes, der Standgerichte sowie gerichtsunabhängig<br />

Urteile aufgehoben wer<strong>den</strong>, die auf <strong>in</strong>sgesamt 59 nationalsozialistischen<br />

Strafnormen beruhen, nicht jedoch Entscheidungen<br />

gemäß Paragraf 57 Militärstrafgesetzbuch, dem<br />

sogenannten Kriegsverrat. Ziel des Buches ist es, zu zeigen,<br />

dass damit zahlreiche widerständige Soldaten rechtlich diskrim<strong>in</strong>iert<br />

wer<strong>den</strong>, weil hier <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Rehabilitierung nach wie<br />

vor e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>zelfallprüfung erforderlich ist. Wette und se<strong>in</strong>e<br />

Mitstreiter ordnen <strong>den</strong> „Kriegsverrat“ und se<strong>in</strong>e Nichtaufhebung<br />

e<strong>in</strong> <strong>in</strong> die lange Geschichte der über 1945 fortdauern<strong>den</strong><br />

Abstempelung von Widerständlern – <strong>in</strong>sbesondere solchen<br />

aus der politischen L<strong>in</strong>ken und unteren sozialen Schichten –<br />

als „Verräter“, deren Verhalten ke<strong>in</strong>e Anerkennung verdiene.<br />

Helmut Kramer veranschaulicht das beispielhaft am Verhalten<br />

der Staatsanwaltschaft Lüneburg gegenüber der unmittelbar nach Kriegsende erstatteten Strafanzeige<br />

des früheren preußischen Kultusm<strong>in</strong>isters Adolf Grimme und anderer Überlebender der<br />

„Roten Kapelle“ gegen ihren e<strong>in</strong>stigen Ankläger Manfred Roeder. Die Staatsanwaltschaft Lüneburg<br />

lieferte 1951 e<strong>in</strong>e über tausendseitige Vorlage <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>stellungsverfügung, deren Aussagen und<br />

Tonlage Roland Freisler <strong>in</strong> der Hölle e<strong>in</strong> zufrie<strong>den</strong>es Gr<strong>in</strong>sen entlockt haben müssen. Wette kommt<br />

zu dem Schluss, „dass die meisten Fälle von ‚Kriegsverratʻ politisch oder moralisch/ethisch motiviert<br />

waren“ und sieht daher die Nichtaufhebung dieser Urteile <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er L<strong>in</strong>ie mit der langjährigen<br />

Diskrim<strong>in</strong>ierung von Opfern der NS-Justiz. Die von der Bundesjustizm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong> 2006 bekräftigte<br />

Gegenposition geht h<strong>in</strong>gegen davon aus, es sei nicht auszuschließen, dass als „Kriegsverrat“ auch<br />

Taten verurteilt wur<strong>den</strong>, bei <strong>den</strong>en es um die Gefährdung des Lebens e<strong>in</strong>er Vielzahl von Soldaten<br />

g<strong>in</strong>g.


161 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Der <strong>in</strong> Paragraf 57 des Militärstrafgesetzbuches def<strong>in</strong>ierte „Kriegsverrat“ war ke<strong>in</strong> eigenständiger<br />

Straftatbestand, sondern nahm Bezug auf <strong>den</strong> Paragraf 91 b des Strafgesetzbuches. Diese 1934 e<strong>in</strong>geführte,<br />

zum Komplex „Landesverrat“ gehörige Bestimmung über die „Fe<strong>in</strong>dbegünstigung“ stellte<br />

es unter Strafe, während e<strong>in</strong>es Krieges oder <strong>in</strong> Beziehung auf e<strong>in</strong>en drohen<strong>den</strong> Krieg „der fe<strong>in</strong>dlichen<br />

Macht Vorschub“ zu leisten oder „der Kriegsmacht des Reiches oder se<strong>in</strong>er Bundesgenossen<br />

e<strong>in</strong>en Nachteil zuzufügen“. Der om<strong>in</strong>öse Paragraf 57 lautete kurz und knapp: „Wer im Felde e<strong>in</strong>en<br />

Landesverrat nach Paragraf 91 b des Strafgesetzbuchs begeht, wird wegen Kriegsverrats mit dem<br />

Tode bestraft.“ Das Spezifische am „Kriegsverrat“ war also, dass er Militärangehörige betraf und<br />

das Strafmaß zw<strong>in</strong>gend auf die Todesstrafe festlegte. Die extreme Strafandrohung und die äußerst<br />

unbestimmten und weit auslegbaren Tatbestandsmerkmale des Paragraf 91 b StGB machten <strong>den</strong> Paragraf<br />

57 des Militärstrafgesetzbuches zu e<strong>in</strong>em nationalsozialistischen Mustergesetz. E<strong>in</strong>e „weite<br />

Auslegung“ der ohneh<strong>in</strong> schon wenig scharf umrissenen Bestimmungen forderte <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em MStGB-<br />

Kommentar der Militärjurist Erich Schw<strong>in</strong>ge, nach dem Krieg langjähriger Dekan der juristischen<br />

Fakultät der Universität Marburg und bis <strong>in</strong> die 1990er Jahre h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er der aktivsten Apologeten<br />

der nationalsozialistischen Militärjustiz.<br />

„Das letzte Tabu“ veranschaulicht anhand von 39 Fallakten die Breite des als „Kriegsverrat“<br />

sanktionierten Handelns. Wolfram Wette stellt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er knappen E<strong>in</strong>leitung die Rechtspraxis der NS-<br />

Zeit vor und gibt an späterer Stelle zusammen mit Ricarda Bertold e<strong>in</strong>e Übersicht über die Fallgruppen.<br />

E<strong>in</strong>en großen Anteil haben dabei Fälle von politischem Widerstand. Dokumentiert s<strong>in</strong>d etwa<br />

Urteile gegen Mitglieder der „Roten Kapelle“ und e<strong>in</strong>e Reihe österreichischer Kommunisten. Mehrfach<br />

geht es um Unterstützung <strong>für</strong> Kriegsgefangene, etwa <strong>in</strong> dem Falle des Jesuiten Robert Albrecht,<br />

der im Stalag III D als Dolmetscher <strong>für</strong> die britischen Kriegsgefangenen diente und sich gegen die<br />

völkerrechtswidrige Praxis wandte, die Araber unter ihnen zu lebensgefährlichen Spionagediensten<br />

<strong>für</strong> das Deutsche Reich anzuwerben, und der auch das Verhungernlassen russischer Kriegsgefangener<br />

beklagte. Dokumentiert wer<strong>den</strong> ferner der Fall e<strong>in</strong>es Soldaten, der 1944 dreizehn Ju<strong>den</strong> aus Ungarn,<br />

wo Eichmanns Mörderkommando am Werk war, nach Rumänien schmuggeln wollte, außerdem<br />

Versuche, zu gegnerischen Partisanen überzulaufen, aber auch die Verurteilung e<strong>in</strong>es Wehrmachtangehörigen,<br />

der <strong>in</strong> Krakau der „fe<strong>in</strong>dlichen Kriegsmacht Vorschub leistete“, <strong>in</strong>dem er versuchte,<br />

zwei Pistolen gegen e<strong>in</strong> Paar Damenstiefel e<strong>in</strong>zutauschen und dabei an V-Leute der Polizei geriet.<br />

Besonders bemerkenswert ist e<strong>in</strong> Rundschreiben des Chefs des Heerespersonalamts im OKH, General<br />

Burgdorf, vom 2. August 1944, <strong>in</strong> dem über das <strong>in</strong> Abwesenheit ergangene Todesurteil des<br />

Reichskriegsgerichts gegen General Walther von Seydlitz wegen se<strong>in</strong>er Beteiligung am „Nationalkomitee<br />

Freies Deutschland“ <strong>in</strong>formiert und erklärt wird, „dass jeder Soldat, der sich <strong>in</strong> <strong>den</strong> Dienst<br />

des Fe<strong>in</strong>des stellt, se<strong>in</strong> und se<strong>in</strong>er Familie Leben verwirkt hat“ (268). Darüber seien alle Soldaten zu<br />

<strong>in</strong>formieren.<br />

Unter <strong>den</strong> wiedergegebenen Dokumenten dom<strong>in</strong>ieren Urteile des Reichskriegsgerichts, darunter,<br />

was <strong>in</strong> der Regel auch kenntlich gemacht wird, 18 zuerst <strong>in</strong> der vom Rezensenten geme<strong>in</strong>sam mit<br />

Hartmut Mehr<strong>in</strong>ger erarbeiteten Mikrofiche-Edition „Widerstand als ‚Hochverratʻ 1933–1945“ veröffentlichte<br />

Fälle. [1] In diesen Fällen war der vom NS-AufhG erfasste „Hochverrat“ der ausschlaggebende<br />

Urteilsgrund. Diese Urteile eignen sich aber wenig zur Illustration e<strong>in</strong>es „letzten Tabus“,<br />

weil sie durch das Gesetz bereits aufgehoben s<strong>in</strong>d. Denn dessen Paragraf 3 sieht bei Verurteilungen, die<br />

sich auf mehrere Strafvorschriften stützen, e<strong>in</strong>e Gesamtaufhebung vor. Doch auch bei der Mehrzahl<br />

der verbleiben<strong>den</strong> Beispiele geht es um widerständiges Verhalten – und um Urteile von erschreckender<br />

ideologisch bed<strong>in</strong>gter Brutalität. Neben dem Reichs- waren auch die Feldkriegsgerichte mit dem<br />

Kriegsverrat befasst. Während die nicht sehr umfangreiche Rechtsprechung des Reichskriegsgerichts<br />

<strong>in</strong> KV-Sachen e<strong>in</strong>igermaßen gut überschaubar ist, s<strong>in</strong>d die im Militärarchiv <strong>in</strong> Freiburg lagern<strong>den</strong><br />

rund 180.000 Fallakten der Feldkriegsgerichte bisher weder e<strong>in</strong>gehend erschlossen noch untersucht.<br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


162 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Die Aufhebungsdebatte bezieht sich daher <strong>in</strong> erheblichem Maße auf gegensätzliche Mutmaßungen<br />

darüber, was <strong>in</strong> dieser Aktenmasse noch zu f<strong>in</strong><strong>den</strong> se<strong>in</strong> könnte.<br />

Ob es nun wirklich e<strong>in</strong> „letztes Tabu“ aufzuheben gilt, beschäftigt auch <strong>den</strong> deutschen Bundestag.<br />

Infolge e<strong>in</strong>es Antrags der Fraktion der ‚L<strong>in</strong>kenʻ wurde das Thema im Mai 2007 im Plenum und e<strong>in</strong><br />

Jahr später bei e<strong>in</strong>er öffentlichen Expertenanhörung des Rechtsausschusses behandelt, ohne dass es<br />

bisher zu e<strong>in</strong>er endgültigen Entschließung gekommen wäre. [2] Im Rechtsausschuss war das hier besprochene<br />

Buch e<strong>in</strong> ständiger Bezugspunkt. Rolf-Dieter Müller, Wissenschaftlicher Direktor am Militärgeschichtlichen<br />

Forschungsamt <strong>in</strong> Potsdam, und Sönke Neitzel, Militärhistoriker von der Universität<br />

Ma<strong>in</strong>z, bezweifelten unter H<strong>in</strong>weis auf die nicht ausgewerteten Akten der Feldkriegsgerichte<br />

die Repräsentativität der von Wette/Vogel angeführten Fälle und führten <strong>in</strong>sgesamt vier konkrete<br />

Gegenbeispiele an. Müller verwies außerdem auf nicht näher spezifizierte Kommandounternehmen<br />

von NKFD-Anhängern, die <strong>in</strong> deutscher Uniform durchgeführt wur<strong>den</strong>. Allerd<strong>in</strong>gs gab es unter <strong>den</strong><br />

angeführten Beispielen nur e<strong>in</strong>e tatsächliche Verurteilung wegen Kriegsverrats (und Desertion),<br />

<strong>den</strong>n – wie sich später herausstellte – der von Müller als moralisch besonders verwerfliches Beispiel<br />

angeführte General Feucht<strong>in</strong>ger war nicht wegen Kriegsverrat, sondern wegen Wehrkraftzersetzung<br />

verurteilt wor<strong>den</strong> – und damit durch das Aufhebungsgesetz bereits rehabilitiert. [3] Neitzel wiederum<br />

führte als Beleg <strong>für</strong> die These, Kriegsverrat habe <strong>den</strong> Tod deutscher Soldaten zur Folge haben<br />

können, zwei Fälle von Überläufern an, die Briten und Amerikanern wertvolle militärische Informationen<br />

übermittelt und diesen damit erfolgreiche Angriffsoperationen ermöglicht hatten. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

haben die Betreffen<strong>den</strong> nie vor e<strong>in</strong>em deutschen Kriegsgericht gestan<strong>den</strong>; die E<strong>in</strong>stufung ihres Verhaltens<br />

als „Kriegsverrat“ erfolgte durch <strong>den</strong> Experten. Auf e<strong>in</strong> ähnliches Vorgehen trifft man auch<br />

bei Wette, der „Fälle von unentdecktem Kriegsverrat“ anführt (35ff.). Ob es die Aufgabe des Historikers<br />

se<strong>in</strong> kann, das justiziell nicht geahndete Verhalten von deutschen Militärangehörigen des<br />

Zweiten Weltkriegs unter die Normen des Militärstrafgesetzbuchs zu subsumieren, kann man <strong>in</strong>des<br />

bezweifeln, zumal <strong>für</strong> Nichtverurteilte die Aufhebung von Urteilen ohneh<strong>in</strong> irrelevant ist.<br />

Wissenschaftlich führt der Versuch, <strong>den</strong> noch sehr unvollständigen Kenntnisstand über die Justizpraxis<br />

h<strong>in</strong>sichtlich des „Kriegsverrats“ durch jeweils „geeignete“ Beispiele zu kompensieren, nicht<br />

weiter. Wenn man es genau wissen wollte, müsste man an die 180.000 nicht erschlossenen Feldkriegsgerichtsakten<br />

heranziehen, von <strong>den</strong>en Wette annimmt, dass sie nicht mehr als e<strong>in</strong> Prozent Kriegsverratsfälle<br />

enthalten. Dieses Aktenstudium, so wen<strong>den</strong> die Be<strong>für</strong>worter der Pauschalaufhebung e<strong>in</strong>,<br />

könne Jahrzehnte <strong>in</strong> Anspruch nehmen. Und es liefe natürlich letztlich auf die E<strong>in</strong>zelfallprüfung h<strong>in</strong>aus.<br />

Manches an der Debatte mutet paradox an. So ist die eigentliche Strafnorm, der Paragraf 91 b des<br />

Reichsstrafgesetzbuches aufgehoben und dem Paragraf 57 MStGB damit die Grundlage entzogen.<br />

„In welchen Wolken unseres Rechtshimmels schwebt diese Vorschrift?“, fragte Manfred Messerschmidt<br />

im Rechtsausschuss, ohne e<strong>in</strong>e Antwort zu erhalten. Ferner kann das Argument der Gefährdung<br />

deutscher Soldaten, das gegen e<strong>in</strong>e Pauschalaufhebung angeführt wird, natürlich auch <strong>für</strong> zivile<br />

Spione gelten. 1943 verurteilte der Volksgerichtshof unter Freisler e<strong>in</strong>en Oberschlesier zum Tode,<br />

der von 1924 bis 1928 <strong>für</strong> <strong>den</strong> polnischen Nachrichtendienst gearbeitet hatte, und begründete dies<br />

u.a. damit, dass die weitergegebenen Informationen möglicherweise <strong>in</strong> ihrer Fortwirkung 1939 im<br />

Polenkrieg deutschen Soldaten das Leben gekostet hätten. [4] Dieses Urteil ist, wie sämtliche Urteile<br />

des Volksgerichtshofs, aufgehoben, darunter auch e<strong>in</strong>e ganze Reihe von Entscheidungen <strong>in</strong> Spionagefällen,<br />

bei <strong>den</strong>en f<strong>in</strong>anzielle Motive ausschlaggebend waren. Hier war <strong>für</strong> <strong>den</strong> Gesetzgeber offenbar<br />

die mangelnde Rechtsstaatlichkeit des schon 1985 vom Bundestag als Terror<strong>in</strong>strument e<strong>in</strong>gestuften<br />

Volksgerichtshofs ausschlaggebend. Bei der Militärjustiz stand es <strong>in</strong>des mit der Rechtsstaatlichkeit<br />

nicht viel besser. Letzten Endes ist es sehr fraglich, ob es e<strong>in</strong>e juristisch astre<strong>in</strong>e Aufarbeitung der<br />

Justiz des nationalsozialistischen Unrechtsstaats überhaupt geben kann. Hier s<strong>in</strong>d politische Ent-<br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


163 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

scheidungen gefragt. Was <strong>den</strong> Kriegsverrat betrifft, lauten die Alternativen: Pauschale Aufhebung<br />

mit der Gefahr „echte“ Verräter zu rehabilitieren (wie das <strong>für</strong> die zivile Gerichtsbarkeit schon geschehen<br />

ist) oder Beibehaltung der E<strong>in</strong>zelfallprüfung mit der Gefahr, dass möglicherweise Widerstandskämpfer<br />

oder Ju<strong>den</strong>helfer auf unbestimmte Zeit h<strong>in</strong>aus als verurteilte Straftäter geführt wer<strong>den</strong>.<br />

Da e<strong>in</strong>e solche Weitergeltung nationalsozialistischen Unrechts von ke<strong>in</strong>em rechtlich <strong>den</strong>ken<strong>den</strong><br />

Deutschen gewünscht wer<strong>den</strong> kann, stehen im Grunde die Gegner der Pauschallösung verstärkt <strong>in</strong><br />

der Pflicht, das zu tun, was sie bisher weitgehend deren Be<strong>für</strong>wortern überlassen haben, nämlich die<br />

Geschichte der als „Kriegsverräter“ verurteilten Gegner des NS-Regimes aufzuarbeiten.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Widerstand als „Hochverrat“ 1933–1945. Die Verfahren gegen deutsche Reichsangehörige vor<br />

dem Reichsgericht, dem Volksgerichtshof und dem Reichskriegsgericht, Erschließungsband zur<br />

Mikrofiche-Edition, im Auftrag des <strong>Institut</strong>s <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong> bearbeitet von Jürgen Zarusky<br />

und Hartmut Mehr<strong>in</strong>ger, München 1994–1998, seit 2006 auch im Rahmen der Onl<strong>in</strong>e-Datenbank<br />

„Nationalsozialismus, Holocaust, Widerstand und Exil 1933–1945“ des K. G. Saur-Verlags<br />

zugänglich. Wette moniert, dass <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>leitung zum Erschließungsband Kriegsverrat<br />

nicht eigens behandelt wurde und me<strong>in</strong>t, die Frage, ob das auf e<strong>in</strong>e „unterschiedliche politische<br />

Bewertung dieser Tatbestände“ zurückzuführen sei, müsse offen bleiben (26). Tatsächlich ist<br />

die Frage leicht zu beantworten: Der Zuschnitt der Edition auf <strong>den</strong> „Hochverrat“ erklärt sich<br />

– wie auch <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>leitung dargelegt wird – daraus, dass der Hochverratstatbestand schon <strong>in</strong><br />

der Frühzeit des NS-Regimes so umformuliert wor<strong>den</strong> war, dass damit jegliche organisierte<br />

Form von politischen, d.h. auf <strong>den</strong> Sturz des Regimes gerichteten Widerstandes erfasst wer<strong>den</strong><br />

konnte. Diese Def<strong>in</strong>itionen be<strong>in</strong>halten ke<strong>in</strong>erlei Wertung oder gar Abwertung von anderen Formen<br />

des Widerstandes. Kriegsverrat wird <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>leitung im Abschnitt über die dem Hochverrat<br />

„benachbarten“ Straftatbestände nicht erörtert, weil es sich nicht um e<strong>in</strong>e eigenständige<br />

Strafnorm handelte, sondern nur um die strafverschärfte Übertragung der „Fe<strong>in</strong>dbegünstigung“<br />

<strong>in</strong>s Militärstrafgesetzbuch. Die „Fe<strong>in</strong>dbegünstigung“ als Teil des Landesverratskomplexes wird<br />

selbst verständlich behandelt; vgl. Jürgen Zarusky: E<strong>in</strong>leitung, <strong>in</strong>: Widerstand als „Hochverrat“<br />

1933–1945, Erschließungsband, München 1998, 11-44, hier 23ff.<br />

[2] Die Re<strong>den</strong> der Abgeordneten, die Expertisen und das Wortprotokoll der Anhörung im Rechtsausschuss<br />

s<strong>in</strong>d über <strong>den</strong> Dokumentenserver des Bundestags zugänglich.<br />

[3] Helmut Kramer: Rückfall <strong>in</strong> Verdrängung und Schuldabwehr. Letzter Versuch zur Ehrenrettung<br />

der Wehrmachtjustiz, Dezember 2008. http://kramerwf.de/Rueckfall-<strong>in</strong>-Verdraengung-und-<br />

Schuldabwehr.215.0.html<br />

[4] Walter Wagner: Der Volksgerichtshof im nationalsozialistischen Staat, Stuttgart 1974, 229.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


Michael Wildt: Geschichte des Nationalsozialismus (= Grundkurs Neue Geschichte), Stuttgart:<br />

UTB 2008, 219 S., ISBN 978-3-8252-2914-6, EUR 14,90<br />

Rezensiert von Bernhard Gotto<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 6<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/06/15161.html<br />

E<strong>in</strong>führungen <strong>in</strong> die Geschichte des Nationalsozialismus gibt<br />

es viele. Die bei<strong>den</strong> jüngsten setzen auf die Fachkompetenz<br />

unterschiedlicher Autoren, die <strong>den</strong> immensen Stoff, welchen<br />

die NS-Forschung zusammengetragen hat, <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelbeiträgen<br />

bewältigen. [1] Überblicksdarstellungen aus e<strong>in</strong>er Feder existieren<br />

etwa <strong>in</strong> <strong>den</strong> Reihen Enzyklopädie Deutscher Geschichte<br />

und Grundriss der Geschichte; beide Bücher s<strong>in</strong>d 2001 bzw.<br />

2003 neu aufgelegt wor<strong>den</strong>, <strong>in</strong> ihrer Grundkonzeption jedoch<br />

schon deutlich älter. [2] Alle diese Bücher richten sich an<br />

Stu<strong>den</strong>ten und wollen e<strong>in</strong>en fundierten E<strong>in</strong>stieg <strong>in</strong> die NS-<br />

Geschichte sowie deren Erforschung bieten.<br />

Mit diesem Anspruch tritt auch der Band der noch ziemlich<br />

jungen Reihe „Grundkurs Neue Geschichte“ von UTB<br />

auf. Sie ist <strong>in</strong> die „Bachelor-Bibliothek“ <strong>in</strong>tegriert, die mit<br />

Blick auf <strong>den</strong> Bologna-Prozess konzipiert wor<strong>den</strong> ist. Was<br />

das konkret bedeutet, wird mit Blick auf <strong>den</strong> knappen Umfang<br />

von 219 Seiten deutlich: Reduktion. Didaktisierende Elemente<br />

(Kästen mit Quellenauszügen, Kapitelzusammenfassungen,<br />

Begriffserläuterungen, Grafiken, Schaubilder), die die<br />

Reihe vorsieht, sucht der Leser im Band über <strong>den</strong> Nationalsozialismus vergeblich. Auch die laut<br />

UTB „obligatorischen“ Sach-, Namens- und Ortsregister fehlen; weiterführende Literatur wird lediglich<br />

aufgezählt, nicht, wie auf der Verlagsseite versprochen, kommentiert. Der Band unterläuft also<br />

die Standards, die die Reihe sich setzt. Er hätte außerdem e<strong>in</strong> sorgfältigeres Lektorat verdient gehabt;<br />

an mehreren Stellen s<strong>in</strong>d grammatische Satzbrüche und Tippfehler stehen geblieben.<br />

Als zusätzlichen Service bietet die Verlagsgeme<strong>in</strong>schaft auf ihren Internetseiten Quellen an, die<br />

die Leser herunterla<strong>den</strong> können. Zu Wildts Buch s<strong>in</strong>d es fünf Quellen, die leider nicht fehlerfrei digitalisiert<br />

wor<strong>den</strong> s<strong>in</strong>d. Vier von ihnen s<strong>in</strong>d zudem auch auf mehreren anderen Internetplattformen verfügbar,<br />

die Quellen zur Geschichte des Nationalsozialismus bereitstellen.<br />

All diese Mängel kann man dem Autor nicht vorwerfen. Wildt schildert differenziert, präzise und<br />

anschaulich, setzt kluge Schwerpunkte und – mit die größte Leistung angesichts des knappen Umfangs<br />

– vernachlässigt weder zentrale Themen noch wichtige Perspektiven der jüngeren NS-Forschung,<br />

beispielsweise die Rolle von Frauen im Nationalsozialismus. Schon alle<strong>in</strong> die Konzentration<br />

und die Auswahl verdienen Respekt und Lob. Doch Wildt geht es um mehr. Er verdichtet se<strong>in</strong>e Darstellung<br />

analytisch auf das Konzept h<strong>in</strong>, das die deutsche NS-Forschung mehr und mehr zum Leit-


165 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

stern erhebt: die „Volksgeme<strong>in</strong>schaft“. Das ist weiter nicht verwunderlich, ist der Autor doch selbst<br />

e<strong>in</strong>er der Wortführer derer, die im „Volksgeme<strong>in</strong>schafts“-Konzept e<strong>in</strong>en Angelpunkt <strong>für</strong> das Verständnis<br />

des Nationalsozialismus erblicken. Zahlreiche Beispiele, vor allem aber zentrale Kategorien<br />

s<strong>in</strong>d dem Leser von Wildts „Volksgeme<strong>in</strong>schaft als Selbstermächtigung“ [3] vertraut. Ins Zentrum<br />

des hier besprochenen Buches stellt der Autor Inklusion, Exklusion, Selektion und Gewalt (15). Den<br />

entschei<strong>den</strong><strong>den</strong> Unterschied, der <strong>den</strong> Nationalsozialismus von anderen nationalistischen und antisemitischen<br />

Strömungen abhob, erblickt er im „Antisemitismus der Tat“ (20) und der Bereitschaft<br />

bzw. dem Programm, die Gesellschaft durch Gewalt zu verändern („Politik der Gewalt“, 22). Antisemitische<br />

Gewalt sei zugleich e<strong>in</strong> Mittel gewesen, um die „Volksgeme<strong>in</strong>schaft“ herzustellen, als<br />

auch deren Zweck, der <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ju<strong>den</strong>freien Europa bestan<strong>den</strong> habe (113f.) – das ist Wildts Kernthese<br />

aus „Volksgeme<strong>in</strong>schaft als Selbstermächtigung“.<br />

Das Kapitel über die ersten sechs Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft ist mit „Volksgeme<strong>in</strong>schaft“<br />

überschrieben, dem Zentralthema von Wildts Interpretation. Viel Raum bleibt nicht, um dies<br />

neben <strong>den</strong> Eckdaten der <strong>in</strong>neren Entwicklung Deutschlands auszuführen. Wildt breitet das Spektrum<br />

der Betreuungsaktivitäten seitens DAF, KdF und NSV aus, um zu illustrieren, dass die Volksgeme<strong>in</strong>schaftspolitik<br />

Millionen Menschen erreicht und ihnen „reale und nicht nur propagandistische Verbesserungen<br />

der Lebens- und Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen“ gebracht habe (94, ganz ähnlich 105). Dadurch<br />

seien die Klassenschranken zwar nicht niedergerissen wor<strong>den</strong>, die Aufstiegsmöglichkeiten und die<br />

Leistungsbereitschaft aber <strong>den</strong>noch gewachsen. Wildt verweist auch auf die Erziehungsabsichten<br />

dieser Großorganisationen wie auch von HJ und BDM (104), führt diesen Aspekt jedoch kaum aus.<br />

Er betont die „symbolische Dimension und die Kraft von Zukunftsversprechen“ (106), die der<br />

Volksgeme<strong>in</strong>schaftspolitik zum Erfolg verholfen hätten. Als Pendant zu solchen Inklusionsmechanismen<br />

beschreibt Wildt antijüdische Gewalt an zahlreichen Beispielen aus fast allen Teilen des Reiches<br />

mit vielen Details und lässt so e<strong>in</strong> schreckliches Panorama von der Alltäglichkeit und Allgegenwart<br />

dieser Gewalt entstehen.<br />

Die Frage, was aus der „Volksgeme<strong>in</strong>schaft“ im Krieg wurde, lässt der Autor im Wesentlichen<br />

unbeantwortet. Das liegt vor allem daran, dass er sich da<strong>für</strong> kaum auf entsprechend zugespitzte Forschungsergebnisse<br />

stützen kann. Der Autor beschränkt sich <strong>in</strong> gewohnt souveräner Manier darauf,<br />

die wichtigsten Stränge Kriegsverlauf und Ju<strong>den</strong>vernichtung sowie die daran geknüpften Debatten<br />

um Zeitpunkt, Auslöser und Täter der Schoah herauszuarbeiten. Wie schon zuvor wer<strong>den</strong> neuere<br />

Perspektiven der Forschung, beispielsweise die Frage, wie viel die Deutschen von <strong>den</strong> Massenvernichtungen<br />

wussten, kurz angerissen. In e<strong>in</strong>em kurzen Epilog lässt Wildt die Volksgeme<strong>in</strong>schaft <strong>in</strong><br />

der Bundesrepublik fortleben – beschränkt auf ihre Inklusionsmechanismen und „vergesellschaftet“<br />

(211) <strong>in</strong> die Konsumwelt der Nachkriegszeit.<br />

Es wäre beckmesserisch, an dieser <strong>in</strong>sgesamt sehr gelungenen E<strong>in</strong>führung Detailkritik zu üben,<br />

oder zu bekritteln, dass dieser oder jener Aspekt zu kurz geraten sei. Ob <strong>den</strong> Stu<strong>den</strong>ten mit e<strong>in</strong>er<br />

weiteren E<strong>in</strong>stiegsdarstellung zum Nationalsozialismus gedient ist oder nicht, muss sich an zwei Kriterien<br />

messen lassen. Das erste ist die Angemessenheit der Form. Verlangt der Bologna-Prozess e<strong>in</strong>e<br />

derartige Reduktion? Der Rezensent f<strong>in</strong>det – aber darüber lässt sich streiten –, dass es gerade am Anfang<br />

e<strong>in</strong>es Geschichtsstudiums Stu<strong>den</strong>ten nicht zuzumuten ist, sich zentrale Themen und Fragestellungen<br />

e<strong>in</strong>er Epoche derart rasch und daher oberflächlich aneignen zu sollen, wie das mit e<strong>in</strong>er „Bachelor“-Taschenausgabe<br />

notwendig geschieht. Mit verhältnismäßig ger<strong>in</strong>gem Mehraufwand an Leseleistung<br />

ist deutlich mehr Verständnis und Reflexion zu erreichen; die genannten Sammelbände von<br />

2008 s<strong>in</strong>d da<strong>für</strong> bestens geeignet. Ohne Vorwissen oder spätere vertiefende Lektüre wird kaum jemand<br />

verstehen, was alles im Text von Michael Wildt steckt. Das zweite Kriterium ist die Tragfähigkeit<br />

des Interpretationsansatzes. Das Buch bleibt <strong>den</strong> Nachweis schuldig, dass der Nationalsozialismus<br />

als „Volksgeme<strong>in</strong>schaft“ <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en wesentlichen Zügen beschrieben und erklärt wer<strong>den</strong> kann.<br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


166 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Da<strong>für</strong> s<strong>in</strong>d weitere Forschungen nötig, die diese Perspektive vor allem <strong>für</strong> <strong>den</strong> Zweiten Weltkrieg<br />

aufgreifen. Wildt zeigt jedoch sehr deutlich, was das Volksgeme<strong>in</strong>schafts-Paradigma leistet: Es erklärt<br />

die Anziehungskraft, <strong>den</strong> der Nationalsozialismus ausübte, zeigt die <strong>in</strong>nere Logik auf, die zwischen<br />

Verbrechen und Verlockung stand, und bettet ihn zudem ideengeschichtlich e<strong>in</strong>. Insofern ist<br />

Michael Wildts Buch trotz der Grenzen, an die es stößt, richtungweisend.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Dietmar Süß/W<strong>in</strong>fried Süß (Hrsg.): Das „Dritte Reich“. E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>führung, München 2008; Jane<br />

Caplan (Hrsg.): Nazi Germany, Oxford/New York 2008.<br />

[2] Ulrich von Hehl: Nationalsozialistische Herrschaft, München 2001 (Erstauflage 1994); Klaus<br />

Hildebrand: Das Dritte Reich, München 2003 (Erstauflage 1979).<br />

[3] Michael Wildt: Volksgeme<strong>in</strong>schaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Ju<strong>den</strong> <strong>in</strong> der deutschen<br />

Prov<strong>in</strong>z 1919–1939, Hamburg 2007.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg


Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte<br />

Robert Allertz: Die RAF und das MfS. Fakten und Fiktionen. In Zusammenarbeit<br />

mit Gerhard Neiber, Berl<strong>in</strong>: Das Neue Berl<strong>in</strong> 2008, 224 S., ISBN 978-3-360-01090-2,<br />

EUR 14,90<br />

Rezensiert von Tobias Hof<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/05/15516.html<br />

Unmittelbar nach der deutschen Wiedervere<strong>in</strong>igung war <strong>in</strong><br />

der Öffentlichkeit von e<strong>in</strong>er engen Kooperation zwischen<br />

dem M<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> Staatssicherheit (MfS) und der Roten<br />

Armee Fraktion (RAF) die Rede. Aufgrund der schwierigen<br />

Quellenlage fehlt zwar bislang e<strong>in</strong>e umfassende Monografie<br />

über dieses Thema, aber Wissenschaftler unterschiedlicher<br />

Diszipl<strong>in</strong>en haben sich <strong>in</strong> zahlreichen Aufsätzen über die möglichen<br />

ideellen und materiellen Verb<strong>in</strong>dungen zwischen dem<br />

DDR-Geheimdienst und <strong>den</strong> westdeutschen Terroristen geäußert.<br />

So besteht mittlerweile e<strong>in</strong> breiter Konsens darüber,<br />

dass die vermutete aktive Förderung der RAF durch das MfS<br />

überschätzt wurde. Vielmehr nahm das MfS gegenüber <strong>den</strong><br />

Terroristen wohl e<strong>in</strong>e passive Rolle e<strong>in</strong>, <strong>in</strong>dem Terroristen die<br />

Durchreise gewährt wurde oder Aussteiger <strong>in</strong> die Gesellschaft<br />

der DDR <strong>in</strong>tegriert wur<strong>den</strong>.<br />

Im Jahr 2008 legte Robert Allertz se<strong>in</strong> Buch „Die RAF und<br />

das MfS“ vor. Allertz, Diplomjournalist und Reserveoffizier,<br />

ist als freier Publizist tätig und steht dem „Insiderkomitee zur<br />

Förderung der kritischen Aneignung der Geschichte des MfS“<br />

nahe, das Mitarbeiter des MfS <strong>in</strong>s Leben gerufen haben. Das<br />

Buch be<strong>in</strong>haltet Interviews, die er mit ehemaligen Mitarbeitern des MfS führte und Aufsätze, die unter<br />

anderem von Gerhard Neiber, dem ehemaligen Stellvertreter des M<strong>in</strong>isters <strong>für</strong> Staatssicherheit, und<br />

Gerhard Plomann, e<strong>in</strong>em engen Mitarbeiter Neibers, stammen. Abgeschlossen wird das Werk durch<br />

e<strong>in</strong>en von Allertz verfassten Nachruf auf Neiber, der am 13. Februar 2008 verstarb. Aufgrund der<br />

gesamten Anlage des Buches muss Allertz mehr als Herausgeber <strong>den</strong>n als Verfasser gelten.<br />

Dem vom Titel suggerierten Thema widmen sich die verschie<strong>den</strong>en Beiträge freilich kaum und<br />

wenn, so wird e<strong>in</strong>e aktive Zusammenarbeit zwischen MfS und RAF stets verne<strong>in</strong>t. Lediglich die Aussteigerprogramme<br />

„Stern I“ und „Stern II“ wer<strong>den</strong> näher beschrieben: Ehemalige Terroristen erhielten<br />

die Staatsbürgerschaft der DDR sowie neue I<strong>den</strong>titäten. Sie wur<strong>den</strong> nicht an die Bundesrepublik


168 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

ausgeliefert, da zwischen bei<strong>den</strong> deutschen Staaten ke<strong>in</strong> Rechtshilfeabkommen bestan<strong>den</strong> habe und<br />

e<strong>in</strong>e Auslieferung von Staatsbürgern der DDR e<strong>in</strong> Bruch der Verfassung gewesen wäre.<br />

Wesentlich mehr Informationen bietet das Buch über die <strong>in</strong>ternationale terroristische Szene nach<br />

dem Olympiaattentat von 1972, wie sie das MfS wahrnahm, und über die Gegenmaßnahmen, die das<br />

M<strong>in</strong>isterium e<strong>in</strong>leitete. Dabei wer<strong>den</strong> E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> die strukturellen Veränderungen der Behörde und<br />

<strong>in</strong> die Vorstellungen über <strong>den</strong> Terrorismus geboten, <strong>den</strong> man als gesellschaftliche Folge von Kapitalismus<br />

und Imperialismus def<strong>in</strong>ierte – gezielt gesteuert von <strong>den</strong> westlichen Geheimdiensten, um die<br />

Errichtung e<strong>in</strong>es Polizeistaats zu rechtfertigen. Mit <strong>den</strong> „humanistischen Grundanliegen des Sozialismus“<br />

(84) sei der Terrorismus h<strong>in</strong>gegen unvere<strong>in</strong>bar gewesen. Ferner sei wegen der Wachsamkeit<br />

des MfS, <strong>den</strong> gesellschaftlichen Verhältnissen und der Wachsamkeit der Bürger die terroristische<br />

Gefahr <strong>in</strong> der DDR ger<strong>in</strong>g gewesen. Dieses Interpretationsmuster wird auch nicht verlassen, wenn<br />

Bezug zu Ereignissen vom Zweiten Weltkrieg bis heute genommen wird: So sei unter anderem der<br />

Staatsterror des stal<strong>in</strong>istischen Regimes e<strong>in</strong>e legitime Abwehrreaktion gegen subversive, vom Westen<br />

unterstützte Gruppen gewesen. Auch die Geschehnisse nach dem 11. September 2001 wür<strong>den</strong> beweisen,<br />

dass Krieg und Terror die zentralen politischen Mittel des Westens seien. Denn schließlich<br />

gebe es ke<strong>in</strong>en „Unterschied zwischen dem Überfall auf <strong>den</strong> Sender Gleiwitz und <strong>den</strong> auf e<strong>in</strong> Hochhaus<br />

der Hochf<strong>in</strong>anz.“ (71)<br />

Den Anspruch, Fakten von Fiktionen zu trennen, erfüllt das Buch zu ke<strong>in</strong>er Zeit. Es liefert weder<br />

neue Erkenntnisse, noch wer<strong>den</strong> die teils abstrusen Thesen stichhaltig belegt. Auch die angekündigten<br />

Dokumente bleibt Allertz schuldig. Die abgebildeten Fotokopien von Akten der Bundesbehörde<br />

<strong>für</strong> die Stasiunterlagen sollen diese Lücke sche<strong>in</strong>bar kaschieren, enthalten jedoch ke<strong>in</strong>erlei verwertbaren<br />

Informationen. Die vielfach zitierte Sekundärliteratur – unter anderem von Andreas von Bülow<br />

und Gerhard Feldbauer [1] – ist darüber h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong> der Forschung umstritten.<br />

Allertz bietet <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie führen<strong>den</strong> Funktionären des M<strong>in</strong>isteriums <strong>für</strong> Staatssicherheit e<strong>in</strong>e<br />

Plattform, um ihre e<strong>in</strong>stige Arbeit zu rechtfertigen und <strong>in</strong> e<strong>in</strong> positives Licht zu rücken. Ziel des Buches<br />

ist es, das MfS als e<strong>in</strong>en „ganz normalen Geheimdienst“ darzustellen, se<strong>in</strong>e Arbeit und Mitarbeiter<br />

zu rehabilitieren und ihn gegenüber <strong>den</strong> westlichen Geheimdiensten moralisch zu überhöhen.<br />

Des Weiteren ist e<strong>in</strong>e Sympathie mit <strong>den</strong> sozialrevolutionären terroristischen Gruppen <strong>in</strong> ihrem<br />

Kampf gegen <strong>den</strong> bundesdeutschen „Polizeistaat“, der immer wieder als Erbe des ‚Dritten Reichesʻ<br />

dargestellt wird, zu erkennen. E<strong>in</strong>e derart euphemistische und ideologisch gefärbte Darstellung<br />

wirkt heute nicht nur deplatziert und anachronistisch, sondern lässt die Forschungsliteratur über die<br />

DDR und die Arbeit des MfS vollkommen außer Acht.<br />

Der ideologisch verklärende Blick beschränkt sich zum allgeme<strong>in</strong>en Ärgernis jedoch nicht nur auf<br />

die Arbeit des DDR-Geheimdiensts. Vielmehr wer<strong>den</strong> gebetsmühlenartig Verschwörungstheorien zu<br />

<strong>den</strong> Ereignissen seit 1945 ohne Belege angeführt. Dabei zeugt die Äußerung von Allertz, dass e<strong>in</strong><br />

Anschlag wie <strong>in</strong> New York <strong>in</strong> der DDR dank der Arbeit des MfS nicht möglich gewesen wäre, nicht<br />

nur von e<strong>in</strong>er ebenso naiven wie verzerrten Weltsicht, sondern auch von se<strong>in</strong>er Unkenntnis über <strong>den</strong><br />

<strong>in</strong>ternationalen Terrorismus.<br />

Trotz dieser großen Schwächen liefert das Buch zwischen <strong>den</strong> Zeilen vere<strong>in</strong>zelt <strong>in</strong>teressante E<strong>in</strong>blicke<br />

<strong>in</strong> die Organisationsstruktur des M<strong>in</strong>isteriums <strong>für</strong> Staatssicherheit. So wird detailliert der<br />

Aufbau der Hauptabteilung XXII geschildert, die mit der Abwehr des Terrorismus betraut war. Auch<br />

die Darstellung der Aussteigerprogramme besitzt Substanz. Die These von ihrer herausragen<strong>den</strong><br />

Bedeutung <strong>für</strong> das Ende der RAF, wie dies <strong>in</strong>sbesondere Neiber und Plomann behaupten, ist mit<br />

Sicherheit nicht haltbar, sollte aber nicht gänzlich als bloße Propaganda abgetan wer<strong>den</strong>. Denn gerade<br />

das Beispiel der Anti-Terrorismus-Politik Italiens zeigt, dass die gesellschaftliche Re<strong>in</strong>tegration ehemaliger<br />

Terroristen e<strong>in</strong> wichtiger Bestandteil e<strong>in</strong>er erfolgreichen Gegenstrategie se<strong>in</strong> kann.<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


169 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Die wenigen positiven E<strong>in</strong>drücke können die Mängel des Buches bei Weitem nicht abmildern geschweige<br />

<strong>den</strong>n ausgleichen. Wer sich über die Kooperation zwischen MfS und RAF e<strong>in</strong>en Überblick<br />

verschaffen möchte, kann dieses Buch getrost übergehen. Ihm seien lieber Arbeiten anerkannter Experten<br />

wie Tobias Wunschik oder Michael Ploetz empfohlen. [2] Wer jedoch e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>druck darüber<br />

gew<strong>in</strong>nen möchte, wie ehemalige Mitarbeiter des MfS versuchen, ihre e<strong>in</strong>stige Arbeit zu verklären<br />

und sich zu rehabilitieren, dem wird es nicht erspart bleiben, sich mit diesem Band ause<strong>in</strong>anderzusetzen.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Vgl. Andreas von Bülow: Im Namen des Staates – CIA, BND und die krim<strong>in</strong>ellen Machenschaften<br />

der Geheimdienste, München 1998; Gerhard Feldbauer: Agenten, Terror, Staatskomplott.<br />

Der Mord an Aldo Moro, Rote Briga<strong>den</strong> und CIA, Köln 2000.<br />

[2] Tobias Wunschik: Das M<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> Staatssicherheit und der Terrorismus <strong>in</strong> Deutschland, <strong>in</strong>:<br />

Diktaturen <strong>in</strong> Europa im 20. Jahrhundert – der Fall DDR, hrsg. von He<strong>in</strong>er Timmermann, Berl<strong>in</strong><br />

1996, 289-302; Michael Ploetz: Mit RAF, Roten Briga<strong>den</strong> und Action Directe. Terrorismus und<br />

Rechtsextremismus <strong>in</strong> der Strategie von SED und KPdSU, <strong>in</strong>: Zeitschrift des Forschungsverbundes<br />

SED-Staat 22 (2007), 117-144.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Wolfgang Benz: Auftrag Demokratie. Die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik und die<br />

Entstehung der DDR 1945–1949, Berl<strong>in</strong>: Metropol 2009, 528 S., ISBN 978-3-940938-42-8, EUR<br />

29,90<br />

Rezensiert von Heike Amos<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 12<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/12/16308.html<br />

Wolfgang Benz verfolgt mit se<strong>in</strong>er jüngst erschienenen Monographie<br />

das Ziel, im geschichtsträchtigen Jubiläumsjahr 2009<br />

die „<strong>in</strong> <strong>den</strong> Schatten gedrängte Kenntnis über die Entstehungs-<br />

und Gründungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland<br />

(BRD) wie der Deutschen Demokratischen Republik<br />

(DDR)“ wieder hervorzuholen. Benz kritisiert, dass sich <strong>in</strong> der<br />

öffentlichen Me<strong>in</strong>ung die „griffige Metapher von der ‚Stunde<br />

Nullʻ“, die sich vom Zusammenbruch des NS-Regimes im Mai<br />

1945 bis zu <strong>den</strong> bei<strong>den</strong> Staatsgründungen im September bzw.<br />

im Oktober 1949 ausgedehnt haben soll, zur „bequemen Legende“<br />

(9, 478) gewor<strong>den</strong> sei. Die Entwicklung im Vier-<br />

Zonen-Deutschland unter alliierter Besatzungsherrschaft „wäre<br />

dann reduziert auf <strong>den</strong> verme<strong>in</strong>tlich selbstverursachten Wiederaufbauerfolg<br />

im Westen“ und die „selbstgefällige moralische<br />

Überlegenheit im Osten“ (9), mit dem „praktizierten<br />

Antifaschismus“ die richtigen Lehren aus der Geschichte<br />

gezogen zu haben. Die unangenehmen Assoziationen der Besatzungszeit<br />

– Hunger und Flüchtl<strong>in</strong>gsnot, Demontage und<br />

Entnazifizierung, Demut, Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit<br />

bei <strong>den</strong> Deutschen – wür<strong>den</strong> lieber verdrängt als wahrgenommen. Auf alliierte Weisung nämlich<br />

wurde <strong>in</strong> Deutschland Demokratie gegründet: im Westen durch Wahlen, durch legitimierte parlamentarische<br />

Repräsentation, im Osten als „antifaschistisch-demokratisches“ Ordnungsmodell auf<br />

Weisung Moskaus. Damit seien aber, so Benz, die Ergebnisse der bei<strong>den</strong> Staatsgründungen noch<br />

nicht vorweggenommen, weder der ökonomische und politische Erfolg der BRD noch das Scheitern<br />

der DDR: „Nach unterschiedlichen Konzeptionen <strong>in</strong>s Leben getreten, hatten beide deutsche Staaten<br />

die Chance des Neubeg<strong>in</strong>ns [...] Aber weder war die BRD zum Restaurationsregime determ<strong>in</strong>iert<br />

noch musste die DDR sich zwangsläufig zur stal<strong>in</strong>istischen Diktatur entwickeln.“ (10)<br />

Wolfgang Benz will mit se<strong>in</strong>em Buch die dramatischen Entstehungsbed<strong>in</strong>gungen, die politischen<br />

und ökonomischen Strukturen der bei<strong>den</strong> Staatsgründungen nachzeichnen und damit e<strong>in</strong>er „Legen<strong>den</strong>-<br />

und Mythenbildung“ (10, 477) entgegenwirken. In sieben Kapiteln – Besatzungsherrschaft 1945/46,<br />

Bizone, Marshallplan und Währungsreform im Westen, Volkskongreßbewegung und Berl<strong>in</strong>-<br />

Blockade im Osten, Weg zum Grundgesetz, Bundestagswahlkampf, zwei Staatsgründungen – wird<br />

dargestellt, wie sich auf vielen Handlungsebenen Wiederaufbau und Neubau im Vier-Zonen-<br />

Deutschland unter alliierten Vorgaben und Kontrollen vollzog.


171 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Der rechtsstaatliche Weg wurde <strong>den</strong> Deutschen im Westen von <strong>den</strong> Westalliierten förmlich aufgedrängt,<br />

so Benz. Es habe e<strong>in</strong>en „Auftrag Demokratie“ gegeben, dem oft westdeutscher Widerstand<br />

entgegentrat. E<strong>in</strong> Beispiel da<strong>für</strong> war die Neugestaltung des Rundfunksystems, das die Alliierten gegen<br />

die deutschen Vorstellungen e<strong>in</strong>führten und über dessen Funktionieren sie bis 1955 wachten.<br />

Die (West)deutschen wollten zwar e<strong>in</strong> Art „Propagandam<strong>in</strong>isterium“ vermei<strong>den</strong>, konnten sich e<strong>in</strong>en<br />

öffentlichen Rundfunk ohne staatliche Kontrolle jedoch nicht vorstellen. Aus Großbritannien und<br />

<strong>den</strong> USA wurde das Konzept der Unabhängigkeit des Rundfunks vom Staat und die Dezentralisierung<br />

der Sender und Radiostationen e<strong>in</strong>geführt. Für öffentlich-rechtliche Anstalten, die nicht dem Zugriff<br />

des Staatsapparates ausgesetzt waren, gab es <strong>in</strong> Deutschland ke<strong>in</strong>e Vorbilder. In der SBZ entwickelte<br />

die SMAD h<strong>in</strong>gegen <strong>den</strong> Rundfunk zur Lenkung der öffentlichen Me<strong>in</strong>ung; die Kontrolle des zentralisierten<br />

Mediums erfolgte dann durch e<strong>in</strong>e Abteilung der Ost-Berl<strong>in</strong>er SED-Zentrale.<br />

Auch angesichts des alliierten Auftrags zur Weststaatsgründung (Frankfurter Dokumente) sowie<br />

bei <strong>den</strong> Beratungen und der Verabschiedung des Grundgesetzes als Verfassung e<strong>in</strong>es westdeutschen<br />

Staates regte sich zunächst Widerstand bei allen Parteienvertretern: Westdeutsche Politiker wollten<br />

das Odium und die Verantwortung der Spaltung Deutschlands nicht auf sich nehmen.<br />

Irritierend bei der Lektüre der Studie s<strong>in</strong>d Sätze bzw. ganze Absätze, die wortwörtlich an verschie<strong>den</strong>en<br />

Stellen der Darstellung wiederholt wer<strong>den</strong> (95, 96, 98, 141, 144, 217 usw.). So schien<br />

Benz der halbseitige Absatz – die rhetorische Frage und Antwort danach, warum es von Seiten der<br />

Deutschen gegen die Besatzungsmächte nirgendwo und nirgendwann zu nennenswerten Aktivitäten,<br />

Sabotage oder Widerstandshandlungen gekommen sei – so wichtig, dass er zwei Mal <strong>in</strong> verschie<strong>den</strong>en<br />

Zusammenhängen auftaucht (95, 217).<br />

Während der Weg zur Errichtung der Bundesrepublik detailliert, faktenreich und archivgestützt<br />

erörtert wird – u. a. lassen längere Zitate von Zeitzeugen auch e<strong>in</strong>en Blick auf die deutsche Bef<strong>in</strong>dlichkeit<br />

unter der Besatzung zu –, gilt dies <strong>für</strong> die dargestellten Ereignisse sowie die politisch Handeln<strong>den</strong><br />

<strong>in</strong> der SBZ nicht. Nicht nur quantitativ gesehen geht Benz allzu schnell und undifferenziert<br />

über die ostdeutsche Nachkriegsgeschichte h<strong>in</strong>weg, auch se<strong>in</strong>e Literaturnachweise verwundern. [1]<br />

Der Leser gew<strong>in</strong>nt <strong>den</strong> E<strong>in</strong>druck, als habe der Autor die Forschungsliteratur zur SBZ/DDR-<br />

Geschichte der letzten zwanzig Jahre nicht wahrgenommen. An verschie<strong>den</strong>en Textstellen behauptet<br />

er sogar, es existieren noch ke<strong>in</strong>e Forschungsergebnisse über bestimmten Themenfelder – wie über<br />

die Schaffung und Stal<strong>in</strong>isierung der SED, über <strong>den</strong> Gründungsprozess der DDR oder zur ostdeutschen<br />

Verfassungsdiskussion. In e<strong>in</strong>em anderen Textabschnitt wird erklärt, die Höhe der Reparationsleistungen<br />

aus der SBZ an die Sowjetunion sei unbekannt, um dann e<strong>in</strong>ige Seiten weiter darüber zu<br />

referieren und neue Forschungsliteratur anzugeben! Memoiren von ostdeutschen oder sowjetischen<br />

Politikern wer<strong>den</strong> ebenso wie Biographien über diese nicht berücksichtigt.<br />

Wolfgang Benz fasst mit se<strong>in</strong>em neuen Buch Ergebnisse aus drei Jahrzehnten eigener Forschung<br />

zur deutschen Nachkriegsgeschichte zusammen. Die Studie ist sicher e<strong>in</strong> Standardwerk zur Vorgeschichte<br />

der Bundesrepublik. Als Standardwerk zur Gründungsgeschichte der DDR kann es h<strong>in</strong>gegen<br />

nicht bezeichnet wer<strong>den</strong>.<br />

Anmerkung:<br />

[1] Oft zitiert Benz: Autorenkollektiv unter Leitung von Rolf Badstübner: Geschichte der Deutschen<br />

Demokratischen Republik, Berl<strong>in</strong> (Ost) 1981; Rolf Badstübner: DDR. Wer<strong>den</strong> und Wachsen.<br />

Zur Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik, Frankfurt a. M. 1975; Wolfgang Me<strong>in</strong>icke:<br />

Die Entnazifizierung <strong>in</strong> der sowjetischen Besatzungszone 1945 bis 1948, <strong>in</strong>: ZfG 32 (1984),<br />

968-979; Hermann Weber, Geschichte der DDR, München 1985.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Daniel Cohn-Bendit/Rüdiger Dammann (Hrsg.): 1968. Die Revolte, Frankfurt a.M.: S. Fischer<br />

2007, 255 S., ISBN 978-3-10-010230-0, EUR 14,90<br />

Gerd Koenen/Andreas Veiel: 1968. Bildspur e<strong>in</strong>es Jahres, Köln: Fackelträger Verlag GmbH<br />

2008, 192 S., 200 abb., ISBN 978-3-7716-4359-1, EUR 29,95<br />

Wolfgang Kraushaar: Achtundsechzig. E<strong>in</strong>e Bilanz, Berl<strong>in</strong>/München: Propyläen 2008, 333 S.,<br />

ISBN 978-3-549-07334-6, EUR 19,90<br />

Re<strong>in</strong>hard Mohr: Der diskrete Charme der Rebellion. E<strong>in</strong> Leben mit <strong>den</strong> 68ern, Berl<strong>in</strong>: Wolf<br />

Jobst Siedler jr. 2008, 238 S., ISBN 978-3-937989-31-0, EUR 19,90<br />

Albrecht von Lucke: 68 oder neues Biedermeier. Der Kampf um die Deutungsmacht, Berl<strong>in</strong>:<br />

Wagenbach 2008, 91 S., ISBN 978-3-8031-2582-8, EUR 9,90<br />

Ingrid Gilcher-Holtey: 1968. E<strong>in</strong>e Zeitreise (= edition suhrkamp; 2535), Frankfurt/M.:<br />

Suhrkamp Verlag 2008, 236 S., ISBN 978-3-518-12535-9, EUR 10,00<br />

Norbert Frei: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München: dtv 2008, 286 S., ISBN 978-<br />

3-423-24653-8, EUR 15,00<br />

Stefan Wolle: Der Traum von der Revolte. Die DDR 1968, Berl<strong>in</strong>: Christoph L<strong>in</strong>ks Verlag<br />

2008, 256 S., ISBN 978-3-86153-469-3, EUR 19,90<br />

Rezensiert von Udo Wengst<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München–Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 1<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/01/14414.html<br />

„1968“, d.h. die Revolte der Stu<strong>den</strong>ten an <strong>den</strong> Hochschulen <strong>in</strong> zahlreichen – vor allem – westlichen<br />

Staaten, gehört zu <strong>den</strong> Ereignissen, die im historischen Gedächtnis der jeweiligen Gesellschaften tiefe<br />

Spuren h<strong>in</strong>terlassen haben. Wie bei anderen ähnlichen Zäsuren – z.B. das Ende des Zweiten Weltkrieges<br />

oder der Fall der Berl<strong>in</strong>er Mauer – führt dies dazu, dass im Abstand von 20, 30, 40 usw. Jahren<br />

das jeweilige Thema von <strong>den</strong> Medien erneut <strong>in</strong> die Öffentlichkeit gebracht wird und die Verlage bemüht<br />

s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>schlägige historische Werke auf <strong>den</strong> Markt zu werfen. Insbesondere die <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

ist daher mitunter <strong>in</strong> der Gefahr, zu e<strong>in</strong>er „Jubiläumswissenschaft“ zu wer<strong>den</strong>, an der sich Historiker<br />

deshalb gern beteiligen, weil sie damit auf e<strong>in</strong>e größere Resonanz als üblich <strong>in</strong> der Öffentlichkeit<br />

stoßen und höhere Verkaufszahlen <strong>für</strong> ihre Werke erzielen. „1968“ ist darüber h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong>sofern e<strong>in</strong><br />

Sonderfall, als e<strong>in</strong>ige Akteure der damaligen Zeit herausgehobene Positionen erlangt haben oder<br />

aber selbst zu Historikern gewor<strong>den</strong> s<strong>in</strong>d, die sich ausgiebig mit der eigenen Vergangenheit <strong>in</strong> ihren<br />

„wil<strong>den</strong> Jahren“ ause<strong>in</strong>andersetzen. Bei <strong>den</strong> im Folgen<strong>den</strong> zu besprechen<strong>den</strong> Büchern handelt es<br />

sich um e<strong>in</strong>e Auswahl von Werken, die verschie<strong>den</strong>en Typen von Geschichtsschreibung zuzuordnen<br />

s<strong>in</strong>d.


173 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Da ist zunächst die Er<strong>in</strong>nerungsliteratur, <strong>für</strong> die e<strong>in</strong> Sammelband<br />

steht, <strong>den</strong> Daniel Cohn-Bendit – damals e<strong>in</strong> führender<br />

„68er“ <strong>in</strong> Paris und heute Europa-Abgeordneter der Grünen<br />

– und Rüdiger Dammann herausgegeben haben. Die Beiträge<br />

zeichnen durchweg e<strong>in</strong> positives Bild von <strong>den</strong> „68ern“<br />

und ihrer Wirkung auf Politik und Gesellschaft. Wer nach<br />

Differenzierung sucht, wird <strong>in</strong> dem Band selten fündig. Es<br />

dom<strong>in</strong>ieren E<strong>in</strong>schätzungen, die allzu platt und e<strong>in</strong>seitig und<br />

wissenschaftlich längst überholt s<strong>in</strong>d (z.B. die Reduzierung<br />

der Ära A<strong>den</strong>auer auf Wiederbewaffnung und Restauration,<br />

Gabriele Gillen, 110; oder die These, dass die Ohrfeige, die<br />

Beate Klarsfeld Bundeskanzler Kies<strong>in</strong>ger versetzte, als „Beg<strong>in</strong>n<br />

e<strong>in</strong>er offenen Ause<strong>in</strong>andersetzung mit der Verleugnung<br />

der NS-Zeit“ zu bewerten sei, Wolfgang Schmidbauer, 165).<br />

Dagegen fällt der Beitrag von Gerd Koenen weitaus differenzierter<br />

aus, wenn er z.B. feststellt, dass der „Vorwurf der Re-<br />

stauration [...] nur sehr begrenzt die gesellschaftlichen Realitäten<br />

dieses Provisoriums e<strong>in</strong>er Republik“ traf (145) und außerdem die „Dritte-Welt-Politik“ der<br />

„68er“ deutlich kritisiert.<br />

Gerd Koenen, der von 1967 bis Ende der 1980er Jahre nach eigenen Angaben „das volle Programm<br />

des l<strong>in</strong>ksradikalen Aktivismus“ absolvierte (Klappentext) und heute als Geschichtsschreiber der<br />

bundesdeutschen und <strong>in</strong>ternationalen L<strong>in</strong>ken (u.a. Das rote Jahrzehnt. Unsere kle<strong>in</strong>e deutsche Kulturrevolution<br />

1967–1977) wirkt, hat auch die E<strong>in</strong>leitung zu e<strong>in</strong>em bee<strong>in</strong>drucken<strong>den</strong> Bildband „1968. Bildspur<br />

e<strong>in</strong>es Jahres“ geschrieben, die unter dem Titel „Me<strong>in</strong> 1968“ steht. Auch hier<strong>in</strong> ist das Bemühen<br />

um e<strong>in</strong>e differenzierende Darstellung unverkennbar, aber ebenso<br />

die Parte<strong>in</strong>ahme <strong>für</strong> die „68er“.<br />

Als Zeitzeuge, weniger als Akteur bezeichnet sich Wolfgang<br />

Kraushaar, der ab September 1968 an der Universität<br />

Frankfurt am Ma<strong>in</strong> studierte, <strong>den</strong> Trägern der stu<strong>den</strong>tischen<br />

Revolte zum<strong>in</strong>dest nahe stand und heute als Historiker mit<br />

dem Forschungsschwerpunkt „Protestbewegungen <strong>in</strong> der Bundesrepublik<br />

und <strong>in</strong> der DDR“ am Hamburger <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Sozialforschung<br />

arbeitet. Er hat unter der Überschrift „Achtundsechzig“<br />

e<strong>in</strong>e umfassende Darstellung vorgelegt, die die Entstehung,<br />

die Aktionen, Personen und Kampagnen sowie die<br />

Wirkungen der Revolte e<strong>in</strong>er analytischen Betrachtung unterzieht.<br />

Bei allem immer wieder zum Ausdruck gebrachten<br />

Verständnis und Wohlwollen <strong>für</strong> die „68er“ schlägt Kraushaar<br />

aber auch kritische Töne an. So verweist er z.B. darauf, dass<br />

„aktivistische Teile der 68er“ von der „Kulturrevolution“ <strong>in</strong><br />

Ch<strong>in</strong>a begeistert gewesen seien, die Kraushaar als „totalitäre<br />

und blutrünstige Kampagne“ bezeichnet (116f.). Ebenso stellt<br />

er nachdrücklich fest, dass die Ant<strong>in</strong>otstandskampagne der<br />

„68er“ nicht auf die Verbesserung der vorliegen<strong>den</strong> Entwürfe<br />

abzielte, sondern e<strong>in</strong>en Angriff auf <strong>den</strong> Verfassungsstaat selbst<br />

darstellte (174). Differenziert fällt auch das abschließende Urteil Kraushaars über <strong>den</strong> Erfolg der<br />

„68er“ aus. Er gesteht ihr – im Gegensatz zur mehrheitlich vertretenen Me<strong>in</strong>ung – zu, politische<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


174 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Teilerfolge erzielt zu haben, wobei er allerd<strong>in</strong>gs mit letztlich nicht belegbaren Vermutungen operiert,<br />

was Ausdrücke wie „womöglich“, „vermutlich“ (287f.) belegen. Dagegen bewertet er die Bilanz der<br />

„68er“ <strong>in</strong> soziokultureller H<strong>in</strong>sicht negativer, da sie nicht nur <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en „starken Reformimpuls“<br />

stün<strong>den</strong>, „sondern zugleich auch <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en fundamentalen Angriff auf die Gesellschaft als e<strong>in</strong>en Traditionszusammenhang<br />

von I<strong>den</strong>titätsmustern, Werten und<br />

Mentalitäten“ (288).<br />

Mit Re<strong>in</strong>hard Mohr und Albrecht von Lucke ist auf zwei<br />

Autoren e<strong>in</strong>zugehen, die nicht mehr zur „68er“-Generation<br />

gehören und als Journalisten arbeiten. Ihre bei<strong>den</strong> Werke<br />

„Der diskrete Charme der Rebellion“ und „68 oder neues<br />

Biedermeier“ lassen sich aber trotz aller Differenzierungsversuche<br />

als Sympathiebezeugungen <strong>für</strong> die „68er“ e<strong>in</strong>schätzen.<br />

Beide Bücher s<strong>in</strong>d Sachbücher eher feuilletonistischer Machart,<br />

wobei Mohr sich im Wesentlichen auf die Ereignisse Ende<br />

der 1960er Jahre konzentriert, während Albrecht von Lucke<br />

e<strong>in</strong>en Essay über die Jahre von 1967 bis 2007/2008 geschrieben<br />

hat, <strong>in</strong> dem er sich mit dem „Kampf um die Deutungsmacht“<br />

ause<strong>in</strong>andersetzt. Sowohl Mohr als auch von Lucke<br />

s<strong>in</strong>d von der herausragen<strong>den</strong> Bedeutung von „1968“ überzeugt.<br />

So sagt der erste, „dass die Revolte zwischen 1967 und 1969<br />

tatsächlich e<strong>in</strong>e folgenreiche Zäsur der deutschen Nachkriegsgeschichte<br />

war, nur vergleichbar mit Mauerfall und Wiedervere<strong>in</strong>igung<br />

1989/90“ (15), und der zweite hält „1968“ <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e<br />

„Zäsur, die <strong>in</strong> ihren traumatischen Folgen bis heute nachwirkt“<br />

(7). Mohr führt die „Liberalisierung und Modernisierung<br />

der Gesellschaft“ der Bundesrepublik seit <strong>den</strong> 1960er Jahren auf das Wirken der „68er“ zurück<br />

(238) und von Lucke stellt ohne E<strong>in</strong>schränkung fest, dass „1968“ <strong>in</strong> allen Bereichen und weit über<br />

das l<strong>in</strong>ke Spektrum h<strong>in</strong>aus <strong>für</strong> <strong>den</strong> „Beg<strong>in</strong>n gesellschaftlicher Emanzipation und politischer Partizipation“<br />

stand (78).<br />

Zum Abschluss s<strong>in</strong>d die Werke von Historikern vorzustellen, die selbst nicht zur 68er-Generation<br />

gehören und sich – von Zeitzeugenschaft im eigentlichen S<strong>in</strong>n unbee<strong>in</strong>flusst – als Wissenschaftler<br />

mit dem Thema ause<strong>in</strong>andersetzen. An erster Stelle ist dies Ingrid Gilcher-Holtey, Zeithistoriker<strong>in</strong><br />

an der Universität Bielefeld, die schon mehrere Werke über „68“ publiziert hat. An zweiter Stelle ist<br />

Norbert Frei zu nennen, Zeithistoriker an der Universität Jena und bisher nicht durch Veröffentlichungen<br />

über die „68er“ ausgewiesen. Schließlich soll noch auf e<strong>in</strong> Buch von Stefan Wolle e<strong>in</strong>gegangen<br />

wer<strong>den</strong>, Mitarbeiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der FU Berl<strong>in</strong> und Spezialist <strong>für</strong><br />

die DDR-Geschichte. Dementsprechend hat er sich auch alle<strong>in</strong> mit der DDR 1968 beschäftigt. Im<br />

Unterschied zu Wolle versuchen Ingrid Gilcher-Holtey und Norbert Frei das Thema <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er globalen<br />

Dimension zu erfassen und dies auf begrenztem Raum abzuhandeln. In bei<strong>den</strong> Fällen handelt es<br />

sich nicht um orig<strong>in</strong>äre Forschungsbeiträge, sondern um Bilanzierungen auf der Basis noch ungenügender<br />

Forschungsergebnisse, wobei beide Autoren ihre Werke gänzlich unterschiedlich angelegt<br />

haben.<br />

Ingrid Gilcher-Holtey, die wie die meisten der bisher genannten Autoren davon überzeugt ist, dass<br />

„1968 e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>schnitt [...] <strong>in</strong> der <strong>Zeitgeschichte</strong> nach 1945“ markiert (8), unternimmt <strong>in</strong> ihrem<br />

Werk e<strong>in</strong>e „Zeitreise“ durch das Jahr 1968. Sie schildert e<strong>in</strong>en Ablauf von Szenen, porträtiert die<br />

jeweiligen Akteure und bezieht, da sie „1968“ mit Recht als „globales Phänomen“ versteht, neben<br />

der Bundesrepublik nicht nur die westlichen Industriestaaten, sondern auch die ch<strong>in</strong>esische „Kultur-<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


175 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

revolution“ und <strong>den</strong> „Prager Frühl<strong>in</strong>g“ <strong>in</strong> ihre Darstellung e<strong>in</strong>. Auf diese Weise gel<strong>in</strong>gt es ihr <strong>in</strong> der<br />

Tat auf bee<strong>in</strong>druckende Weise, „1968“ <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en weltweiten Zusammenhängen zu veranschaulichen<br />

und die Revolte als Signum dieses Jahres an vielen Stellen <strong>in</strong><br />

der Welt deutlich zu machen und dabei auch die über die jeweiligen<br />

Grenzen h<strong>in</strong>ausgehende Zusammenarbeit wichtiger<br />

Akteure <strong>in</strong> <strong>den</strong> Blick zu nehmen. Dabei kommt die Analyse<br />

wichtiger Zusammenhänge nicht zu kurz und ebenso gel<strong>in</strong>gt<br />

es ihr, wichtige Unterschiede herauszuarbeiten (z.B. die Differenzen<br />

im Denken der Stu<strong>den</strong>tenopposition <strong>in</strong> Ost und West,<br />

120f.). Ingrid Gilcher-Holtey hält mit ihrer (vielleicht) zu positiven<br />

Bewertung der „68er“ nicht h<strong>in</strong>ter dem Berg (202f.),<br />

zeigt aber e<strong>in</strong>e bemerkenswerte Zurückhaltung, wenn es darum<br />

geht, deren E<strong>in</strong>fluss auf die „Fundamental-Liberalisierung<br />

und Demokratisierung der Gesellschaft“ der Bundesrepublik<br />

seit <strong>den</strong> 1960er Jahren – die sie unterstellt – zu bestimmen.<br />

Sie hält es nämlich nicht <strong>für</strong> möglich, <strong>den</strong> eigenständigen Beitrag<br />

„sozialer Bewegungen auf politische, soziale und kulturelle<br />

Entwicklungen“ zu isolieren (206).<br />

Wie Ingrid Gilcher-Holtey will auch Norbert Frei <strong>den</strong> „globalen<br />

Protest“ behandeln. Dabei geht er allerd<strong>in</strong>gs völlig anders<br />

und sehr konventionell vor. Ausgehend von <strong>den</strong> Ereignissen<br />

<strong>in</strong> Paris im Mai 1968 (22 Seiten), schildert er auf doppelt<br />

so vielen Seiten <strong>den</strong> Protest <strong>in</strong> <strong>den</strong> USA („Am Anfang war Amerika“), um dann auf 75 Seiten noch<br />

deutlich ausführlicher auf die Bundesrepublik Deutschland e<strong>in</strong>zugehen („E<strong>in</strong> deutscher Sonderweg?“).<br />

Hierauf folgen Abrisse <strong>in</strong> der Länge von sechs bis<br />

zehn Seiten der jeweiligen „Proteste“ <strong>in</strong> <strong>den</strong> Ländern des<br />

Westens (Japan, Italien, Niederlande und Großbritannien) und<br />

der „Bewegung im Osten“ (Tschechoslowakei, Polen und die<br />

DDR). Die Dom<strong>in</strong>anz Deutschlands f<strong>in</strong>det sich auch im Epilog<br />

wieder, <strong>in</strong> dem Norbert Frei <strong>den</strong> Schwerpunkt auf die<br />

„bundesdeutsche Bilanz“ legt. Überzeugend ist diese Gliederung<br />

beileibe nicht, da sie die bundesrepublikanische Entwicklung<br />

allzu sehr hervorhebt und die globalen Zusammenhänge<br />

weniger <strong>in</strong> <strong>den</strong> Blick zu rücken vermag als Ingrid Gilcher-Holtey.<br />

Diese Konzentration auf die Bundesrepublik ist<br />

wohl <strong>den</strong> sonstigen Forschungs<strong>in</strong>teressen Norbert Freis geschuldet,<br />

die sich auf die bundesdeutsche „Vergangenheitspolitik“<br />

konzentrieren. Wohl nicht zuletzt darauf ist zurückzuführen,<br />

dass er bestrebt ist, auch „1968“ <strong>in</strong> der Bundesrepublik<br />

vorrangig <strong>in</strong> diesen Zusammenhang zu stellen.<br />

Stefan Wolle wiederum schreibt lediglich über <strong>den</strong> „Traum<br />

von der Revolte“, da es bekanntlich <strong>in</strong> der DDR ke<strong>in</strong>e Revolte<br />

gegeben hat. Allerd<strong>in</strong>gs kann er aufgrund der Auswertung<br />

von Stasiberichten die Angst der Machthaber <strong>in</strong> der DDR vor<br />

<strong>den</strong> Auswirkungen der Revolte im Westen und sodann des „Prager Frühl<strong>in</strong>gs“ auf die Bevölkerung<br />

der DDR ebenso nachweisen wie die Tatsache, dass es kulturelle E<strong>in</strong>flüsse der westlichen Protestbewegung<br />

auf die DDR gab und vor allem die Vorgänge <strong>in</strong> der Tschechoslowakei e<strong>in</strong>en hohen Stel-<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


176 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

lenwert <strong>in</strong> der Wahrnehmung der DDR-Bevölkerung e<strong>in</strong>nahmen.<br />

Infolge der Niederschlagung des „Prager Frühl<strong>in</strong>gs“<br />

kam es auch zu Protesten <strong>in</strong> der DDR. Wolle vertritt<br />

die These, dass die SED 1968 die Unterstützung gerade der<br />

jungen Generation endgültig verloren habe und von hier<br />

aus e<strong>in</strong> gerader Weg zur Revolution von 1989 führe. Er begründet<br />

diese These vor allem damit, dass die Demonstrationen<br />

<strong>in</strong> der DDR 1989 von der Generation der 40-Jährigen<br />

angeführt wor<strong>den</strong> seien, die er als die ehemaligen „68er“ <strong>in</strong><br />

der DDR bezeichnet.<br />

Nach dieser Kurzvorstellung der hier zu rezensieren<strong>den</strong><br />

Bücher soll abschließend auf drei Problemkreise e<strong>in</strong>gegangen<br />

wer<strong>den</strong>, die im Zusammenhang mit „1968“ von besonderer<br />

Bedeutung ersche<strong>in</strong>en. Dabei geht es um die Fragen nach<br />

1. <strong>den</strong> Auslösern <strong>für</strong> die fast weltweite Revolte der Stu<strong>den</strong>ten,<br />

2. e<strong>in</strong>em „deutschen Sonderweg“ auch <strong>in</strong> der „68er-Revolte“<br />

3. <strong>den</strong> Wirkungen von „1968“.<br />

1. Fast alle der hier erwähnten Autoren verweisen auf<br />

die zentrale Rolle des Vietnamkriegs, des ersten „Fernseh-<br />

Kriegs“, wie Daniel Cohn-Bendit schreibt (Cohn-Bendit,<br />

15). Kraushaar sieht im Vietnamkrieg e<strong>in</strong>en „Katalysator<br />

<strong>für</strong> die Radikalisierung der Protestbewegung“ (Kraushaar, 104) und auch Norbert Frei bewertet <strong>den</strong><br />

Vietnamkrieg als das Thema, aus dem die „Protestbewegung“ grenzübergreifend „ihre Energie bezog“<br />

(50). Ähnlich fällt die Bewertung von Ingrid Gilcher-Holtey aus, die <strong>den</strong> „Protest gegen <strong>den</strong><br />

Vietnamkrieg“ überall als e<strong>in</strong>en „zentralen Mobilisierungsfaktor“ der Protestbewegung ausmacht (8).<br />

Mit Recht verweist sie aber auch darauf, welche Bedeutung <strong>in</strong> Frankreich und Italien – aber auch<br />

<strong>in</strong> der Bundesrepublik – die „beispiellose Expansion des tertiären Bildungssektors“ gehabt hat, „die<br />

e<strong>in</strong>e Strukturkrise an <strong>den</strong> Universitäten ausgelöst“ habe (100). Auf die Bedeutung der Universitäten<br />

verweist auch Wolfgang Kraushaar, betont dabei aber zu Recht, dass diese bald nur als Schauplatz<br />

der Ause<strong>in</strong>andersetzungen <strong>in</strong>teressant waren, da es dem Kern der „68er“ nach kurzer Zeit nicht mehr<br />

um Reformen zu tun war, sondern sie <strong>in</strong> <strong>den</strong> Hochschulen nur noch „Bastionen [....] <strong>für</strong> künftige<br />

Klassenkämpfe“ sahen (Kraushaar, 572).<br />

Konstitutiv <strong>für</strong> die Revolte Ende der 1960er Jahre war schließlich e<strong>in</strong> Generationenkonflikt. Auf die<br />

Bundesrepublik bezogen hat Klaus Hartung erstmals 1978 von e<strong>in</strong>er „68er-Generation“ gesprochen<br />

und damit <strong>den</strong> Revoltieren<strong>den</strong> <strong>in</strong> der Bundesrepublik erst ihren heute so geläufigen Namen gegeben<br />

(von Lucke, 28f.). Hiermit richtet sich der Blick auf die Bundesrepublik und die Frage nach der Bedeutung<br />

der NS-Vergangenheit <strong>für</strong> die „68er-Bewegung“.<br />

2. Es ist erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit die meisten Autoren die These e<strong>in</strong>er „unbewältigten<br />

Vergangenheit“ <strong>in</strong> der Bundesrepublik bis weit <strong>in</strong> die 1960er Jahre h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> vertreten und<br />

unterstellen, dass die angeblichen Versäumnisse der Väter <strong>den</strong> Generationenkonflikt ausgelöst haben.<br />

So ist <strong>für</strong> Wolfgang Schmidbauer das „vergessene ‚Er<strong>in</strong>nernʻ [....] e<strong>in</strong> wichtiger Angriffspunkt der<br />

Protestbewegung“ (Cohn-Bendit, 165), und Bahman Nirumand stellt ohne jede E<strong>in</strong>schränkung fest:<br />

„E<strong>in</strong> Abrechnen mit der Vergangenheit gab es nicht“ (Cohn-Bendit, 228). Albrecht von Lucke sieht<br />

es als Verdienst der „68er“ an, „die Verdrängung der Vergangenheit [...] öffentlich gemacht“ zu haben<br />

(15), und Re<strong>in</strong>hard Mohr sieht <strong>in</strong> „1968“ <strong>den</strong> Versuch, „das fortgesetzte Trauma jener ‚unbewältigten<br />

Vergangenheitʻ des nationalsozialistischen Terrors [...] aus eigener Kraft, gleichsam freudianisch, zu<br />

überw<strong>in</strong><strong>den</strong>“ (31). In das gleiche Horn stößt auch Wolfgang Kraushaar, der <strong>in</strong> „der nationalsozialis-<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


177 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

tischen Vergangenheit und der Ju<strong>den</strong>vernichtung als ihrem Tiefstpunkt [...] e<strong>in</strong>en historischen Resonanzbo<strong>den</strong>“<br />

<strong>für</strong> die „68er-Bewegung“ ausmacht, da er unterstellt, dass erst <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1960er Jahren „e<strong>in</strong>e<br />

ernst zu nehmende Ause<strong>in</strong>andersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit“ begonnen<br />

habe (72). Auch Norbert Frei wiederholt se<strong>in</strong>e altbekannte These von der „unbewältigten Vergangenheit“,<br />

die <strong>in</strong> <strong>den</strong> „politisch-moralischen [...] Skandalen der nahezu ungebrochenen respektive fast<br />

vollständig wiederhergestellten Kont<strong>in</strong>uität der Funktionseliten vom ‚Dritten Reichʻ zur Bundesrepublik“<br />

zum Ausdruck gekommen sei und der hieraus e<strong>in</strong>e „vergangenheitspolitische [...] Aufladung<br />

des Konflikts“ zwischen <strong>den</strong> Generationen <strong>in</strong> der Bundesrepublik ableitet (78).<br />

Es gibt e<strong>in</strong>e Fülle zeitgeschichtlicher Untersuchungen, die belegen, wie wenig diese Urteile der<br />

Kritik standhalten. Zudem lässt sich nachweisen, wie ger<strong>in</strong>g das konkrete historische Interesse der<br />

„68er“ am Nationalsozialismus und se<strong>in</strong>en Opfern war. Auch Norbert Frei muss konzedieren, dass<br />

<strong>den</strong> „68ern“ der „historische Nationalsozialismus“ zunehmend aus dem Blickfeld geriet – sofern er<br />

sich überhaupt jemals dar<strong>in</strong> befun<strong>den</strong> hat – und sie durch die „Universalisierung des Faschismusvorwurfs<br />

[...] ten<strong>den</strong>ziell zu e<strong>in</strong>er Verharmlosung des ‚Dritten Reichsʻ“ beitrugen (222). E<strong>in</strong>e ähnliche<br />

Formulierung f<strong>in</strong>det sich auch bei Wolfgang Kraushaar (74f.) Das führt aber weder bei ihm noch bei<br />

Frei dazu, die nur sehr bed<strong>in</strong>gt haltbaren Positionen über <strong>den</strong> Stellenwert der NS-Vergangenheit und<br />

ihre spezifische Aufarbeitung <strong>in</strong> der Bundesrepublik <strong>für</strong> die „68er-Bewegung“ zu über<strong>den</strong>ken.<br />

3. Sehr viel differenzierter fallen die Bewertungen Norbert Freis aus, wenn er sich über die Wirkungen<br />

von „1968“ äußert. So gesteht er <strong>den</strong> Revoltieren<strong>den</strong> zu, „das Lebensgefühl e<strong>in</strong>er Generation<br />

verändert“ zu haben, um sogleich aber e<strong>in</strong>schränkend h<strong>in</strong>zuzufügen, dass „die Protestgeneration“<br />

zum Teil „durch Tore rannte, die andere längst vor ihr geöffnet hatten“ (131). An anderer Stelle betont<br />

er, dass die Revolte „im Zeichen der Revolution [...] zum Fortschritt der Reformen“ beitrug<br />

(138). Dabei versäumt er aber, die Frage aufzuwerfen, ob nicht die „68er“ <strong>den</strong> Reformprozess auch<br />

beh<strong>in</strong>dert haben könnten, da sie „Gegenreformern“ <strong>in</strong> die Hände spielten. Mit Recht kritisiert Frei<br />

bei der Protestbewegung bei all ihrem Gerede von Emanzipation, Partizipation und Transparenz ihre<br />

mangelnde „Liebe zum Liberalismus“ (216f.). Außerdem besaßen die „68er“ – wie er ebenfalls richtig<br />

konstatiert – „ausgesprochen unterkomplexe Vorstellungen von der Funktionsweise moderner<br />

Gesellschaften und Volkswirtschaften“ (218) – auch aus diesem Grund waren ihre Auffassungen von<br />

„Demokratisierung“ äußerst problematisch.<br />

Gleichwohl dom<strong>in</strong>ieren bis heute positive E<strong>in</strong>schätzungen über die „68er“ und ihre <strong>in</strong>haltlichen<br />

Vorstellungen. Dies ist sicherlich nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass zahlreiche Träger der<br />

Revolte e<strong>in</strong>en erfolgreichen „Marsch durch die <strong>Institut</strong>ionen“ angetreten haben und bis heute e<strong>in</strong>e<br />

weitgehende Deutungshoheit über die eigene Geschichte verteidigen. So schätzen das auch Norbert<br />

Frei (210f.) und Albrecht von Lucke e<strong>in</strong>, der <strong>in</strong>sbesondere <strong>für</strong> die Jahre der rot-grünen Bundesregierung<br />

unter Gerhard Schröder e<strong>in</strong>e „kulturelle Hegemonie“ der „68er“ als gegeben sieht (43). Aber<br />

allmählich treten die ehemaligen Revoltierer <strong>in</strong> <strong>den</strong> Ruhestand und verlieren ihren E<strong>in</strong>fluss. Die geschichtswissenschaftliche<br />

Forschung wird heute vorherrschende Deutungsmuster h<strong>in</strong>terfragen und<br />

korrigieren. Der Streit darüber, ob „1968“ als Beg<strong>in</strong>n des politisch-kulturellen Niedergangs, als das<br />

Jahr des e<strong>in</strong>setzen<strong>den</strong> Werteverfalls oder als Aufbruch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e wirkliche Demokratie und e<strong>in</strong>e moderne<br />

Gesellschaft gedeutet wer<strong>den</strong> muss, wird an Schärfe verlieren. Die Geschichtsschreibung wird<br />

die Grautöne herausarbeiten und „1968“ <strong>in</strong> vielerlei H<strong>in</strong>sicht relativieren. „1968“ – das zeigen bereits<br />

e<strong>in</strong>e ganze Reihe e<strong>in</strong>schlägiger Forschungsarbeiten – hatte bereits lange vorher begonnen und die<br />

Wirkungen der <strong>in</strong> diesen Jahren e<strong>in</strong>setzen<strong>den</strong> Reformprozesse waren durchaus ambivalent. 50 Jahre<br />

nach „1968“ wird die öffentliche Diskussion über diesen Komplex auf e<strong>in</strong>er anderen Grundlage mit<br />

anderen Argumenten geführt wer<strong>den</strong>.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Robert Bohn/Christoph Cornelißen/Karl Christian Lammers (Hrsg.): Vergangenheitspolitik<br />

und Er<strong>in</strong>nerungskulturen im Schatten des Zweiten Weltkriegs. Deutschland und Skand<strong>in</strong>avien<br />

seit 1945, Essen: Klartext 2008, 271 S., ISBN 978-3-89861-988-2, EUR 32,00<br />

Rezensiert von Malte Thießen<br />

Forschungsstelle <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, Hamburg<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 12<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/12/15534.html<br />

Seit Längerem blicken Historiker beim Thema Er<strong>in</strong>nerung<br />

und NS-Zeit über <strong>den</strong> deutschen Tellerrand. Doch während<br />

<strong>für</strong> West- und Osteuropa fundierte Studien vorliegen, ist der<br />

skand<strong>in</strong>avische Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg selten<br />

e<strong>in</strong> Thema <strong>für</strong> deutsche Historiker gewesen. Dieser Band<br />

möchte das ändern, wie die Herausgeber <strong>in</strong> ihrer E<strong>in</strong>führung<br />

erklären, und <strong>den</strong> „ausgeblendeten Nor<strong>den</strong> Europas“ (11) erforschen.<br />

In vier Abschnitten beschäftigen sich die 18 Autoren<br />

daher sowohl mit der skand<strong>in</strong>avischen Er<strong>in</strong>nerungskultur<br />

zum Zweiten Weltkrieg als auch mit dem deutsch-deutschen<br />

Umgang mit dem nordeuropäischen NS-Erbe.<br />

Den Anfang machen fünf Aufsätze zur Vergangenheitspolitik,<br />

an <strong>den</strong>en sich bereits die Weite des Forschungsfeldes abzeichnet.<br />

In se<strong>in</strong>em Beitrag zur bundesdeutschen Nachkriegsdiplomatie<br />

geht Robert Bohn über „klassische“ Aspekte wie<br />

Entschädigungszahlungen oder Sicherheitspolitik h<strong>in</strong>aus und<br />

begreift auch Handelsbeziehungen oder Diskussionen um <strong>den</strong><br />

M<strong>in</strong>derheitenschutz als Faktoren <strong>für</strong> Vergangenheitspolitik. Für die DDR nimmt Michael F. Scholz<br />

die Auslandspropaganda <strong>in</strong> <strong>den</strong> Blick. Im Dienste e<strong>in</strong>er antifaschistischen Imagepolitik und e<strong>in</strong>es<br />

„negativen nation brand<strong>in</strong>gs“ (55) der Bundesrepublik nahm sie u. a. E<strong>in</strong>fluss auf schwedische Journalisten<br />

und Historiker. Neuere transnationale Bezüge untersucht Alexander Muschik. An <strong>den</strong> „Holocaust“-Konferenzen<br />

der letzten Jahre zeichnet er e<strong>in</strong>e Internationalisierung der Vergangenheitspolitik<br />

nach und macht so ihre Instrumentalisierung <strong>für</strong> außenpolitische Ziele sichtbar, wenn z. B. Schwe<strong>den</strong>s<br />

Bild als „moralische Großmacht“ (57) gefördert wer<strong>den</strong> soll. Im Gegensatz zum neutralen Schwe<strong>den</strong><br />

hatte der Krieg <strong>in</strong> Dänemark und F<strong>in</strong>nland schwerwiegendere Folgen. Das erklärt <strong>den</strong> Bedarf an<br />

konsensstiften<strong>den</strong> Er<strong>in</strong>nerungen, wie sie Nils Arne Sørensen und Seppo Hentilä analysieren. Insofern<br />

ist am dänischen Fall weniger die Beliebtheit des „offical narratives“ (71) von der gee<strong>in</strong>ten Nation<br />

bemerkenswert, es s<strong>in</strong>d die Konjunkturen des Widerstands-Motivs bis <strong>in</strong> das Jahr 2003, <strong>in</strong> dem der<br />

militärische Widerstand als Argument <strong>für</strong> die dänische Teilnahme am Irakkrieg diente. In F<strong>in</strong>nland<br />

wiederum war nach 1945 die Beteiligung am Krieg auf der Seite der Deutschen e<strong>in</strong> Problem, <strong>für</strong> das<br />

Politiker und Historiker die entlastende „Treibholz-Theorie“ (er)fan<strong>den</strong>, nach der man durch „unglückliche<br />

Umstände [...] völlig machtlos“ (85) <strong>in</strong> <strong>den</strong> Krieg gezogen wor<strong>den</strong> sei.


179 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bereits diese fünf Beiträge weisen auf e<strong>in</strong> wichtiges Ergebnis des Bandes h<strong>in</strong>: Vergangenheitspolitik<br />

und „Historiographische Deutungen“, die <strong>den</strong> Schwerpunkt des zweiten Kapitels bil<strong>den</strong>, s<strong>in</strong>d beim<br />

Zweiten Weltkrieg kaum zu trennen. Im Falle Norwegens f<strong>in</strong>det E<strong>in</strong>hart Lorenz folglich Ursachen<br />

<strong>für</strong> problematische Er<strong>in</strong>nerungsmuster nach 1945 <strong>in</strong> traditionellen antisemitischen Stereotypen.<br />

Christoph Cornelißen muss <strong>für</strong> se<strong>in</strong>en Beitrag zur „Weserübung“ <strong>in</strong> der deutschen Geschichtsschreibung<br />

weniger weit zurück blicken. In biografischen Skizzen von Historikern und Publizisten problematisiert<br />

er deren Wirken im „Dritten Reich“, mit der sich entlastende Selbstbilder wie die Präventivschlagthese<br />

oder „mythische Überhöhungen“ (142) der Wehrmacht bis <strong>in</strong> die 60er Jahre erklären.<br />

Palle Roslyng-Jensens Untersuchung zu Dänemark kommt zu ähnlichen Ergebnissen wie Sørensen,<br />

geht jedoch <strong>in</strong>sofern darüber h<strong>in</strong>aus, weil er Forschungen zur Kollaboration <strong>in</strong> Frankreich auf Dänemark<br />

bezieht und so e<strong>in</strong>e neue Vergleichsebene e<strong>in</strong>führt. Wichtig ist zudem se<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weis auf <strong>den</strong><br />

Zusammenhang zwischen wissenschaftlichen „discourses and political power struggle“ (138), gibt<br />

dieser doch Aufschluss über Wege der Forschung. Auch vor diesem H<strong>in</strong>tergrund ist der Befund von<br />

Rolf Hobson verblüffend. Denn während Hobson <strong>für</strong> die norwegische Öffentlichkeit e<strong>in</strong> „spürbares<br />

Interesse“ (101) am Zweiten Weltkrieg konstatiert, seien Historiker eher zurückhaltend. Se<strong>in</strong> Fazit<br />

bietet hier<strong>für</strong> zwar ke<strong>in</strong>e Erklärung, allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e ausführliche Agenda, was <strong>in</strong> Zukunft zu tun sei.<br />

Bernd Wegner erweitert Hentiläs Befunde zur f<strong>in</strong>nischen Vergangenheitspolitik, weil er die Deutungen<br />

aller drei f<strong>in</strong>nischen Konflikte (vom W<strong>in</strong>ter-, über <strong>den</strong> „Fortsetzungs“- bis zum Lappland-Krieg) <strong>in</strong><br />

<strong>den</strong> Blick nimmt. Außerdem bezieht Wegner <strong>den</strong> (außen-)politischen Kontext auf <strong>den</strong> Forschungsgang,<br />

mit dem sich die „ breite Ausdifferenzierung“ (166) seit 1989 erkläre. Auch <strong>in</strong> der Außenpolitik<br />

f<strong>in</strong><strong>den</strong> wir also H<strong>in</strong>weise, warum Geschichtspolitik und -wissenschaft schwer zu trennen s<strong>in</strong>d.<br />

Vor diesem H<strong>in</strong>tergrund ist es wenig überraschend, dass <strong>in</strong> Dänemark und Norwegen lange Zeit<br />

nur der Widerstand <strong>in</strong> die Museen fand. Henrik Skov Kristensen widmet sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Beitrag zu<br />

dänischen Ge<strong>den</strong>kstätten daher e<strong>in</strong>er zweiten Welle der Musealisierung seit <strong>den</strong> 70er Jahren, die sich<br />

im „Frøslev Camp Museum“ abzeichnet und die Raum <strong>für</strong> (selbst)kritischere Er<strong>in</strong>nerungen bietet. In<br />

Norwegen behielt das Widerstandsmuseum h<strong>in</strong>gegen bis <strong>in</strong> die 90er Jahre e<strong>in</strong>e Monopolstellung.<br />

Selbst die großen Lager Gr<strong>in</strong>i und Falstad blieben jahrzehntelang „lost landscapes“, was Jon Reitand<br />

auf e<strong>in</strong> „national syndrom of consensus“ (191) zurückführt. Spannend wäre hierzu e<strong>in</strong>e Replik von<br />

Ivar Kraglund gewesen, dem Direktor des Widerstandsmuseums <strong>in</strong> Oslo, dessen Beitrag auf knapp<br />

vier Seiten <strong>in</strong>des kaum ausführlicher auf entsprechende Entwicklungen e<strong>in</strong>gehen kann. Mogens R.<br />

Nissen schließlich präsentiert e<strong>in</strong>e Ausstellung neuen Typs, das „Virtuelle Museum“ zur Region<br />

Süddänemark/Schleswig-Holste<strong>in</strong> (www.vimu.<strong>in</strong>fo). Dabei geht er auch auf methodische und <strong>in</strong>haltliche<br />

Aspekte des deutsch-dänischen Projektes e<strong>in</strong>, hält sich aber zu Fragen der <strong>in</strong>ternationalen Kooperation<br />

zurück. Das ist zwar ebenso höflich wie nachvollziehbar, doch <strong>in</strong>sofern schade, weil Nissen<br />

hier die er<strong>in</strong>nerungskulturellen Verwicklungen der Forscher zum Thema hätte machen können.<br />

Den letzten Abschnitt zu „medialen Repräsentationen“ eröffnet Ruth S<strong>in</strong>dt mit ihrer Mikrostudie<br />

zum Städtchen Kirkenes <strong>in</strong> Nordnorwegen. Anhand von Interviews kann sie nachweisen, dass sich<br />

nach 1945 geme<strong>in</strong>schaftsstiftende „Er<strong>in</strong>nerungsmuster“ ausgeprägt haben, die von E<strong>in</strong>wohnern als<br />

eigene Erzählungen übernommen wur<strong>den</strong>, selbst wenn deren persönliche Erfahrung vom kollektiven<br />

Gedächtnis abwich. Vom kommunikativen Gedächtnis führt Heiko Uecker zur Nachkriegsliteratur <strong>in</strong><br />

Norwegen. Se<strong>in</strong> Ergebnis, „dass der Fe<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e so ger<strong>in</strong>ge Bedeutung <strong>in</strong> der Literatur“ (233) hat, ist<br />

nicht nur überraschend, es wird auch überzeugend auf persönliche und politische H<strong>in</strong>tergründe der<br />

Autoren zurückgeführt. Ob jedoch das Trauma-Konzept <strong>für</strong> diese Analyse besonders geeignet ist,<br />

wie Uecker vorschlägt, bleibt fraglich. Zum<strong>in</strong>dest hätte man diese These auf aktuelle Debatten zum<br />

Nutzen und Nachteil des Trauma-Konzepts beziehen können. Mart<strong>in</strong> Moll beschäftigt sich anschließend<br />

mit skand<strong>in</strong>avischen Spielfilmen und deren E<strong>in</strong>fluss auf die „Erzeugung nationaler Mythen“<br />

(256). Weiterführend ist hierzu se<strong>in</strong>e Beobachtung, dass die Darstellung <strong>in</strong> Filmen nicht zuletzt von<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


180 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

staatlicher Subventionspolitik bee<strong>in</strong>flusst sei. Er<strong>in</strong>nerungskulturen, das wäre e<strong>in</strong> weiteres Ergebnis,<br />

s<strong>in</strong>d also nicht zuletzt e<strong>in</strong>e Frage der F<strong>in</strong>anzen.<br />

Am Ende des Bandes bietet Karl Christian Lammers e<strong>in</strong>en Gesamtüberblick zum „Bild des neuen<br />

Deutschland“ <strong>in</strong> Skand<strong>in</strong>avien. Wie stark die skand<strong>in</strong>avische Wahrnehmung von der deutschen<br />

„Vergangenheitsbewältigung“ geprägt wurde, fasst Lammers treffend an e<strong>in</strong>em Bonmot des dänischen<br />

Außenm<strong>in</strong>isters zusammen. Nach <strong>den</strong> Diskussionen um Hans Globke und Hans Speidel<br />

sprach Per Haekkerup von drei außenpolitischen Problemen Dänemarks: „Deutschland, Deutschland<br />

und nochmals Deutschland“ (268). Es war e<strong>in</strong>e allmähliche Annäherung zwischen Skand<strong>in</strong>avien und<br />

der Bundesrepublik, da sich das Deutschlandbild der nordeuropäischen Länder lange am er<strong>in</strong>nerungskulturellen<br />

Koord<strong>in</strong>atensystem orientierte, wie Lammers zeigt.<br />

Mit diesem Fazit schließt sich der Kreis, knüpft Lammers doch an <strong>den</strong> ersten Beitrag von Bohn<br />

an. Nordeuropa, das zeigt der Band e<strong>in</strong>drucksvoll, ist nicht nur e<strong>in</strong> neues Forschungsfeld, sondern<br />

e<strong>in</strong>es, an dem sich neue er<strong>in</strong>nerungskulturelle Phänomene studieren lassen. Gerade weil dieses Gesamtkonzept<br />

hervorragend aufgeht, hätte man sich gelegentlich engere Bezüge zwischen e<strong>in</strong>igen<br />

Beiträgen sowie e<strong>in</strong>en Schlussteil gewünscht, der all diese Fä<strong>den</strong> zu e<strong>in</strong>em Band zusammenfügt und<br />

mit e<strong>in</strong>em Blick auf Forschungen zu West- und Osteuropa e<strong>in</strong>ordnet, um e<strong>in</strong>e wahrhaft „<strong>in</strong>ternational<br />

vergleichende Bestandsaufnahme“ (11) zu leisten. Diese Anmerkung schmälert <strong>den</strong> Ertrag des<br />

Bandes <strong>in</strong>des um ke<strong>in</strong> Gramm. Das Buch ist e<strong>in</strong>e wichtige Pionierstudie, die e<strong>in</strong> neues Forschungsfeld<br />

erschließt und daher sehr viel mehr als „erste Anstöße“ (19) bietet: e<strong>in</strong>e Fülle fundierter Beiträge,<br />

auf der zukünftige Arbeiten zum nordeuropäischen Gedächtnis aufbauen wer<strong>den</strong>.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Mart<strong>in</strong> L. Davies/Claus-Christian W. Szejnmann (eds.): How the Holocaust Looks Now:<br />

International Perspectives, Bas<strong>in</strong>gstoke: Palgrave Macmillan 2007, xxxix + 282 S.,<br />

ISBN 978-0-230-00147-3, USD 79,95<br />

Rezensiert von Anna Hájková<br />

Department of History, University of Toronto<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 3<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/03/15913.html<br />

The last fifteen years have seen a significant growth of scholarly<br />

<strong>in</strong>terest <strong>in</strong> the Holocaust. Follow<strong>in</strong>g an <strong>in</strong>itial focus on<br />

empirical analysis on the atrocities of the Nazi regime, a<br />

whole branch of study has turned to issues of memory <strong>in</strong> recent<br />

years. Why did societies wait for such a long time to<br />

study the horrible past systematically and try to make sense<br />

of what happened? The collection of essays at hand, edited by<br />

Mart<strong>in</strong> Davies and Claus-Christian Szejnmann, focuses on<br />

the role of the Holocaust <strong>in</strong> such different fields as popular<br />

memory and commemoration, representation <strong>in</strong> art and literature,<br />

and survivors testimonies and education. The volume<br />

struggles a number of imbalances: it presents itself as an <strong>in</strong>ternational<br />

project, yet eleven of twenty-three contributions<br />

have German authors and five are written by Swedish contributors<br />

(all of them associated with a s<strong>in</strong>gle <strong>in</strong>stitution).<br />

Some of the authors offer descriptive accounts, while others<br />

pursue a more analytical exam<strong>in</strong>ation. Also, some authors’ attempts<br />

to relate their analyses to theoretical concepts are<br />

more successful than others. In the follow<strong>in</strong>g, I shall discuss<br />

the strengths and weaknesses of the volume <strong>in</strong> greater detail on the basis of four articles, concentrat<strong>in</strong>g<br />

on the more successful ones, which deserve the attention of wider public.<br />

Olaf Jensen exam<strong>in</strong>es how different German postwar generations perceived their families’ past <strong>in</strong><br />

the Second World War. The essay summarizes a larger project that spawned a vivacious discussion<br />

<strong>in</strong> Germany upon its publication <strong>in</strong> 2002. [1] An <strong>in</strong>terdiscipl<strong>in</strong>ary research team conducted over 180<br />

<strong>in</strong>terviews with 40 German, non-Jewish families; they talked to grandparents (witnesses), their children,<br />

and grandchildren. Exam<strong>in</strong>ation of the <strong>in</strong>terviews produced some genu<strong>in</strong>ely ironic results.<br />

Accord<strong>in</strong>g to the author, the generation of grandchildren tend to see their grandparents as “good<br />

guys,” largely ignorant about the Nazi crimes. The grandparents, however, provide a more complex<br />

narrative and often acknowledge their own crimes as soldiers or their knowledge of them. These<br />

f<strong>in</strong>d<strong>in</strong>gs are even more strik<strong>in</strong>g, as they occur before the background of the thorough Holocaust education<br />

common <strong>in</strong> German schools. The second and third generations of <strong>in</strong>terviewees were well<br />

aware of the crim<strong>in</strong>ality of the Nazi regime. Jensen expla<strong>in</strong>s this paradox with the way the children<br />

assign mean<strong>in</strong>g to family narratives. Endow<strong>in</strong>g <strong>in</strong>dividual narratives with mean<strong>in</strong>g takes place


182 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

with<strong>in</strong> a social discourse that precedes prevail<strong>in</strong>g patterns <strong>in</strong> education and commemoration. Children<br />

understandably do not want Nazi grandparents and unconsciously attribute aspects of the narratives<br />

of suffer<strong>in</strong>g they know from school to their grandparents.<br />

Jensen’s article is particularly reward<strong>in</strong>g because it makes us aware of the extent to which German<br />

grandchildren’s treatment of family narratives is noth<strong>in</strong>g specifically German. All narrators<br />

strive to give their narratives i<strong>den</strong>tity and <strong>in</strong>ner logic; these stories are shaped by the autobiographic<br />

specificity of the protagonist (“my grandfather was the only lucky one who survived the battle”). We<br />

can see the same patterns <strong>in</strong> other narratives, for example, <strong>in</strong> those by Holocaust survivors. Veronika<br />

Zangl, whose article I discuss below, mentions similar aspects. These f<strong>in</strong>d<strong>in</strong>gs are also confirmed <strong>in</strong><br />

Isabella Matauschek’s essay on <strong>in</strong>terfamilial narratives <strong>in</strong> Denmark and the Netherlands. As <strong>in</strong> the<br />

German case, Danish and Dutch youth <strong>in</strong>terpret the past <strong>in</strong> a black-and-white manner and attribute to<br />

their grandparents the roles of overwhelm<strong>in</strong>g heroes. To be sure, there are national specificities: In<br />

the Netherlands and Denmark more than <strong>in</strong> Germany, the Holocaust <strong>in</strong> general and the story of Anne<br />

Frank <strong>in</strong> particular provide the dom<strong>in</strong>ant frame of reference. Family memories persist, but the ways<br />

<strong>in</strong> which they are <strong>in</strong>terpreted and by which they are assigned mean<strong>in</strong>g is <strong>in</strong>fluenced by a larger framework<br />

about the Holocaust.<br />

While Jensen and Matauschek analyse the shift<strong>in</strong>g of memory as a phenomenon per se, Barbara<br />

Törnquist Plewa’s essay takes a more partisan and alas less discern<strong>in</strong>g approach. In her contribution,<br />

she analyses how non-Jewish <strong>in</strong>habitants of Szydłowiec, a town <strong>in</strong> Mazovian Poland, dealt with the<br />

memory of the large Jewish community that had lived there before the war. After years of neglect<strong>in</strong>g<br />

“the Jewish marks <strong>in</strong> the urban landscape” (117), as she calls them, young Warsaw <strong>in</strong>tellectuals began<br />

to discover the Jewish cemetery <strong>in</strong> the 1970s. This, together with post-1989 signals from the<br />

Polish government to take care of the Jewish heritage, changed the municipal leadership’s attitude<br />

toward the town’s Jewish past. The author argues that, on a small scale <strong>in</strong> Szydłowiec and on a large<br />

scale <strong>in</strong> Poland as a whole, Jewish memory is currently becom<strong>in</strong>g part of the Polish national memory.<br />

Törnquist Plewa expla<strong>in</strong>s Szydłowiec’s historical amnesia as a consequence of Polish anti-<br />

Semitism and the local population’s belief <strong>in</strong> the early postwar era <strong>in</strong> the existence of a close l<strong>in</strong>k between<br />

the communist regime and Jews.<br />

Plewa’s article is problematic for two reasons: the superficial usage of a theoretical concept that<br />

she misunderstands, and a ten<strong>den</strong>cy to draw simplistic conclusions. The goal of the article is to “f<strong>in</strong>d<br />

out how local decision makers organise collective memory, of what they choose to rem<strong>in</strong>d people,<br />

and what is suppressed” (116). For one, collective memory is never explicit, nor can it be planned.<br />

Inherent to a group i<strong>den</strong>tity, it is an emotionally charged, <strong>in</strong>strumentalis<strong>in</strong>g view of the past used to<br />

make sense of the present and of the “self.” To expla<strong>in</strong> it, we should analyse how and what people<br />

remember, if and <strong>in</strong> what way they commemorate a different group, and try to f<strong>in</strong>d its function. As<br />

far as the latter task goes, much material rema<strong>in</strong>s to be studied regard<strong>in</strong>g Polish-Jewish postwar remember<strong>in</strong>g<br />

and <strong>in</strong>teraction, but it demands greater openness for complexities and a more thorough<br />

theoretical background. [2] I f<strong>in</strong>d Törnquist Plewa’s depiction of the present Polish <strong>in</strong>terest <strong>in</strong> former<br />

Jewish neighbours as a positive development ill-conceived: Does remember<strong>in</strong>g m<strong>in</strong>ority groups<br />

make us better people? And can this sort of “memory” really serve as an analytical category? Moreover,<br />

the author’s moraliz<strong>in</strong>g approach leaves the reader uncomfortable. For example, she relates<br />

how local youngsters used the site of the Jewish cemetery as a venue for their “dr<strong>in</strong>k<strong>in</strong>g orgies”<br />

(120). Mark<strong>in</strong>g this activity as symptomatic of anti-Semitism without further discussion of the significance<br />

of cemeteries <strong>in</strong> the town seems out of place to me: Teenagers worldwide look for an undisturbed<br />

spot to experiment with alcohol; it is a rite of passage.<br />

In contrast, the last piece to be mentioned here makes an abundant use of theoretical concepts, and<br />

is possibly the most excit<strong>in</strong>g one <strong>in</strong> the volume. In it, Veronika Zangl discusses the nature of survivor<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


183 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

narratives and problems of Holocaust representation. The author argues that the Holocaust narratives,<br />

to a large degree, are <strong>in</strong>fluenced by surround<strong>in</strong>g social structures. Holocaust survivors, like all<br />

narrators, relate to exist<strong>in</strong>g narrative frames <strong>in</strong> formulat<strong>in</strong>g their <strong>in</strong>dividual narratives. What makes a<br />

narrative an <strong>in</strong>dividual one is the specific way <strong>in</strong> which the material is arranged. Accord<strong>in</strong>g to Zangl,<br />

Holocaust testimonies are a narrated entity, but at the same time they represent a narrative void. Exist<strong>in</strong>g<br />

language is not capable of captur<strong>in</strong>g the horror of one’s experience, and words are pushed to<br />

the edge of their possibilities, and become comical. Before the Holocaust, meta-narratives steered<br />

<strong>in</strong>dividual and collective narratives. If old narratives failed to do justice to fundamental changes <strong>in</strong><br />

society and <strong>in</strong>dividual life, new “great stories” (such as the Odyssey) emerged. Referr<strong>in</strong>g to Jean-<br />

François Lyotard and Walter Benjam<strong>in</strong>, Zangl argues that the time of “great stories” had passed <strong>in</strong><br />

the high modern era, at least before the outbreak of World War II. Hence, the survivors’ failure to<br />

describe the Holocaust “adequately” appears to have two causes: the nature of event itself, and the<br />

specifics of narrative framework conditions. At the same time, the Holocaust can be depicted by the<br />

eyewitness on the poetic level: it can be narrated, but not described.<br />

Zangl’s article offers much food for thought. She makes clear that Holocaust testimonies share the<br />

same factors of every autobiographical story: the construction of i<strong>den</strong>tity, narrative frameworks, and<br />

the use of literary genres, topoi, and motifs. I am not entirely persuaded by her argument about the<br />

Holocaust as narrative void, <strong>in</strong> which exist<strong>in</strong>g languages becomes unsuitable to tell others about the<br />

Holocaust. Some <strong>in</strong>-depth analysis of examples would help readers to understand the argument better.<br />

It deserves readers’ attention.<br />

Overall, Zangl’s text, like those by other authors, would have benefited from more str<strong>in</strong>gent edit<strong>in</strong>g.<br />

Most of the authors are not native speakers of English and come from different cultures of academic<br />

writ<strong>in</strong>g, some more easily accessible than others. It is not reasonable to expect the reader to<br />

read passages repeatedly to make sense of them. Although the editors sought to reach beyond a specialist<br />

readership, they did not achieve this goal, and the price of the volume is too high to reverse<br />

the impression created by the essays. [3]<br />

Hence, my reaction is ambivalent. The book offers several remarkable contributions, mak<strong>in</strong>g <strong>in</strong>trigu<strong>in</strong>g<br />

scholarship available <strong>in</strong> English. Altogether, the volume is a mélange of essays of differ<strong>in</strong>g<br />

heuristic quality, level of abstraction, and consistency. The more felicitous essays offer readers <strong>in</strong>sight<br />

<strong>in</strong>to the current state of research on the historical culture of the Holocaust and its methodological<br />

and conceptual trends. Moreover, the gaps <strong>in</strong> consistency mentioned above are possibly not only a<br />

problem of the volume at hand, but also of the entire research branch. In future, such specialised collections<br />

of essays should seek to pursue greater theoretical and conceptual precision.<br />

Notes:<br />

[1] Harald Welzer/Sab<strong>in</strong>e Moller/Karol<strong>in</strong>e Tschuggnall: Opa war ke<strong>in</strong> Nazi. Nationalsozialismus<br />

und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt/Ma<strong>in</strong> 2002.<br />

[2] For a more balanced approach cf. Erica Lehrer: “Bear<strong>in</strong>g False Witness? Vicarious Jewish I<strong>den</strong>tity<br />

and the Politics of Aff<strong>in</strong>ity”, <strong>in</strong>: Imag<strong>in</strong>ary Neighbors. Mediat<strong>in</strong>g Polish-Jewish Relations<br />

after the Holocaust, edited by Dorota Glowacka and Joanna Zyl<strong>in</strong>ska, 84-109, L<strong>in</strong>coln, NE 2007.<br />

[3] See the CfP at http://hsozkult.geschichte.hu-berl<strong>in</strong>.de/term<strong>in</strong>e/id=2627<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Anselm Doer<strong>in</strong>g-Manteuffel/Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf<br />

die <strong>Zeitgeschichte</strong> seit 1970, Gött<strong>in</strong>gen: Van<strong>den</strong>hoeck & Ruprecht 2008, 140 S.,<br />

ISBN 978-3-525-30013-8, EUR 15,90<br />

Rezensiert von Hans Günter Hockerts<br />

Historisches Sem<strong>in</strong>ar, Ludwig-Maximilians-Universität, München<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/05/15019.html<br />

Die westdeutsche Zeitgeschichtsforschung entstand <strong>in</strong> der<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzung mit dem nationalsozialistischen Zivilisationsbruch.<br />

Am Anfang stand die bohrende Frage nach dem<br />

Warum. Dann folgte die befreiende Frage nach Phasen und<br />

Formen der Überw<strong>in</strong>dung historischer Erblasten. Diese Perspektive<br />

brachte vor allem problemlösende Potenzen zum<br />

Vorsche<strong>in</strong> – mit Leitbegriffen wie Modernisierung, Liberalisierung,<br />

Westernisierung, Zivilisierung. Neuerd<strong>in</strong>gs macht sich<br />

jedoch e<strong>in</strong> tiefgreifender Perspektivenwechsel bemerkbar: Es<br />

geht nicht mehr primär um die Nachgeschichte vergangener,<br />

sondern um die Vorgeschichte gegenwärtiger Problemlagen.<br />

Hier liegt e<strong>in</strong>e methodische Herausforderung großen Stils: Sie<br />

gilt der Konzipierung e<strong>in</strong>er gegenwartsnahen <strong>Zeitgeschichte</strong>,<br />

die dort e<strong>in</strong>setzt, wo die Erklärungskraft der bisher dom<strong>in</strong>ieren<strong>den</strong><br />

Leitbegriffe nachlässt: <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1970er Jahren, verstan<strong>den</strong><br />

als E<strong>in</strong>gangsschwelle zur Problemgeschichte der Gegenwart.<br />

Die Produktivität des veränderten Sehepunkts wird derzeit<br />

nirgendwo besser vor Augen geführt als <strong>in</strong> der von Anselm<br />

Doer<strong>in</strong>g-Manteuffel und Lutz Raphael vorgelegten Programmschrift.<br />

Den bei<strong>den</strong> Autoren gel<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>e ungeme<strong>in</strong> anregende<br />

Achsendrehung <strong>in</strong> der Organisation der zeithistorischen Aufmerksamkeit. Die besondere Hebelkraft<br />

liegt <strong>in</strong> der Komb<strong>in</strong>ation zweier Grundannahmen: Zum e<strong>in</strong>en fassen die Autoren die Zeit „nach dem<br />

Boom“ als „Strukturbruch“ der <strong>in</strong>dustriegesellschaftlichen Moderne auf. Dabei verknüpfen sie<br />

Debattenstränge, die bisher eher getrennt verlaufen s<strong>in</strong>d (mit Stichworten wie Postfordismus und<br />

Postmoderne), und sie dehnen das Blickfeld so weit aus, dass möglichst das Gesamtgefüge der<br />

Zeitten<strong>den</strong>zen greifbar wird. Ihre Rasterfahndung nach Merkmalen der Veränderung bezieht daher<br />

ökonomische und politische Dimensionen ebenso e<strong>in</strong> wie soziale und kulturelle. Zudem gehen sie<br />

grenzüberschreitend vor, <strong>den</strong>n die Strukturbruchthese erfasst im Pr<strong>in</strong>zip alle westeuropäischen Industriegesellschaften.<br />

Zum anderen setzen die Autoren voraus, dass der epochale Wandel nicht<br />

von e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Bewegungszentrum, sozusagen von e<strong>in</strong>em archimedischen Punkt her erklärbar<br />

ist. Somit s<strong>in</strong>d teleologische Überwältigungsversuche von vornhere<strong>in</strong> ausgeschlossen. Vielmehr<br />

wird e<strong>in</strong> gedanklicher Bezugsrahmen aufgespannt, der die Aufmerksamkeit auf Querverb<strong>in</strong>dungen


185 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

und Wechselwirkungen zwischen funktional getrennten Bereichen lenkt, auch auf gegenläufige<br />

Bewegungen, so dass e<strong>in</strong> spannungsreiches Nebene<strong>in</strong>ander unterschiedlicher Geschw<strong>in</strong>digkeiten<br />

sichtbar wird.<br />

E<strong>in</strong> Meister des epochalen Blicks, Johan Huiz<strong>in</strong>ga, hat die hohe Kunst des Periodisierens dar<strong>in</strong><br />

gesehen, dass die Periode nicht wie e<strong>in</strong>e „e<strong>in</strong>geteilte L<strong>in</strong>ie“ hervortritt, sondern wie „e<strong>in</strong>e Anzahl<br />

Kreise von ungleicher Größe, deren Mittelpunkte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er unregelmäßigen Gruppe beisammen liegen,<br />

deren Peripherien sich somit auf e<strong>in</strong>er Anzahl von Punkten schnei<strong>den</strong>, so dass das Ganze, von<br />

e<strong>in</strong>em gewissen Abstand aus gesehen, die Gestalt e<strong>in</strong>er Traube, e<strong>in</strong>er Häufung von Kreisscheiben<br />

aufweist“. [1] Diesem Ideal <strong>in</strong> der Kunst des Periodisierens kommt der epochenanalytische Entwurf<br />

„Nach dem Boom“ sehr nahe.<br />

Manche Knotenpunkte im Netz der Interdepen<strong>den</strong>zen tippen die Autoren nur an, wie es der Räson<br />

e<strong>in</strong>er schlanken Programmschrift entspricht, andere wer<strong>den</strong> genauer entfaltet. E<strong>in</strong>en besonders<br />

glücklichen Griff sehe ich dar<strong>in</strong>, dass die Autoren <strong>den</strong> technologischen und ökonomischen Basisprozessen<br />

viel Aufmerksamkeit widmen – vom neuen „Grundstoff“ Mikrochip bis zum Wandel der Produktionsregime.<br />

Damit tragen sie kräftig zur Verknüpfung von Wirtschafts- und <strong>Zeitgeschichte</strong> bei,<br />

was nach e<strong>in</strong>er längeren Flaute im Beziehungsverhältnis von Geschichts- und Wirtschaftswissenschaften<br />

dr<strong>in</strong>gend erwünscht ist. Vor allem aber: Es führt ke<strong>in</strong> Weg an ihrer These vorbei, dass der<br />

„digitale F<strong>in</strong>anzmarkt-Kapitalismus“ <strong>in</strong> der fraglichen Zeit e<strong>in</strong>er der stärksten Bewegungsfaktoren<br />

war. Die ab Ende der 1970er Jahre Schritt <strong>für</strong> Schritt deregulierte Dynamik der <strong>in</strong>ternationalen F<strong>in</strong>anzmärkte<br />

hat die Struktur und die Strategien der Unternehmen erheblich bee<strong>in</strong>flusst; sie hat die Verwandlung<br />

der standortgebun<strong>den</strong>en Absatzkonkurrenz zur Standortkonkurrenz zwischen Staaten vorangetrieben<br />

und <strong>den</strong> E<strong>in</strong>fluss der Kapitalseite auf die nationalen F<strong>in</strong>anzen, <strong>in</strong>sbesondere auch auf <strong>den</strong> Sozialhaushalt<br />

und die Verteilung der sozialen Kosten deutlich gestärkt. Die Autoren belassen es bei e<strong>in</strong>er<br />

sehr knappen Skizze solcher Verschiebungen, aber man kann ihnen nur lebhaft dar<strong>in</strong> zustimmen,<br />

dass der Aufstieg der <strong>in</strong>ternationalen F<strong>in</strong>anzmärkte zu <strong>den</strong> spezifischen Signaturen der Zeit nach<br />

dem Boom zu zählen ist.<br />

Zu <strong>den</strong> Vorzügen des Bandes zählt der diszipl<strong>in</strong>ierte Blickkontakt zu <strong>den</strong> benachbarten Sozialwissenschaften.<br />

Welche Sozialdaten wur<strong>den</strong> im Zuge der zeitgenössischen Selbstbeobachtung erhoben?<br />

Mit welchen Begriffen, Theorien und Debatten haben sozialwissenschaftliche Zeitdiagnosen <strong>den</strong><br />

Wandel wahrgenommen und gedeutet? Mit solchen Fragen rücken die Autoren die Zeithistorie <strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />

Komplementärverhältnis zu <strong>den</strong> gegenwartsorientierten Nachbardiszipl<strong>in</strong>en. Damit nutzen sie e<strong>in</strong>e<br />

spezifische Chance der zeithistorischen Forschung, <strong>in</strong> der zugleich e<strong>in</strong>e besondere Herausforderung<br />

liegt. Denn es kann ja nicht um e<strong>in</strong>e schlichte Nacherzählung der benachbarten Befunde gehen, auch<br />

nicht um ihre Nutzung als Ste<strong>in</strong>bruch, <strong>in</strong> <strong>den</strong> man beliebig und freihändig h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>greift.<br />

Die Autoren def<strong>in</strong>ieren das Verhältnis der Zeithistorie zu <strong>den</strong> Sozialwissenschaften sehr viel anspruchsvoller:<br />

Sie machen deren Hervorbr<strong>in</strong>gungen selbst zum Gegenstand der zeithistorischen Reflexion;<br />

sie fragen nach <strong>den</strong> Konstruktionspr<strong>in</strong>zipien der sozialwissenschaftlichen Fakten, Theorien<br />

und Modelle und ordnen sie <strong>in</strong> <strong>den</strong> Problemkontext der Zeit e<strong>in</strong>. Ob das bei <strong>den</strong> ausgewählten Zeitdiagnosen<br />

– von der Modernisierungstheorie bis zur Risikogesellschaft, von der Informationsgesellschaft<br />

bis zur „flüchtigen Moderne“ – jeweils überzeugend gelungen ist, muss die kritische Debatte<br />

erweisen. Je<strong>den</strong>falls liegt hier e<strong>in</strong> Schlüsseltext vor, h<strong>in</strong>ter <strong>den</strong> man auf der Suche nach der epistemologischen<br />

Eigenart der Zeithistorie nicht mehr zurückgehen kann.<br />

Natürlich s<strong>in</strong>d mancherlei Ergänzungsmöglichkeiten <strong>den</strong>kbar. Um nur zwei Beispiele zu nennen:<br />

In <strong>den</strong> Reigen neuer Leitbegriffe, <strong>den</strong>en die Autoren Indikatorenfunktion zurechnen, wäre „Nachhaltigkeit“<br />

e<strong>in</strong>zufügen, da dieser Begriff seit dem Brundtland-Report 1987 e<strong>in</strong>en erstaunlichen Siegeszug<br />

erlebt hat. Im Katalog der neu zu akzentuieren<strong>den</strong> Themenfelder vermisst man die „demographische<br />

Herausforderung“, die spätestens mit der Weltbank-Studie „Avert<strong>in</strong>g the old age crisis“ 1994<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


186 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

<strong>in</strong>s Zentrum der <strong>in</strong>ternationalen Diskussion rückte und <strong>in</strong> vielen Handlungskontexten diskursive<br />

Durchschlagskraft gewann.<br />

Wo kann Kritik ansetzen? Wohl am ehesten bei der Term<strong>in</strong>ologie des „Strukturbruchs“. Sie belebt<br />

zwar die Dramaturgie des Textes, vermittelt jedoch e<strong>in</strong>e zu abrupte Vorstellung des Wandels –<br />

als habe man es mit e<strong>in</strong>er glatten und durchgängigen Fraktur zu tun. Das passt nur sehr e<strong>in</strong>-<br />

geschränkt zu dem Bild e<strong>in</strong>es spannungsreichen Nebene<strong>in</strong>anders von Alt und Neu, das die Autoren<br />

ja selbst zeichnen und das noch spannungsreicher wäre, wenn sie das Vergrößerungsglas weniger auf<br />

<strong>den</strong> Wandel und mehr auf die Beharrungsten<strong>den</strong>zen und gegenläufigen Bewegungen gerichtet hätten.<br />

Außerdem fällt auf, dass die weltpolitische Zäsur von 1989/91 kaum zur Geltung kommt. An dieser<br />

Stelle ersche<strong>in</strong>t das von der politischen Ökonomie der westeuropäischen Industriegesellschaften her<br />

entfaltete Konzept zu hermetisch; es sollte so erweitert wer<strong>den</strong>, dass das Ende des säkularen Ost-<br />

West-Konflikts nicht zur „Begleitersche<strong>in</strong>ung des Übergangs“ (8) abs<strong>in</strong>kt und kursorisch vermerkt<br />

wird, sondern mit übergreifen<strong>den</strong> Relevanzkriterien aufgewertet und e<strong>in</strong>bezogen wird.<br />

Das Bändchen erschien kurz vor dem Kollaps von Lehman Brothers. Widerspricht die nachfolgende<br />

Erschütterung der Weltwirtschaft dem Gedankengang der Autoren, die von ihr ja noch nichts<br />

wussten? Ganz im Gegenteil! Wie die Wucht der Weltwirtschaftskrise sozusagen nachträglich bestätigt,<br />

haben die Autoren e<strong>in</strong>en richtigen Akzent gesetzt, als sie <strong>den</strong> „digitalen F<strong>in</strong>anzmarkt-Kapitalismus“<br />

zu e<strong>in</strong>em der stärksten Bewegungsfaktoren <strong>in</strong> der Transformationsgeschichte nach dem Boom<br />

erklärten. Wohl aber s<strong>in</strong>d wir nun <strong>in</strong> der Lage, <strong>den</strong> unscharfen zeitlichen Rand ihres Konzepts präziser<br />

zu fassen: Die Epoche, die die Autoren so <strong>in</strong>struktiv und scharfs<strong>in</strong>nig umrissen haben, endet –<br />

nicht <strong>in</strong> jeder H<strong>in</strong>sicht, aber <strong>in</strong> markanten Teilen – <strong>in</strong> <strong>den</strong> Jahren 2008/09. Denn wenn nicht alles<br />

täuscht, stehen wir an der Schwelle e<strong>in</strong>es Übergangs, der vielleicht e<strong>in</strong>mal das Etikett „postneoliberal“<br />

erhalten wird. Somit s<strong>in</strong>kt die Epoche „nach dem Boom“ um e<strong>in</strong>e Zeitschicht tiefer <strong>in</strong> die Geschichte<br />

zurück und wird <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em noch distanzierteren S<strong>in</strong>n historisierungsfähig als die Autoren bei der Niederschrift<br />

absehen konnten. Der produktiven Vielfalt ihrer Anregungen schadet das nicht. Bei der<br />

Arbeit an der Historisierung der jüngsten <strong>Zeitgeschichte</strong> wird sich ihr Buch vielmehr als <strong>in</strong>tellektuelles<br />

Referenzwerk etablieren. Denn dieser schmale Band ist e<strong>in</strong> großer Wurf.<br />

Anmerkung:<br />

[1] Johan Huiz<strong>in</strong>ga: Wege der Kulturgeschichte, München 1930, 72f.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Anselm Doer<strong>in</strong>g-Manteuffel/Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die<br />

<strong>Zeitgeschichte</strong> seit 1970, Gött<strong>in</strong>gen: Van<strong>den</strong>hoeck & Ruprecht 2008, 140 S., ISBN 978-3-525-<br />

30013-8, EUR 15,90<br />

Rezensiert von Maren Möhr<strong>in</strong>g<br />

Universität zu Köln<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/05/15518.html<br />

Die von Anselm Doer<strong>in</strong>g-Manteuffel und Lutz Raphael vorgenommene<br />

Konzeptualisierung und Periodisierung der <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte auch <strong>für</strong> die<br />

neuere Kulturgeschichte. Zum e<strong>in</strong>en ist das klare Plädoyer zu<br />

begrüßen, „methodische und theoretische Scheuklappen“ abzulegen<br />

(93); so wer<strong>den</strong> die bisweilen noch immer mit Argwohn<br />

betrachteten theoretischen Grundlagen kulturhistorischer<br />

Forschung wie etwa Michel Foucaults Überlegungen zu Biopolitik<br />

und Gouvernementalität von <strong>den</strong> Autoren als <strong>für</strong> die<br />

<strong>Zeitgeschichte</strong> wegweisende Ansätze vorgestellt. Zum anderen<br />

markieren Doer<strong>in</strong>g-Manteuffel und Raphael mit der Körper-<br />

und Geschlechtergeschichte sowie wissens- und konsumhistorischen<br />

Fragestellungen als zukünftige Arbeitsbereiche eben<br />

jene, die <strong>in</strong> der neueren Kulturgeschichte seit Längerem zu<br />

<strong>den</strong> zentralen Forschungsfeldern zählen.<br />

Aus der Vielzahl an Fragen, die sich aus dem hier entworfenen<br />

Forschungsprogramm ergeben, möchte ich zwei Aspekte<br />

herausgreifen, die im Rahmen e<strong>in</strong>er kulturhistorisch ausgerichteten<br />

<strong>Zeitgeschichte</strong> me<strong>in</strong>es Erachtens e<strong>in</strong>er genaueren<br />

Betrachtung bedürfen: Erstens die „Krise der Arbeitsgesellschaft“<br />

(34), die von <strong>den</strong> Autoren als Charakteristikum der Epoche verstan<strong>den</strong> wird und die es unter<br />

anderem aus migrations- und geschlechterhistorischer Perspektive zu problematisieren gilt, und<br />

zweitens die aus der Perspektive der politischen Ökonomie erfolgende Konzeptualisierung der Jahrzehnte<br />

zwischen 1965/70 und 1995/2000 als durch e<strong>in</strong>en „Strukturbruch“ und e<strong>in</strong>en „sozialen Wandel<br />

von revolutionärer Qualität“ (10) charakterisierten Zeitraum.<br />

An zentraler Stelle greifen Doer<strong>in</strong>g-Manteuffel und Raphael die Arbeitsmigration auf. Den Fokus<br />

legen sie dabei auf die von ökonomischer Rezession und Arbeitslosigkeit besonders betroffenen Arbeitsmigranten,<br />

die „<strong>in</strong> zugespitzter Weise und sehr früh“ die Auswirkungen des „Strukturbruchs“<br />

erlebt hätten (100). Pr<strong>in</strong>zipiell stellt sich jedoch die Frage, <strong>in</strong>wiefern e<strong>in</strong>e migrantische Perspektive<br />

auf die gesellschaftlichen Transformationen seit <strong>den</strong> 1970er Jahren lediglich zu e<strong>in</strong>er weiteren, das<br />

Bild vervollständigen<strong>den</strong> Geschichte des „Strukturbruchs“ führt oder ob dieser Blickwechsel nicht<br />

vielmehr e<strong>in</strong>e grundsätzliche Problematisierung der vorgenommenen Periodisierung und der These<br />

vom Ende der stabilen Nachkriegsordnung impliziert. Bereits die Ausgangsannahme der bei<strong>den</strong>


188 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Autoren, dass „Arbeitsplatz und Arbeitswelt im traditionellen Sektor <strong>in</strong>dustrieller Produktion [...]<br />

immobil“ gewesen seien (40), wäre <strong>für</strong> die Arbeitsmigranten und -migrant<strong>in</strong>nen <strong>in</strong>sofern zu relativieren,<br />

als diese verhältnismäßig häufig Arbeitsplatz und Wohnort wechselten und von Beg<strong>in</strong>n der<br />

Anwerbung an transnationale Formen der Zugehörigkeit entwickelten. Von e<strong>in</strong>em „kulturelle[n] Zusammenhang<br />

von Fabrik, Familie, Feierabend an e<strong>in</strong> und demselben Ort“ (40) kann <strong>für</strong> diese soziale<br />

Gruppe daher nur sehr e<strong>in</strong>geschränkt die Rede se<strong>in</strong>. Ebenso wäre <strong>für</strong> die häusliche wie betriebliche<br />

Geschlechterordnung en detail zu überprüfen, <strong>in</strong>wiefern die Nachkriegsordnung sich tatsächlich als<br />

stabil charakterisieren lässt und die 1970er Jahre e<strong>in</strong>en „sozialen Wandel von revolutionärer Qualität“<br />

zeitigten.<br />

Die vielbeschworene Krise der Arbeitsgesellschaft wird von <strong>den</strong> Autoren zu Recht als geschlechtsspezifische<br />

„Krise der männlichen Industriearbeit“ markiert (40), die nicht alle<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e bestimmte<br />

Form körperlicher Arbeit und die Bedeutung der Schwer<strong>in</strong>dustrie <strong>in</strong>sgesamt betraf, sondern auch e<strong>in</strong><br />

bestimmtes Männlichkeitskonzept <strong>in</strong>s Wanken brachte. Dass Frauen <strong>in</strong> weit seltenerem Maße <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

„Normalarbeitsverhältnis“ stan<strong>den</strong> und sich bereits <strong>in</strong> der Phase des Booms vielfach mit prekären,<br />

ungeschützten und unbezahlten Formen der Erwerbstätigkeit zufrie<strong>den</strong> geben mussten, wäre e<strong>in</strong> Anlass,<br />

auch aus geschlechterhistorischer Perspektive die konstatierten Zäsuren der bundesdeutschen<br />

Arbeitsgesellschaft – wie auch die Theorien über Fordismus und Postfordismus – genauer zu prüfen<br />

und gegebenenfalls zu modifizieren.<br />

Den entschei<strong>den</strong><strong>den</strong> Strukturbruch <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1970er Jahren untersuchen die Autoren zunächst aus<br />

der Perspektive der politischen Ökonomie, um „die großen Trends auf der Makroebene von Wirtschaft,<br />

Gesellschaft und Politik“ besser beschreiben zu können (14). Die grundlegende Argumentation<br />

ist dabei letztlich e<strong>in</strong>e wirtschaftshistorische. Es s<strong>in</strong>d das Erlahmen des Wirtschaftswachstums, die<br />

„<strong>in</strong>sgesamt zunehmen<strong>den</strong> Krisenersche<strong>in</strong>ungen <strong>in</strong> der Wirtschaft“ (35) und die Transformationen der<br />

<strong>in</strong>dustriellen Produktion, die primär das Ende der Nachkriegsordnung markieren und deren Auswirkungen<br />

auf Sozialsysteme und Leitbilder, Alltag und Lebenswelt thematisiert wer<strong>den</strong>. Auch wenn<br />

die Autoren die Engführung auf e<strong>in</strong>en (wirtschafts-, politik-, sozial- oder kulturhistorischen) Ansatz<br />

vermei<strong>den</strong> wollen, treffen sie bereits mit dem Titel des Bandes Vorentscheidungen, die es zwar erlauben,<br />

nach <strong>den</strong> Rückwirkungen der ökonomisch-<strong>in</strong>dustriellen Transformationen auf andere gesellschaftliche<br />

Bereiche zu fragen, die jedoch e<strong>in</strong>e gleichwertige Analyse der Eigenlogik und -dynamik<br />

der übrigen Teilsysteme der Gesellschaft erschweren.<br />

Auch die Aussage, dass der Strukturwandel e<strong>in</strong>en (sich deutlich langsamer vollziehen<strong>den</strong>) Mentalitätswandel<br />

erzwungen habe (35), zeigt, dass <strong>den</strong> verschie<strong>den</strong>en Ersche<strong>in</strong>ungen des Umbruchs e<strong>in</strong>e<br />

unterschiedliche Schub- und Erklärungskraft zugeschrieben wird. Die Frage nach dem Tempo und<br />

nach der Wirkungsmacht der e<strong>in</strong>zelnen „Triebkräfte des Umbruchs“ (35) wäre me<strong>in</strong>es Erachtens im<br />

Rahmen e<strong>in</strong>es Forschungsprogramms zunächst offen(er) zu halten, um sie dann <strong>für</strong> <strong>den</strong> e<strong>in</strong>zelnen<br />

Untersuchungsgegenstand erneut zu stellen und zu beantworten. Gerade weil sich argumentieren<br />

lässt, dass seit 1970 alle gesellschaftlichen Bereiche zunehmend ökonomisiert und politisiert wor<strong>den</strong><br />

s<strong>in</strong>d, könnte man sich fragen, ob e<strong>in</strong>e politisch-ökonomische Perspektive geeignet ist, um eben diesen<br />

Wandel adäquat zu beschreiben. Die neuere Kulturgeschichte würde hier möglicherweise e<strong>in</strong>en<br />

anderen Ansatz wählen und etwa nach neuen Subjektivierungsweisen fragen, die am Ende des<br />

20. Jahrhunderts e<strong>in</strong> „unternehmerisches Selbst“ (Ulrich Bröckl<strong>in</strong>g) entstehen ließen. Bei (neuen)<br />

Subjektivierungsweisen anzusetzen hieße dann, quer durch verschie<strong>den</strong>e gesellschaftliche Sektoren<br />

h<strong>in</strong>durch nach spezifischen Regierungspraktiken und -rationalitäten zu fragen, die sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e langfristige<br />

Geschichte der Gouvernementalität e<strong>in</strong>ordnen lassen, es aber auch erlauben, Zäsuren <strong>in</strong> der<br />

neueren <strong>Zeitgeschichte</strong> zu setzen. „Nach dem Boom“ ließe sich aus diesem Blickw<strong>in</strong>kel etwa durch<br />

„nach der Diszipl<strong>in</strong>argesellschaft“ ersetzen. E<strong>in</strong>e solche Periodisierung nimmt, wie Doer<strong>in</strong>g-Manteuffel<br />

und Raphael zu Recht herausstellen, ten<strong>den</strong>ziell nicht Jahrzehnte, sondern „die Moderne“ seit<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


189 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

1800 <strong>in</strong> <strong>den</strong> Blick (75) und fragt statt nach Strukturbrüchen nach epistemischen Brüchen und ihren<br />

Konsequenzen. Letztlich geht es also auch um unterschiedliche Konzeptionen des (l<strong>in</strong>earen oder<br />

nicht l<strong>in</strong>earen) historischen Wandels, über die es sich im Anschluss an <strong>den</strong> hier vorgestellten Essay<br />

weiter nachzu<strong>den</strong>ken lohnt. Während die bei<strong>den</strong> Autoren e<strong>in</strong>en politisch-ökonomischen Rahmen<br />

spannen, <strong>den</strong> es durch Mikrostudien auszufüllen gilt, arbeitet die neuere Kulturgeschichte mit Paradigmen,<br />

die e<strong>in</strong>e Aufhebung der Unterscheidung von Makro- und Mikroebene anstreben.<br />

Für die E<strong>in</strong>igung auf e<strong>in</strong>e konsensfähige Konzeptualisierung und Periodisierung der jüngsten<br />

<strong>Zeitgeschichte</strong> sche<strong>in</strong>t es mir noch zu früh – wenn man e<strong>in</strong>e solche überhaupt <strong>für</strong> erstrebenswert<br />

hält. Mit Doer<strong>in</strong>g-Manteuffels und Raphaels Band liegt je<strong>den</strong>falls e<strong>in</strong>e überaus spannende Interpretation<br />

vor, die e<strong>in</strong>en zentralen Referenzpunkt der zukünftigen Forschung darstellt.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Anselm Doer<strong>in</strong>g-Manteuffel/Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die<br />

<strong>Zeitgeschichte</strong> seit 1970, Gött<strong>in</strong>gen: Van<strong>den</strong>hoeck & Ruprecht 2008, 140 S., ISBN 978-3-525-<br />

30013-8, EUR 15,90<br />

Rezensiert von Christoph Boyer<br />

Universität Salzburg<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/05/15519.html<br />

Der schmale Band erfüllt mehrere Zwecke: Er ist e<strong>in</strong>e – vorläufige<br />

– Zusammenschau der zu erheblicher Breite angewachsenen<br />

E<strong>in</strong>zelforschung zum säkularen Strukturwandel seit<br />

<strong>den</strong> 1970er Jahren. Er ist Ortsbestimmung und provisorische,<br />

aber bereits paradigmenbil<strong>den</strong>de Synthese (zum<strong>in</strong>dest <strong>für</strong> die<br />

Zeithistorikerzunft; aus Sicht der Sozialwissenschaften ist<br />

vieles bekannt, auch theoretisch verarbeitet). Er skizziert zudem<br />

– wenn auch reichlich erratisch-unsystematisch – die<br />

Grundzüge e<strong>in</strong>es Forschungsprogramms.<br />

Physiognomie und Profil: „Nach dem Boom“ ist, erstens,<br />

e<strong>in</strong>e „negative“ Ortsbestimmung. Ich sehe dies nicht als Manko,<br />

sondern als kluge Selbstbescheidung: Wir stehen ja mitten<br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong> Turbulenzen, sodass Begriffe und Theorie des gegenwärtigen<br />

Zeitalters naturgemäß noch zu wenig konturiert<br />

s<strong>in</strong>d. Die Studie fokussiert, zweitens, auf die „langen L<strong>in</strong>ien“.<br />

Dieser synthetisierende Blick ist allemal der gängigen Portionierung<br />

der jüngsten Geschichte <strong>in</strong> Deka<strong>den</strong> („Sechziger“,<br />

„Siebziger“ usw.) vorzuziehen: Denn <strong>in</strong> diesem Buch wer<strong>den</strong><br />

die arithmetischen Konventionen des Dezimalsystems nicht<br />

mit historischen Zäsuren verwechselt. „Nach dem Boom“<br />

argumentiert, drittens, nicht monokausal, sondern will die Wechselwirkungen zwischen <strong>den</strong> Sphären<br />

Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur herausarbeiten; unterschiedliche Entwicklungsgeschw<strong>in</strong>digkeiten<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Rechnung gestellt. Aufs Ganze gesehen läuft es auf <strong>den</strong> Primat der politischen<br />

Ökonomie h<strong>in</strong>aus: It’s the economy, stupid. Ich halte dies <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e sehr gute Heuristik, solange<br />

sie sich nicht dogmatisch verhärtet.<br />

Der „Strukturbruch“: Als Ursachen des Übergangs von <strong>den</strong> demokratisch-keynesianisch-konsensual-neokorporatistisch-nationalstaatlich-westernisierten<br />

trente glorieuses <strong>in</strong> Mittel- und Westeuropa<br />

zur Folgeepoche wer<strong>den</strong> die Öl- und die Währungskrisen der 1970er Jahre, der Niedergang der „alten“<br />

Industrien, allgeme<strong>in</strong>er die Transformation der fordistischen Industrie- <strong>in</strong> die elektronische Dienstleistungsgesellschaft<br />

im Zeichen der dritten <strong>in</strong>dustriellen Revolution und vor dem H<strong>in</strong>tergrund der<br />

Globalisierung benannt. Zusammen mit <strong>den</strong> sozialkulturellen Folgewirkungen ist dies mehr als ausreichend<br />

Beweismaterial <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Megazäsur. Allerd<strong>in</strong>gs f<strong>in</strong>de ich die Determ<strong>in</strong>anten nicht h<strong>in</strong>reichend<br />

sorgfältig sortiert, gewichtet und „verl<strong>in</strong>kt“. S<strong>in</strong>d die Ölkrisen und das Ende von „Bretton


191 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Woods“ zufällig zeitlich ko<strong>in</strong>zi<strong>den</strong>t oder gibt es subkutane Zusammenhänge? Probat wäre es, die<br />

kurzfristig wirksamen Impulse des Wandels deutlicher von „technologischer Innovation“ und „Globalisierung“<br />

als <strong>den</strong> entschei<strong>den</strong><strong>den</strong> Langfristdeterm<strong>in</strong>anten abzuheben. Ist die elektronische Revolution<br />

Ursache, ist die „Entriegelung der Volkswirtschaften“ Folge? Oder s<strong>in</strong>d diese bei<strong>den</strong> Prozesse reziprok<br />

gekoppelt? Wie hängen die – kaum explizierte – güterwirtschaftliche Globalisierung und der – überhaupt<br />

nicht explizierte – „digitale F<strong>in</strong>anzmarkt-Kapitalismus“ zusammen? Me<strong>in</strong> Zwischenfazit: Die<br />

politische Sozialökonomie des Strukturwandels ist noch zu wenig gründlich begrifflich und theoretisch<br />

durchgearbeitet, manches bleibt empirisch-faktografisch zu blass. Es wird beschrieben, aber nicht<br />

konsequent und energisch genug erklärt. Kaum Konturen haben die politischen Akteure („Parteien<br />

und Regierungen“); e<strong>in</strong>e em<strong>in</strong>ent wichtige Größe bleibt weit im H<strong>in</strong>tergrund: Die transnationalen<br />

Unternehmen. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass die wirtschaftshistorische und wirtschaftswissenschaftliche<br />

Literatur nur <strong>in</strong> Ansätzen berücksichtigt wird.<br />

Noch e<strong>in</strong> Wort zur Globalisierung: Natürlich wäre es unbillig, e<strong>in</strong>er Untersuchung mit Fokus<br />

„Wandel <strong>in</strong> Westeuropa“ e<strong>in</strong> weltumspannendes Bezugssystem abzuverlangen; e<strong>in</strong>e Globalgeschichte<br />

der Globalisierung soll es ja nicht se<strong>in</strong>. Allerd<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d die Vorgänge <strong>in</strong> Europa ohne <strong>den</strong> Blick auf<br />

die weltwirtschaftlichen Kontexte nur unvollständig zu verstehen. Die Reorganisation der Lohnarbeit<br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong> alten Industrieländern etwa hängt eng mit dem Strukturwandel der <strong>in</strong>ternationalen Arbeitsteilung<br />

unter dem Druck des globalen Standortwettbewerbs zusammen. Wohl blicken die Autoren aus<br />

ihrem westeuropäischen Zimmer nach draußen – aber sozusagen durch die Milchglasscheibe. E<strong>in</strong><br />

umgreifendes Koord<strong>in</strong>atensystem lässt sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em schmalen Essay natürlich nicht entfalten; es<br />

müsste aber wenigstens, mit schärferem Strich, skizziert wer<strong>den</strong>.<br />

„Nach dem Boom“ ist e<strong>in</strong>e Niedergangsgeschichte aus der Perspektive der europäischen<br />

Wohlstandszone; <strong>in</strong>sofern ist der Essay übrigens auch e<strong>in</strong> aufschlussreiches Zeitdokument. Das entfesselte,<br />

weltweit agierende Kapital, das dem nationalen Sozialstaat se<strong>in</strong>e Grenzen zeigt, macht dem<br />

Volksheim <strong>den</strong> Garaus: Diese Sicht ist ke<strong>in</strong>eswegs falsch, sie verkürzt aber doch komplexe und ambivalente<br />

Sachverhalte zu arg auf die gängigen globalisierungskritischen Topoi. Der Abbau grenzüberschreitender<br />

Kapitalkontrollen und die Schleifung der Barrieren im <strong>in</strong>ternationalen Handel produzieren<br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong> alten Industrieländern nicht ausschließlich Verlierer. Die Gew<strong>in</strong>n-Verlust-Bilanzen s<strong>in</strong>d unübersichtlich<br />

und komplex – e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>trikate Problematik, die differenziert nach Volkswirtschaften,<br />

Branchen und Arbeitsmarktsegmenten durchzukonjugieren wäre. Für me<strong>in</strong>e Begriffe wird auch die<br />

europäische Integration zu voreilig als neo- und marktliberales Unternehmen abgebürstet. Und wieder<br />

gilt hier: E<strong>in</strong>e Studie im Reclamformat kann die nötigen Differenzierungen nicht ausarbeiten, sie<br />

müsste aber doch ihr Problembewusstse<strong>in</strong> deutlicher markieren.<br />

Noch e<strong>in</strong>mal nach<strong>den</strong>ken sollte man über die tragen<strong>den</strong> Begriffe „Strukturbruch“ und „revolutionär“.<br />

Die Wandelphänomene f<strong>in</strong>de ich, aufs Ganze gesehen, <strong>in</strong> der Studie zu deutlich markiert, die<br />

Kont<strong>in</strong>uitäten zu schwach. Am ehesten greifbar ist der Umschwung noch <strong>in</strong> der Wirtschaftstheorie,<br />

wesentlich behutsamer verläuft er <strong>in</strong> der Wirtschaftspolitik. Sicherlich: Längerfristig und <strong>in</strong>sgesamt<br />

hat es bedeutende Verschiebungen gegeben. Trotzdem kann man „<strong>den</strong> Keynesianismus“ nicht so<br />

hart gegen „<strong>den</strong> Neoliberalismus“ absetzen, das fordistische Produktionsregime und der „rhe<strong>in</strong>ische<br />

Kapitalismus“ s<strong>in</strong>d nicht obsolet. Und zur – auch von <strong>den</strong> Autoren zu Protokoll genommenen –<br />

ziemlich erstaunlichen Beharrungskraft des Wohlfahrtsstaats passt die Rede vom „Bruch“ ohneh<strong>in</strong><br />

nicht.<br />

„Nach dem Boom“ ist e<strong>in</strong>e west- und mitteleuropäische Meistererzählung – sozusagen der Blick<br />

auf Europa von der merow<strong>in</strong>gisch-karol<strong>in</strong>gischen Warte aus. Man könnte auch sagen: Hier en<strong>den</strong> die<br />

Horizonte an der Zonengrenze. Der Osten Europas kommt nicht vor, der Zerfall des Ostblocks ist<br />

lediglich „Begleitersche<strong>in</strong>ung“ des Übergangs. Nun waren die Industriegesellschaften des europäischen<br />

Westens und die im staatssozialistischen Ostmittel- und Osteuropa seit <strong>den</strong> frühen 1970er Jahren<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


192 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

offensichtlich mit i<strong>den</strong>tischen Herausforderungen – Globalisierung und dritte <strong>in</strong>dustrielle Revolution –<br />

konfrontiert. Lediglich die Antworten waren, systembed<strong>in</strong>gt, unterschiedlich. Weil im Staatssozialismus<br />

die Anpassung an <strong>den</strong> technologischen Wandel misslang und die E<strong>in</strong>passung <strong>in</strong> die Weltwirtschaft<br />

„auf Augenhöhe mit dem Westen“ verfehlt wurde, mündete der „östliche Pfad“ <strong>in</strong> die Agonie,<br />

letztlich <strong>in</strong> <strong>den</strong> Bruch von 1989. „Der Westen“ war kurz- und mittelfristig erfolgreicher. Ob dieser<br />

Erfolg von Dauer ist, wird sich zeigen; die kritischen Stimmen je<strong>den</strong>falls mehren sich. Wie dem<br />

auch sei, essenziell ist: Der Strukturwandel der europäischen Industriegesellschaften seit <strong>den</strong> 1970er<br />

Jahren war und ist e<strong>in</strong> säkularer und krisenhafter Wandel <strong>in</strong> West und Ost. E<strong>in</strong>e komplexe Analyse<br />

müsste dies <strong>in</strong> Rechnung stellen. Die Halbierung der Komplexität mag aus Grün<strong>den</strong> der Arbeitsökonomie<br />

durchgehen. Allerd<strong>in</strong>gs gibt man damit e<strong>in</strong> starkes Argument <strong>für</strong> die Epochenschwelle des<br />

späten 20. Jahrhunderts aus der Hand: Von welthistorischer Bedeutung ist diese auch und gerade<br />

aufgrund ihrer systemübergreifen<strong>den</strong> Relevanz.<br />

Was bleibt zu tun? Man müsste die jüngste <strong>Zeitgeschichte</strong> <strong>in</strong> die längeren L<strong>in</strong>ien e<strong>in</strong>ordnen: Etwa<br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong> Bogen, der sich von der ersten zur zweiten Globalisierung spannt. Vermutlich wer<strong>den</strong> <strong>in</strong> dieser<br />

längerfristigen Perspektive eher die trente glorieuses als e<strong>in</strong>e – eben gloriose – Ausnahmeersche<strong>in</strong>ung<br />

figurieren. Angesichts der Offenheit der Epoche nach vorne bleiben solche Theorien des gegenwärtigen<br />

Zeitalters jedoch vorerst hochspekulativ.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Anselm Doer<strong>in</strong>g-Manteuffel/Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die<br />

<strong>Zeitgeschichte</strong> seit 1970, Gött<strong>in</strong>gen: Van<strong>den</strong>hoeck & Ruprecht 2008, 140 S., ISBN 978-3-525-<br />

30013-8, EUR 15,90<br />

Rezensiert von Jens Hacke<br />

Hamburger <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Sozialforschung<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/05/15520.html<br />

Seit geraumer Zeit erkennen die Geschichtswissenschaften <strong>in</strong><br />

der Ölkrise, dem Niedergang des Währungssystem von Bretton<br />

Woods und der E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> die Grenzen des Wachstums zu<br />

Beg<strong>in</strong>n der 1970er Jahre e<strong>in</strong>en entschei<strong>den</strong><strong>den</strong> E<strong>in</strong>schnitt.<br />

Damals endete das Gol<strong>den</strong> Age (Eric Hobsbawm), e<strong>in</strong>e Zeit<br />

bis dato unbekannter wirtschaftlicher Blüte unter <strong>den</strong> strukturell<br />

stabilen Bed<strong>in</strong>gungen des Kalten Krieges. Das Autorenduo<br />

Anselm Doer<strong>in</strong>g-Manteuffel und Lutz Raphael unternimmt<br />

es nun, die Epoche „nach dem Boom“ genauer zu analysieren<br />

und damit Perspektiven <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e <strong>Zeitgeschichte</strong> als<br />

„Epoche der Mitleben<strong>den</strong>“ zu entwickeln, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er noch<br />

nicht abgeschlossenen Ära auch gegenwartsdiagnostisch relevant<br />

bleibt. Schon die sozialwissenschaftliche und ökonomische<br />

Akzentsetzung macht deutlich, dass hier zum<strong>in</strong>dest implizit<br />

der Versuch gemacht wird, gegen die Ten<strong>den</strong>z e<strong>in</strong>es kulturgeschichtlichen<br />

Exotismus der letzten Jahre anzusteuern<br />

und e<strong>in</strong> Comeback der „harten“ Themen zu forcieren. In gewisser<br />

Weise kann man <strong>den</strong> Trend erkennen, wieder an die<br />

Sozialgeschichte als Historische Sozialwissenschaft anzuknüpfen,<br />

freilich nicht ohne die Paradigmen der Forschung zu modifizieren:<br />

Weder der Nationalstaat noch die Klassen- und Milieustrukturen, die der sozialgeschichtlichen<br />

Forschung e<strong>in</strong>en Rahmen geliefert haben, lassen sich ohne Weiteres fortführen.<br />

Sehr überzeugend legen die Autoren Bed<strong>in</strong>gungsgefüge und Infrastruktur der Boomphase dar. Politisch<br />

e<strong>in</strong>gebun<strong>den</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong> europäischen Integrationsprozess und das westliche Bündnis unter der Führung<br />

der USA blieb der Nationalstaat die wesentliche Steuerungs<strong>in</strong>stanz. Planification und Keynesianismus<br />

bestimmten <strong>den</strong> technokratisch-utopischen Glauben daran, Fortschritt normieren und dauerhaft<br />

gestalten zu können. Das fordistische Modell e<strong>in</strong>er arbeitsteiligen Industriegesellschaft verhieß<br />

Stabilität, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em liberalen Konsens <strong>den</strong> Ausgleich zwischen Kapital, Arbeit und Staat unter<br />

der Voraussetzung produktiven Wachstums dauerhaft ersche<strong>in</strong>en ließ und e<strong>in</strong>e europaweite Ausdehnung<br />

des Wohlfahrtsstaates ermöglichte. Doer<strong>in</strong>g-Manteuffel und Raphael zeigen mit guten Argumenten,<br />

wie sich seit <strong>den</strong> 1970er Jahren unter dem Globalisierungsdruck e<strong>in</strong> neues Produktions- und<br />

Wirtschaftsregime etablierte, das diese Prämissen <strong>in</strong>frage stellte. Die Zementierung e<strong>in</strong>er expansiven<br />

Sozialpolitik, die erst <strong>in</strong> der zweiten Hälfte der 1970er Jahre ihren Höhepunkt erreicht, ist gleichsam


194 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

der verzögerte „Schlussste<strong>in</strong> des westeuropäischen Modernisierungsmodells“ (30) und gießt Wasser<br />

auf die Mühlen e<strong>in</strong>es neoliberalen Reform<strong>den</strong>kens, das schließlich im angelsächsischen Raum <strong>den</strong><br />

konservativen roll back der Thatcherites und Reaganomics antrieb. Nicht erst die F<strong>in</strong>anzkrise des<br />

letzten Jahres führt vor Augen, dass sich durch <strong>den</strong> Niedergang der Schlüssel<strong>in</strong>dustrien und die dadurch<br />

bed<strong>in</strong>gte Transformation der Arbeitsgesellschaft e<strong>in</strong> „digitaler F<strong>in</strong>anzmarkt-Kapitalismus“ (8)<br />

etablierte, der neuartigen Parametern folgt, unsere Lebenswelt verändert und zu neuen Ungleichheiten<br />

führt.<br />

Die Geschichtswissenschaft hat sich stets die Aufgabe gestellt, markante Zäsuren zu begrün<strong>den</strong>,<br />

und es spricht vieles <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en Epochenwandel seit <strong>den</strong> 1970er Jahren. Doer<strong>in</strong>g-Manteuffel und Raphael<br />

konzentrieren sich zu e<strong>in</strong>em guten Teil auf die Historisierung von soziologischen Zeitdiagnosen,<br />

an <strong>den</strong>en sich gesellschaftliche Entwicklungsschübe trefflich ablesen lassen. Allerd<strong>in</strong>gs ist es das<br />

Geschäft der seismografisch orientierten soziologischen Analyse, dem Wandel besondere Aufmerksamkeit<br />

zu schenken. Das kann zu Verzerrungen führen. Auch <strong>in</strong> der post<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft<br />

(Daniel Bell) verschw<strong>in</strong>det der unternehmerische Mittelstand nicht; die Risikogesellschaft (Ulrich<br />

Beck) br<strong>in</strong>gt nicht nur Sicherheitsbedürfnisse, sondern neue Sicherheitsgaranten hervor; und der<br />

„flexible Mensch“ (Richard Sennett) mag als Leitbild e<strong>in</strong>er new economy dienen, beschreibt aber<br />

ke<strong>in</strong>eswegs flächendeckend gesellschaftliche Mentalitäten. Hier ist Vorsicht angebracht. Zwar verabschie<strong>den</strong><br />

die Autoren e<strong>in</strong>e verme<strong>in</strong>tlich naive Vorstellung der Modernisierungstheorie. Es ist aber<br />

daran zu er<strong>in</strong>nern, dass die Geschichte der letzten vierzig Jahre ke<strong>in</strong>eswegs so geradl<strong>in</strong>ig verlaufen<br />

und <strong>in</strong>tellektuell begleitet wor<strong>den</strong> ist, wie teilweise suggeriert wird. Daniel Bell lässt sich nicht auf<br />

e<strong>in</strong>en schlagwortspen<strong>den</strong><strong>den</strong> Modesoziologen reduzieren, sondern hat dialektisch über die „cultural<br />

contradictions of capitalism“ nachgedacht. Sogar die deutschen Vor<strong>den</strong>ker e<strong>in</strong>es technokratischen<br />

Konservatismus (Ernst Forsthoff, Arnold Gehlen, Helmut Schelsky) hatten schon auf das labile Bed<strong>in</strong>gungsgefüge<br />

e<strong>in</strong>es expandieren<strong>den</strong> Sozialstaats verwiesen und lassen sich nicht umstandslos mit<br />

dem Zeitgeist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>s setzen.<br />

Der Essay steckt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em kursorisch-tentativen Charakter e<strong>in</strong> noch wenig vermessenes Forschungsfeld<br />

ab. Vieles wird angetippt, aber gerade wenn es spannend wird, greifen die Verfasser<br />

häufig zum Konjunktiv. Das ist durchaus anregend, bleibt aber dort unbefriedigend, wo <strong>in</strong> <strong>den</strong> annoncierten<br />

Forschungshypothesen lediglich relativ unumstrittene Tatsachenfeststellungen zu sehen s<strong>in</strong>d.<br />

Weder kann es überraschen, dass die Auswirkungen der sozioökonomischen Strukturkrisen zuerst im<br />

bildungsbenachteiligten Migrantenmilieu spürbar wer<strong>den</strong>, noch löst es Erstaunen aus, dass <strong>den</strong> Zentren<br />

der Schwer<strong>in</strong>dustrie neue Standorte der Wissensproduktion nachfolgen.<br />

Die neuerliche – <strong>in</strong> vielerlei H<strong>in</strong>sicht begrüßenswerte – H<strong>in</strong>wendung zu sozialen und ökonomischen<br />

Makrostrukturen hat ihren Preis. Der Mensch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en <strong>in</strong>dividuellen Lebenserfahrungen ist <strong>in</strong><br />

der von Doer<strong>in</strong>g-Manteuffel und Raphael vorgestellten Perspektive jenseits systemischer Eigenlogiken<br />

nur noch schwer greifbar; er wird auf e<strong>in</strong> Objekt von Sozialregulation reduziert und kann sich nur<br />

mühsam an neue technische und mediale Lebenswelten anpassen. Für <strong>den</strong> Eigens<strong>in</strong>n von kompensatorischen<br />

Handlungen und die Suche nach Entlastungen im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er historischen Anthropologie bleibt<br />

wenig Raum. Dazu passen die irritierende These vom „Rückgang des geschichtlichen Bewusstse<strong>in</strong>s<br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong> 1980er Jahren“ und der zeitgleich konstatierte Abschied von der Fortschrittsidee (89). Unkommentiert<br />

ersche<strong>in</strong>t diese Beobachtung angesichts deutscher I<strong>den</strong>titätsdebatten, e<strong>in</strong>er forcierten<br />

Musealisierungsten<strong>den</strong>z und e<strong>in</strong>er Rückbes<strong>in</strong>nung auf Denkmalschutz und Er<strong>in</strong>nerungspflege zum<strong>in</strong>dest<br />

erläuterungsbedürftig.<br />

Es versteht sich ke<strong>in</strong>eswegs von selbst, wenn das Autorengespann jede Fortschrittsidee, die auf<br />

„Demokratisierung, Emanzipation und Modernisierung“ beruht (118), als erledigt ansieht. Sicherlich<br />

vermag heute e<strong>in</strong>e dezidiert progressive Rhetorik ke<strong>in</strong>e Begeisterung mehr zu entfachen, aber es wäre<br />

wohl naiv zu glauben, dass soziale und politische Ideen ohne die Hoffnung auskommen, die Lebens-<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


195 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

verhältnisse nachhaltig zu verbessern. Vielleicht wird erst im Rückblick deutlich, wie erkenntnisleitend<br />

die modernisierungstheoretische Grundierung der Sozialgeschichte war. Bei allem, was man ihr vorwerfen<br />

kann: Über ihre Werturteile herrschte ke<strong>in</strong> Zweifel. Der Historischen Sozialwissenschaft<br />

g<strong>in</strong>g es um soziale Gerechtigkeit und Klassenchancen, um Demokratie und Partizipation; danach<br />

wur<strong>den</strong> die historischen Handlungsspielräume und Alternativen bemessen – der sozialdemokratisch<br />

geprägte, gesellschaftlich liberalisierte Wohlfahrtsstaat war das Ende der Geschichte. Nach der „Westernisierung“<br />

(Doer<strong>in</strong>g-Manteuffel) hat die Geschichtswissenschaft diese Überzeugungsgewissheit<br />

verloren. Die Zeithistorie kann sich nur schwerlich auf e<strong>in</strong>e Position verme<strong>in</strong>tlicher Objektivität zurückziehen.<br />

Sie folgt der Politik nach, neue Bewertungsmaßstäbe <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en gut begründeten neuen<br />

Kompromiss zwischen ökonomischer Liberalisierung und sozialstaatlicher Konservierung zu f<strong>in</strong><strong>den</strong>.<br />

Wie komplex diese Anforderungen s<strong>in</strong>d, welche „gedankliche Präzision“ und Begriffssensibilität da<strong>für</strong><br />

notwendig wird (120), macht das Autorengespann deutlich.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Anselm Doer<strong>in</strong>g-Manteuffel/Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die<br />

<strong>Zeitgeschichte</strong> seit 1970, Gött<strong>in</strong>gen: Van<strong>den</strong>hoeck & Ruprecht 2008, 140 S., ISBN 978-3-525-<br />

30013-8, EUR 15,90<br />

Rezensiert von Stephan Lessenich<br />

Friedrich-Schiller-Universität, Jena<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/05/15521.html<br />

Wenn zwei Zeithistoriker vom Schlage Anselm Doer<strong>in</strong>g-Manteuffels<br />

und Lutz Raphaels sich zusammentun, dann freut sich<br />

der Soziologe. Mit ihren Thesen von der Westernisierung der<br />

Bundesrepublik oder der Verwissenschaftlichung des Sozialen<br />

gehören die bei<strong>den</strong> Autoren von „Nach dem Boom“ nun<br />

schon seit Längerem zu <strong>den</strong> wichtigsten und <strong>in</strong>teressantesten<br />

Stichwortgebern e<strong>in</strong>er Soziologie, die nach <strong>den</strong> Zeichen der<br />

Zeit fragt und dabei <strong>den</strong> Blick auf das Gewor<strong>den</strong>se<strong>in</strong> der Gegenwart<br />

lenkt. Mit ihrem geme<strong>in</strong>sam verfassten Buch bestätigen<br />

sie erneut, wie fruchtbar der wechselseitige Griff <strong>in</strong>s Regal<br />

historischer und soziologischer Zeitdiagnosen <strong>für</strong> beide Seiten<br />

se<strong>in</strong> kann. Der soziologische Leser des Bandes ist erfreut<br />

über <strong>den</strong> epochenanalytischen Rückgriff des Historikerpaars<br />

auf die facheigene Zeitdiagnostik der jüngeren Vergangenheit –<br />

und angetan von dem sympathisch vermessenen Anspruch<br />

e<strong>in</strong>er „histoire totale“ der Gegenwart. Er ist zudem überzeugt,<br />

dass die Überw<strong>in</strong>dung der historiografischen Dekadologie<br />

zugunsten e<strong>in</strong>er problemzentrierten Perspektive die bei<strong>den</strong><br />

Diszipl<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>ander noch näher zu br<strong>in</strong>gen geeignet ist. Und<br />

er lässt sich gerne fangen von dem Charme e<strong>in</strong>es historiografisch<br />

konstatierten „Paradigmenwechsels der Moderne“ (darunter macht es die soziologische Diagnostik<br />

selbst ja eigentlich auch nie), von der Verabschiedung der Epoche des <strong>in</strong>dustriellen Wohlfahrtskapitalismus<br />

und der Begrüßung des „digitalen F<strong>in</strong>anzmarkt-Kapitalismus“, überhaupt von der<br />

die Darstellung durchziehen<strong>den</strong> Metaphorik des Übergangs.<br />

Sicher, das kle<strong>in</strong>e Bändchen kann – alle<strong>in</strong> se<strong>in</strong>es Umfangs von wenig mehr als hundert Seiten<br />

wegen – eher historische Skizzen zeichnen als e<strong>in</strong> epochales Gemälde malen und es muss schon von<br />

der Anlage her mehr ankündigen als es bereits e<strong>in</strong>zulösen vermag. Und klar auch: Die drei Kapitel zu<br />

gesellschaftlichem Wandel, sozialwissenschaftlichen Diagnosen und zeithistorischen Perspektiven<br />

fallen e<strong>in</strong> wenig ause<strong>in</strong>ander, s<strong>in</strong>d (noch) zu wenig mite<strong>in</strong>ander vermittelt und verschränkt. Zudem<br />

ersche<strong>in</strong>en die als „Knotenpunkte“ zukünftiger Entwicklung i<strong>den</strong>tifizierten Forschungsfelder irgendwie<br />

zufällig oder je<strong>den</strong>falls unsystematisch zusammengestellt, leicht willkürlich vielleicht und womöglich<br />

allzu sehr die eigenen wissenschaftlichen Steckenpferde betonend. Aber wie dem auch se<strong>in</strong> mag: Die<br />

starke These vom Strukturbruch der (west-)europäisch-(nord-)atlantischen Geschichte, von e<strong>in</strong>er


197 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

vers<strong>in</strong>ken<strong>den</strong> – oder bereits versunkenen – Epoche e<strong>in</strong>erseits, e<strong>in</strong>er aufsteigen<strong>den</strong> – immer deutlicher<br />

sichtbar wer<strong>den</strong><strong>den</strong> – andererseits, stellt e<strong>in</strong>e auch <strong>für</strong> die <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>äre Diskussion äußerst produktive<br />

Heuristik dar. Wenn ich nun also drei Punkte der Nachfrage, des Zweifels und auch des Tadels<br />

vorbr<strong>in</strong>ge, dann geschieht dies auf der Grundlage eben dieser überzeugten Anerkennung des<br />

heuristischen Werts der von <strong>den</strong> Autoren vorgeschlagenen Zugänge zur jüngsten <strong>Zeitgeschichte</strong>.<br />

Der erste E<strong>in</strong>wand ist auf gewisse Weise kontra<strong>in</strong>tuitiv und auch riskant, <strong>in</strong>sofern der Soziologe<br />

die Historiker zu fragen wagt, ob sie <strong>in</strong> ihrer Rekonstruktion der gegenwartsnahen <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

nicht vielleicht – wie dies ansonsten eher unsere<strong>in</strong>s tut – die Momente des Wandels über- und jene<br />

der Kont<strong>in</strong>uität unterschätzen. Sicherlich ist es auch der (von mir durchaus geschätzten) Lust an der<br />

starken Formulierung geschuldet, wenn man <strong>in</strong> „Nach dem Boom“ lesen darf, dass fordistisches<br />

Produktionsregime und rhe<strong>in</strong>ischer Kapitalismus „Vergangenheit gewor<strong>den</strong>“ s<strong>in</strong>d und dass mit deren<br />

Abschied „auch die damit verbun<strong>den</strong>en sozialen und politischen Ordnungsmuster sowie die <strong>in</strong>dividuellen<br />

Verhaltensgewohnheiten rasch ihre Gültigkeit verloren“. Schaut man sich aber <strong>in</strong> der Gesellschaft<br />

unserer unmittelbaren Gegenwart um, so ersche<strong>in</strong>t der Industrialismus – ökonomisch, politisch,<br />

kulturell – doch eher als e<strong>in</strong>e Vergangenheit, die nicht vergehen will. Wie deutet man im Lichte<br />

der Strukturbruchthese die krisen<strong>in</strong>duzierte Sorge des Staates (und nicht nur hierzulande) um die<br />

Sicherung der national<strong>in</strong>dustriellen Kernunternehmen, wie die Konjunktur e<strong>in</strong>er Politik der „Abwrackprämien“<br />

(und nicht nur hierzulande), wie die verbreitete Sorge um die Aufrechterhaltung klassisch<br />

lohnarbeiterischer – sprich: <strong>in</strong>dustriegesellschaftlicher – Lebensführungsmuster? Hat die von <strong>den</strong><br />

bei<strong>den</strong> Autoren bereits <strong>in</strong> Ehren verabschiedete „<strong>in</strong>dustrielle Welt“ nicht offenkundig e<strong>in</strong> Leben<br />

nach dem Tod? In <strong>den</strong> sozialen Deutungsmustern, Habitualisierungen und Mentalitäten ist das „Alte“<br />

noch präsenter als wir (und das trifft auch die soziologischen Zeitdiagnostiker) dies womöglich wahrhaben<br />

wollen. Das aber setzt der Wirkmächtigkeit e<strong>in</strong>es gesellschaftlichen Strukturbruchs gesellschaftliche<br />

Grenzen, die es genauer auszuloten gälte.<br />

E<strong>in</strong> zweiter E<strong>in</strong>wurf ist me<strong>in</strong>er eigenen Forschungspräferenz <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e historisch-politische Soziologie<br />

des Wohlfahrtsstaats geschuldet – e<strong>in</strong> Feld, das im Buch (wie auch im Kanon der dort aufgelisteten<br />

Forschungsthemen der Zukunft) erfreulicherweise e<strong>in</strong>e durchaus bedeutsame Rolle spielt, das<br />

jedoch überraschenderweise auch bei dem von mir geschätzten Autorenpaar e<strong>in</strong>ige typische Assoziationsmuster<br />

weckt, die notwendig <strong>den</strong> Wissenssoziologen auf <strong>den</strong> Plan rufen. Denn e<strong>in</strong>erseits erkennen<br />

Doer<strong>in</strong>g-Manteuffel und Raphael hier das zuvor zur Anerkennung e<strong>in</strong>geklagte Überschüssige<br />

des Ancien Régime an: Der Sozialstaat ist <strong>für</strong> sie e<strong>in</strong> <strong>in</strong>stitutioneller Untoter des <strong>in</strong>dustriellen Zeitalters,<br />

der auch nach der Krise 1973/74 „überall <strong>in</strong> Europa e<strong>in</strong>e Selbstverständlichkeit“ blieb und „<strong>für</strong> weitere<br />

drei Jahrzehnte die Gesellschaftsordnung des Booms“ stabilisierte. Doch wenn es andererseits<br />

um die wertende Würdigung dieser lebensverlängern<strong>den</strong> Maßnahme geht, dann reproduzieren die<br />

Autoren – so lese ich die entsprechen<strong>den</strong> Passagen – relativ ungefiltert die antisozialstaatlichen Wissensbestände<br />

sogenannter „neoliberaler“ Politik: Da wiesen dann schon zu Beg<strong>in</strong>n der Periode „aufmerksame<br />

Rechner“ auf sozialpolitische F<strong>in</strong>anzierungsrisiken h<strong>in</strong>, da beschritt der Staat seither <strong>den</strong><br />

„Weg <strong>in</strong> die Schul<strong>den</strong>falle“, da „überforderten“ gesellschaftliche Transferansprüche „die Leistungsfähigkeit<br />

des Wohlfahrtsstaats“. Fehlt eigentlich nur noch die (im Buch dankenswerterweise nicht<br />

bemühte) rhetorische Figur von der Ausweitung des Sozialkonsums „zu Lasten zukünftiger Generationen“,<br />

um die Phantasmagorie spätmodern antiwohlfahrtsstaatlicher Argumentationsfiguren komplett<br />

zu machen. Man würde sich wünschen, dass diesbezüglich weniger suggestiv argumentiert würde.<br />

Bleibt schließlich noch e<strong>in</strong>e dritte Frage, die sich heute (Ungnade der frühen Veröffentlichung!)<br />

vermutlich ganz oder je<strong>den</strong>falls doch deutlich anders stellt als zum Zeitpunkt der Konzeption des<br />

Bandes. Denn würde man diesen heute, im Mai 2009, schreiben, dann würde man ihn womöglich<br />

schon nicht mehr „Nach dem Boom“, sondern „Nach dem Kollaps“ betiteln – und damit schon wieder<br />

e<strong>in</strong>en neuen Strukturbruch diagnostizieren. Genau genommen wirft dies zwei Fragen von unter-<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


198 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

schiedlicher theoretisch-konzeptioneller (und auch forschungsheuristischer) Tragweite auf. Zum<br />

e<strong>in</strong>en nämlich ersche<strong>in</strong>t im Lichte der jüngsten Krisenprozesse durchaus fraglich, ob der von Doer<strong>in</strong>g-<br />

Manteuffel und Raphael zum Epochenbegriff der Gegenwart erhobene, aber ansonsten kaum weiter<br />

bestimmte „digitale F<strong>in</strong>anzmarkt-Kapitalismus“ wirklich e<strong>in</strong>e stabile (sagen wir es e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>mal<br />

paramarxistisch) Gesellschaftsformation darstellt – oder ob er nicht eigentlich schon wieder gestorben<br />

ist (was nicht bedeutet, dass die spät<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaften nicht auch mit se<strong>in</strong>em Erbe<br />

noch länger zu tun hätten). Zum anderen verweist dies auf die grundsätzliche Frage, wie weit sich<br />

die gegenwartsnahe <strong>Zeitgeschichte</strong> eigentlich <strong>in</strong> die Gegenwart vorwagen darf, ohne da zu en<strong>den</strong>,<br />

wo die Soziologie schon ist: Im Multioptionsraum ebenso flüchtiger wie riskanter Zeitdiagnosen.<br />

Um nicht missverstan<strong>den</strong> zu wer<strong>den</strong>: Ich heiße die Kollegen herzlich willkommen im Treibhaus historisch-soziologischer<br />

Gesellschaftsdiagnostik. Für das Treiben kluger, kreativer und kritischer Blüten<br />

ist hier allemal noch reichlich Platz.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Rudolf Erhard: Edmund Stoiber. Aufstieg und Fall, Köln: Fackelträger-Verlag 2008,<br />

ISBN 978-3-7716-4385-0, 224 S., EUR 19,95<br />

Rezensiert von Thomas Schlemmer<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 7/8<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/07/15711.html<br />

Ne<strong>in</strong>, Edmund Stoiber hat es nicht geschafft. Er ist 2002 nicht als erster CSU-Politiker Bundeskanzler<br />

gewor<strong>den</strong>, er hat neben dem Respekt se<strong>in</strong>er bayerischen Landsleute auch auf dem Höhepunkt<br />

se<strong>in</strong>er Karriere nur selten ihre Herzen erreicht, und er ist nicht als bedeutendster M<strong>in</strong>isterpräsi<strong>den</strong>t –<br />

noch vor Franz Josef Strauß oder Alfons Goppel – <strong>in</strong> die Geschichte des Freistaats e<strong>in</strong>gegangen.<br />

Stattdessen gab er se<strong>in</strong>en Kritikern selbst die Werkzeuge <strong>in</strong> die Hand, um se<strong>in</strong> Denkmal zu schleifen,<br />

bevor es überhaupt errichtet wor<strong>den</strong> war – angefangen mit der <strong>für</strong> ihn und se<strong>in</strong>e Partei verhängnisvollen<br />

Entscheidung, im Herbst 2005 nicht – wie bereits groß verkündet – als Wirtschaftsm<strong>in</strong>ister<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Kab<strong>in</strong>ett Merkel/Müntefer<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>zutreten bis h<strong>in</strong> zur Affäre um Gabriele Pauli, als es e<strong>in</strong>er<br />

weith<strong>in</strong> unbekannten Prov<strong>in</strong>zpolitiker<strong>in</strong> aus Mittelfranken gelang, <strong>den</strong> Goliath aus München so sehr<br />

<strong>in</strong>s Straucheln zu br<strong>in</strong>gen, dass er – nach verhängnisvollen Fehle<strong>in</strong>schätzungen se<strong>in</strong>er Lage und e<strong>in</strong>em<br />

verheeren<strong>den</strong> Krisenmanagement – letztlich stürzte.<br />

Die Geschichte vom Aufstieg und Fall des Edmund Stoiber bietet Stoff <strong>für</strong> e<strong>in</strong> spannendes Buch,<br />

wobei es über die Biografie e<strong>in</strong>es letztlich Gescheiterten h<strong>in</strong>aus um weit mehr geht: Um die Entwicklung<br />

Bayerns an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert, um die Chancen der Regionalpartei<br />

CSU im europäisch-globalisierten Rahmen oder um die Verschiebungen im bundesdeutschen Parteiensystem,<br />

das aufgrund nachlassender i<strong>den</strong>titätsstiftender B<strong>in</strong>dekräfte immer unübersichtlicher wird.<br />

Da es noch e<strong>in</strong>e Weile dauern wird, bis sich die Historiker dieser Jahre annehmen wer<strong>den</strong>, bleibt die<br />

Geschichte von Edmund Stoiber zunächst Politikwissenschaftlern oder Journalisten wie Rudolf Erhard<br />

überlassen, der sich bereits kurz nach der desaströsen Niederlage der CSU bei der Landtagswahl<br />

im September letzten Jahres an e<strong>in</strong>er „erste[n] Bilanz der Ära Stoiber“ (Klappentext) versucht<br />

hat. Der Name des Autors lässt aufhorchen, hat hier doch der langjährige Landtagskorrespon<strong>den</strong>t des<br />

Bayerischen Rundfunks zur Feder gegriffen, der als exzellenter Kenner der bayerischen Landespolitik<br />

und ihrer Protagonisten gelten muss. Nur nebenbei sei bemerkt, dass Rudolf Erhard (Jahrgang<br />

1951) wie Edmund Stoiber (Jahrgang 1941) im oberbayerischen Oberaudorf aufwuchs und daher e<strong>in</strong>e<br />

<strong>in</strong>time Kenntnis von Land und Leuten <strong>für</strong> sich beanspruchen kann.<br />

Erhard erzählt se<strong>in</strong>e Geschichte vom Ende her; schon auf <strong>den</strong> ersten Seiten verspürt der Leser die<br />

dunkle Aura des Scheiterns. Dass ihn Stoibers Aufstieg weniger <strong>in</strong>teressiert als se<strong>in</strong> Fall, zeigt schon<br />

die Anlage des Buches: Von <strong>den</strong> 15 Kapiteln des Buches befassen sich nur drei mit <strong>den</strong> erfolgreichen<br />

Jahren des ehrgeizigen jungen Juristen, der sich vom persönlichen Referenten von Umweltm<strong>in</strong>ister<br />

Max Streibl zum Generalsekretär der CSU und Chef der bayerischen Staatskanzlei, zum Innenm<strong>in</strong>ister<br />

und schließlich zum M<strong>in</strong>isterpräsi<strong>den</strong>ten des Freistaats und zum Vorsitzen<strong>den</strong> der CSU hochdiente.<br />

Daher bleiben viele Fragen zu Sozialisation und Werdegang Stoibers offen; so hätte man beispielsweise<br />

gerne mehr über <strong>den</strong> von Erhard nur angetippten Politisierungsprozess des Stu<strong>den</strong>ten an der<br />

Münchner Ludwig-Maximilians-Universität <strong>in</strong> <strong>den</strong> bewegten sechziger Jahren erfahren, der Stoiber


200 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

freilich nicht wie viele andere nach l<strong>in</strong>ks, sondern <strong>in</strong>s konservative Lager führte. Auch se<strong>in</strong> E<strong>in</strong>fluss<br />

auf die Entwicklung der CSU und die Politik der Staatsregierung vor se<strong>in</strong>er Wahl zum M<strong>in</strong>isterpräsi<strong>den</strong>ten<br />

im Jahr 1993 bleibt weitgehend im Dunkeln. Stoiber ersche<strong>in</strong>t hier vor allem als effektiver,<br />

aber nicht unbed<strong>in</strong>gt geliebter Erfüllungsgehilfe se<strong>in</strong>es überlebensgroßen Ziehvaters Franz Josef<br />

Strauß, von dem er sich im Sog der „Amigo-Affären“ gleichwohl um der eigenen politischen Zukunft<br />

willen distanzieren musste.<br />

Wer <strong>den</strong> späten Edmund Stoiber vor Augen hat, stets gehetzt und meist ungeduldig, wird überrascht<br />

se<strong>in</strong>, von se<strong>in</strong>em „Arbeitsstil des konstruktiven Diskurses“ (41) zu lesen, <strong>den</strong> er als CSU-<br />

Generalsekretär entwickelte und noch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en ersten Jahren als M<strong>in</strong>isterpräsi<strong>den</strong>t pflegte. Stoiber,<br />

der Macher, habe zuhören können, sei neugierig auf die Ideen se<strong>in</strong>er Mitarbeiter gewesen, ja er habe<br />

sie geradezu zum kritischen Widerspruch aufgefordert, wobei „im engeren Kreis protokollarische<br />

und hierarchische Aspekte ke<strong>in</strong>e Rolle spielten.“ (42) Zudem wusste er um die Bedeutung der Landtagsfraktion<br />

als Basis se<strong>in</strong>er Macht und pflegte die Kontakte zu <strong>den</strong> CSU-Abgeordneten im Maximilianeum<br />

lange Zeit <strong>in</strong> besonderer Weise. Der Erfolg gab ihm recht, doch er barg auch die Keimzelle<br />

des Scheiterns, wie Erhard bilanziert: „Stoiber [...] wollte Bayern nach vorne br<strong>in</strong>gen. Das ist ihm<br />

zweifellos gelungen, wie ke<strong>in</strong>em se<strong>in</strong>er Vorgänger. Die wichtigsten äußeren Rahmendaten sprechen<br />

da <strong>für</strong> sich, von Arbeitslosigkeit über Wirtschaftswachstum, von <strong>den</strong> Schul<strong>den</strong>daten bis zur <strong>in</strong>neren<br />

Sicherheit. Doch e<strong>in</strong>e glänzende äußere Bilanz ist nicht genug, wenn die Bef<strong>in</strong>dlichkeiten des Unterbaus<br />

vernachlässigt wer<strong>den</strong>. Nicht Skandale stürzten Stoiber, sondern das Überhören der Signale.<br />

Nicht die Ziele se<strong>in</strong>er Politik waren falsch, sondern zunehmend die Art der Umsetzung. Wer sich<br />

nicht umschaut, ob die anderen folgen können, muss sich nicht wundern, wenn die Zurückbleiben<strong>den</strong><br />

maulend stehen bleiben.“ (58)<br />

Diesen Prozess der Entfremdung zu dem rastlos vorwärtsdrängen<strong>den</strong> M<strong>in</strong>isterpräsi<strong>den</strong>ten, der bis<br />

2002 zum wichtigsten <strong>in</strong>nenpolitischen Gegenspieler von Bundeskanzler Schröder aufgestiegen war<br />

und es „<strong>den</strong>en <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>“ ohne Rücksicht auf Verluste am Beispiel Bayerns vorexerzieren wollte, wie<br />

man regiert, zeichnet Erhard detailliert nach. Abwägende Analyse ist dabei se<strong>in</strong>e Sache nicht, vielmehr<br />

setzt er auf die suggestive Kraft von Anekdoten und Episo<strong>den</strong>, die zuweilen tatsächlich erhellend<br />

(und erheiternd) s<strong>in</strong>d, oft aber nur an der Oberfläche zu kratzen vermögen. Hier zeigen sich<br />

deutlich die Grenzen des beobachten<strong>den</strong> Journalisten und hier wird die Wissenschaft zu gegebener<br />

Zeit ansetzen müssen. Dabei ist Erhards Botschaft klar: Stoiber verlor auf dem Höhepunkt se<strong>in</strong>er<br />

Macht immer mehr die Bo<strong>den</strong>haftung, der Wurzelgrund se<strong>in</strong>er Macht erodierte, und er war – falsch<br />

beraten und nur noch von willfährigen Mitarbeitern im „Raumschiff Staatskanzlei“ umgeben – nicht<br />

mehr <strong>in</strong> der Lage, das Ruder herumzureißen. Zum Debakel geriet dabei se<strong>in</strong>e Flucht aus Berl<strong>in</strong> – e<strong>in</strong>e<br />

Flucht, die Erhard nicht zuletzt auf Eheprobleme im Hause Stoiber zurückführt. Die halb garen Andeutungen<br />

zu e<strong>in</strong>er Affäre des M<strong>in</strong>isterpräsi<strong>den</strong>ten <strong>in</strong> der Hauptstadt gehören zweifellos zu <strong>den</strong> unschönen<br />

Seiten des Buches.<br />

Der Rest ist Geschichte: Das nicht en<strong>den</strong> wollende Stimmungstief des gestrauchelten Erfolgsgaranten,<br />

die quälende Nachfolgedebatte, die Furcht der Partei vor <strong>den</strong> nächsten Wahlen, die Pauli-Affäre<br />

und ihre Folgen, die schließlich zum Sturz Stoibers führten, und das Scheitern von Erw<strong>in</strong> Huber und<br />

Günther Beckste<strong>in</strong>. Am Ende des Buches steht e<strong>in</strong> eher pessimistischer Ausblick auf die Zukunft der<br />

CSU nach der Ära Stoiber, die eigentlich erst mit dem erzwungenen Rückzug se<strong>in</strong>er Nachfolger –<br />

beide langjährige Weggefährten – endete. Wer aber schon die Götterdämmerung heraufziehen sieht,<br />

sei gewarnt: Die CSU ist aller Probleme zum Trotz ke<strong>in</strong> Koloss auf tönernen Füßen, wie das Ergebnis<br />

der Europawahl gezeigt hat.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Silke Fengler: Entwickelt und fixiert. Zur Unternehmens- und Technikgeschichte<br />

der deutschen Foto<strong>in</strong>dustrie, dargestellt am Beispiel der Agfa AG Leverkusen und des<br />

VEB Filmfabrik Wolfen (1945–1995) (= Bochumer Schriften zur Unternehmens- und<br />

Industriegeschichte; Bd. 18), Essen: Klartext 2009, 311 S., ISBN 978-3-8375-0012-7, EUR 29,95<br />

Rezensiert von Ra<strong>in</strong>er Karlsch<br />

Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 10<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/10/16252.html<br />

Am 17. Februar 2008 kam es zur spektakulärsten Sprengung<br />

<strong>in</strong> der Geschichte Münchens. Das 52 Meter hohe Agfa-Haus<br />

wurde zugunsten e<strong>in</strong>es neu entstehen<strong>den</strong> grünen Viertels abgebrochen.<br />

Dieser Abriss war symbolträchtig: Damit verschwand<br />

e<strong>in</strong> weiteres Überbleibsel der e<strong>in</strong>stmals stolzen und<br />

leistungsstarken deutschen Kamera- und Foto<strong>in</strong>dustrie. Warum<br />

der Lebenszyklus dieser Branchen <strong>in</strong> bei<strong>den</strong> deutschen Staaten<br />

an der Schwelle zum 21. Jahrhundert endete, ist die zentrale<br />

Frage des sehr lesenswerten Buches von Silke Fengler,<br />

das auf ihrer 2007 an der RWTH Aachen verteidigten Dissertation<br />

beruht.<br />

Im ersten Kapitel wird das Modell der Pfadabhängigkeit<br />

als methodischer Ansatz <strong>für</strong> die Untersuchung vorgestellt und<br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong> folgen<strong>den</strong> Ausführungen überzeugend am Beispiel der<br />

klassischen Silberhalogenid-Fotografie demonstriert. Diese bildete<br />

sich Anfang des 20. Jahrhunderts aus und erreichte mit<br />

der Entwicklung des Agfa-Colorfilms 1936 e<strong>in</strong>en Höhepunkt.<br />

Der Actiengesellschaft <strong>für</strong> Anil<strong>in</strong>fabrikation (Agfa) gelang damit der Aufstieg zum Global Player<br />

und zum zweitgrößten Unternehmen der Fotochemie weltweit, übertroffen nur von Eastman Kodak.<br />

Wichtigster Produktionsstandort der Agfa war seit 1909 das <strong>in</strong> der preußischen Prov<strong>in</strong>z Sachsen<br />

(heute Sachsen-Anhalt) gelegene Wolfen. Die Fotopapierfabrik <strong>in</strong> Leverkusen erlangte erst nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg, als dort als Ersatz <strong>für</strong> die nunmehr <strong>in</strong> der Sowjetischen Besatzungszone<br />

(SBZ) liegen<strong>den</strong> Produktionskapazitäten e<strong>in</strong>e neue Filmfabrik erbaut wurde, zunehmende Bedeutung.<br />

Konsequent konzentriert sich Silke Fengler auf die Hauptl<strong>in</strong>ien der Unternehmens- und Technikgeschichte<br />

beider Standorte. Nur soweit es <strong>für</strong> das Verständnis der Gesamtentwicklung der Agfa<br />

zw<strong>in</strong>gend erforderlich ist, wird auch die Entwicklung der Kamerafabrik <strong>in</strong> München berücksichtigt.<br />

Im zweiten Kapitel wird der Aufstieg der Agfa zum Weltunternehmen beschrieben. Die Autor<strong>in</strong><br />

referiert dazu die e<strong>in</strong>schlägige Literatur. Die Rollen der e<strong>in</strong>zelnen Standorte waren klar verteilt:<br />

Wolfen produzierte Film, Leverkusen Fotopapier und das Kamerawerk München lieferte Kameras<br />

und Laborgeräte, während die Berl<strong>in</strong>er Vertriebszentrale <strong>den</strong> Absatz organisierte, ganz nach dem<br />

Pr<strong>in</strong>zip „alles aus e<strong>in</strong>er Hand“. Etwas mehr hätte man gern zur Konkurrenz mit Kodak erfahren, zumal<br />

die Autor<strong>in</strong> hervorhebt, dass das amerikanische Unternehmen <strong>für</strong> die Agfa das Maß aller D<strong>in</strong>ge


202 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

war und blieb. Phasen e<strong>in</strong>es scharfen Preiskampfes wechselten wiederholt mit Versuchen zur Interessenabgrenzung,<br />

bis h<strong>in</strong> zu Kartellabsprachen. [1]<br />

Im dritten Kapitel wird die Teilung des Unternehmens <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en ost- und e<strong>in</strong>en westdeutschen<br />

Nachfolger behandelt. Sowohl der Agfa AG Leverkusen als auch dem VEB Filmfabrik gelang es <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er etwa 20-jährigen Rekonstruktionsphase an die Erfolge der Vorkriegszeit anzuknüpfen. E<strong>in</strong>e<br />

entschei<strong>den</strong>de Voraussetzung da<strong>für</strong> war die Beibehaltung der historisch gewachsenen arbeitsteiligen<br />

Strukturen und wechselseitigen B<strong>in</strong>dungen, trotz <strong>in</strong>nerdeutscher Grenze und <strong>den</strong> Friktionen des Kalten<br />

Krieges.<br />

Auch der Wolfener Filmfabrik gelang, wie Fengler überzeugend belegt, die Rückgew<strong>in</strong>nung von<br />

Exportmärkten und dies trotz erheblicher Verluste durch Abwanderung und Demontagen. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

deuteten sich Ende der 1950er Jahre zunehmende Probleme an: Die Filmfabrik stieß an ihre Kapazitätsgrenzen,<br />

e<strong>in</strong> Ende der Kooperation mit Leverkusen zeichnete sich ab, es gab Qualitätsprobleme,<br />

der Export g<strong>in</strong>g zunehmend <strong>in</strong> die RGW-Länder, e<strong>in</strong> Zusammengehen mit der Kamera<strong>in</strong>dustrie <strong>in</strong><br />

Dres<strong>den</strong> kam nicht zustande und die Forschungsleistungen stagnierten. All dies wurde jedoch noch<br />

durch <strong>den</strong> hervorragen<strong>den</strong> Markennamen und das komplette Sortiment an Filmen, das Wolfen zu<br />

bieten hatte, überdeckt. E<strong>in</strong> Aspekt kommt <strong>in</strong> der Darstellung etwas zu kurz. Die wirtschaftlichen<br />

Schwierigkeiten des VEB Filmfabrik Wolfen h<strong>in</strong>gen auch damit zusammen, dass <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1950er und<br />

1960er Jahren die Herstellung von Chemiefasern <strong>in</strong> Wolfen e<strong>in</strong>en immer größeren Stellenwert e<strong>in</strong>nahm.<br />

Beide Produktionsl<strong>in</strong>ien an e<strong>in</strong>em Standort zu betreiben, war <strong>den</strong>kbar ungünstig, doch wurde<br />

diese der Kriegswirtschaft des NS-Regimes geschuldete Struktur bis zum Ende der DDR beibehalten.<br />

Im vierten Kapitel analysiert die Autor<strong>in</strong> die Ausreifungs- und Stagnationsphase (1964–81) der<br />

Agfa AG Leverkusen und des VEB Filmfabrik Wolfen bzw. ab 1970 Fotochemischen Komb<strong>in</strong>ats.<br />

Insbesondere dieser Teil des Buches, der <strong>den</strong> größten Umfang e<strong>in</strong>nimmt, besticht durch e<strong>in</strong>e sehr<br />

dichte und quellengesättigte Darstellung. Mit dem Konzentrationsprozess <strong>in</strong> der westdeutschen Foto<strong>in</strong>dustrie<br />

und dem 1964 erfolgten Zusammenschluss mit der Gevaert Photoproducten N.V. Mortsel<br />

konnte die Agfa ihre Marktpositionen ausbauen. In Schwierigkeiten geriet zuerst die Kameraproduktion.<br />

Die Unternehmensleitung schätzte <strong>den</strong> Trend zur Digitalisierung falsch e<strong>in</strong>. Während man <strong>in</strong><br />

München auf e<strong>in</strong>en schnellen E<strong>in</strong>stieg <strong>in</strong> die elektronische Bildaufzeichnung drängte, sah man <strong>in</strong><br />

Leverkusen ke<strong>in</strong>en akuten Handlungsbedarf. Erst nach herben Rückschlägen entschloss sich Agfa-<br />

Gevaert nicht länger am Agfa-Colorverfahren festzuhalten, sondern nun doch das Amateurfilmsegment<br />

Kodak-kompatibel zu machen. Dies gelang nur, weil die Konzernmutter Bayer e<strong>in</strong>en solchen Schritt<br />

unterstützte.<br />

Über vergleichbare Ressourcen verfügte Wolfen nicht. Dort war <strong>in</strong>zwischen das Agfa-Erbe schon<br />

weitgehend aufgezehrt. Die Ursachen <strong>für</strong> die schwere Krise, <strong>in</strong> die das Fotochemische Komb<strong>in</strong>at<br />

Mitte der 1970er Jahre geriet, wer<strong>den</strong> überzeugend analysiert. Weder kam es, trotz e<strong>in</strong>iger Ansätze,<br />

zu e<strong>in</strong>er funktionieren<strong>den</strong> Arbeitsteilung und Forschungskooperation im Rat <strong>für</strong> gegenseitige Wirtschaftshilfe<br />

(RGW) noch konnten die Schwächen <strong>in</strong> der Forschung und Entwicklung überwun<strong>den</strong><br />

wer<strong>den</strong>. Selbst auf <strong>den</strong> osteuropäischen Märkten kam Wolfen mehr und mehr unter Druck. Dabei<br />

wusste die Leitung des Komb<strong>in</strong>ats sehr wohl, was zu tun gewesen wäre: Schnellstmöglich auf das<br />

Kodak-System im Farbfilmbereich überzugehen. Doch alle diesbezüglichen Forderungen verhallten<br />

bei <strong>den</strong> zentralen Planungsbehör<strong>den</strong> und <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en Alle<strong>in</strong>gang reichten die Ressourcen des Komb<strong>in</strong>ats<br />

nicht aus. Bis 1990 sollte <strong>den</strong>noch der Umstieg auf neue Kodak-kompatible Farbfilme bewältigt<br />

wer<strong>den</strong>, wozu es aber nicht mehr kam.<br />

Etwas knapp geraten ist der Epilog <strong>in</strong> Kapitel fünf. Silke Fengler beschreibt die kurze Phase der<br />

Hoffnung auf e<strong>in</strong>e Rückkehr der Agfa an ihre alte Wirkungsstätte und die anschließende Enttäuschung<br />

über das Ende der Filmfabrikation <strong>in</strong> Wolfen Mitte der 1990er Jahre. Zehn Jahre später<br />

musste auch Agfa Photo Insolvenz anmel<strong>den</strong>. Hauptgrund da<strong>für</strong> war das zu lange Festhalten an e<strong>in</strong>em<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


203 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

spezifischen nationalen Technologiepfad. Inwieweit sich aus dem Modell der Pfadabhängigkeit weiterreichende<br />

Schlussfolgerungen über das Innovationsverhalten <strong>in</strong> verschie<strong>den</strong>en Wirtschaftssystemen<br />

ableiten lassen, bleibt weiter zu prüfen. Der wissenschaftliche Apparat sowie Glossar und Abkürzungsverzeichnis<br />

s<strong>in</strong>d ebenso sorgfältig erarbeitet wor<strong>den</strong> wie der gesamt Text. Insgesamt reiht sich<br />

die Studie von Silke Fengler würdig e<strong>in</strong> <strong>in</strong> die qualitativ hochwertige Reihe der Bochumer Schriften<br />

zur Unternehmens- und Industriegeschichte.<br />

Anmerkung:<br />

[1] Vgl. Mike Luck: Historisch-wirtschaftliche Entwicklung der Eastman Kodak AG <strong>in</strong> Deutschland<br />

von 1927–1956, Diplomarbeit, Humboldt-Universität Berl<strong>in</strong>, 30.1.1996, IFM Wolfen, Archiv<br />

Nr. 475.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Katr<strong>in</strong> Hassel: Kriegsverbrechen vor Gericht. Die Kriegsverbrecherprozesse vor<br />

Militärgerichten <strong>in</strong> der britischen Besatzungszone unter dem Royal Warrant vom<br />

18. Juni 1945 (1945–1949), Ba<strong>den</strong>-Ba<strong>den</strong>: NOMOS 2008, 354 S., ISBN 978-3-8329-3825-3,<br />

EUR 85,00<br />

Rezensiert von Edith Raim<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 2<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/02/15745.html<br />

Die rechtswissenschaftliche Dissertation von Katr<strong>in</strong> Hassel, die<br />

am Internationalen Forschungs- und Dokumentationszentrum<br />

Kriegsverbrecherprozesse der Philipps-Universität Marburg<br />

entstand und an der Leibniz-Universität Hannover e<strong>in</strong>gereicht<br />

wurde, schließt e<strong>in</strong>e lange bestehende Forschungslücke. Sie<br />

befasst sich <strong>in</strong> fünf Kapiteln mit <strong>den</strong> Leipziger Kriegsverbrecherprozessen<br />

nach 1918, <strong>den</strong> rechtlichen Voraussetzungen<br />

der Aburteilung von Kriegsverbrechern durch die Alliierten<br />

nach 1945, der britischen Rechtsgrundlage des Royal Warrant<br />

vom 18. Juni 1945 und wertet die Prozesse statistisch aus, um<br />

abschließend ihre Bedeutung <strong>für</strong> das Völkerstrafrecht darzulegen.<br />

Die Arbeit wird durch Abbildungen von Dokumenten,<br />

Statistiken und ausführliche Anhänge aufgelockert, der Gesamttext<br />

ist selbst <strong>für</strong> Nichtjuristen gut lesbar. Zu loben ist<br />

auch die Zusammenfassung der Arbeit, die die Ergebnisse gut<br />

und übersichtlich präsentiert.<br />

Unverständlich ist, warum sich immerh<strong>in</strong> fast 50 Seiten des<br />

342-seitigen Buches mit <strong>den</strong> Leipziger Prozessen von 1921<br />

bis 1927 befassen, bei <strong>den</strong>en weder <strong>in</strong>ternationale Gerichte<br />

tätig waren noch Völkerstrafrecht zur Anwendung kam. Lediglich die E<strong>in</strong>sicht der Siegermächte, die<br />

Aburteilung von Kriegsverbrechen diesmal nicht <strong>den</strong> Deutschen zu überlassen, sei, so die Autor<strong>in</strong>,<br />

die Lehre aus Leipzig gewesen. War es aber nicht vielmehr so, dass die Alliierten wussten, dass der<br />

als ideologischer Vernichtungsfeldzug angelegte Zweite Weltkrieg mit dem im Wesentlichen konventionell<br />

geführten Ersten Weltkrieg nicht zu vergleichen war und dass die Ahndung von Kriegsverbrechen<br />

zwangsläufig völlig anders aussehen musste? Dass die Ermordung und Versklavung weiter<br />

Teile der Zivilbevölkerung Osteuropas unter deutscher Besatzungsherrschaft nicht mehr mit e<strong>in</strong>er<br />

Handvoll von Prozessen vor dem Reichsgericht abzuhandeln war, dürfte auch ohne das abschreckende<br />

Leipziger Beispiel klar gewesen se<strong>in</strong>.<br />

Die Darlegung der Voraussetzungen <strong>für</strong> die Verfahren gerät m<strong>in</strong>utiös, aber auch recht langatmig,<br />

wobei die verschie<strong>den</strong>en Fassungen des Royal Warrant und se<strong>in</strong>er Ergänzungen als Rechtsgrundlage<br />

verglichen wer<strong>den</strong>. Zum eigentlichen Thema dr<strong>in</strong>gt man erst <strong>in</strong> der Mitte des Buches vor. Hier konzentriert<br />

sich das Werk auf das Verfahrensrecht und die statistische Auswertung, sodass der Leser


205 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

viel erfährt über rechtliche Zuständigkeiten, die Gerichtsbesetzung und Verfahrensorte. Verdienstvoll<br />

ist, dass endgültige Zahlen zu <strong>den</strong> Militärgerichtsprozessen <strong>in</strong> der britischen Zone präsentiert<br />

wer<strong>den</strong>. Während bisher von etwas über 1000 (1085) Angeklagten ausgegangen wor<strong>den</strong> war, stellt<br />

Katr<strong>in</strong> Hassel 329 Prozesse mit lediglich 964 Angeklagten fest. Die meisten dieser Verfahren fan<strong>den</strong><br />

1946 statt, viele von ihnen <strong>in</strong> Hamburg. 661 Angeklagte (fast 70 Prozent) wur<strong>den</strong> verurteilt, der Rest<br />

wurde freigesprochen bzw. ohne Urteil auf freien Fuß gesetzt. Zum Tod verurteilt wur<strong>den</strong> 194 Angeklagte<br />

(20 Prozent). Wenig überraschend ist, dass etwa 90 Prozent aller Täter männlich waren. Im<br />

Urteil der Autor<strong>in</strong> (239) waren die meisten Täter bis auf e<strong>in</strong>ige Ausnahmefälle ke<strong>in</strong>e hochrangigen<br />

Militärs, sondern vielmehr Mannschaftsdienstgrade, Polizisten und Zivilisten. Hier drängt sich der<br />

Verdacht auf, dass die Autor<strong>in</strong> – wie noch ausgeführt wird – hohe SS-Dienstgrade völlig unberücksichtigt<br />

gelassen hat. Bei <strong>den</strong> abgeurteilten Taten traten vor allem Misshandlungen und Tötungen alliierter<br />

Kriegsgefangener bzw. die Verbrechen <strong>in</strong> Konzentrationslagern mit 92 bzw. 80 Prozessen zahlenmäßig<br />

häufig hervor. Die starke Ausdifferenzierung der e<strong>in</strong>zelnen Statistiken (nach Jahren, nach<br />

Geschlecht, Strafarten) wirkt bald repetitiv. Hilfreich ist die Auflistung sämtlicher Angeklagter mit<br />

<strong>den</strong> Strafen im Anhang des Buches, wenngleich nicht alle Namen korrekt erfasst s<strong>in</strong>d. Unklar bleibt<br />

bei der Liste, ob es sich auch um Urteile <strong>in</strong> der Revisions<strong>in</strong>stanz handelt, was die <strong>in</strong> der Forschung<br />

kursieren<strong>den</strong> abweichen<strong>den</strong> Zahlenangaben zu <strong>den</strong> Prozessen erklären würde.<br />

Verlässt die Autor<strong>in</strong> ihr eigentliches Thema, bewegt sie sich schnell auf dünnem Eis. Die Erläuterung,<br />

die britischen Militärgerichte hätten sich ke<strong>in</strong>eswegs nur <strong>für</strong> die britischen Opfer verantwortlich<br />

gefühlt, ist obsolet – die Briten mussten schon alle<strong>in</strong> wegen des Commonwealth <strong>den</strong> Staatsangehörigen<br />

der Dom<strong>in</strong>ions diesbezüglich <strong>den</strong> gleichen Status e<strong>in</strong>räumen (174, 220). Die nazistischen Verbrechen<br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong> Ausländerk<strong>in</strong>derpflegestätten wer<strong>den</strong> – augensche<strong>in</strong>lich <strong>in</strong> Unkenntnis der umfangreichen<br />

diesbezüglichen Forschung – langatmig e<strong>in</strong>geführt und erklärt (81). Der D-Day wird flugs auf September<br />

1944 verlegt (104), der amerikanische E<strong>in</strong>satzgruppen-Prozess mit dem „High Command Trial“<br />

(gegen das Oberkommando der Wehrmacht) (67) verwechselt. Das Regest <strong>für</strong> <strong>den</strong> Prozess gegen<br />

Bruno Tesch, der das Giftgas nach Auschwitz-Birkenau lieferte, lautet unbeholfen „Mittäterschaft<br />

deutscher Fabrikanten am Mord an <strong>in</strong> Konzentrationslagern <strong>in</strong>ternierten Zivilisten durch Giftgas“<br />

(73), das im Elsass gelegene KZ Natzweiler-Struthof mutiert zu (dem hunderte Kilometer östlich,<br />

nämlich bei Danzig bef<strong>in</strong>dlichen) „Stut[t]hof“ (75). Die Autor<strong>in</strong> beklagt die Unmöglichkeit des Zahlenvergleichs<br />

der Prozesse zwischen <strong>den</strong> e<strong>in</strong>zelnen Besatzungsmächten (178) und ignoriert dabei die<br />

Forschungsergebnisse von Yvel<strong>in</strong>e Pendaries zur französischen Zone und die Überblicksdarstellung<br />

von Robert Sigel zu <strong>den</strong> amerikanischen Dachauer Prozessen. [1] Interdepen<strong>den</strong>zen zwischen <strong>den</strong><br />

Ahndungsbestrebungen der westlichen Alliierten bleiben der Autor<strong>in</strong> damit verborgen. Der Lagerkommandant<br />

von Auschwitz-Birkenau und Natzweiler, SS-Obersturmbannführer Fritz Hartjenste<strong>in</strong>,<br />

wurde sowohl von e<strong>in</strong>em britischen als auch e<strong>in</strong>em französischen Militärgericht zum Tod verurteilt.<br />

Bei dem Ravensbrücker Arbeitse<strong>in</strong>satzführer Hans Pflaum (304) und dem KZ-Kommandanten Fritz<br />

Suhren (313) nennt die Autor<strong>in</strong> <strong>den</strong> Urteilsspruch „unbekannt“, obwohl bekannt ist, dass beide nach<br />

e<strong>in</strong>er Anklage durch e<strong>in</strong> britisches Militärgericht aus der Haft flohen und nach ihrer Wiederergreifung<br />

1950 von <strong>den</strong> Franzosen <strong>in</strong> Rastatt zum Tod verurteilt und h<strong>in</strong>gerichtet wur<strong>den</strong>. Bei dem KZ-<br />

Funktionär Arnold Strippel (312) ist der Verfasser<strong>in</strong> sowohl der Vorname als auch der Verfahrensausgang<br />

unbekannt – selbst über Google und Wikipedia ist hier mehr zu erfahren.<br />

Zum Tatgegenstand der Verfahren bietet die Arbeit ke<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltlichen Analysen. Wer sich <strong>für</strong> die<br />

britischen Militärgerichtsprozesse zu <strong>den</strong> KZ Neuengamme, Bergen-Belsen oder Ravensbrück <strong>in</strong>teressiert,<br />

wird zur E<strong>in</strong>führung weiterh<strong>in</strong> zu dem Band „Die frühen Nachkriegsprozesse“ greifen. [2]<br />

Durch die Vernachlässigung der <strong>in</strong>haltlichen Seite entgeht der Autor<strong>in</strong> das kuriose Phänomen, dass<br />

die westlichen Alliierten zwar die „richtigen“ Täter hatten, sie aber gleichwohl – historisch gesehen –<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


206 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

<strong>für</strong> die „falschen“ (weil ger<strong>in</strong>gfügigeren) Verbrechen zur Rechenschaft zogen, <strong>in</strong>dem sie die Straftaten<br />

an westalliierten Opfern <strong>in</strong> das Zentrum ihrer Ahndungsbemühungen stellten.<br />

Der frühere Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (BdS) im Generalgouvernement,<br />

SS-Brigadeführer Dr. Eberhard Schöngarth (bei Hassel fälschlich Schöngrath, 79, 309):<br />

H<strong>in</strong>gerichtet <strong>für</strong> die Tötung e<strong>in</strong>es alliierten Fliegers <strong>in</strong> <strong>den</strong> Niederlan<strong>den</strong>. Der ehemalige Angehörige<br />

des Stabs der E<strong>in</strong>satzgruppe B und Kommandeur der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes<br />

(KdS) Weißruthenien <strong>in</strong> M<strong>in</strong>sk, SS-Standartenführer Dr. Erich Isselhorst: Exekutiert wegen der Tötung<br />

britischer Kriegsgefangener <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Funktion als BdS Südwest mit Sitz <strong>in</strong> Straßburg. Der Marburger<br />

Arzt und ehemalige Lagerarzt <strong>in</strong> Auschwitz-Birkenau, Dr. Werner Rohde (bei Hassel fälschlich<br />

Rhode, 75): Todesurteil vollstreckt wegen der Tötung von vier britischen Agent<strong>in</strong>nen im KZ Natzwieler-Struthof.<br />

Der letzte KZ-Kommandant von Groß-Rosen, SS-Sturmbannführer Johannes Hassebroek:<br />

Verurteilt wegen der Erschießung von 16 kriegsgefangenen britischen Offizieren. Der ehemalige<br />

stellvertretende Höhere SS- und Polizeiführer (HSSPF) Russland-Mitte, SS-Gruppenführer Georg<br />

Graf von Bassewitz-Behr: Angeklagt und freigesprochen als HSSPF Nordsee mit Sitz <strong>in</strong> Hamburg<br />

(wenngleich später an die Sowjetunion ausgeliefert). Dies alles ist bequem etwa <strong>in</strong> Ernst Klees Personenlexikon<br />

zum ‚Dritten Reichʻ nachzulesen. Wenn sich die Verfasser<strong>in</strong> schon so wenig <strong>für</strong> ihre<br />

Protagonisten auf der Anklagebank <strong>in</strong>teressiert, wird es dem Leser um so schwerer fallen, große Begeisterung<br />

<strong>für</strong> das ohneh<strong>in</strong> übermäßig teure Buch aufzubr<strong>in</strong>gen.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Yvel<strong>in</strong>e Pendaries: Les procès de Rastatt (1946–1954). Le jugement des crimes de guerre en<br />

zone française d’occupation en Allemagne, Bern/Berl<strong>in</strong>/Frankfurt a. M./New York/Paris/Wien<br />

1995; Robert Sigel: Im Interesse der Gerechtigkeit. Die Dachauer Kriegsverbrecherprozesse<br />

1945–1948, Frankfurt a.M./New York 1992.<br />

[2] Die frühen Nachkriegsprozesse. Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung <strong>in</strong><br />

Norddeutschland, Heft 3, Bremen 1997.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Annette We<strong>in</strong>ke: E<strong>in</strong>e Gesellschaft ermittelt gegen sich selbst. Die Geschichte der Zentralen<br />

Stelle Ludwigsburg 1958–2008, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008, 224 S.,<br />

ISBN 978-3-534-21950-6, EUR 39,90<br />

Hans H. Pöschko (Hrsg.): Die Ermittler von Ludwigsburg. Deutschland und die Aufklärung<br />

nationalsozialistischer Verbrechen, Berl<strong>in</strong>: Metropol 2008, 192 S., ISBN 978-3-938690-37-6,<br />

EUR 19,00<br />

Tobias Herrmann/Gisela Müller: Mitteilungen aus dem Bundesarchiv. Themenheft 2008:<br />

Die Außenstelle Ludwigsburg, Koblenz: Bundesarchiv 2008, 120 S., ISSN 0945-5531<br />

Rezensiert von Andreas Eichmüller<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 9<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/09/15191.html<br />

Am 1. Dezember des vergangenen Jahres feierte die Zentrale<br />

Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer<br />

Verbrechen <strong>in</strong> Ludwigsburg, meist kurz Zentrale<br />

Stelle (ZSt) genannt, ihr 50-jähriges Bestehen. Die 1958 durch<br />

e<strong>in</strong>e Verwaltungsvere<strong>in</strong>barung der Bundesländer <strong>in</strong>s Leben<br />

gerufene Behörde brachte e<strong>in</strong>e Wende <strong>in</strong> der bis dah<strong>in</strong> eher<br />

zögerlichen und unsystematischen strafrechtlichen Verfolgung<br />

von NS-Verbrechen und gilt <strong>in</strong>zwischen auch <strong>in</strong>ternational<br />

als Aushängeschild des deutschen Umgangs mit der NS-<br />

Vergangenheit. Das Jubiläum wurde mit e<strong>in</strong>em großen Festakt<br />

im Barockschloss der Stadt und e<strong>in</strong>em zweitägigen Fachsymposium<br />

begangen. Dabei waren sowohl Lob als auch kritische<br />

Töne an <strong>den</strong> Ergebnissen der bundesdeutschen Strafverfolgung<br />

von NS-Verbrechen zu hören gewesen. Pünktlich<br />

zum Jubiläum erfolgten mehrere Veröffentlichungen, die sich<br />

mit der Arbeit und dem Umfeld der Zentralen Stelle befassen.<br />

Wenig positiv – soviel vorweg – fällt die Bilanz aus, die<br />

Annette We<strong>in</strong>ke <strong>in</strong> ihrer im Auftrag der „Forschungsstelle<br />

Ludwigsburg“ der Universität Stuttgart verfassten Studie über<br />

die ZSt zieht. Schon bei der Gründung der Behörde und <strong>den</strong> bei<strong>den</strong> sogenannten Ulmer E<strong>in</strong>satzgruppenprozess<br />

1958 zutage getretenen Ermittlungsdefiziten macht die Autor<strong>in</strong> „kard<strong>in</strong>ale Geburtsfehler“<br />

(28) aus. Die ZSt wurde nämlich lediglich mit Vorermittlungen betraut, zunächst nur <strong>für</strong><br />

e<strong>in</strong>en sehr eng begrenzten zeitlichen Rahmen von e<strong>in</strong>igen Jahren konzipiert, nur mit wenig Personal<br />

ausgestattet und <strong>in</strong> ihrer Zuständigkeit beschränkt. So blieben etwa im Inland begangene Straftaten<br />

und Verbrechen der Wehrmacht lange ausgeklammert. Auch wenn sich die Ludwigsburger Ermittler<br />

mit Verve <strong>in</strong> die Arbeit stürzten, im ersten Jahr ihres Bestehens an die 400 Vorermittlungsverfahren


208 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

e<strong>in</strong>leiteten und bald erste Erfolge erzielten, ließen sich die Defizite nicht mehr aufholen. Denn schon<br />

1960 verjährte Totschlag (der später gerade vielen Wehrmachtsangehörigen bei Tötungsverbrechen<br />

zugebilligt wurde) und bis 1941 begangene Beihilfe zum Mord. Zudem beh<strong>in</strong>derten mangelnde historische<br />

Kenntnisse, hohe psychische Belastung angesichts der grausamen Tatgeschehnisse sowie<br />

Seilschaften ehemaliger Nationalsozialisten und Gestapobeamter <strong>in</strong> Polizei und Kripo die Aufklärung.<br />

Auf der anderen Seite bildete sich „e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Kreis aus Sympathisanten und Unterstützern“ (60)<br />

e<strong>in</strong>er forcierten Aufklärung der NS-Verbrechen, vorwiegend Journalisten wie etwa Ernst Müller-<br />

Me<strong>in</strong><strong>in</strong>gen junior oder Juristen, die mit ihrem Verlangen nach öffentlicher Debatte auch <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en<br />

Wandel im Umgang mit der NS-Vergangenheit stan<strong>den</strong>. We<strong>in</strong>ke führt hier als Beispiel die Mannheimer<br />

Staatsanwält<strong>in</strong> Barbara Just-Dahlmann an, die öffentlichkeitswirksam von ihren Erfahrungen<br />

und Problemen bei der Ermittlungsarbeit <strong>in</strong> Ludwigsburg berichtete, sich damit Schwierigkeiten mit<br />

ihrem Arbeitgeber e<strong>in</strong>handelte, durch ihr Engagement jedoch letztlich die bis dah<strong>in</strong> eher als Amnestiebe<strong>für</strong>worter<br />

auftretende evangelische Kirche zu e<strong>in</strong>em Bekenntnis zur weiteren Aufklärung der NS-<br />

Straftaten brachte.<br />

Da <strong>den</strong> Ludwigsburger Ermittlern <strong>in</strong>sbesondere durch Recherchen im Ostblock große Mengen an<br />

neuem Material zugänglich wur<strong>den</strong>, erfuhr ihre Behörde im Vorfeld der 1965 anstehen<strong>den</strong>, dann<br />

aber vom Bundestag zunächst verschobenen und schließlich 1979 ganz aufgehobenen Verjährung von<br />

Mord e<strong>in</strong>e erhebliche Aufwertung. Ihr Personal wurde aufgestockt und ihre Zuständigkeit ausgeweitet.<br />

We<strong>in</strong>ke sieht dabei die Haltung des Leiters der ZSt, Erw<strong>in</strong> Schüle, sehr kritisch. Schüle nämlich hatte<br />

<strong>den</strong> Ansche<strong>in</strong> zu erwecken versucht, als seien alle noch offenen Verbrechenskomplexe ausreichend<br />

ermittelt und e<strong>in</strong>e Verjährung deswegen ke<strong>in</strong> Problem. Als er 1965 wegen se<strong>in</strong>er ehemaligen NSDAP-<br />

Mitgliedschaft (seit 1937) aus dem Ostblock unter Beschuss geriet, verhielt er sich zudem recht<br />

ungeschickt und rückte nur stückweise mit der Wahrheit heraus. Nachdem schließlich im darauffolgen<strong>den</strong><br />

Jahr aus der Sowjetunion auch noch Vorwürfe wegen angeblicher Beteiligung an Kriegsverbrechen<br />

als Angehöriger der Wehrmacht auftauchten, trat Schüle gesundheitlich angeschlagen<br />

zurück und wurde durch <strong>den</strong> unbelasteten Adalbert Rückerl ersetzt.<br />

Unter dessen Führung begann sich das „Provisorium“ ZSt zu etablieren, blieb aber weiterh<strong>in</strong> nicht<br />

ohne Anfechtungen. Der ehemalige Generalbundesanwalt Max Güde kritisierte die Ermittler im<br />

SPIEGEL als „nützliche Idioten“ Moskaus. Der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes gab im<br />

Zusammenwirken mit der Zentralen Rechtsschutzstelle (ZRS) des Auswärtigen Amtes, die sich um<br />

die im Ausland angeklagten und verurteilten deutschen Kriegsverbrecher kümmerte, e<strong>in</strong> Blatt heraus,<br />

das die Namen von wegen NS-Verbrechen gesuchten Personen veröffentlichte. Bereits Ende der<br />

Fünfzigerjahre hatte die ZRS <strong>den</strong> Ludwigsburgern <strong>den</strong> E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> ihre Unterlagen mit H<strong>in</strong>weis auf<br />

<strong>den</strong> Vertrauensschutz der Betroffenen verwehrt.<br />

Erst gegen Ende der Siebziger- und Anfang der Achtzigerjahre machte sich allgeme<strong>in</strong> e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>stellungswandel<br />

gegenüber NS-Prozessen bemerkbar. Bis dah<strong>in</strong> hatte sich immer m<strong>in</strong>destens die Hälfte<br />

der Bevölkerung ablehnend gezeigt. Die Arbeit der Ludwigsburger Ermittler geriet <strong>in</strong> <strong>den</strong> letzten<br />

Jahrzehnten aber immer mehr zu e<strong>in</strong>em „Wettlauf gegen die Zeit“ (142), da sowohl die Zeugen als<br />

auch die Täter aus Altersgrün<strong>den</strong> immer weniger wur<strong>den</strong>.<br />

Mit der ZSt habe, so bilanziert die Autor<strong>in</strong>, die Bundesrepublik e<strong>in</strong>en „Sonderweg im Umgang<br />

mit staatlicher Makrokrim<strong>in</strong>alität“ e<strong>in</strong>geschlagen. Dieses „Experiment e<strong>in</strong>er gesellschaftlichen Selbstaufklärung<br />

mittels Recht“ (170) habe auf der e<strong>in</strong>en Seite zu e<strong>in</strong>em nachhaltigen Wandel im Umgang<br />

mit <strong>den</strong> deutschen NS-Verbrechen geführt und <strong>in</strong> Form der bei <strong>den</strong> Strafverfahren praktizierten akribischen<br />

Ermittlungen die historische Aufklärung befördert. Auf der anderen Seite aber stün<strong>den</strong> erhebliche<br />

Kosten. Zum e<strong>in</strong>en sei man nicht <strong>in</strong> der Lage gewesen, auch nur das Gros der führen<strong>den</strong><br />

Täter e<strong>in</strong>er Strafe zuzuführen und damit die Menschenrechtsverletzungen sichtbar zu machen. Zum<br />

andern sei die Verfolgung von Bl<strong>in</strong>dstellen und Rücksichtnahmen geprägt gewesen, die bis heute<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


209 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

etwa e<strong>in</strong>e Bestrafung der Kriegsverbrechen <strong>in</strong> Süd- und Südosteuropa verh<strong>in</strong>dert habe. Die juristische<br />

Bilanz, me<strong>in</strong>t We<strong>in</strong>ke, könne deshalb „<strong>in</strong>sgesamt nur als Fehlschlag bewertet wer<strong>den</strong>“ (168), auch<br />

weil es nicht gelungen sei, Ergebnisse hervorzubr<strong>in</strong>gen, die bei der Ahndung von Makrokrim<strong>in</strong>alität<br />

<strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Weise modellbil<strong>den</strong>d gewesen seien.<br />

We<strong>in</strong>kes Buch ist ke<strong>in</strong>e klassische Behör<strong>den</strong>geschichte, bereits e<strong>in</strong>leitend schränkt die Autor<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>, dass es ihr vor allem um e<strong>in</strong>e „Standortbestimmung Ludwigsburgs <strong>in</strong> der deutsch-deutschen<br />

Nachkriegsgeschichte“ (9) gehe und sie deshalb das „politische und soziale Umfeld der Arbeit der<br />

Strafverfolger“ und die „Wechselbeziehungen zwischen strafrechtlicher Ermittlungsarbeit, historischpolitischen<br />

Selbstverständigungsdiskursen sowie der öffentlichen Wahrnehmung von NS-Verbrechen,<br />

Tätern und Opfern“ <strong>in</strong> das Zentrum ihres Interesses gestellt habe (7). Der Untertitel des Buches verspricht<br />

daher deutlich zu viel. Zudem liegt der zeitliche Schwerpunkt des Werkes <strong>in</strong> <strong>den</strong> ersten zehn<br />

Jahren des Bestehens der ZSt, <strong>den</strong>en alle<strong>in</strong> fünf der sechs grob chronologisch gegliederten Kapitel<br />

gewidmet s<strong>in</strong>d. [1] Etwas zu kurz kommt auch die Innensicht der Behörde, ihre Struktur, ihr Personal<br />

und die tagtägliche Arbeit der Ermittler.<br />

Die Autor<strong>in</strong> verfügt über e<strong>in</strong>e breite Literaturkenntnis, argumentiert meist auf dem neuesten Stand<br />

der Forschung und vermag aufgrund der Auswertung neuer Quellen zum Teil neue E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> die<br />

Geschichte der bundesdeutschen Strafverfolgung von NS-Verbrechen zu vermitteln. Das Buch ist<br />

gut lesbar, und We<strong>in</strong>ke geizt nicht mit po<strong>in</strong>tierten Aussagen, von <strong>den</strong>en e<strong>in</strong>ige allerd<strong>in</strong>gs zu Widerspruch<br />

Anlass geben, weil sie die zeitgenössischen Gegebenheiten zu wenig berücksichtigen. So wird<br />

man <strong>für</strong> die Mitte der 1950er Jahre weniger von e<strong>in</strong>em „fast völligen Stillstand“ (12) der Strafverfolgung<br />

sprechen müssen, als vielmehr von e<strong>in</strong>em langsamen Auslaufen. Insofern sche<strong>in</strong>t es auch<br />

etwas verfehlt <strong>in</strong> der Gründung der ZSt e<strong>in</strong>e „Wiederaufnahme von NS-Ermittlungen“ (10) zu sehen,<br />

eher handelte es sich um e<strong>in</strong>en Neuanfang aufgrund e<strong>in</strong>es anderen, systematischen Ermittlungsansatzes.<br />

Aufgrund se<strong>in</strong>er Beispiellosigkeit kann man diesen Schritt letztlich durchaus auch positiver bewerten,<br />

als die Autor<strong>in</strong> dies tut.<br />

Der von Hans H. Pöschko herausgegebene Sammelband eignet<br />

sich gut, um sich e<strong>in</strong>en ersten Überblick über <strong>den</strong> Verlauf und die<br />

Probleme der Ermittlungstätigkeit sowie die nunmehr vielfältigen Aktivitäten<br />

im Umfeld der Ludwigsburger Behörde zu verschaffen. In<br />

se<strong>in</strong>em Zentrum steht e<strong>in</strong> von <strong>den</strong> bei<strong>den</strong> Bundesarchivmitarbeitern<br />

Andreas Kunz und Melanie Werth verfasstes und reich mit Fotos und<br />

Aktenfaksimiles bebildertes „Kompendium zur Geschichte und Tätigkeit<br />

der Zentralen Stelle“, das gleichzeitig <strong>den</strong> Begleittext zu der im<br />

historischen Torhaus an der Schorndorfer Straße <strong>in</strong> Ludwigsburg gezeigten<br />

Ausstellung „Die Ermittler von Ludwigsburg“ bildet.<br />

Der Band wird ergänzt durch e<strong>in</strong>en Bericht des derzeitigen Leiters<br />

der zentralen Stelle, Kurt Schrimm, über se<strong>in</strong>e Ermittlungstätigkeit als<br />

Staatsanwalt im Fall des 1992 vom Landgericht Stuttgart zu lebenslanger<br />

Haft verurteilten ehemaligen Leiters e<strong>in</strong>es Zwangsarbeitslagers<br />

<strong>für</strong> Ju<strong>den</strong> <strong>in</strong> Przemyśl, Josef Schwammberger; e<strong>in</strong>e vergleichende<br />

Betrachtung zur strafrechtlichen Aufarbeitung der NS- und der SED-Diktatur aus der Feder von<br />

Schrimms Stellvertreter Joachim Riedel sowie e<strong>in</strong>en Aufsatz von Heike Krösche über die vielschichtige<br />

öffentliche Reaktion auf die Gründung der ZSt. [2]<br />

Dass der von Peter Ste<strong>in</strong>bach <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>leitend abgedruckten Festrede zum 40. Gründungstag<br />

1998 e<strong>in</strong>geforderte Ausbau der ZSt zu e<strong>in</strong>em „deutschen Er<strong>in</strong>nerungsort“ <strong>in</strong>zwischen gut vorangekommen<br />

ist, dokumentieren die Beiträge von Hans. H. Pöschkö über <strong>den</strong> Fördervere<strong>in</strong> Zentrale Stelle<br />

e.V., von Klaus Michael Mallmann über die Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart,<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


210 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

von Bern Kreß über die ZSt als Lernort <strong>für</strong> Schulen und von Andreas Kunz über die Erschließung<br />

und Sicherung der Akten der ZSt durch das Bundesarchiv.<br />

Diese Akten der strafrechtlichen Ermittlungsverfahren zu NS-Verbrechen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>zwischen zu e<strong>in</strong>er<br />

fast unverzichtbaren Quelle <strong>für</strong> Forschungen über die NS-Zeit gewor<strong>den</strong>. [3] Wer sich näher <strong>für</strong> die<br />

Außenstelle des Bundesarchivs <strong>in</strong> Ludwigsburg <strong>in</strong>teressiert oder dort e<strong>in</strong>en Besuch plant, der sei abschließend<br />

noch auf das kostenlose und auch im Netz verfügbare Themenheft 2008 der Mitteilungen<br />

aus dem Bundesarchiv h<strong>in</strong>gewiesen. [4] Dar<strong>in</strong> geben Archivmitarbeiter detailliert Auskunft über Inhalt<br />

und Erschließung der Bestände der ZSt, wobei allerd<strong>in</strong>gs die enthaltenen Ausführungen zu <strong>den</strong><br />

juristischen Grundlagen der Strafverfolgung nicht immer zuverlässig s<strong>in</strong>d. Ergänzt wird das Heft<br />

durch Beiträge von Fachhistorikern, die konkret Beispiele <strong>für</strong> neue, auf <strong>den</strong> Ludwigsburger Akten<br />

basierende Forschungen geben und <strong>in</strong> die Dimension der NS-Verbrechen e<strong>in</strong>führen.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] E<strong>in</strong>e Ergänzung <strong>für</strong> die späteren Jahren bietet der Aufsatz von Kurt Schrimm/Joachim Riedel:<br />

50 Jahre Zentrale Stelle <strong>in</strong> Ludwigsburg. E<strong>in</strong> Erfahrungsbericht über die letzten zweie<strong>in</strong>halb<br />

Jahrzehnte, <strong>in</strong>: Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong> 56 (2008), 525-555.<br />

[2] Der Aufsatz ist <strong>in</strong>zwischen <strong>in</strong> erweiterter Form auch <strong>in</strong> der Zeitschrift <strong>für</strong> Geschichtswissenschaften<br />

56 (2008), 338-357, erschienen.<br />

[3] Siehe jetzt auch Jürgen F<strong>in</strong>ger/Sven Keller/Andreas Wirsch<strong>in</strong>g (Hrsg.): Vom Recht zur Geschichte.<br />

Akten aus NS-Prozessen als Quellen der <strong>Zeitgeschichte</strong>, Gött<strong>in</strong>gen 2009.<br />

[4] http://www.bundesarchiv.de/aktuelles/aus_dem_archiv/mitteilungen/00234/<strong>in</strong>dex.html<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Wolfgang Hölscher/Joachim W<strong>in</strong>tzer (Bearb.): Der Auswärtige Ausschuß des Deutschen<br />

Bundestages. Sitzungsprotokolle 1969–1972 (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus<br />

und der politischen Parteien. Vierte Reihe: Deutschland seit 1945; Bd. 13/VI), Düsseldorf:<br />

Droste 2007, 2 Bde., CLXIII + 1783 S., 1 CD-ROM, ISBN 978-3-7700-5285-1, EUR 180,00<br />

Rezensiert von Daniela Taschler<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 9<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/09/14343.html<br />

Die Ause<strong>in</strong>andersetzung um die Ostverträge der sozialliberalen<br />

Koalition gehört sicherlich zu <strong>den</strong> Höhepunkten der parlamentarischen<br />

Debatten über die Außenpolitik der Bundesrepublik<br />

Deutschland. Während die entsprechen<strong>den</strong> Dokumente<br />

der Bundesregierung e<strong>in</strong>schließlich der Protokolle der<br />

Verhandlungen <strong>in</strong> Moskau und Warschau bereits vor e<strong>in</strong>igen<br />

Jahren <strong>in</strong> der Reihe der „Akten zur Auswärtigen Politik der<br />

Bundesrepublik Deutschland“ publiziert wur<strong>den</strong>, lässt sich<br />

die Debatte im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags nun<br />

anhand der edierten 66 Sitzungsprotokolle aus <strong>den</strong> Jahren 1969<br />

bis 1972 nachvollziehen.<br />

Die Regierung Brandt/Scheel nahm sehr bald nach ihrem<br />

Amtsantritt die Verhandlungen mit Moskau und Warschau <strong>in</strong><br />

Angriff, argwöhnisch betrachtet von der Union, die sich erstmals<br />

<strong>in</strong> der Geschichte der Bundesrepublik <strong>in</strong> der Opposition<br />

wiedergefun<strong>den</strong> hatte und nun die Preisgabe bisher unverzichtbarer<br />

Grundsätze be<strong>für</strong>chtete. Während die Bundesregierung<br />

darauf verwies, dass sich die <strong>in</strong>ternationale Anerkennung<br />

der DDR kaum mehr aufhalten lasse und e<strong>in</strong>e Verbesserung der Beziehungen zu <strong>den</strong> osteuropäischen<br />

Staaten ohne die Verträge nicht möglich sei, be<strong>für</strong>chteten CDU und CSU e<strong>in</strong>e Verschiebung<br />

des Mächtegleichgewichts zugunsten der UdSSR, e<strong>in</strong>e Aufweichung der NATO e<strong>in</strong>schließlich<br />

der Gefahr e<strong>in</strong>es Rückzugs der USA aus Europa sowie die Gefahr neuer Konflikte <strong>in</strong>folge unterschiedlicher<br />

Interpretationen der Verträge.<br />

Im Kern drehte sich die Debatte um die Frage, ob die Ostverträge als Ausgangs- oder Schlusspunkt<br />

der Ost- und Deutschlandpolitik zu bewerten seien. Die Union sah <strong>den</strong> Weg zur völkerrechtlichen<br />

Anerkennung der DDR und damit zur endgültigen Zementierung der Teilung beschritten und<br />

warf der Regierung vor, mit der Anerkennung der Oder-Neiße-L<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong> wichtiges Faustpfand <strong>für</strong><br />

mögliche Frie<strong>den</strong>svertragsverhandlungen aus der Hand gegeben zu haben. Dies brachte zum<strong>in</strong>dest<br />

e<strong>in</strong>em Teil der Union <strong>den</strong> Vorwurf von Außenm<strong>in</strong>ister Scheel e<strong>in</strong>, <strong>den</strong> Krieg nach 25 Jahren durch<br />

e<strong>in</strong>en vertraglichen Handstreich gewissermaßen nachträglich noch gew<strong>in</strong>nen zu wollen (269). Überdies,<br />

so Egon Bahr <strong>in</strong> der Sitzung am 17. Juni 1970, sei bei <strong>den</strong> vier Mächten e<strong>in</strong> Interesse an e<strong>in</strong>em<br />

Frie<strong>den</strong>svertrag ohneh<strong>in</strong> nicht mehr vorhan<strong>den</strong> (322). Die Regierungsvertreter legten immer wieder


212 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

dar, dass die Bundesrepublik nur so mit der <strong>in</strong>ternationalen Entwicklung Schritt halten, <strong>den</strong> Entspannungsprozess<br />

<strong>in</strong> ihrem S<strong>in</strong>ne mit gestalten und der Gefahr e<strong>in</strong>er Isolierung auch unter <strong>den</strong> eigenen<br />

Verbündeten begegnen könne. Auch auf die positiven Folgen <strong>für</strong> die Sicherheit Berl<strong>in</strong>s wurde<br />

immer wieder verwiesen. Scheel betonte außerdem, dass e<strong>in</strong>e politische Union <strong>in</strong> Westeuropa nur<br />

bei e<strong>in</strong>er Bere<strong>in</strong>igung des Verhältnisses zwischen der Bundesrepublik und ihren östlichen Nachbarn<br />

möglich sei (1153).<br />

An der Person des Verhandlungsführers Bahr entzündeten sich scharfe Debatten. Während sich<br />

Bahr über Indiskretionen aus Sitzungen des Ausschusses beklagte (etwa anlässlich der Veröffentlichung<br />

des „Bahr-Papiers“) und damit drohte, nicht mehr umfassend zu berichten, warfen Ausschussmitglieder<br />

von CDU und CSU der Regierung schlechte Informationspolitik vor (918f.). Mehr<br />

oder weniger unterschwellig bestand im Übrigen zum<strong>in</strong>dest bei Teilen der Unionsfraktion der Verdacht,<br />

dass Bahr auch an Außenm<strong>in</strong>ister Scheel vorbei Absprachen traf. Dieses Misstrauen wurde <strong>in</strong><br />

<strong>den</strong> <strong>in</strong>sgesamt neun Sitzungen über die Ratifizierungsgesetze deutlich. Vertreter der Union forderten<br />

möglichst umfassende E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> relevante Unterlagen bis h<strong>in</strong> zu <strong>den</strong> Verhandlungsprotokollen, was<br />

von der Bundesregierung auch mit Blick auf das Verhalten unionsgeführter Regierungen bei früheren<br />

umstrittenen Verträgen abgelehnt wurde. Diese Sitzungen zeigten zudem, wie vergiftet das Klima<br />

zwischen Regierung und Opposition vor dem H<strong>in</strong>tergrund e<strong>in</strong>er schw<strong>in</strong><strong>den</strong><strong>den</strong> Regierungsmehrheit<br />

<strong>in</strong>zwischen war. Die Verträge wur<strong>den</strong> von <strong>den</strong> Unionsvertretern stun<strong>den</strong>lang derartig seziert, dass<br />

der Abgeordnete Kahn-Ackermann (SPD) <strong>in</strong> der Sitzung am 15. März 1972 stichelte, er fühle sich<br />

an die Diskussion er<strong>in</strong>nert, ob Christus nachts se<strong>in</strong>en Bart über oder unter der Bettdecke getragen<br />

habe (1355). Insbesondere der Brief zur deutschen E<strong>in</strong>heit wurde von der Union als unbefriedigend<br />

angesehen. Der Abgeordnete Gradl (CDU) warf der Bundesregierung vor, dass die E<strong>in</strong>heit zwar <strong>den</strong><br />

Buchstaben nach im Moskauer Vertrag gesichert sei, nicht jedoch politisch. Das Ziel der E<strong>in</strong>heit habe<br />

nicht annähernd die Form bekommen, die es hätte haben müssen, um als Wille der Deutschen auch<br />

<strong>in</strong>ternational Anerkennung zu erhalten (1225f.). Dementsprechend wur<strong>den</strong> die Ratifizierungsgesetze<br />

am 25. April 1972 mit je nur e<strong>in</strong>er Stimme Mehrheit gebilligt (1682).<br />

Alle anderen außenpolitischen Themen wie etwa der Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag, die<br />

sich am Horizont abzeichnende Europäische Sicherheitskonferenz (die spätere KSZE), die Lage der<br />

NATO, die Vorbereitung der Verhandlungen über die Abrüstung und Kontrolle konventioneller<br />

Waffen und Streitkräfte oder auch die Europapolitik wur<strong>den</strong> im Auswärtigen Ausschuss weitaus weniger<br />

<strong>in</strong>tensiv und meistens im Zusammenhang mit <strong>den</strong> Ostverträgen behandelt. Die Lage außerhalb<br />

Europas spielte nur e<strong>in</strong>e untergeordnete Rolle.<br />

Die Edition leistet vorbildliche Arbeit bei der Erschließung der riesigen Textmenge. Neben e<strong>in</strong>er<br />

kundigen E<strong>in</strong>leitung, die e<strong>in</strong>en Überblick über die wesentlichen Themen und die Arbeit des Auswärtigen<br />

Ausschusses bietet, gibt es zahlreiche Hilfsmittel wie Kurzbiografien der Ausschussmitglieder,<br />

Mitglieder- und Teilnehmerübersichten, Verzeichnisse der Dokumente, der Archivalien, der am häufigsten<br />

vorkommen<strong>den</strong> Verträge sowie der behandelten Gesetzesentwürfe und Anträge sowie Personen-<br />

und Sachregister. Zu Beg<strong>in</strong>n jedes Sitzungsprotokolls f<strong>in</strong>det man zudem e<strong>in</strong>e Kurzfassung des<br />

Sitzungsverlaufs, die e<strong>in</strong> schnelles Auff<strong>in</strong><strong>den</strong> der <strong>für</strong> <strong>den</strong> Benutzer <strong>in</strong>teressanten Tagesordnungspunkte<br />

ermöglicht. Die Kommentierung ist äußerst sorgfältig, könnte jedoch <strong>in</strong> zukünftigen Bän<strong>den</strong><br />

etwas gestrafft wer<strong>den</strong>: Verschie<strong>den</strong>e Anmerkungen, <strong>in</strong>sbesondere Passagen aus veröffentlichten<br />

Quellen, wer<strong>den</strong> immer wieder ausführlich zitiert, teilweise sogar mehrfach <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Dokument (so<br />

etwa 1393/1407 oder 1392/1406). Auch ersche<strong>in</strong>en Zitate aus Sitzungen, die im gleichen Band<br />

abgedruckt s<strong>in</strong>d, nicht s<strong>in</strong>nvoll (so 1356). Hier wären Rückverweise wünschenswert, was zudem<br />

weniger Auslassungen im Haupttext möglich machen würde, die aus Platzgrün<strong>den</strong> verständlicherweise<br />

vorgenommen wur<strong>den</strong>. Die mitgelieferte CD bietet zwar <strong>den</strong> ungekürzten Text der Protokolle, da<strong>für</strong><br />

fehlt aber die Kommentierung, sodass die Seitenzählung nicht i<strong>den</strong>tisch ist, was e<strong>in</strong>e längere Suche<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


213 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

der Textstellen zur Folge hat. Da die Auslassungen nicht nur technische Debatten betreffen, sondern<br />

durchaus <strong>in</strong>haltliche Beiträge, entsteht gelegentlich die Situation, dass <strong>in</strong> der Debatte über Äußerungen<br />

diskutiert wird, die nur auf der CD zu f<strong>in</strong><strong>den</strong> s<strong>in</strong>d (z.B. 1354, 1362).<br />

Die hier angesprochenen Punkte m<strong>in</strong>dern jedoch <strong>in</strong>sgesamt gesehen ke<strong>in</strong>esfalls das positive Gesamturteil<br />

über die vorgestellte Edition. Sie bleibt <strong>für</strong> je<strong>den</strong> an der Außenpolitik der Bundesrepublik<br />

<strong>in</strong>teressierten Forscher absolut unverzichtbar.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Jens Hüttmann: DDR-Geschichte und ihre Forscher. Akteure und Konjunkturen der<br />

bundesdeutschen DDR-Forschung, Berl<strong>in</strong>: Metropol 2008, 472 S., ISBN 978-3-938690-83-3,<br />

EUR 24,00<br />

Rezensiert von Hermann Wentker<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 1<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/01/14861.html<br />

Wohl kaum e<strong>in</strong> Forschungsgebiet war <strong>in</strong> der Bundesrepublik vor<br />

und nach 1990 so heiß umkämpft wie die DDR-Forschung. Ursache<br />

da<strong>für</strong> waren auch die öffentlichen Kontroversen um die bundesdeutsche<br />

Deutschland- und Ostpolitik: Vor 1990 g<strong>in</strong>g es dabei um<br />

Anerkennung und Nichtanerkennung sowie um Aufrechterhaltung<br />

des Anspruchs auf Wiedervere<strong>in</strong>igung bei gleichzeitigem Bemühen<br />

um menschliche Erleichterungen; danach unter anderem um die<br />

Frage, wer durch die Wiedervere<strong>in</strong>igung bestätigt wor<strong>den</strong> sei –<br />

A<strong>den</strong>auer mit se<strong>in</strong>er „Magnet-Theorie“ und der Politik der Nichtanerkennung<br />

oder Brandt mit se<strong>in</strong>er „Politik der kle<strong>in</strong>en Schritte“.<br />

Wer sich mit der DDR befasste, begab sich also auf e<strong>in</strong> politisch<br />

verm<strong>in</strong>tes Gelände. Vor diesem H<strong>in</strong>tergrund ist es sehr zu begrüßen,<br />

dass Jens Hüttmann mit se<strong>in</strong>er Dissertation „die DDR-Forschung<br />

und ihre Akteure selbst [...] historisieren“ will (18).<br />

Nach Hüttmann lässt sich die bundesdeutsche DDR-Forschung <strong>in</strong><br />

drei Phasen aufteilen: In <strong>den</strong> Jahren 1949 bis 1967 entwickelte sich<br />

die SBZ- zur DDR-Forschung; die Zeit zwischen 1967 und 1990<br />

bezeichnet er als „Blütezeit der ‚altenʻ DDR-Forschung“, auf die nach 1990 „die ‚neueʻ DDR-<br />

Forschung“ folgte. Se<strong>in</strong>e Studie beruht vornehmlich auf dem gedruckten Material; darüber h<strong>in</strong>aus<br />

hat er die Nachlässe der DDR-Forscher Otto Stammer und Peter Christian Ludz sowie Interviews<br />

mit 22 DDR-Forschern herangezogen, „die die vorhan<strong>den</strong>e Heterogenität des Feldes [...] abbil<strong>den</strong><br />

sollten“ (28). Aus letzteren zitiert er bisweilen ausführlich und verdeutlicht so, dass e<strong>in</strong>e Reihe der<br />

vorgestellten Forscher Persönlichkeiten mit Ecken und Kanten waren. Weite Teile des Buches wer<strong>den</strong><br />

darauf verwendet, <strong>Institut</strong>ionen und Personen der DDR-Forschung vorzustellen und e<strong>in</strong>zuordnen.<br />

Wie Hüttmann zutreffend darlegt, zeichnete sich die DDR-Forschung vor 1990 durch e<strong>in</strong>en erheblichen<br />

Mangel an Orig<strong>in</strong>alquellen aus. H<strong>in</strong>zu kam der starke E<strong>in</strong>fluss lebensgeschichtlicher Erfahrungen<br />

bei sehr vielen DDR-Forschern – Paradebeispiel da<strong>für</strong> ist der bundesdeutsche Nestor der<br />

DDR-Forschung Hermann Weber – und schließlich die Tatsache, dass es sich bei der DDR-Forschung<br />

um e<strong>in</strong>e „Sonderdiszipl<strong>in</strong>“ handelte, die nie richtig an <strong>den</strong> Universitäten etabliert war und nur lockeren<br />

Kontakt zu <strong>den</strong> „Mutterdiszipl<strong>in</strong>en“ wie Geschichte und Soziologie hielt.<br />

Zwischen 1949 und 1967 entwickelte sich die DDR-Forschung vor allem im Zusammenhang der<br />

Planungen <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e möglichst baldige Wiedervere<strong>in</strong>igung; vieles wurde vom Bundesm<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong><br />

Gesamtdeutsche Fragen f<strong>in</strong>anziert. Freilich konstatiert Hüttmann schon <strong>in</strong> dieser Zeit die Entwick-


215 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

lung von e<strong>in</strong>er vorwiegend politischen Zwecken dienen<strong>den</strong> h<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>er seriösen, auf empirischer<br />

Grundlage arbeiten<strong>den</strong> Forschung. Besonders hebt er <strong>in</strong> diesem Zusammenhang Arcadius Gurland,<br />

Otto Stammer und Ernst Richert vom <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> politische Wissenschaft (IfpW) der Freien Universität<br />

Berl<strong>in</strong> hervor, die vor allem Kritik am Totalitarismusmodell von Carl J. Friedrich übten: Sie<br />

wollten e<strong>in</strong>e Globalsicht auf die DDR vermei<strong>den</strong>, „Theorien mittlerer Reichweite“ erproben und Ausschnitte<br />

der gesellschaftlichen Wirklichkeit analysieren.<br />

Die Zäsur von 1967 wird <strong>in</strong>sbesondere an zwei Ereignissen festgemacht: An e<strong>in</strong>em Artikel Richerts<br />

aus diesem Jahr <strong>in</strong> der „ZEIT“ und an der 1. DDR-Forschertagung. Beides verstärkte <strong>den</strong> Trend zur<br />

Verwissenschaftlichung der DDR-Forschung. Es ist sicher ke<strong>in</strong> Zufall, dass aus der Zeitschrift<br />

„SBZ-Archiv“ damals das „Deutschland Archiv“ wurde, <strong>in</strong> dem die Redaktion ebenfalls explizit<br />

wissenschaftliche Standards e<strong>in</strong>forderte. Die nun anbrechende Ära der DDR-Forschung war die große<br />

Zeit von Peter C. Ludz, der <strong>in</strong> gewisser Weise an die Arbeiten des IfpW anknüpfte und 1968 mit se<strong>in</strong>er<br />

Arbeit zur „Parteielite im Wandel“ die erste Habilitationsschrift auf dem Gebiet der DDR-<br />

Forschung vorlegte. Hüttmann erläutert nochmals dessen Hauptthese, der zufolge unter dem Druck<br />

der <strong>in</strong>dustriegesellschaftlichen Notwendigkeiten angesichts der Interessen der technischen Intelligenz<br />

das DDR-System zunehmend offener und rationaler werde. Aufgrund des zunehmen<strong>den</strong> Gewichts<br />

der Berater werde sich der „konsultative Autoritarismus“ <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en „partizipativen Autoritarismus“<br />

wandeln. Hüttmann hebt <strong>in</strong>des auch die wenig bekannte Tatsache hervor, dass Ludz sich später wieder<br />

der Totalitarismustheorie angenähert habe, wobei er von e<strong>in</strong>em gesellschaftlichen Prozess der<br />

„Entdifferenzierung“ gesprochen habe. Doch bleibt Hüttmann nicht bei der Theorie stehen, sondern<br />

wendet sich auch der Beratertätigkeit von Ludz und anderen, <strong>in</strong>sbesondere Hartmut Zimmermann,<br />

<strong>für</strong> die Bundesregierung zu, <strong>in</strong> deren Zuge die „Materialien zur Lage der Nation“ sowie das „DDR-<br />

Handbuch“ entstan<strong>den</strong>. Bei aller Wertschätzung <strong>für</strong> die „kritisch-immanenten“ Ansätze, die nicht<br />

über e<strong>in</strong>en Kamm zu scheren seien, verweist Hüttmann jedoch auch auf die bei diesem Ansatz entstehende<br />

Fehlstelle: die weitgehende Ausblendung der repressiven Dimension der DDR. Das M<strong>in</strong>isterium<br />

<strong>für</strong> Staatssicherheit wurde lediglich von e<strong>in</strong>em „etablierten Außenseiter“, Karl Wilhelm Fricke, erforscht.<br />

Diese Marg<strong>in</strong>alisierung wird zum e<strong>in</strong>en auf die Entspannungspolitik, zum anderen vor allem<br />

auf die schlechte Materiallage sowie darauf zurückgeführt, dass das MfS nicht <strong>in</strong> <strong>den</strong> theoretischen<br />

Horizont der Forschungen gepasst habe. Es ist letztlich diese Ausgewogenheit und Differenziertheit,<br />

die Hüttmanns Arbeit auszeichnet.<br />

Die bundesdeutsche DDR-Forschung der 1980er Jahre, die sich sehr viel stärker zeithistorisch<br />

ausrichtete und trotz Quellenmangels beachtliche Resultate hervorbrachte, wird sehr stiefmütterlich<br />

behandelt. Symptomatisch da<strong>für</strong> ist, dass das von Hermann Weber und Mart<strong>in</strong> Broszat herausgegebene<br />

SBZ-Handbuch zwar erwähnt wird, nicht jedoch die Tatsache, dass dieses nicht nur im Arbeitsbereich<br />

Geschichte und Politik der DDR an der Universität Mannheim, sondern auch im <strong>Institut</strong><br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong> München entstand. Im letzten Teil geht Hüttmann auf die Zeit nach 1990 e<strong>in</strong>, an<br />

deren Beg<strong>in</strong>n zunächst e<strong>in</strong>mal der „alten“ DDR-Forschung Versagen vorgeworfen wurde, da sie <strong>den</strong><br />

Untergang der DDR nicht vorhergesagt und „Schönfärberei“ betrieben habe. Auch das Kritikerlager,<br />

so der zutreffende H<strong>in</strong>weis Hüttmanns, sei nicht homogen gewesen. Was die Forschungsgegenstände<br />

betrifft, so konstatiert der Autor zu Recht e<strong>in</strong>e gewaltige Verschiebung gegenüber der Zeit vor 1990:<br />

Die Stasi wurde von e<strong>in</strong>em Randphänomen zum „Boomthema“. Nicht zuzustimmen ist Hüttmann<br />

<strong>in</strong>des, wenn er behauptet, dass „seit 1992 kont<strong>in</strong>uierlich die SED und das MfS erforscht“ wür<strong>den</strong><br />

(352). Für die SED trifft dies nur <strong>für</strong> die Zeit bis <strong>in</strong> die 1950er Jahre zu und auch die Stasi-<br />

Forschung hat trotz wesentlicher Forschungsfortschritte noch nicht die „zahlreiche[n] Hand- und<br />

Organisationshandbücher“ hervorgebracht, von <strong>den</strong>en an anderer Stelle die Rede ist (360). Des Weiteren<br />

behandelt er die Neuordnung der Forschungslandschaft sowie die Deutungskontroversen, welche<br />

die DDR-Forschung auch nach 1990 beherrschen.<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


216 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Auf e<strong>in</strong>e Reihe kle<strong>in</strong>erer Mängel sei eher am Rande verwiesen. Der lexikalische E<strong>in</strong>druck, <strong>den</strong><br />

das Buch bei der Aufzählung der DDR-Forschungse<strong>in</strong>richtungen vermittelt, trügt. So wird etwa über<br />

die Abwicklung des Erlanger „<strong>Institut</strong>s <strong>für</strong> Gesellschaft und Wissenschaft“ berichtet, nicht aber über<br />

dessen Gründung und Tätigkeit. Des Weiteren unterlaufen Hüttmann bei <strong>den</strong> immer wieder e<strong>in</strong>geflochtenen<br />

Passagen zur Deutschland- und Ostpolitik unnötige Fehler: Die „Hallste<strong>in</strong>-Doktr<strong>in</strong>“ wurde<br />

nicht im September, sondern im Dezember 1955 verkündet (56), und, sehr viel wichtiger, im Zusammenhang<br />

mit <strong>den</strong> deutsch-deutschen Verhandlungen zwischen 1970 und 1972 g<strong>in</strong>g es nie um „die<br />

Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der DDR“ (232). Insgesamt handelt es sich jedoch um<br />

e<strong>in</strong>e verdienstvolle Studie, die <strong>in</strong> der nötigen Differenziertheit die bundesdeutsche DDR-Forschung<br />

im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft präsentiert.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Konrad H. Jarausch (Hrsg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte,<br />

Gött<strong>in</strong>gen: Van<strong>den</strong>hoeck & Ruprecht 2008, 362 S., ISBN 978-3-525-36153-5, EUR 29,90<br />

Rezensiert von Matthias Peter<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 11<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/11/15584.html<br />

Die siebziger Jahre haben Konjunktur. Nachdem die Geschichtswissenschaft<br />

<strong>den</strong> wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen<br />

Wandel zunächst der fünfziger, dann der<br />

sechziger Jahre <strong>in</strong> <strong>den</strong> Mittelpunkt rückte, richtet sich der<br />

Blick seit geraumer Zeit auf die Siebziger. Doch steckt h<strong>in</strong>ter<br />

diesem Interesse mehr als nur das übliche deka<strong>den</strong>weise Voranschreiten<br />

des Historikers. Denn er wendet sich e<strong>in</strong>em Jahrzehnt<br />

zu, das <strong>in</strong>nerhalb der Nachkriegsgeschichte e<strong>in</strong>e Zäsur,<br />

ja mit Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts möglicherweise<br />

e<strong>in</strong>e Epochengrenze markiert. Dabei wird vor allem<br />

se<strong>in</strong> Krisencharakter herausgestellt. „Post<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft“,<br />

„Risikogesellschaft“, „Wertewandel“, „Postmoderne“<br />

und „Unregierbarkeit“ s<strong>in</strong>d nur e<strong>in</strong>ige der Schlagwörter, mit<br />

<strong>den</strong>en bereits die Zeitgenossen versuchten, <strong>den</strong> fundamentalen<br />

<strong>in</strong>dustriellen, politischen und sozio-kulturellen Wandel zu<br />

erfassen. Allen ist freilich geme<strong>in</strong>sam, dass sie bei näherer Betrachtung,<br />

wie Konrad Jarausch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>leitung hervorhebt,<br />

gleichermaßen unbefriedigend wie ausschnitthaft s<strong>in</strong>d.<br />

Sie spiegeln deshalb eher die Ratlosigkeit, mit der die Politik<br />

und ihre Experten se<strong>in</strong>erzeit auf <strong>den</strong> Umbruch reagierten. Kann der retrospektiv arbeitende Historiker<br />

hier mehr zur Analyse und Begriffsbildung beitragen?<br />

Die <strong>in</strong>sgesamt achtzehn Beiträge des Sammelbandes, die auf e<strong>in</strong>e Potsdamer Konferenz im Sommer<br />

2007 zurückgehen, unternehmen ausdrücklich <strong>den</strong> Versuch, die siebziger Jahre zu historisieren.<br />

In vier Abschnitten beleuchten jeweils vier Autoren die Transformation <strong>für</strong> ausgewählte Bereiche<br />

aus Wirtschaft, Arbeit und Soziales, Alltag sowie Politik. Auch die deutsch-deutsche und die europäische<br />

Entwicklung gerät nicht aus dem Blick. Dabei gehen zahlreiche Autoren über <strong>den</strong> gesetzten<br />

Zeitrahmen h<strong>in</strong>aus und ordnen <strong>den</strong> Umbruch <strong>in</strong> längerfristige, zum Teil auf die Zeit vor 1945 zurückreichende<br />

Wandlungsprozesse e<strong>in</strong> oder sp<strong>in</strong>nen <strong>den</strong> Fa<strong>den</strong> weiter bis <strong>in</strong> die achtziger und neunziger<br />

Jahre. Umrahmt wer<strong>den</strong> die empirischen Beiträge von e<strong>in</strong>er das Thema des Buches problematisieren<strong>den</strong><br />

und die Ergebnisse der E<strong>in</strong>zelbeiträge bündeln<strong>den</strong> E<strong>in</strong>leitung des Herausgebers sowie zwei<br />

abschließen<strong>den</strong> Essays von Anselm Doer<strong>in</strong>g-Manteuffel zur historischen E<strong>in</strong>ordnung der siebziger<br />

Jahre und von Konrad Jarausch, der es unternimmt, die Entwicklung seit 1973 <strong>in</strong> <strong>den</strong> größeren Zusammenhang<br />

der anhalten<strong>den</strong> Globalisierung zu rücken.


218 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Wie die Beiträge, auf die im Folgen<strong>den</strong> nur unvollständig e<strong>in</strong>gegangen wer<strong>den</strong> kann, deutlich<br />

machen, war das Jahrzehnt von Widersprüchen geprägt. In jeder Krise liegt bekanntlich eben auch<br />

e<strong>in</strong>e Chance, Niedergang und Aufbruch liegen dicht beie<strong>in</strong>ander. Dem Niedergang der Textil<strong>in</strong>dustrie,<br />

<strong>den</strong> Stephan H. L<strong>in</strong>dner e<strong>in</strong>drücklich schildert, entsprach so das Aufkommen neuer Technologien<br />

wie der Mikroelektronik. Mit deren Hilfe wiederum vermochte es die westdeutsche Auto<strong>in</strong>dustrie,<br />

wie Re<strong>in</strong>hold Bauer zeigt, die Herausforderungen der Energie- und Absatzkrise anzunehmen, auch<br />

wenn sie e<strong>in</strong>en Teil ihrer Weltmarktstellung an Japan abgeben musste. Positive Akzente vermag auch<br />

der „Aufbrüche im Alltag“ überschriebene Abschnitt zu setzen, so etwa bei der Entwicklung der Erwerbstätigkeit<br />

von Frauen (Monika Mattes).<br />

Vor ganz besonderen Herausforderungen stand freilich der Sozialstaat. Kenntnisreich zeichnen<br />

Christoph Boyer und W<strong>in</strong>fried Süß dessen Ausbau zu e<strong>in</strong>em immer weitere Bereiche umfassen<strong>den</strong><br />

sozialen Sicherungssystem nach, der von e<strong>in</strong>em breiten Konsens aus Politik und Öffentlichkeit getragen<br />

und als Weg zu „mehr sozialer Teilhabe im Zeichen wachsen<strong>den</strong> Wohlstands“ (121) gesehen<br />

wurde. Vor dem H<strong>in</strong>tergrund begrenzter Ressourcen gestaltete sich jegliches Regierungshandeln freilich<br />

immer schwieriger, zumal weder die Entscheidungseliten noch die Öffentlichkeit das ganze<br />

Ausmaß des Strukturwandels erkannten und weiterh<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong> Kategorien „normaler“ konjunktureller<br />

Schwankungen dachten. Wie aus <strong>den</strong> Beiträgen von Hartmut Soell und Gabriele Metzler hervorgeht,<br />

begann sich <strong>in</strong> jener Phase auch das staatliche Handeln zu verändern. So zog Helmut Schmidt aus<br />

dem Entstehen e<strong>in</strong>er „Globalökonomie“ <strong>den</strong> richtigen Schluss, dass e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>dämmung der Krisenfolgen<br />

nur auf europäischer Ebene und auf <strong>den</strong> von ihm mit<strong>in</strong>itiierten Weltwirtschaftsgipfeln möglich<br />

sei. Unterdessen lässt sich am Beispiel der Debatte l<strong>in</strong>ker und neoliberaler Kommentatoren darüber,<br />

ob der „spätkapitalistische“ oder sozial überforderte Staat „unregierbar“ gewor<strong>den</strong> sei, erkennen,<br />

dass – obwohl sich der Staat angesichts der vielfältigen Herausforderungen als „bemerkenswert<br />

handlungsfähig“ (255) erwies – das Vertrauen <strong>in</strong> die „Allmacht des Staates“ nachließ und allmählich<br />

e<strong>in</strong>em „Akteurspluralismus“ wich (256).<br />

Es ist e<strong>in</strong> Verdienst des Bandes, durch e<strong>in</strong>en systemübergreifen<strong>den</strong>, <strong>in</strong>sbesondere deutsch-deutschen<br />

Vergleich nachzuweisen, dass auch die östlichen Wirtschaftssysteme ke<strong>in</strong>eswegs von <strong>den</strong> globalen<br />

Entwicklungen abgekoppelt waren. Dabei wurde die DDR von <strong>den</strong> Folgen des Umbruchs mit zeitlicher<br />

Verzögerung getroffen. Die Versuche Ost-Berl<strong>in</strong>s, Anschluss an <strong>den</strong> technologischen Fortschritt zu<br />

halten und die Konsumbedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen, waren allerd<strong>in</strong>gs im starren<br />

Rahmen e<strong>in</strong>er Zentralverwaltungswirtschaft langfristig nicht erfolgreich und vergrößerten letztlich<br />

sogar die Abhängigkeit von <strong>den</strong> flexibler agieren<strong>den</strong> westlichen Industriestaaten (André Ste<strong>in</strong>er, Peter<br />

Hübner, Christoph Boyer). Diesen Befund bestätigt auch Michael Schwartz mit se<strong>in</strong>er Analyse der<br />

Familienpolitik und des Abtreibungsrechts, die zu dem Ergebnis kommt, dass das SED-Regime die<br />

Folgelasten se<strong>in</strong>er Sozialpolitik nicht mehr bewältigen konnte.<br />

Der Band zeichnet <strong>in</strong>sgesamt e<strong>in</strong> facettenreiches Bild der siebziger Jahre und ist e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>drucksvoller<br />

Beleg <strong>für</strong> die Leistungsfähigkeit historischer Fragestellungen. Weitere Detailforschungen s<strong>in</strong>d<br />

dr<strong>in</strong>gend notwendig.[1] Für e<strong>in</strong> vollständiges Bild wäre es jedoch notwendig, die Politikgeschichte<br />

stärker e<strong>in</strong>zubeziehen. Doer<strong>in</strong>g-Manteuffel weist etwa zu Recht auf das Veränderungspotential der<br />

Entspannungspolitik h<strong>in</strong>, die sich parallel zu dem von <strong>den</strong> Autoren behandelten Transformationsprozess<br />

entfaltete (320). Tatsächlich spiegeln, um nur zwei Beispiele zu nennen, die Neue Ostpolitik<br />

wie die Nachrüstungsdebatte außenpolitisch die mit der sozial-liberalen Ära <strong>in</strong>nen- und gesellschaftspolitisch<br />

verknüpften Hoffnungen wie Zukunftsängste wieder und wären geeignet, die<br />

These von der „Strukturkrise als zeithistorischer Zäsur“ (313) weiter zu differenzieren. Es muss<br />

deshalb das Ziel e<strong>in</strong>er Historisierung der siebziger Jahre se<strong>in</strong>, bei e<strong>in</strong>er Gesamtbetrachtung sozial-,<br />

wirtschafts-, gesellschafts- und eben auch politikgeschichtliche Perspektiven vergleichend zu berücksichtigen.<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


219 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Und der Epochencharakter des Jahrzehnts? Nach der Lektüre der Beiträge wird klar, dass die turbulenten<br />

Siebziger e<strong>in</strong>e zwischen Krise und Aufbruch, Beharrung und Fortschritt oszillierende Dekade<br />

darstellen. Bei aller Widersprüchlichkeit ergibt sich aus <strong>den</strong> Beiträgen der vorläufige Befund, dass<br />

die siebziger Jahre deshalb weniger e<strong>in</strong>en Epochenwechsel vollziehen als e<strong>in</strong>en Übergang e<strong>in</strong>leiten,<br />

der noch ke<strong>in</strong>esfalls, wie Jarausch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Schlussbeitrag demonstriert, abgeschlossen ist. Und e<strong>in</strong>e<br />

postbürgerliche Gesellschaft, welche das fast zwei Jahrhunderte bis zur Zäsur der siebziger Jahre<br />

gültige Modell ersetzen wird, ist bestenfalls <strong>in</strong> Umrissen zu erkennen. Es mag daher <strong>für</strong> <strong>den</strong> Historiker<br />

noch zu früh se<strong>in</strong>, gesicherte Aussagen zur Gesamtepoche zu machen. Aber, das stellt dieses<br />

Buch e<strong>in</strong>drücklich unter Beweis, es ist nicht zu früh, damit zu beg<strong>in</strong>nen.<br />

Anmerkung:<br />

[1] Vgl. Thomas Raithel/Andreas Rödder/Andreas Wirsch<strong>in</strong>g (Hrsg.): Auf dem Weg <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e neue<br />

Moderne? Die Bundesrepublik Deutschland <strong>in</strong> <strong>den</strong> siebziger und achtziger Jahren, München<br />

2009.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Gerhard Keiderl<strong>in</strong>g: Um Deutschlands E<strong>in</strong>heit. Ferd<strong>in</strong>and Frie<strong>den</strong>sburg und der Kalte<br />

Krieg <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> 1945–1952, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2009, 489 S., ISBN 978-3-412-20323-8,<br />

EUR 59,90<br />

Rezensiert von Siegfried Suckut<br />

Abteilung Bildung und Forschung bei der Bundesbeauftragten <strong>für</strong> die Stasi-Unterlagen, Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 10<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/10/16212.html<br />

Mit der vorliegen<strong>den</strong> biografischen Würdigung Ferd<strong>in</strong>and<br />

Frie<strong>den</strong>sburgs versucht der Autor wissenschaftliche Aufmerksamkeit<br />

<strong>für</strong> e<strong>in</strong>en CDU-Politiker zu wecken, der <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

ersten Nachkriegsjahren an führender Stelle die Geschicke<br />

Berl<strong>in</strong>s mitbestimmte, dessen Wirken aber bisher „eher <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Forschungsschatten“ (11) gelegen habe. Das gelte auch<br />

<strong>für</strong> dessen 1972 erschienene Autobiografie, deren Titel Keiderl<strong>in</strong>g,<br />

ehemals Forschungsgruppenleiter am Zentral<strong>in</strong>stitut<br />

<strong>für</strong> Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR,<br />

fast wörtlich übernommen hat. Se<strong>in</strong>e Darstellung folgt im<br />

Aufbau weith<strong>in</strong> der Frie<strong>den</strong>sburgs. Schwerpunkte s<strong>in</strong>d dessen<br />

Rolle als Mitbegründer der CDU <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, se<strong>in</strong>e Tätigkeiten<br />

als Präsi<strong>den</strong>t der Deutschen Zentralverwaltung <strong>für</strong> Brennstoff<strong>in</strong>dustrie<br />

<strong>in</strong> der sowjetischen Zone wie als exponiertes<br />

Mitglied im Kulturbund zur demokratischen Erneuerung<br />

Deutschlands und <strong>in</strong> der Gesellschaft zum Studium der Kultur<br />

der Sowjetunion. Ausführlich geht er auf die sich seit 1946<br />

rasch vertiefende Teilung Deutschlands und deren Auswirkungen<br />

<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> e<strong>in</strong>, die schwieriger wer<strong>den</strong>de Zusammenarbeit im Berl<strong>in</strong>er Magistrat und mit <strong>den</strong><br />

Besatzungsmächten. Er rekonstruiert die schrittweise politische und wirtschaftliche Teilung der Stadt<br />

nach der Währungsreform und die erfolgreiche Selbstbehauptung der Westberl<strong>in</strong>er <strong>in</strong> <strong>den</strong> Monaten<br />

sowjetischer Blockade. In mitunter langen Absätzen zitiert Keiderl<strong>in</strong>g aus der Autobiografie und<br />

dem Nachlass des Ersten Bürgermeisters und zeitweise amtieren<strong>den</strong> Oberbürgermeisters der Stadt <strong>in</strong><br />

<strong>den</strong> „Schicksalsjahren“ 1946 bis 1948. Diese Quellen s<strong>in</strong>d <strong>für</strong> ihn gleichsam das Gerüst, um das se<strong>in</strong>e<br />

Darstellung rankt. Dabei geht es ihm nicht nur darum, Frie<strong>den</strong>sburgs politisches Verhalten zu dokumentieren<br />

und zu würdigen, er gibt, daraus abgeleitet, zugleich e<strong>in</strong>e eigene zusammenfassende Darstellung<br />

der politischen Geschichte der Stadt nach dem Kriege, das zentrale Thema se<strong>in</strong>er Forschungen<br />

seit Jahrzehnten.<br />

Frie<strong>den</strong>sburg, aus e<strong>in</strong>er begüterten preußischen Beamtenfamilie stammend und ehemals Mitglied<br />

der DDP, war e<strong>in</strong> entschie<strong>den</strong>er Anhänger westlicher Demokratie und zugleich beseelt vom Gedanken,<br />

die E<strong>in</strong>heit Deutschlands zu erhalten. Er setzte darauf, e<strong>in</strong>e Lösung im E<strong>in</strong>vernehmen mit der<br />

Sowjetunion zu suchen und auf e<strong>in</strong> Verhältnis gegenseitigen Vertrauens zu allen Besatzungsmächten<br />

h<strong>in</strong>zuarbeiten. Ähnlich wie Jakob Kaiser wünschte er sich Deutschland als Brücke zwischen Ost und


221 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

West und suchte bis <strong>in</strong> die 1950er Jahre unermüdlich nach Lösungen, die auch von der östlichen Besatzungsmacht<br />

mitgetragen wür<strong>den</strong>. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges brachte ihm das bei<br />

se<strong>in</strong>en politischen Gegnern im Westen Titulierungen wie „Russenknecht“ (115) oder „trojanisches<br />

Pferd“ der Sowjetunion (225) e<strong>in</strong>. Die im Osten sahen ihn ähnlich polemisch als „Kriegshetzer“ und<br />

„Spalterpolitiker“ (297). Unverkennbar hegt der Autor starke Sympathien <strong>für</strong> Frie<strong>den</strong>sburg, der sich<br />

als „Freund der Sowjetunion“ (439) bezeichnete, se<strong>in</strong>en politischen Gegnern, auch <strong>den</strong> sowjetischen<br />

Besatzungsoffizieren, mit e<strong>in</strong>er zuweilen naiv anmuten<strong>den</strong> Offenheit begegnete und nicht davor zurückschreckte,<br />

sich „zwischen alle Stühle zu setzen“ (295). Deutlich wird, dass dies die Biografie<br />

e<strong>in</strong>es letztlich politisch Gescheiterten ist. Gescheitert, weil weder die Sowjetunion noch die westlichen<br />

Siegermächte an der Suche nach dritten Wegen <strong>in</strong> der Deutschlandpolitik <strong>in</strong>teressiert waren und<br />

die Westberl<strong>in</strong>er wie die Westdeutschen sich mehrheitlich <strong>für</strong> die u.a. von A<strong>den</strong>auer und Reuter<br />

angestrebte rasche West<strong>in</strong>tegration entschie<strong>den</strong>.<br />

Gerhard Keiderl<strong>in</strong>g schildert die Geschichte der Viersektorenstadt gestützt auf e<strong>in</strong>e breite Quellenbasis.<br />

Er demonstriert e<strong>in</strong>e fundierte Kenntnis des Forschungsstandes und hat auch die e<strong>in</strong>schlägigen<br />

Archivalien ausgewertet – bis auf die ehemals sowjetischen. Leider bleibt dieses Manko unerwähnt.<br />

Gerade weil das Verhalten der Sowjetischen Militäradm<strong>in</strong>istration Frie<strong>den</strong>sburgs politisches Schicksal<br />

wesentlich mitbestimmt hat, wäre es aufschlussreich zu wissen, wie sich das <strong>in</strong> deren Akten spiegelt,<br />

zumal, wenn der Autor zuweilen Differenzen zwischen SED und SMAD andeutet.<br />

Auffällig ist, dass Keiderl<strong>in</strong>g wertende Urteile weitgehend meidet und sich <strong>in</strong> der Regel auf e<strong>in</strong>e<br />

Schilderung der Ereignisse beschränkt. So erwähnt er Frie<strong>den</strong>sburgs eisernes Festhalten an der Vorstellung<br />

von e<strong>in</strong>er Ost und West verb<strong>in</strong><strong>den</strong><strong>den</strong> Hauptstadtrolle Berl<strong>in</strong>s, fragt aber nicht, ob das im<br />

Frühjahr 1948 noch realistisch war (225). Erst weiter unten stößt man <strong>in</strong> anderem Zusammenhang<br />

auf se<strong>in</strong>en nicht problematisierten Befund: „Alles“ habe zu diesem Zeitpunkt aus der Sicht der westdeutschen<br />

Länderchefs „<strong>für</strong> e<strong>in</strong>e West<strong>in</strong>tegration wenigstens der Weststadt“ (232) gesprochen. Dass er<br />

die Verhängung der Blockade als „unangemessen“ (297) bezeichnet, ist schon e<strong>in</strong>e se<strong>in</strong>er kritischsten<br />

Äußerungen zur Deutschlandpolitik der Sowjetunion.<br />

Trotz der breiten Quellenbasis trifft der mit dem Forschungsstand vertraute Leser auf ke<strong>in</strong>e<br />

wesentlich neuen Befunde zur Nachkriegsgeschichte Berl<strong>in</strong>s. Dennoch ist die Darstellung nicht nur als<br />

ausführlicher Beitrag zur politischen Biografie Ferd<strong>in</strong>and Frie<strong>den</strong>sburgs von Nutzen, sie <strong>in</strong>formiert<br />

zugleich über die ereignisreichen ersten Jahre Berl<strong>in</strong>er Nachkriegsgeschichte, die, fast 20 Jahre nach<br />

dem Ende der Teilung, als schon sehr weit zurückliegend ersche<strong>in</strong>en.<br />

Keiderl<strong>in</strong>gs jüngste Monografie ist zugleich e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressante, zu vielen Fragen anregende Lektüre,<br />

sieht man sie als Quelle zur Geschichte der deutschen Geschichtsschreibung nach dem Kriege.<br />

Schon als DDR-Wissenschaftler hatte er sich zur historischen Rolle Frie<strong>den</strong>sburgs geäußert und ihn<br />

als „exponierten Interessenvertreter des Großkapitals“ charakterisiert. [1] Dessen von Reuter abweichende<br />

Me<strong>in</strong>ung sei nur „e<strong>in</strong>e Variante des konterrevolutionären E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gens <strong>in</strong> die DDR“ gewesen.<br />

[2] „Reuter, Suhr, Schwennicke, Frie<strong>den</strong>sburg und Konsorten“ hätten die Bevölkerung während der<br />

Blockade aufgestachelt, zum „Währungskampf“ und zur „Verteidigung der Freiheit“ aufgerufen. [3]<br />

Betonte er noch 1987, die Gründung der SED habe sich von unten nach oben, „auf demokratische<br />

Weise“ vollzogen [4], so spricht er jetzt überraschend und pauschal von „Zwangsvere<strong>in</strong>igung“ (32).<br />

Gewöhnungsbedürftig ist auch, dass Keiderl<strong>in</strong>g jetzt Westberl<strong>in</strong> me<strong>in</strong>t, wenn er vom „freien Teil“<br />

der Stadt spricht (342). Vor der Vere<strong>in</strong>igung hatte er sich darüber beschwert, dass Publikationen von<br />

DDR-Wissenschaftlern zur Geschichte Berl<strong>in</strong>s von <strong>den</strong> westlichen Kollegen „gar nicht erst registriert“<br />

wür<strong>den</strong>. [5] Jetzt aber verhält er sich ähnlich. Verweise auf se<strong>in</strong>e DDR-Monografien sucht man <strong>in</strong><br />

<strong>den</strong> Fußnoten vergeblich. Die umfangreichste Arbeit zur Geschichte Berl<strong>in</strong>s [6] ist noch nicht e<strong>in</strong>mal<br />

im Literaturverzeichnis aufgeführt. Rechnet er, was er damals veröffentlichte, grundsätzlich nicht<br />

mehr zur Forschung, sondern zur parteilichen Geschichtspropaganda? Hätte er schon damals se<strong>in</strong>e<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


222 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Geschichte Berl<strong>in</strong>s ähnlich formuliert wie heute, wenn er sich alle<strong>in</strong> an se<strong>in</strong>en tatsächlichen E<strong>in</strong>schätzungen<br />

und Überzeugungen orientiert hätte? – Ganz unpolemisch geme<strong>in</strong>te Fragen wie diese<br />

drängen sich auf.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Gerhard Keiderl<strong>in</strong>g: Die Berl<strong>in</strong>er Krise 1948/49. Zur imperialistischen Strategie des kalten Krieges<br />

gegen <strong>den</strong> Sozialismus und der Spaltung Deutschlands, Berl<strong>in</strong> (Ost) 1982, 68.<br />

[2] Ebenda, 391.<br />

[3] Ebenda, 93.<br />

[4] Ders.: Berl<strong>in</strong> 1945–1986. Geschichte der Hauptstadt der DDR, Berl<strong>in</strong> (Ost) 1987, 187.<br />

[5] Ders.: Die Berl<strong>in</strong>er Krise...[Anm. 1], 11.<br />

[6] Vgl. Anm. 4.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Elke Kimmel: „... war ihm nicht zuzumuten, länger <strong>in</strong> der SBZ zu bleiben“. DDR-Flüchtl<strong>in</strong>ge<br />

im Notaufnahmelager Marienfelde, Berl<strong>in</strong>: Metropol 2009, 116 S., ISBN 978-3-940938-36-7,<br />

EUR 14,00<br />

Rezensiert von Frank Hoffmann<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Deutschlandforschung, Ruhr-Universität Bochum<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/05/15946.html<br />

Unter <strong>den</strong> Ge<strong>den</strong>kstätten Berl<strong>in</strong>s nimmt die Er<strong>in</strong>nerungsstätte<br />

Notaufnahmelager Marienfelde, im Sü<strong>den</strong> des Bezirks Tempelhof<br />

gelegen, e<strong>in</strong>e sche<strong>in</strong>bar periphere Rolle e<strong>in</strong>. Tatsächlich<br />

ist sie mit über 1,3 Millionen Flüchtl<strong>in</strong>gen aus der DDR, die<br />

das Lager zwischen se<strong>in</strong>er Gründung 1953 und 1990 passierten,<br />

e<strong>in</strong> wichtiger Er<strong>in</strong>nerungsort der deutschen Teilungs-<br />

geschichte. Hier bündelten sich <strong>in</strong>dividuelle Schicksale zwischen<br />

totalitärer Gewaltherrschaft der SED und bürokratischer<br />

Aufnahme- und Verteilungsprozedur im Westen zu<br />

e<strong>in</strong>em Kapitel der Ost-West-Beziehungen, das heute <strong>in</strong> der<br />

sehr e<strong>in</strong>drucksvollen und anschaulichen Ausstellung als lebendige<br />

Zeithistorie studiert wer<strong>den</strong> kann.<br />

Mit dem Notaufnahmegesetz von 1950 hatte die Bundesrepublik<br />

die allen Deutschen nach dem Grundgesetz zustehende<br />

Freizügigkeit <strong>für</strong> Zuwanderer aus der SBZ/DDR e<strong>in</strong>geschränkt,<br />

vor allem um sozial- und wirtschaftspolitische Steuerungs-<br />

und Verteilungsmechanismen bei der Bewältigung der<br />

massenhaften Fluchtbewegung zu schaffen. Aber das Gesetz<br />

war auch Ausdruck e<strong>in</strong>er generellen Abwehrhaltung und tief sitzender Skepsis gegenüber <strong>den</strong> zuwandern<strong>den</strong><br />

Deutschen aus der DDR. Auch wenn die Bestimmungen wiederholt novelliert, ergänzt<br />

(Bundesvertriebenen- und Flüchtl<strong>in</strong>gsgesetz, 1953, BVFG) und durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts<br />

präzisiert wur<strong>den</strong>: Das Procedere der Notaufnahme blieb im Kern bis zur<br />

Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion am 1. Juli 1990 gültig. Zuwanderer aus der DDR mussten<br />

sich <strong>in</strong> <strong>den</strong> Notaufnahmelagern, voran <strong>in</strong> Marienfelde, <strong>in</strong>tensiven Befragungen unterziehen. Sicher<br />

nicht unbegründet angesichts der Versuche des DDR-Staatssicherheitsdienstes, Agenten <strong>in</strong> <strong>den</strong> Westen<br />

e<strong>in</strong>zuschleusen. Und doch lässt e<strong>in</strong>en bei der Lektüre des Buchs von Elke Kimmel die Frage nach<br />

der historischen und moralischen Legitimität e<strong>in</strong>er solchen Kontrolle von Deutschen durch Deutsche<br />

nicht los. Kritisch überprüften die Anhörungskommissionen <strong>in</strong>sbesondere die Motivation zum Verlassen<br />

der DDR, wobei sich rasch das Idealbild e<strong>in</strong>es „politischen Flüchtl<strong>in</strong>gs“ herausbildete, während<br />

wirtschaftliche oder <strong>in</strong>dividuelle Gründe <strong>für</strong> die Aufnahme oft nicht reichten.<br />

Die kle<strong>in</strong>e Studie hat ihren Schwerpunkt genau <strong>in</strong> dieser Fragestellung: War es <strong>für</strong> <strong>den</strong> E<strong>in</strong>zelnen<br />

zumutbar, <strong>in</strong> der DDR auszuharren? Jakob Kaiser, der erste Bundesm<strong>in</strong>ister <strong>für</strong> Gesamtdeutsche<br />

Fragen, forderte <strong>in</strong> häufigen Appellen, <strong>in</strong> der DDR zu bleiben. Nur wer „zw<strong>in</strong>gende Gründe“, gar


224 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

„Gefahr <strong>für</strong> Leib und Leben“ oder die „persönliche Freiheit“ belegen konnte, erhielt die anfangs<br />

nicht selten verweigerte Notaufnahme. Indes hält sich das Buch nach e<strong>in</strong>er konzisen Darlegung der<br />

rechtlichen Aspekte nicht lange beim Notaufnahmeverfahren auf, sondern macht auf die mit ihm<br />

verbun<strong>den</strong>e Wahrnehmung der ostdeutschen Landsleute aufmerksam. In drei Fallstudien geht es um<br />

die Anerkennung als Sowjetzonenflüchtl<strong>in</strong>g nach dem BVFG von 1953, welches gegenüber der „Notaufnahme“<br />

zusätzliche Integrationsleistungen eröffnete, um die – vor allem an der Situation der „Illegalen“,<br />

also im Notaufnahmeverfahren Abgewiesenen, festgemachte – Wahrnehmung der Flüchtl<strong>in</strong>ge<br />

im Westen, die zwischen „Vorurteil und Mitgefühl“ schwankte, und schließlich um die jugendlichen<br />

Zuwanderer, <strong>den</strong>en im Westen besondere „Fürsorge“ galt. Alle Kapitel basieren auf Quellenbestän<strong>den</strong><br />

des Marienfelder Lagers, die freilich zumeist <strong>den</strong> Weg der Flüchtl<strong>in</strong>ge nach Verlassen des Lagers<br />

widerspiegeln. Die Ause<strong>in</strong>andersetzungen um die Anträge auf Erteilung e<strong>in</strong>es BVFG-Ausweises als<br />

Sowjetzonenflüchtl<strong>in</strong>g zogen sich oft Jahre h<strong>in</strong> und beschäftigten die Behör<strong>den</strong>.<br />

Elke Kimmels eher illustrative als systematische Analyse der Widerspruchsakten schafft bewegende<br />

E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> deutsche Wirklichkeiten der Nachkriegszeit, etwa die von bei<strong>den</strong> Seiten kritisch<br />

beäugten Grenzgänger <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> vor dem Mauerbau oder die Gewissensnöte von Grenzsoldaten. Gut<br />

herausgearbeitet wird, wie sich mit Fortschreiten der Teilung und vor allem nach dem 13. August<br />

1961 die E<strong>in</strong>stellung der Westbehör<strong>den</strong> gegenüber <strong>den</strong> DDR-Flüchtl<strong>in</strong>gen wandelte und e<strong>in</strong>er großzügigeren<br />

Anerkennungspraxis Raum gab. Dieser Stimmungswandel galt auch <strong>für</strong> die Medien, die <strong>in</strong><br />

<strong>den</strong> fünfziger Jahren manche Flüchtl<strong>in</strong>gsgruppen noch hart aburteilten, so besonders die als ‚arbeitsscheue<br />

Asozialeʻ gebrandmarkten Illegalen. Ähnliche Skepsis ob ihrer Prägung durch die sozialistische<br />

Ideologie galt <strong>den</strong> jugendlichen Zuwanderern, die aber e<strong>in</strong>e privilegierte Aufnahmesituation<br />

hatten und mit dem Ehrgeiz der Jugendsozial<strong>für</strong>sorge <strong>für</strong> <strong>den</strong> Westen „gerüstet“ wur<strong>den</strong>, oft eher zu<br />

ihrem Unwillen.<br />

Kimmels Studien bestätigen, erweitern und variieren bereits bekannte Befunde zur gesellschaftlichen<br />

Integration und politischen Perzeption von Flüchtl<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> Westdeutschland. Trotz reicher<br />

Quellen- und Literaturbelege ist das handliche Buch gewiss weniger als genu<strong>in</strong>er Forschungsbeitrag<br />

und mehr als fundierte Vertiefung e<strong>in</strong>es Besuchs der Marienfelder Ge<strong>den</strong>kstätte gedacht. Dies leistet<br />

das liebevoll mit guten Fotos und farbig abgebildeten Dokumenten ausgestattete, präzis und lebendig<br />

geschriebene Buch hervorragend.<br />

E<strong>in</strong>es der faksimilierten Briefdokumente ist das orthografisch unsichere Entschuldigungsschreiben<br />

e<strong>in</strong>er jungen Frau, die von Marienfelde zurück <strong>in</strong> die DDR gegangen ist: Gar nicht e<strong>in</strong>mal enttäuscht<br />

von der von vielen Rückwanderern beklagten Kälte im Westen, sondern e<strong>in</strong>fach, weil sich die eigenen<br />

Familiennöte „geklärt hatten“, e<strong>in</strong> schöner Beleg der bei aller Politisierung oft ganz <strong>in</strong>dividuellen<br />

Geschichte der deutsch-deutschen Migration.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Christian Kle<strong>in</strong>schmidt: Konsumgesellschaft (= Grundkurs Neue Geschichte), Stuttgart:<br />

UTB 2008, 192 S., ISBN 978-3-8252-3105-7, EUR 14,90<br />

Rezensiert von Michael Pr<strong>in</strong>z<br />

LWL-<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> westfälische Regionalgeschichte, Münster<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 11<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/11/14698.html<br />

Die Geschichte der Konsumgesellschaft hat sich seit e<strong>in</strong>igen<br />

Jahren als Forschungsfeld mit eigenen Fragestellungen, Debatten<br />

und neuen empirischen Befun<strong>den</strong> etabliert. Dem trägt<br />

die vor allem <strong>für</strong> Geschichtsstu<strong>den</strong>ten gedachte UTB-Reihe<br />

Grundkurs Neue Geschichte mit e<strong>in</strong>em eigenen Band Rechnung.<br />

Der Autor, Christian Kle<strong>in</strong>schmidt, selbst e<strong>in</strong> ausgewiesener<br />

Kenner der Materie, der mit eigenen Studien über <strong>den</strong><br />

Verbraucherschutz <strong>in</strong> der Bundesrepublik hervorgetreten ist,<br />

gibt auf 182 Textseiten e<strong>in</strong>en zeitlich und sachlich weit gespannten<br />

Abriss. Ihm ist, soviel sei vorweg gesagt, e<strong>in</strong>e ausgewogene,<br />

dem Anspruch der E<strong>in</strong>führungsreihe gerecht wer<strong>den</strong>de<br />

Darstellung gelungen.<br />

Das Buch beg<strong>in</strong>nt mit zwei problemorientierten Kapiteln,<br />

von <strong>den</strong>en das erste <strong>den</strong> Leser knapp <strong>in</strong> Fragen der Historiographie,<br />

der Chronologie und der Deutungskontroversen e<strong>in</strong>führt,<br />

während das zweite verschie<strong>den</strong>e Dimensionen des Konsums<br />

– Ernährung, Kleidung, Haushalt und Wohnen, Freizeit<br />

und Kultur – behandelt. Es folgen sechs weitere Kapitel, die<br />

der Geschichte der Konsumgesellschaft von der Frühen Neuzeit<br />

bis <strong>in</strong> die Gegenwart nachgehen. Die letzten bei<strong>den</strong> behandeln zeitlich parallel die Entwicklung<br />

<strong>in</strong> der Bundesrepublik Deutschland und <strong>in</strong> der DDR.<br />

Was die Periodisierung der Konsumgesellschaft über e<strong>in</strong>en so langen Zeitraum angeht, gibt es <strong>in</strong><br />

der Forschung noch ke<strong>in</strong>en Konsens und überhaupt nur wenige Vorschläge. Das eröffnet dem Autor<br />

Spielräume, die er gut nutzt. Kle<strong>in</strong>schmidt betont zu Recht die Bedeutung des Handels als treibender<br />

Kraft h<strong>in</strong>ter der Entstehung dessen, was er – seit dem 16. Jahrhundert – als „Protokonsumgesellschaft“<br />

bezeichnet. Im H<strong>in</strong>blick auf <strong>den</strong> Übergang zur Moderne entscheidet sich der Autor da<strong>für</strong>,<br />

<strong>den</strong> Schnitt <strong>in</strong> etwa beim Kaiserreich, also zu Beg<strong>in</strong>n des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts anzusetzen.<br />

Warum der „take-off“ der Konsumgesellschaft dann allerd<strong>in</strong>gs erst <strong>in</strong> der Weimarer Republik<br />

verortet wird, bleibt e<strong>in</strong>e offene Frage. Bei der Darstellung des Nationalsozialismus hält Kle<strong>in</strong>schmidts<br />

ausgewogene Argumentation die Mitte zwischen e<strong>in</strong>er Deutung, die im Wesentlichen nur propagandistische<br />

Weiterentwicklungen sieht, und e<strong>in</strong>er anderen, die dem Regime unkritisch Durchbrüche <strong>in</strong><br />

wichtigen Bereichen attestiert. Den Übergang zur Massenkonsumgesellschaft lokalisiert der Autor <strong>in</strong><br />

breiter Übere<strong>in</strong>stimmung mit der Forschung nach 1945, genauer gesagt, <strong>in</strong> der zweiten Hälfte der<br />

1950er und im Laufe der 1960er Jahre.


226 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Dass e<strong>in</strong>e zeitlich und sachlich so weit ausgreifende Abhandlung unter dem gebieterischen Zwang<br />

zu strenger Auswahl steht, versteht sich von selbst. Die folgen<strong>den</strong> Bemerkungen sollen Nutzen und<br />

Kosten der von Kle<strong>in</strong>schmidt getroffenen Auswahl andeuten. Zu <strong>den</strong> Forschungsfortschritten, die<br />

sich <strong>in</strong> der Darstellung niederschlagen, gehört e<strong>in</strong> durch Vergleich und neue Erfahrungen ausgeweitetes<br />

Verständnis von Konsum. Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und e<strong>in</strong> neues Knappheitsbewusstse<strong>in</strong><br />

haben <strong>in</strong> <strong>den</strong> letzten Jahrzehnten <strong>den</strong> Konsumcharakter von Verbrauchsgütern wie Wasser,<br />

Gas und Elektrizität deutlicher wer<strong>den</strong> lassen. Dieser Erweiterung steht die diskutierbare Entscheidung<br />

des Autors gegenüber, die Darstellung nahezu ganz auf Probleme sozialer Ungleichheit<br />

auszurichten. Konsumgesellschaft übersetzt sich <strong>in</strong> dieser Darstellung (11f.) schlicht mit Konsum <strong>für</strong><br />

wenige, Massenkonsumgesellschaft mit Konsum <strong>für</strong> nahezu alle [1]. Die ebenso wichtige Achse e<strong>in</strong>er<br />

Konstruktion von Gesellschaft, ihrer Gruppen und ihrer e<strong>in</strong>zelnen Mitgliedern durch Konsum fehlt<br />

fast vollständig. Dementsprechend sucht man Aussagen zu regional-, stadt- und land-, konfessions-,<br />

geschlechts-, generationsspezifischen Prägungen und Gestaltungen gesellschaftlicher Rollen im<br />

Medium des Konsums vergeblich.<br />

Welche Konsequenzen es hat, wenn man das zeitgenössische Verständnis von Konsum nicht zur<br />

Sprache br<strong>in</strong>gt, lässt sich an <strong>den</strong> genannten thematischen Erweiterungen demonstrieren. Warum gibt<br />

es <strong>für</strong> <strong>den</strong> Wasserkonsum e<strong>in</strong>en so sperrigen Begriff wie Dase<strong>in</strong>svorsorge? Was bedeutet das <strong>für</strong> <strong>den</strong><br />

Umgang mit bestimmten Gütern, <strong>für</strong> die daran geknüpften Erwartungen, das Selbstverständnis e<strong>in</strong>er<br />

Konsumgesellschaft? Wäre es nicht s<strong>in</strong>nvoll, mit der Unterscheidung zwischen „Konsum an sich“<br />

und „<strong>für</strong> sich“ zu operieren, um solche Spannungen auszuloten und sich nicht <strong>in</strong> Aporien zu verwickeln?<br />

Aspekte des Market<strong>in</strong>gs haben offenkundig die Überschriftengestaltung bee<strong>in</strong>flusst. Das knappe<br />

und solide Kapitel zur Frühen Neuzeit unter die Überschrift „Liebe, Luxus und Kapitalismus“ zu<br />

stellen, führt <strong>den</strong> Leser doch eher <strong>in</strong> die Irre. Der Textbezug der Überschrift s<strong>in</strong>d Sombarts misogyne<br />

Thesen über die Modernisierungsfunktion von Mätressen, die Kle<strong>in</strong>schmidt völlig zu Recht verreißt. In<br />

der Summe verpackt das Inhaltsverzeichnis <strong>den</strong> Text nicht gut. Die Überschriften wirken aspekthaft.<br />

Die sachlichen Zusammenhänge, die im Text deutlich wer<strong>den</strong>, spiegeln sich nicht dar<strong>in</strong>.<br />

Konsumkritik ersche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> der Darstellung im Wesentlichen als Phänomen der 1960er Jahre. Dass<br />

Zivilisations- und damit auch Konsumkritik lange Zeit das Herzstück der „deutschen Ideologie“ darstellten,<br />

wird, wenn ich recht sehe, nicht erwähnt. Die Geschlechterdimension bleibt unterbelichtet.<br />

Auch die Neigung, Konsum, zumal <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en gesellschaftlich stigmatisierten Aspekten (Verschleiß,<br />

Verschwendung etc.) immer wieder neu der Frauenrolle zuzuschreiben, kommt als Struktur langer<br />

Dauer zu kurz. Es fehlen H<strong>in</strong>weise auf die Debatte über Lebensmittelzölle im Kaiserreich, die Siedlungs-<br />

und Selbstversorgungsbewegungen der Zwischenkriegszeit (Kle<strong>in</strong>gärten, Kle<strong>in</strong>siedlung usf.),<br />

deren Ausläufer bis <strong>in</strong> die frühe Bundesrepublik reichten. Auch Mode als Motor des Konsums bleibt<br />

außerhalb des Fokus.<br />

Die wichtigste darstellerische Vorentscheidung besteht jedoch dar<strong>in</strong>, <strong>den</strong> Text auf zwei Achsen –<br />

e<strong>in</strong>e sachliche und e<strong>in</strong>e chronologische – zu verteilen. Die Vorzüge dieser Gliederung <strong>für</strong> <strong>den</strong> Leser<br />

liegen im e<strong>in</strong>facheren Zugriff auf bestimmte Dimensionen. Andererseits führt die Komb<strong>in</strong>ation<br />

zweier Gliederungspr<strong>in</strong>zipien an e<strong>in</strong>igen Stellen zu Doppelungen von Informationen, vor allem aber<br />

zu Lücken, die man nicht erwartet. Wer zum Beispiel nach dem Phänomen des Hungers <strong>in</strong> der Zwischenkriegszeit<br />

fragt, f<strong>in</strong>det Aussagen dazu nicht im Weimar-Kapitel, sondern – ganz knapp und<br />

leicht zu überlesen – im Abschnitt „Ernährung“ (43). Lassen sich Epochen <strong>in</strong> ihrer Bedeutung <strong>für</strong><br />

<strong>den</strong> langfristigen Gang der Entwicklung wirklich überzeugend beschreiben, wenn zentrale Elemente<br />

an anderer Stelle des Textes auftauchen?<br />

E<strong>in</strong> paar Kle<strong>in</strong>igkeiten, die bei e<strong>in</strong>er Neuauflage zu korrigieren wären: Der zweite Satz auf Seite<br />

58 ist nicht richtig konstruiert und enthält deshalb e<strong>in</strong>e falsche Aussage. „Die landwirtschaftlichen<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


227 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Produzenten ... waren zumeist <strong>in</strong> Zünften [?] organisiert und agierten <strong>in</strong> <strong>den</strong> Städten [?].“(58) Stimmt<br />

es wirklich, dass Gold aus Südamerika <strong>in</strong> deutschen proto<strong>in</strong>dustriellen Regionen verarbeitet wurde?<br />

(59 f.) E<strong>in</strong>ige Seitenüberschriften enthalten Rechtschreibfehler: „Kientopp“ statt „K<strong>in</strong>topp“ (85-90).<br />

Der Term<strong>in</strong>us „<strong>in</strong>dustrious revolution“ verb<strong>in</strong>det sich mit dem Namen des niederländischen Wirtschaftshistorikers<br />

Jan de Vries. Der von Kle<strong>in</strong>schmidt erwähnte John Brewer ist Zweitverwerter<br />

(67).<br />

Manche der genannten Punkte betreffen Dezisionen, die im vorgegebenen Rahmen letztlich unvermeidlich<br />

s<strong>in</strong>d. Kle<strong>in</strong>schmidt lässt se<strong>in</strong>e Leserschaft nicht darüber im Unklaren, dass es ihm um<br />

e<strong>in</strong>e solide wirtschaftlich- und sozialgeschichtliche Darstellung g<strong>in</strong>g. Diesem Anspruch wird der<br />

konzise Text une<strong>in</strong>geschränkt gerecht. Auf knappem Raum wer<strong>den</strong> e<strong>in</strong>e Fülle von empirischen Details<br />

ausgebreitet, Deutungskontroversen abgewogen präsentiert, Langzeitentwicklungen knapp und verständlich<br />

skizziert. Besonders überzeugt der Versuch, <strong>den</strong> Aufstieg der Konsumgesellschaft <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

lange zeitliche Perspektive seit der Frühen Neuzeit zu rücken. Damit weist der Autor auch der weiteren<br />

Diskussion <strong>den</strong> Weg.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Thorsten Loch: Das Gesicht der Bundeswehr. Kommunikationsstrategien <strong>in</strong> der<br />

Freiwilligenwerbung der Bundeswehr 1956–1989 (= Sicherheitspolitik und Streitkräfte<br />

der Bundesrepublik Deutschland; Bd. 8), München: Ol<strong>den</strong>bourg 2008, XIV + 380 S.,<br />

ISBN 978-3-486-58396-0, EUR 29,80<br />

Rezensiert von Patrick Bernhard<br />

Deutsches Historisches <strong>Institut</strong>, Rom<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 7/8<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/07/14177.html<br />

Die Geschichte der Werbung und des Militärs wer<strong>den</strong> selten<br />

zusammengedacht. Umso begrüßenswerter ist die hier besprochene<br />

Studie zu <strong>den</strong> Bemühungen der Bundeswehr um die<br />

Rekrutierung von Freiwilligen <strong>für</strong> die neuen, damals noch heftig<br />

umstrittenen Streitkräfte der jungen Bonner Republik.<br />

Thorsten Loch, zeitweilig wissenschaftlicher Mitarbeiter am<br />

Militärgeschichtlichen Forschungsamt <strong>in</strong> Potsdam, geht es <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er Dissertation vor allem um die Darstellung des Zeit-<br />

und Berufssoldaten <strong>in</strong> Werbeplakaten und -anzeigen. Die so<br />

verbreiteten Soldatenbilder sollen Aufschluss geben über das<br />

nach wie vor nur unzureichend erforschte Verhältnis von<br />

Armee, Staat und Gesellschaft der „alten“ Bundesrepublik.<br />

Loch versteht Werbung zu Recht als komplexen Kommunikations-<br />

und Interaktionsprozess zwischen Anbieter und Zielgruppe:<br />

Erfolgreiche Werbung propagiert nicht nur starr e<strong>in</strong><br />

bestimmtes Image, sondern richtet dieses an <strong>den</strong> Erwartungen<br />

und Bedürfnissen der Konsumenten aus, wobei der Marktbeobachtung<br />

e<strong>in</strong>e zentrale Bedeutung bei der Erfolgskontrolle<br />

zukommt. Über diesen Weg lassen sich somit neue Aussagen sowohl über die E<strong>in</strong>stellung von größeren<br />

Teilen der deutschen Gesellschaft zur <strong>Institut</strong>ion Bundeswehr als auch zur Wahrnehmung und<br />

Beurteilung sozialer und kultureller Entwicklungen <strong>in</strong> der Nachkriegsgesellschaft durch die Entscheidungsträger<br />

der Streitkräfte treffen.<br />

Welches Gesicht gab nun die Bundeswehrführung ihrem idealen Soldatenbild und welche politischen<br />

und gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen stan<strong>den</strong> dah<strong>in</strong>ter? Loch macht drei Phasen aus:<br />

In <strong>den</strong> Anfangsjahren bis 1960 versuchte sie zunächst aus dem langen Schatten der Wehrmacht zu<br />

treten und präsentierte die Bundeswehr als völlige Neugründung. Dem entsprach e<strong>in</strong> neues Soldatenbild:<br />

Weiche, offensichtlich zivile Gesichtszüge des „Bürgers <strong>in</strong> Uniform“ ersetzten auf <strong>den</strong> Werbeplakaten<br />

<strong>den</strong> martialischen Blick des früheren Wehrmachtskämpfers. Das entsprach <strong>in</strong> etwa Vorstellungen,<br />

die Me<strong>in</strong>ungsumfragen zufolge nach dem Zweiten Weltkrieg <strong>in</strong> der westdeutschen Bevölkerung<br />

gerade noch Akzeptanz fan<strong>den</strong>. Tatsächlich gelang es der Bundeswehr <strong>in</strong> diesen Jahren, zum<strong>in</strong>dest<br />

e<strong>in</strong>en guten Teil ihres Bedarfs an Freiwilligen zu decken.


229 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

In der zweiten Phase bis 1969 trat dann e<strong>in</strong> deutlicher Imagewandel e<strong>in</strong>. Die Bundeswehr sprach<br />

bei der potenziellen Klientel nun <strong>in</strong> ganz starkem Maß ethische Motive an: Der Soldatenberuf wurde<br />

vorrangig als Dienst am Vaterland präsentiert. Schmerzhaft musste die Bundeswehrführung jedoch<br />

über die e<strong>in</strong>geschalteten Werbeagenturen und deren Marktbeobachtung lernen, dass das diametral<br />

<strong>den</strong> Motiven potenzieller Freiwilliger widersprach. Die allermeisten Interessenten versprachen sich<br />

vom Dienst <strong>in</strong> der Bundeswehr f<strong>in</strong>anzielle und berufliche Vorteile; ideelle Gründe spielten bei <strong>den</strong><br />

allerwenigsten e<strong>in</strong>e Rolle.<br />

Loch deutet die Diskrepanz zwischen Werbeideal und gesellschaftlicher Realität überzeugend als<br />

wachsende Orientierungslosigkeit <strong>in</strong> <strong>den</strong> Reihen der Bundeswehr angesichts des dramatischen sozialen<br />

wie kulturellen Wandels jener Jahre. Vollbeschäftigung und stetig wachsende Löhne ließen nämlich<br />

die Zahl der Bewerber dramatisch zurückgehen. Das nahm die Bundeswehrführung umgehend<br />

als s<strong>in</strong>kende gesamtgesellschaftliche Akzeptanz der Streitkräfte wahr. H<strong>in</strong>zu kam die sogenannte<br />

Krise der Bundeswehr, die ihre Ursachen <strong>in</strong> waffentechnischen und strategischen Problemen im Zeichen<br />

der Entspannungspolitik hatte, aber ebenso <strong>in</strong> Zusammenhang mit der Kritik der „68er“-<br />

Protestbewegung an der verme<strong>in</strong>tlich herrschaftssichern<strong>den</strong> Sozialisations<strong>in</strong>stanz Bundeswehr gebracht<br />

wurde. Das führte bei etlichen hohen Offizieren zu unverhohlen reaktionären Ten<strong>den</strong>zen. In<br />

dieser wohl mehr imag<strong>in</strong>ierten Krise wur<strong>den</strong> schließlich Stimmen von Generalen laut, die <strong>den</strong> Beruf<br />

des Soldaten als Stand sui generis verstan<strong>den</strong> und sogar – wie etwa Albert Schnez – die Ausrichtung<br />

der Zivilgesellschaft nach militärischen Erfordernissen forderten.<br />

Erst nach dem sozialliberalen Machtwechsel von 1969 gelang der Bundeswehr <strong>in</strong> ihrer Freiwilligenwerbung<br />

wieder der Brückenschlag zur Gesellschaft. Der Dienst <strong>in</strong> der Armee wurde nun von e<strong>in</strong>er<br />

weitaus stärker professionalisierten Werbung als gute Möglichkeit präsentiert, sich <strong>für</strong> <strong>den</strong> eigentlichen<br />

Zivilberuf weiterzuqualifizieren; es erfolgte damit zum<strong>in</strong>dest auf der ideellen Ebene e<strong>in</strong>e weitgehende<br />

Normalisierung des Soldatenberufs. Angesichts der 1974 e<strong>in</strong>setzen<strong>den</strong> Wirtschaftskrise und dank<br />

vermehrter materieller Anreize wurde die Bundeswehr dann tatsächlich zu e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>teressanten Arbeitgeber:<br />

Die Zahl der Freiwilligen stieg wieder an, wie Loch überzeugend herausarbeitet.<br />

Die Studie hat aber auch e<strong>in</strong>ige Schwachstellen. Bedauerlich ist etwa, dass Loch <strong>den</strong> forcierten<br />

E<strong>in</strong>satz sozialwissenschaftlicher Expertise seit Ende der 1960er Jahre nur ganz am Rande streift. So<br />

erwähnt er lediglich, dass nicht zuletzt das <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Jugendforschung im Auftrag der Bundeswehr<br />

sozialpsychologische Untersuchungen durchführte, um die Werbemaßnahmen effizienter zu gestalten.<br />

Hier hätte der Autor e<strong>in</strong>en wichtigen neuen Beitrag zur Verwissenschaftlichung von Politik <strong>in</strong><br />

<strong>den</strong> langen 1960er Jahren liefern können. Das gilt umso mehr, als die Beobachtung der Beobachtung<br />

e<strong>in</strong>en ganz wesentlichen Teil des vom Autor beschriebenen Kommunikationsprozesses <strong>in</strong> der Werbung<br />

darstellt. So hätte Loch vor allem exemplarisch ausloten können, wo die Grenzen dieser Politikberatung<br />

lagen: Er deutet nämlich an e<strong>in</strong>er Stelle an (284), dass die Bundeswehrführung wissenschaftliche<br />

Ergebnisse, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ihr nicht genehme Richtung wiesen, schlicht ignorierte. Möglicherweise<br />

sollte wissenschaftliche Beratung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Fällen lediglich die eigenen Vorstellungen und Vorurteile<br />

bestätigen und legitimieren.<br />

Aber auch die gesellschaftliche Perzeption der Bundeswehrwerbung hätte der Autor stärker <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

Blick nehmen müssen. E<strong>in</strong>deutig zu kurz kommen bei Loch, der sich alle<strong>in</strong> auf Akten des Verteidigungsm<strong>in</strong>isteriums<br />

und der Bundeswehr stützt, die Schulen. Diese stellten das wohl wichtigste Terra<strong>in</strong><br />

der Nachwuchswerbung dar und hier entzündeten sich Ende der 1960er Jahre auch die heftigsten<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzungen um die verstärkte Präsenz von Jugendoffizieren <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> westdeutschen<br />

Gymnasien. „Boykottiert die Trommler der Bundeswehr!“, war etwa der Schlachtruf der DKP,<br />

die zusammen mit der Internationale der Kriegsdienstgegner der verme<strong>in</strong>tlichen Militarisierung der<br />

westdeutschen Gesellschaft <strong>den</strong> Kampf ansagte. Schließlich hätte auch die Wehrdienstverweigerung<br />

<strong>in</strong> diesem Zusammenhang Beachtung verdient. Ab dem magischen Jahr 1968 stieg die Zahl derjenigen,<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


230 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

die der Bundeswehr e<strong>in</strong>fach <strong>den</strong> Rücken kehrten, stark an. Hier zeigt sich jener viel zitierte Wertewandel,<br />

der die westlichen Gesellschaften ab Mitte der 1960er Jahre erfasste, mit aller Macht: Als<br />

militärisch geltende Werte wie Diszipl<strong>in</strong> und Gehorsam verloren <strong>in</strong> dem Maß an Bedeutung, wie zivile<br />

Werte wie Selbstentfaltung an E<strong>in</strong>fluss gewannen. S<strong>in</strong>kende Freiwilligen- und steigende Verweigererzahlen<br />

gehörten damit letztlich zusammen. Loch hätte hier e<strong>in</strong> größeres Tableau entfalten müssen,<br />

um zu umfassenderen Antworten auf die zentrale Frage nach dem Verhältnis von Zivilgesellschaft<br />

und Militär nach 1945 zu kommen.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Christian Lotz: Die Deutung des Verlusts. Er<strong>in</strong>nerungspolitische Kontroversen im<br />

geteilten Deutschland um Flucht, Vertreibung und die Ostgebiete (1948–1972) (= Neue<br />

Forschungen zur Schlesischen Geschichte; Bd. 15), Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2007, X + 327 S.,<br />

ISBN 978-3-412-15806-4, EUR 37,90<br />

Rezensiert von Michael Schwartz<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 11<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/11/13961.html<br />

Zwei Jahrzehnte nach Mauerfall und Wiedervere<strong>in</strong>igung wird<br />

von e<strong>in</strong>er Geschichtsschreibung zur Bundesrepublik das Paralleluniversum<br />

der SBZ/DDR weiterh<strong>in</strong> allzu oft ignoriert.<br />

Dennoch rückt allmählich e<strong>in</strong>e Forschungsperspektive <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

Vordergrund, die sich auf das „doppelte Deutschland“ konzentriert.<br />

[1] Das gilt auch <strong>für</strong> das Thema Vertreibung und Vertriebenen<strong>in</strong>tegration,<br />

dessen er<strong>in</strong>nerungspolitische Dimension<br />

gerade <strong>in</strong> jüngster Zeit an Aktualität und Brisanz gewonnen<br />

hat. Versuche, der Entwicklung <strong>in</strong> bei<strong>den</strong> deutschen Staaten<br />

und Gesellschaften gerecht zu wer<strong>den</strong>, s<strong>in</strong>d bisher über Sammelbände<br />

nicht h<strong>in</strong>ausgelangt oder <strong>in</strong>haltlich ungleichgewichtig<br />

oder essayistisch geblieben. [2] E<strong>in</strong> systematischer Vergleich<br />

fehlt bislang; er wird – um dies vorweg zu nehmen – auch <strong>in</strong><br />

der Studie von Christian Lotz nicht erschöpfend geboten.<br />

Immerh<strong>in</strong> kann Lotz das Desiderat e<strong>in</strong> Stück weit e<strong>in</strong>lösen;<br />

die Systematik se<strong>in</strong>es komparatistischen Ansatzes ist se<strong>in</strong>e<br />

Stärke, zugleich aber auch Ursache se<strong>in</strong>er Begrenztheit und<br />

partiellen Fragwürdigkeit.<br />

Lotz geht es um die Er<strong>in</strong>nerungspolitik, die sich sowohl auf das Ereignis (Vertreibung) als auch<br />

auf <strong>den</strong> Raum (zu „Ostgebieten“ vere<strong>in</strong>facht) bezog. Der Erfolg oder Misserfolg solcher Er<strong>in</strong>nerungspolitik<br />

lässt <strong>in</strong>direkt Rückschlüsse auf <strong>den</strong> Verlauf von Vertriebenen<strong>in</strong>tegration <strong>in</strong> Bundes-<br />

republik oder DDR zu. Ob die von Lotz getroffene Entscheidung, die konträren deutschen bzw. polnischen<br />

Term<strong>in</strong>i der Vertreibung und Aussiedlung „synonym“ zu nutzen (4), e<strong>in</strong>e glückliche ist, darf<br />

bezweifelt wer<strong>den</strong> – dem aktuellen Trend der Forschung entspricht sie nicht. Indem Lotz die räumliche<br />

Dimension der Er<strong>in</strong>nerungspolitik auf die „Ostgebiete“ im S<strong>in</strong>ne der 1945 verlorenen ostdeutschen<br />

Reichsgebiete <strong>in</strong> <strong>den</strong> Grenzen von 1937 bezieht, verengt er <strong>den</strong> Raumbezug auf die deutsch-polnische<br />

Relation – was forschungspragmatisch legitim ist, aber e<strong>in</strong>e Begründung der Exklusion sonstiger<br />

Er<strong>in</strong>nerungsräume (vom Baltikum bis nach Südosteuropa) nicht obsolet macht. Indem der Autor dies<br />

mit Stillschweigen übergeht, erspart er sich (und uns) die Antwort auf die wichtige Frage, wie repräsentativ<br />

die am deutsch-polnischen Fall gewonnenen Resultate se<strong>in</strong> dürften. Überzeugender fällt die<br />

Def<strong>in</strong>ition des Verhältnisses von Er<strong>in</strong>nerungspolitik und Vergangenheitspolitik aus (7). Kenntnis-


232 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

reich und anregend ist – auch dann, wenn man ihm nicht zustimmt – die Ause<strong>in</strong>andersetzung mit<br />

dem Forschungsstand.<br />

Methodisch konzipiert Lotz se<strong>in</strong>e Arbeit als Vergleich der Er<strong>in</strong>nerungspolitiken von vier politischen<br />

oder gesellschaftlichen <strong>Institut</strong>ionen mit gesamtdeutscher Dimension – die Selbstorganisation<br />

von Vertriebenen am Beispiel der Landsmannschaft Schlesien, die <strong>in</strong> der DDR verboten war, aber<br />

auch dort h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>wirkte; der Gerlach-Gesellschaft (Deutsch-Polnische Gesellschaft) der DDR, die auch<br />

<strong>in</strong> der Bundesrepublik über e<strong>in</strong> weith<strong>in</strong> konformes Äquivalent verfügte; der Schlesischen Evangelischen<br />

Kirche, die <strong>in</strong> der DDR weiterexistierte und <strong>in</strong> der Bundesrepublik als lockere „Geme<strong>in</strong>schaft<br />

evangelischer Schlesier“ fortbestand; schließlich die gouvernementale Dimension, <strong>in</strong>dem auf DDR-<br />

Seite das ZK der SED und das M<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> Staatssicherheit, auf westdeutscher Seite die M<strong>in</strong>isterien<br />

<strong>für</strong> Vertriebene und <strong>für</strong> gesamtdeutsche Fragen <strong>in</strong> <strong>den</strong> Fokus gelangen (23f.).<br />

In <strong>den</strong> folgen<strong>den</strong> Kapiteln spielt der Autor diese Versuchsanordnung <strong>in</strong> <strong>den</strong> ersten drei Jahrzehnten<br />

deutsch-deutscher Geschichte durch und gelangt zur Unterscheidung von drei Phasen: Die Jahre<br />

zwischen 1948 und 1956/57 betrachtet er als Formationsphase unterschiedlicher Deutungsangebote,<br />

zwischen 1956 und „Mitte der sechziger Jahre“ glaubt er e<strong>in</strong>e „Verschiebung der Kräfteverhältnisse“<br />

beobachten zu können, und <strong>in</strong> der Folgezeit bis 1972 konstatiert er „Politisierung und Isolation“. Die<br />

erste Phase ist wenig orig<strong>in</strong>ell, die zweite zum<strong>in</strong>dest orig<strong>in</strong>ell term<strong>in</strong>iert, die dritte weist nur mit dem<br />

Isolations-Begriff e<strong>in</strong> Unterscheidungsmerkmal auf, während Politisierung eher als durchgehender<br />

Grundzug ersche<strong>in</strong>t.<br />

Betrachtet man zunächst die zeitliche E<strong>in</strong>teilung, stellt sich die Frage, weshalb Lotz als Ausgangspunkt<br />

das Jahr 1948 wählt. Dies ersche<strong>in</strong>t willkürlich, <strong>den</strong>n die Notwendigkeit zu er<strong>in</strong>nerungspolitischer<br />

Deutung ergab sich bereits 1945 – und ebenso existierten politisch-adm<strong>in</strong>istrative, kirchliche<br />

und prototypisch sogar landsmannschaftliche Deutungsagenturen vor 1948. Noch fragwürdiger ersche<strong>in</strong>t<br />

die nächste Zäsursetzung: Lotz beobachtet, dass die schlesische Landsmannschaft <strong>in</strong> er<strong>in</strong>nerungspolitischen<br />

Deutungskonflikten „unübersehbar“ ab 1956/57 „immer mehr <strong>in</strong>s H<strong>in</strong>tertreffen“<br />

geraten sei, belegt dies jedoch lediglich mit Zitaten aus <strong>den</strong> 1960er Jahren – was <strong>den</strong>n auch sehr viel<br />

plausibler ist und dem Forschungsstand entspricht (132). Kirchliche Bestrebungen <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e neue<br />

Ostpolitik und Vertriebenenverbandskritik durch l<strong>in</strong>ke Medien traten ebenfalls erst nach 1960 deutlicher<br />

hervor. Dass die westdeutsche SED-gesteuerte Freundschaftsgesellschaft ab Ende der 1950er<br />

oder vielleicht doch erst ab Anfang der 1960er Jahre „erste Erfolge“ erzielt habe (172f.), wird nicht<br />

empirisch belegt, sondern nur postuliert, verweist jedoch ebenfalls auf e<strong>in</strong>e wahrsche<strong>in</strong>lichere Zäsur<br />

um 1960. Ob sich dann e<strong>in</strong>e zweite Phase bis Mitte der 1960er Jahre halten lässt, zumal Lotz selbst<br />

„eher e<strong>in</strong> weicher Übergang [...] zwischen 1963 und 1967“ vorschwebt (263), oder ob man nicht<br />

besser die zweite und dritte Phase zusammenfassen sollte, kann hier nur gefragt wer<strong>den</strong>. Je<strong>den</strong>falls<br />

ersche<strong>in</strong>t selbst die abschließende Zäsur von 1972 wenig zw<strong>in</strong>gend, wenn der Verfasser selbst zugibt,<br />

dass <strong>in</strong> der Folgezeit „die Debatten ke<strong>in</strong>eswegs beendet waren“ (ebd.).<br />

Inhaltlich bietet Lotz’ Darstellung viele <strong>in</strong>teressante Details und Deutungen. Fragt man jedoch<br />

nach der Stimmigkeit se<strong>in</strong>er Gesamt<strong>in</strong>terpretation, stellen sich folgende Probleme: Wie stimmig ist<br />

e<strong>in</strong>e Vergleichsanordnung, die mit Elementen hantiert, welche sich bei näherer Betrachtung als<br />

ungleich und damit zum<strong>in</strong>dest als schwer vergleichbar herausstellen? Die evangelische Kirche<br />

Schlesiens <strong>in</strong> der DDR war als Voll<strong>in</strong>stitution eben etwas Anderes als das Rest<strong>in</strong>stitut der Schlesiergeme<strong>in</strong>schaft<br />

<strong>in</strong>nerhalb der EKD; die schlesische Landsmannschaft war etwas Anderes und als Vetospieler<br />

von ganz anderer gesellschaftlicher Bedeutung als die marg<strong>in</strong>ale Gerlach-Gesellschaft und<br />

ihr noch unwichtigerer westdeutscher Ableger. Lotz’ Konzentration auf die von dieser DDR-Organisation<br />

betriebene Er<strong>in</strong>nerungspolitik verzerrt das Bild der SED-Gesamtstrategie, <strong>den</strong>n die Übernahme<br />

polnischer Deutungen kennzeichnete ke<strong>in</strong>eswegs die SED-Umsiedlerpolitik <strong>in</strong>sgesamt. E<strong>in</strong><br />

Vergleich, der auf derart ungleiche Elemente setzt, wird zwangsläufig schief.<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


233 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

H<strong>in</strong>zu kommen Zweifel an e<strong>in</strong>zelnen <strong>in</strong>haltlichen Aussagen: Zweifelhaft etwa ersche<strong>in</strong>t Lotz’ Behauptung,<br />

die er<strong>in</strong>nerungspolitische „SED-Strategie“ habe seit Anfang der 1960er Jahre nicht nur <strong>in</strong><br />

der DDR „Erfolg“ gehabt, sondern „später auch teilweise <strong>in</strong> Westdeutschland“ (182). Hier wüsste man<br />

gern: Wie misst man Erfolg? Kann man von erfolgreicher Repression auf erfolgreiche Deutungshegemonie<br />

schließen? Und lässt sich e<strong>in</strong>e gesellschaftliche Langzeitentwicklung mechanisch e<strong>in</strong>em Akteur<br />

zurechnen? War der westdeutsche Deutungswandel der 60er Jahre SED-bee<strong>in</strong>flusst oder nicht eher<br />

e<strong>in</strong>e eigendynamische Parallelentwicklung? Lotz glaubt an die Gestaltungsmacht politischer Akteure,<br />

zumal <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Diktatur (obschon er <strong>den</strong> Diktaturcharakter der DDR ansonsten kaum betont, sondern<br />

eher e<strong>in</strong>er konturlosen Äquidistanz huldigt), <strong>den</strong>n <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Sicht konnte die SED „die Ausstrahlungskraft<br />

ihrer Deutung <strong>in</strong> Ost- und Westdeutschland“ zwischen 1955 und 1965 „wesentlich vergrößern“<br />

(185). Das mag sogar stimmen, wenn man be<strong>den</strong>kt, dass diese Ausstrahlung zuvor <strong>in</strong> der<br />

DDR ger<strong>in</strong>g und <strong>in</strong> Westdeutschland kaum gegeben war. Doch war das entschei<strong>den</strong>de Deutungshoheit?<br />

Im Westen darf man punktuelle Erfolge wie <strong>den</strong> SED-Beitrag zum Sturz nicht nur Oberländers,<br />

sondern noch e<strong>in</strong>es weiteren Vertriebenenm<strong>in</strong>isters (<strong>den</strong> Lotz nicht erwähnt) ke<strong>in</strong>esfalls überschätzen.<br />

Und selbst <strong>für</strong> die DDR muss man Lotz’ These von der Durchschlagskraft der SED-Politik<br />

(186) gegenüber <strong>den</strong> dissi<strong>den</strong>t bleiben<strong>den</strong> gesellschaftlichen „Nischen“ deutlich relativieren. Kle<strong>in</strong>ere<br />

Unstimmigkeiten kommen h<strong>in</strong>zu: Wenn die Forderung der Sowjetunion nach der „Curzon-L<strong>in</strong>ie“ auf<br />

das durch <strong>den</strong> deutschen Überfall von 1941 erzeugte „Sicherheitsbedürfnis“ zurückgeführt wird (50),<br />

bleibt die mit dem Hitler-Stal<strong>in</strong>-Pakt von 1939 gegebene Vorgeschichte gänzlich unbeachtet.<br />

Insgesamt fällt das Ergebnis dieses deutsch-deutschen Vergleichs früher Er<strong>in</strong>nerungspolitiken an<br />

die Vertreibung somit ernüchternd aus. Dennoch hat Lotz e<strong>in</strong>en deutsch-deutschen Pfad beschritten,<br />

der unbed<strong>in</strong>gt weiter begangen wer<strong>den</strong> sollte – freilich mit deutlicherer Herausarbeitung von Demokratie-<br />

und Diktaturkontexten sowie größerer Berücksichtigung der Eigendynamik gesellschaftlicher<br />

Entwicklungen gegenüber politischen Aktionen. Auf diesem Wege kann die Lektüre von Lotz’ Studie<br />

behilflich se<strong>in</strong>. Am wenigsten dort, wo apodiktisch geurteilt wird – wie über Vere<strong>in</strong>fachungsstrategien<br />

der Landsmannschaften, die ihrerseits (Stichwort Völkerrecht) von Lotz zu sehr vere<strong>in</strong>facht<br />

wer<strong>den</strong> (64). Am ehesten da, wo Lotz S<strong>in</strong>n <strong>für</strong> Dialektik beweist – etwa <strong>in</strong> der These, e<strong>in</strong>e „unfreiwillige<br />

Allianz“ aus SED und Landsmannschaften habe die Er<strong>in</strong>nerung an Vertreibung und Ost-<br />

gebiete mit „unterschiedlicher Absicht“ derart politisiert, dass diese Er<strong>in</strong>nerung schließlich „schrittweise<br />

aus der öffentlichen Diskussion h<strong>in</strong>ausgedrängt“ wor<strong>den</strong> sei (268). Ob das stimmt? Je<strong>den</strong>falls<br />

ist es neu, frech, anregend – und nur über e<strong>in</strong>en deutsch-deutschen Vergleich zu behaupten, der andernorts<br />

allzu oft noch fehlt.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Paradigmatisch: Udo Wengst/Hermann Wentker (Hrsg.): Das doppelte Deutschland. 40 Jahre<br />

Systemkonkurrenz, Berl<strong>in</strong> 2008.<br />

[2] Dierk Hoffmann/Michael Schwartz (Hrsg.): Geglückte Integration? Spezifika und Vergleichbarkeiten<br />

der Vertriebenen-Integration <strong>in</strong> der SBZ/DDR, München 1999; Dierk Hoffmann/Marita<br />

Krauss/Michael Schwartz (Hrsg.): Vertriebene <strong>in</strong> Deutschland. Interdiszipl<strong>in</strong>äre Ergebnisse und<br />

Forschungsperspektiven, München 2000; Michael Schwartz: Vertriebene und „Umsiedlerpolitik“.<br />

Integrationskonflikte <strong>in</strong> <strong>den</strong> deutschen Nachkriegs-Gesellschaften und die Assimilationsstrategien<br />

<strong>in</strong> der SBZ/DDR 1945–1961, München 2004; Andreas Kossert: Kalte Heimat. Die Geschichte<br />

der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2008; Michael Schwartz: Vertriebene<br />

im doppelten Deutschland. Integrations- und Er<strong>in</strong>nerungspolitik <strong>in</strong> der DDR und <strong>in</strong> der Bundesrepublik,<br />

<strong>in</strong>: Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong> 56 (2008), 101-151.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Ulrich Pfeil (Hrsg.): Die Rückkehr der deutschen Geschichtswissenschaft <strong>in</strong> die „Ökumene der<br />

Historiker“. E<strong>in</strong> wissenschaftsgeschichtlicher Ansatz (= Pariser Historische Studien; Bd. 89),<br />

München: Ol<strong>den</strong>bourg 2008, 342 S., ISBN 978-3-486-58795-1, EUR 39,80<br />

Rezensiert von Alexander Thomas<br />

Humboldt-Universität zu Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 10<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/10/15794.html<br />

Der von Ulrich Pfeil (Sa<strong>in</strong>t-Étienne) herausgegebene Konferenzband<br />

erkundet das Verhältnis der deutschen Geschichtswissenschaft<br />

nach 1945 zu <strong>den</strong> Berufskollegen im westlichen<br />

Europa und <strong>in</strong> <strong>den</strong> USA. Wie <strong>in</strong> <strong>den</strong> bei<strong>den</strong> Vorgängerbän<strong>den</strong><br />

des Deutschen Historischen <strong>Institut</strong>s <strong>in</strong> Paris [1] dom<strong>in</strong>ieren<br />

die deutsch-französischen Historikerbeziehungen. Leider fehlt<br />

e<strong>in</strong> theoretischer Beitrag, der aus <strong>den</strong> E<strong>in</strong>zeluntersuchungen<br />

tatsächlich e<strong>in</strong>en „wissenschaftsgeschichtlichen Ansatz“ zu<br />

formen versuchte. Der Herausgeber ist selbst allerd<strong>in</strong>gs mit<br />

e<strong>in</strong>er aufschlussreichen Quellenstudie vertreten, die der erstaunlich<br />

engen Verflechtung westdeutscher Historiker mit<br />

der selbstbewussten Kulturpolitik des Auswärtigen Amtes im<br />

Kalten Krieg nachgeht.<br />

Zunächst geben Christoph Cornelißen, Thomas Etzemüller<br />

und Axel Schildt Überblicke zur deutschen Geschichtswissenschaft<br />

der Nachkriegszeit bis <strong>in</strong> die 1960er Jahre. Immer<br />

wieder wird dabei die wichtige Rolle des national-konservativen<br />

Gerhard Ritter deutlich. Verstörend unverschämt sprach<br />

er vom „deutschen Ghetto“ (zitiert bei Cornelißen, 20), <strong>in</strong> dem<br />

sich se<strong>in</strong>e Zunft durch ihre <strong>in</strong>ternationale Isolierung nach<br />

1945 bef<strong>in</strong>de. Ritter fand Mittel und Wege zu ihrer Überw<strong>in</strong>dung. Er konnte sich gegen die nationale<br />

Konkurrenz der „Abendland“-Historiker ebenso durchsetzen wie gegen se<strong>in</strong>en französischen Gegenspieler<br />

Robert Fawtier, der das Kriegsende im KZ Mauthausen überlebt hatte.<br />

Der zweite Abschnitt vertieft die „Re<strong>in</strong>stitutionalisierung und Neuorientierung“ der deutschen<br />

Geschichtswissenschaft. Theodor Mayers Arbeitskreis <strong>für</strong> mittelalterliche Geschichte <strong>in</strong> Konstanz<br />

konnte erst Ende der 1980er Jahre westeuropäische Gelehrte <strong>für</strong> sich gew<strong>in</strong>nen. H<strong>in</strong>gegen zeigten<br />

osteuropäische Historiker schon 20 Jahre früher ke<strong>in</strong>e Berührungsängste mehr gegenüber <strong>den</strong> <strong>in</strong> Mayers<br />

Arbeitskreis vertretenen ehemaligen NSDAP-Mitgliedern (Anne Chr. Nagel). E<strong>in</strong>e spannungsreiche<br />

transnationale Öffnung erfuhr demgegenüber schon seit <strong>den</strong> 1950er Jahren die <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Deutschlands – sowohl als Fach als auch als Thema: Durch die Aufarbeitung der von <strong>den</strong> Alliierten<br />

beschlagnahmten NS-Akten wurde die deutsche <strong>Zeitgeschichte</strong> von kooperieren<strong>den</strong> und zugleich konkurrieren<strong>den</strong><br />

amerikanischen, britischen und deutschen Historikern begründet (Astrid M. Eckert).<br />

E<strong>in</strong>e Stärke des Bandes ist die Aufmerksamkeit <strong>für</strong> die Geschichte der Geschichtsdidaktik, etwa<br />

bezüglich der Historikerbegegnungen <strong>in</strong> Speyer (Cor<strong>in</strong>ne Defrance) oder der Entstehung des Insti-


235 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

tuts <strong>für</strong> Europäische Geschichte <strong>in</strong> Ma<strong>in</strong>z (W<strong>in</strong>fried Schulze). Der Sozialdemokrat und habilitierte<br />

Ethnologe Georg Eckert begründete als Außenseiter das <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Internationale Schulbuchforschung<br />

<strong>in</strong> Braunschweig (Ra<strong>in</strong>er Riemenschneider). Eckert knüpfte Beziehungen zu französischen<br />

Didaktikern und forcierte <strong>in</strong> Deutschland die zunächst unvermeidliche Funktionalisierung des Unterrichtsfaches<br />

<strong>für</strong> die staatsbürgerliche Erziehung.<br />

Die „Deutsch-französischen Historikerbeziehungen“ s<strong>in</strong>d Thema des dritten Abschnitts. Die Vorbehalte<br />

der französischen Historiker waren immens und ke<strong>in</strong>eswegs unberechtigt. So war mit Mart<strong>in</strong><br />

Göhr<strong>in</strong>g e<strong>in</strong> Spezialist <strong>für</strong> französische Geschichte, e<strong>in</strong> sprachkundiger Kommunikator, aber eben<br />

auch e<strong>in</strong> ehemaliges NSDAP-Mitglied lange Jahre Direktor des <strong>Institut</strong>s <strong>für</strong> Europäische Geschichte<br />

<strong>in</strong> Ma<strong>in</strong>z (He<strong>in</strong>z Duchhardt).<br />

Daher sollten die ersten Anzeichen e<strong>in</strong>er Öffnung der national orientierten Diszipl<strong>in</strong> auch nicht<br />

überbewertet wer<strong>den</strong>. Am Beispiel der gescheiterten Rezeption Marc Blochs <strong>in</strong> Deutschland, die von<br />

e<strong>in</strong>em lang anhalten<strong>den</strong> menschlichen und wissenschaftlichen Des<strong>in</strong>teresse gekennzeichnet war,<br />

empfiehlt Peter Schöttler, vor allem nach „Widerstän<strong>den</strong> und Rezeptionsbarrieren“ (159) <strong>für</strong> <strong>in</strong>ternationalen<br />

Austausch zu fragen. Bloch habe bei <strong>den</strong> wenigen Ansätzen zur Ause<strong>in</strong>andersetzung als<br />

Projektionsfläche <strong>für</strong> die historisch-politischen Wünsche der Akteure gedient. In diesem Zusammenhang<br />

ist anzumerken, dass Schöttlers Intervention das normative Grundverständnis aller Beiträge des<br />

Bandes deutlich macht: Internationalität der Geschichtswissenschaft sollte die selbstverständliche<br />

Regel se<strong>in</strong>. Die nationalzentrierte Vergangenheit des Faches wird so als defizitäres Frühstadium wissenschaftlicher<br />

Praxis gedeutet.<br />

Wie fruchtbar die Auswertung von Texten se<strong>in</strong> kann, die der <strong>in</strong>ternen Fachkommunikation dienten,<br />

zeigt Agnès Graceffa unter anderem am Beispiel der französischen Forschungsberichte zum<br />

Frühmittelalter. Die wechselseitige Wahrnehmung deutscher und französischer Historiker führte<br />

demnach zur Herausbildung e<strong>in</strong>es „entschie<strong>den</strong> europäischen Denkstils“ (211), zu der auch der europäische<br />

E<strong>in</strong>igungsprozess beigetragen habe. Die zum Teil grotesken nationalistischen Interpretationen<br />

zum germanischen bzw. romanischen Frühmittelalter s<strong>in</strong>d nun durch e<strong>in</strong> europäisches Geschichtsbild<br />

ersetzt wor<strong>den</strong>, das wiederum e<strong>in</strong>em neuen politischen Interesse folgt – was Graceffa leider<br />

nicht mehr problematisiert.<br />

E<strong>in</strong> Preis <strong>für</strong> die Wendung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach Westeuropa war der<br />

Zerfall der deutsch-deutschen Geschichtswissenschaft, wie Mart<strong>in</strong> Sabrow im letzten Abschnitt des<br />

Bandes darlegt. Als e<strong>in</strong>ziger Autor problematisiert er kurz und knapp die analytische Tauglichkeit<br />

des normativen Begriffs der „Historiker-Ökumene“. [2] In e<strong>in</strong>em streitbaren Aufsatz behandelt Mario<br />

Keßler das gleiche Thema mit Konzentration auf die Geschichtswissenschaft der DDR. Als ausgewiesener<br />

Kenner spitzt er se<strong>in</strong>e Analyse zu e<strong>in</strong>er deutlichen Aufwertung der DDR-Geschichtswissenschaft<br />

zu. In ihrem verheißungsvollen Auftakt nach 1945 sieht er e<strong>in</strong>en frühen „Vorsprung“ (282f.)<br />

gegenüber der westdeutschen Konkurrenz. Damit stellt Keßler die Legitimität der „Abwicklung“ der<br />

ostdeutschen Historie nach 1989 <strong>in</strong> Frage (285). Er konstatiert demgegenüber <strong>für</strong> die westdeutsche<br />

Sozial- bzw. Gesellschaftsgeschichte, dass sie ihre Grenzen <strong>in</strong> der Loyalität zur Bundesrepublik und<br />

der Marg<strong>in</strong>alisierung marxistischer Historiker gefun<strong>den</strong> habe (282f.). Zweifel an diesen Urteilen<br />

s<strong>in</strong>d angebracht, <strong>den</strong>n sie ebnen wichtige Unterschiede zwischen Ost- und Westhistorie e<strong>in</strong>. Keßler<br />

benennt <strong>den</strong>n auch selbst <strong>für</strong> die DDR-Geschichtswissenschaft die „Parteilichkeit“ als ungelöstes<br />

„Dilemma“ (274). Zugleich eröffnet se<strong>in</strong>e Argumentation aber e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressante Perspektive auf die<br />

westdeutsche Geschichtswissenschaft, anhand derer die bereits erstaunlich verfestigte Aufstiegserzählung<br />

zur westlich-liberalen Sozialgeschichte etwas differenziert wer<strong>den</strong> könnte.<br />

Den Sammelband dom<strong>in</strong>iert das Bedürfnis nach kritischer Selbstverständigung über Vergangenheit<br />

und Zukunft des eigenen Faches (vgl. das Vorwort von Ulrich Pfeil, 14), h<strong>in</strong>ter dem das Interesse<br />

an der Historisierung der eigenen Diszipl<strong>in</strong>geschichte eher zurückstehen muss. Letztere hätte auch<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


236 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

zu erklären, wie unsere heute selbstverständliche Überzeugung entstand, dass e<strong>in</strong>e diszipl<strong>in</strong>äre Öffnung<br />

über nationale Grenzen h<strong>in</strong>weg immer e<strong>in</strong>en Gew<strong>in</strong>n an wissenschaftlicher Qualität bedeutet.<br />

Und sie hätte die nur sche<strong>in</strong>bar neutralen Begriffe „<strong>in</strong>ternational“ oder „europäisch“ auf ihre historischen<br />

Funktionen zu befragen, anstatt sie lediglich deskriptiv zu verwen<strong>den</strong> (etwa 79, 135, 305).<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Ulrich Pfeil (Hrsg.): Das Deutsche Historische <strong>Institut</strong> Paris und se<strong>in</strong>e Gründungsväter. E<strong>in</strong> personengeschichtlicher<br />

Ansatz, München 2007, sowie ders. (Hrsg.): Deutsch-französische Kultur-<br />

und Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert. E<strong>in</strong> <strong>in</strong>stitutionengeschichtlicher Ansatz,<br />

München 2007.<br />

[2] Vgl. Karl Dietrich Erdmann: Die Ökumene der Historiker. Geschichte der Internationalen Historikerkongresse<br />

und des Comité International des Sciences Historiques, Gött<strong>in</strong>gen 1987.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Frank Roggenbuch: Das Berl<strong>in</strong>er Grenzgängerproblem. Verflechtung und Systemkonkurrenz<br />

vor dem Mauerbau (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berl<strong>in</strong>; Bd. 107),<br />

Berl<strong>in</strong>: de Gruyter 2008, XIII + 481 S., ISBN 978-3-11-020344-8, EUR 128,00<br />

Rezensiert von Bett<strong>in</strong>a Effner<br />

Stiftung Berl<strong>in</strong>er Mauer – Er<strong>in</strong>nerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 7/8<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/07/15143.html<br />

Zeitweilig pendelten mehrere zehntausend Menschen im geteilten<br />

Berl<strong>in</strong>: Die e<strong>in</strong>en, weil sie <strong>in</strong> Ostberl<strong>in</strong> oder im zu<br />

Bran<strong>den</strong>burg gehören<strong>den</strong> Stadtrandgebiet lebten und <strong>in</strong> Westberl<strong>in</strong><br />

arbeiteten, zur Schule g<strong>in</strong>gen oder studierten („West-<br />

Grenzgänger“); die anderen, weil sie umgekehrt <strong>in</strong> <strong>den</strong> Westsektoren<br />

ansässig waren und ihrem Beruf im Ostteil der Stadt<br />

nachg<strong>in</strong>gen („Ost-Grenzgänger“). Sie alle überschritten auf<br />

diese Weise <strong>in</strong> ihrem Alltag nahezu täglich die Systemgrenze,<br />

die Berl<strong>in</strong> durchschnitt.<br />

Betrachtet man die Gruppe dieser sogenannten Grenzgänger,<br />

rückt die e<strong>in</strong>e, historisch gewachsene Stadt Berl<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

Blick, deren Funktionszusammenhänge und Strukturen sich<br />

mit der Teilung nicht ad hoc neu formieren ließen. So hatten<br />

beispielsweise e<strong>in</strong>ige Künstler, Wissenschaftler und Ärzte ihre<br />

Wohnquartiere traditionellerweise schwerpunktmäßig <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

westlichen Bezirken, während ihnen die Infrastruktur des Ostsektors<br />

– besonders der Bezirk Mitte mit se<strong>in</strong>en Kulturstätten<br />

und Krankenhäusern – gute Beschäftigungsmöglichkeiten<br />

bot. Es ist die hier offenbar wer<strong>den</strong>de „Dialektik [...] von politischer<br />

Teilung und soziokultureller E<strong>in</strong>heit“ (6), die Frank Roggenbuch an dem Forschungsgegen-<br />

stand „Grenzgänger“ <strong>in</strong>teressiert. Er ordnet se<strong>in</strong>e 2007 als Dissertation e<strong>in</strong>gereichte zeithistorische<br />

Untersuchung e<strong>in</strong>em Forschungskontext zu, der Verflechtungsfaktoren und wechselseitiges Aufe<strong>in</strong>anderbezogense<strong>in</strong><br />

von Ost und West im Berl<strong>in</strong>-Bran<strong>den</strong>burger Raum stärker als bisher berücksichtigen<br />

und dadurch e<strong>in</strong>e neue Sicht auf die Ause<strong>in</strong>andersetzungen im Kalten Krieg gew<strong>in</strong>nen will.<br />

Ob der Verflechtungs- und damit zunächst <strong>in</strong>tegrative Faktor „Grenzgängerwesen“ diese Qualität<br />

behielt oder schließlich eher spaltend wirkte, ist e<strong>in</strong>e der Kernfragen von Roggenbuchs Arbeit. In<br />

vier chronologisch angelegten Abschnitten untersucht er die Entwicklung des Grenzgängerwesens <strong>in</strong><br />

der Zeit der offenen Systemgrenze bis 1961. Das erste Kapitel widmet sich der Entstehung des Phänomens<br />

im Zusammenhang der ersten Berl<strong>in</strong>krise. Als „Initialzündung“ wertet Roggenbuch die<br />

zweite Westberl<strong>in</strong>er Währungsreform vom 20. März 1949, welche die Berl<strong>in</strong>er Westsektoren nach<br />

e<strong>in</strong>er Phase des Währungsdualismus vollständig auf Westmark umstellte. In Bezug auf die weit über<br />

100.000 Westberl<strong>in</strong>er, die jenseits der Westsektoren beschäftigt waren und ihre E<strong>in</strong>künfte daher <strong>in</strong><br />

der deutlich kursschwächeren Ostwährung bezogen, wurde damit e<strong>in</strong>e Sonderregelung notwendig.


238 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Sie griff <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>es komplizierten Lohnausgleichsverfahrens. Vere<strong>in</strong>facht gesprochen wurde e<strong>in</strong><br />

bestimmter Anteil der Westmarkbezüge von West-Grenzgängern von e<strong>in</strong>er Lohnausgleichskasse <strong>in</strong><br />

Ostmark getauscht, mit <strong>den</strong>en der Arbeitnehmer an se<strong>in</strong>em Wohnort im Ostsektor bezahlen konnte.<br />

Umgekehrt konnte e<strong>in</strong> Ost-Grenzgänger e<strong>in</strong>en Teil se<strong>in</strong>er Ostbezüge <strong>in</strong> Westmark tauschen und auf<br />

diese Weise se<strong>in</strong>e Lebenshaltungskosten im Westteil der Stadt decken. Die Lohnausgleichskasse<br />

wurde somit zu „dem künstlichen Herz[en], das die Verflechtungskategorie Grenzgängerwesen am<br />

Leben erhielt“ (113). Dass sich die Westberl<strong>in</strong>er Politik mit derart aufwendigen Mitteln <strong>in</strong> der Grenzgängerfrage<br />

engagierte, h<strong>in</strong>g mit ihrem Bestreben zusammen, Ostarbeitsverhältnisse von Westberl<strong>in</strong>ern<br />

zu erhalten. H<strong>in</strong>tergrund war die westsektorale Massenarbeitslosigkeit, die Roggenbuch als <strong>den</strong> bedeutendsten<br />

sozioökonomischen Faktor des Grenzgängerwesens <strong>in</strong> <strong>den</strong> frühen 1950er Jahren e<strong>in</strong>schätzt.<br />

Die wirtschafts- und <strong>in</strong>sbesondere arbeitsmarktpolitische Dimension des Grenzgängerproblems<br />

war <strong>in</strong>sofern erheblich und <strong>für</strong> die Politik handlungsleitend. Daneben allerd<strong>in</strong>gs kamen auf diesem<br />

Feld, wie Roggenbuch im zweiten Kapitel darlegt, dezidiert politische Erwägungen zum Tragen. So<br />

nutzte der Senat die Lohnausgleichskasse als Instrument, um im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Sowjetisierungsprävention<br />

gegen politische Gegner mit Wohnsitz <strong>in</strong> Westberl<strong>in</strong> vorzugehen: E<strong>in</strong> dekretierter „Ausschluss<br />

vom Umtausch“ sollte Mitglieder und Arbeitnehmer der SED, des FDGB und ihrer Gliederungen<br />

treffen. Auf östlicher Seite veränderten die forcierte Abschottung und der mit der II. Parteikonferenz<br />

e<strong>in</strong>hergehende Sowjetisierungsschub 1952 die Ost-Grenzgängerpolitik der SED. Die Maßnahmen<br />

ließen die Distanz zwischen <strong>den</strong> Systemen wachsen und damit auch die Vorbehalte gegenüber Arbeitnehmern,<br />

die gleichsam mit e<strong>in</strong>em Be<strong>in</strong> im kapitalistischen „Fe<strong>in</strong>desland“ stan<strong>den</strong>. Ihren Niederschlag<br />

fand diese Entwicklung <strong>in</strong> Massenentlassungen von Ost-Grenzgängern.<br />

Die folgen<strong>den</strong> Kapitel führen <strong>den</strong> skizzierten multiperspektivischen Ansatz fort. Es ist e<strong>in</strong>e Stärke<br />

von Roggenbuchs Untersuchung, dass er se<strong>in</strong>en Gegenstand differenziert von verschie<strong>den</strong>en Politikfeldern<br />

(etwa Wirtschaft, Recht, Propaganda) her beleuchtet und punktuell auch Bezüge zur Tagespolitik<br />

herstellt. Zudem befasst er sich mit der Wahrnehmung und Behandlung der Ost- wie der<br />

West-Grenzgänger gleichermaßen <strong>für</strong> die West- und <strong>für</strong> die Ostseite. Deutlich wird dabei, dass die<br />

Konkurrenz auch zu <strong>in</strong>ternen Widersprüchen führen konnte. So schnitt sich die SED mit dem Abbau<br />

der Ost-Grenzgänger <strong>in</strong>s eigene Fleisch, da sich <strong>in</strong> der zweiten Hälfte der 1950er Jahre immer spürbarer<br />

e<strong>in</strong> Arbeitskräftemangel abzeichnete. In Kapitel drei beschreibt Roggenbuch, wie sich die<br />

Grenzgängerpolitik Ostberl<strong>in</strong>s vor diesem H<strong>in</strong>tergrund radikalisierte. Denn negativ wirkte sich neben<br />

dem Ost- (aus Sicht der SED) vor allem das West-Grenzgängertum aus. Nicht alle<strong>in</strong> wur<strong>den</strong> dem<br />

Ostberl<strong>in</strong>er Arbeitsmarkt darüber dr<strong>in</strong>gend benötigte Fachkräfte <strong>in</strong> steigender Anzahl entzogen, seit<br />

<strong>in</strong> Westberl<strong>in</strong> Mitte der 1950er Jahre die Konjunktur e<strong>in</strong>setzte. Auch hatten eben diese Arbeitskräfte<br />

aufgrund von Quotenerhöhungen der Lohnausgleichskasse mehr Westmark <strong>in</strong> der Tasche, was durch<br />

„Währungsspekulation“ <strong>den</strong> ostseitigen Kaufkraftüberhang vergrößerte und die Mängel der Planwirtschaft<br />

verschärfte. Insofern s<strong>in</strong>d es wiederum wirtschaftliche Entwicklungen, die laut Roggenbuch<br />

auch <strong>in</strong> dieser Phase <strong>den</strong> Schlüssel zum Verständnis des Grenzgängerproblems liefern. Die<br />

SED-Führung reagierte mit Repression. Diskrim<strong>in</strong>ierung und Terrorisierung sollten das West-Grenzgängerwesen<br />

reduzieren, <strong>in</strong>dem sie die betroffenen Menschen zur Aufnahme e<strong>in</strong>er Arbeit im Osten<br />

bewegten – mit wenig Erfolg. Vielmehr stieg die Zahl der West-Grenzgänger <strong>in</strong> der zweiten Hälfte<br />

der 1950er Jahre auf rund 40.000 an.<br />

Das vierte Kapitel zeigt, wie die Repression nach kurzem Abflauen ab Sommer 1960 verschärft<br />

<strong>in</strong>s Werk gesetzt und die Grenzgängerfrage zudem zur Flankierung des Mauerbaus politisch massiv<br />

<strong>in</strong>strumentalisiert wurde. In diesem Zusammenhang s<strong>in</strong>d die sich ergeben<strong>den</strong> Bezüge zwischen<br />

Grenzgängerwesen und Fluchtbewegung aufschlussreich. Beide Ersche<strong>in</strong>ungen trugen zur Zuspitzung<br />

der Krise 1960/61 bei und gehörten gleichzeitig zu ihren prägnantesten Ersche<strong>in</strong>ungen, wobei <strong>in</strong>folge<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


239 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

des Drucks immer mehr West-Grenzgänger selbst zu „Republikflüchtigen“ wur<strong>den</strong>. Außerdem verkörperten<br />

beide Gruppierungen <strong>für</strong> die SED e<strong>in</strong> Fe<strong>in</strong>dbild, weil sie sich dem propagierten System<br />

entzogen und verme<strong>in</strong>tlich ohne Gegenleistung von der DDR profitierten. Für e<strong>in</strong>e groß angelegte<br />

Stimmungsmache durch Aufbau e<strong>in</strong>es „öffentlichen Fe<strong>in</strong>des“ eigneten sich die Flüchtl<strong>in</strong>ge laut<br />

Roggenbuch jedoch nicht, da mit der Thematisierung des Massenexodus unweigerlich e<strong>in</strong>e Systemkrise<br />

konzediert wor<strong>den</strong> wäre. Die Grenzgänger allerd<strong>in</strong>gs eigneten sich auch wegen des mit ihnen<br />

verbun<strong>den</strong>en Neidpotenzials („Schmarotzer“, „Schieber“, „Speckjäger“) umso besser: „Nicht zuletzt<br />

auf Grund der ‚Inszenierungʻ des Grenzgängerproblems konnte die Grenzschließung <strong>für</strong> die SED zu<br />

e<strong>in</strong>em Erfolg wer<strong>den</strong>.“ (395)<br />

Durch <strong>den</strong> Mauerbau wurde das Grenzgängerwesen komplett stillgelegt – aus Sicht der SED die<br />

e<strong>in</strong>zig überzeugende Lösung. Schließlich hatte neben anderen Faktoren auch das Grenzgängerproblem<br />

gezeigt, dass die DDR <strong>in</strong> der Systemkonkurrenz mit offener Grenze nicht bestehen konnte. Unter<br />

<strong>den</strong> Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>er <strong>für</strong> <strong>den</strong> Osten negativen Wirtschaftsentwicklung wurde das Grenzgängerwesen<br />

zu e<strong>in</strong>em immer gewichtigeren Störfaktor. Demzufolge war es am Ende, so Roggenbuchs Fazit <strong>in</strong><br />

Bezug auf die oben formulierte Frage, „nahezu vollständig von der divergieren<strong>den</strong> Wirkung der Systemkonkurrenz<br />

geprägt und somit letztlich selbst e<strong>in</strong> Faktor der Des<strong>in</strong>tegration“ (454).<br />

Der Autor hat <strong>für</strong> se<strong>in</strong>e Untersuchung umfangreiche Archivmaterialien zu <strong>den</strong> politischen Akteuren<br />

auf verschie<strong>den</strong>en Ebenen <strong>in</strong> West und Ost ausgewertet sowie ergänzend Presseberichte und e<strong>in</strong>ige<br />

Zeitzeugenbefragungen herangezogen. Auf dieser Basis kann er e<strong>in</strong>e umfassende und systematische<br />

monografische Darstellung zum Berl<strong>in</strong>er Grenzgängerwesen vorlegen, was bisher als Desiderat der<br />

wenig ausgebildeten Forschung zu diesem Thema gelten musste. Allerd<strong>in</strong>gs merkt man Roggenbuchs<br />

Studie die Pionierarbeit auch an: Sie präsentiert <strong>in</strong> detailreichen Verschl<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>e große Menge<br />

Stoff, ohne dem Leser allzu viele Schneisen durch das Dickicht zu schlagen. Mehr bündelndanalysierende<br />

Passagen wären hilfreich gewesen. Auch der ausgeprägte Nom<strong>in</strong>alstil und die etwas<br />

hölzerne Begrifflichkeit erschweren die Lektüre. Gleichwohl: Frank Roggenbuch hat die Forschung<br />

zum Berl<strong>in</strong>er Grenzgängerwesen mit se<strong>in</strong>er Untersuchung auf e<strong>in</strong>e neue wissenschaftliche Basis gestellt.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Michael Schwab/Stadt Fulda (Hrsg.): Alfred Dregger <strong>für</strong> Fulda und Deutschland. Stationen<br />

e<strong>in</strong>es charismatischen Politikers (= Dokumentationen zur Stadtgeschichte; Nr. 26), Petersberg:<br />

Michael Imhof Verlag 2008, 160 S., ISBN 978-3-86568-291-8, EUR 19,95<br />

Rezensiert von Tim Szatkowski<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 1<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/01/14873.html<br />

„Kritische Sympathie“ zwischen Bürger und Staat [1] – das<br />

war das Motto der Rede von Bundespräsi<strong>den</strong>t Walter Scheel<br />

zur 500-Jahr-Feier der Universität Tüb<strong>in</strong>gen am 8. Oktober<br />

1977. Kritische Sympathie – das sche<strong>in</strong>t auch e<strong>in</strong>e gute Richtl<strong>in</strong>ie<br />

<strong>für</strong> <strong>den</strong> Biografen zu se<strong>in</strong>, der sich mit demokratischen<br />

Politikern beschäftigt. E<strong>in</strong>em solchen Anspruch wird der vorliegende<br />

Band – zu dem unter anderem Walter Wallmann,<br />

Holger Börner, Franz Josef Jung, Edmund Stoiber, Hans-<br />

Dietrich Genscher und Erika Ste<strong>in</strong>bach Beiträge lieferten –<br />

nur stellenweise gerecht. E<strong>in</strong>e löbliche Ausnahme stellt Hans-<br />

Jochen Vogel dar, der deutlich macht, dass Dregger bisweilen<br />

„an <strong>den</strong> Rand des konservativen Spektrums“ geriet (104). Die<br />

politischen Ziele, die Dregger verfolgte, könne er, Vogel,<br />

„nicht loben“. Der ehemalige SPD-Vorsitzende wollte ihm<br />

jedoch se<strong>in</strong>en „persönlichen Respekt“ nicht versagen (105).<br />

Ohne Zweifel ist e<strong>in</strong>e biografische Abhandlung über Alfred<br />

Dregger (1920–2002), e<strong>in</strong>en der profiliertesten Kommunal-,<br />

Landes- und Bundespolitiker Westdeutschlands, wünschenswert.<br />

Insoweit ist das Vorhaben des Magistrats der Stadt Fulda zu begrüßen, die Stationen se<strong>in</strong>er politischen<br />

Karriere Revue passieren zu lassen. Doch es s<strong>in</strong>d nicht nur die hagiografischen Züge e<strong>in</strong>zelner<br />

Beiträge, die störend wirken. Was darüber h<strong>in</strong>aus teilweise fehlt, ist e<strong>in</strong>e Klärung der Voraussetzungen<br />

<strong>für</strong> Dreggers politische Karriere.<br />

Besonders deutlich wird dieses Defizit im Beitrag von Dreggers Nachfolger im Amt des Oberbürgermeisters<br />

der Stadt Fulda, Wolfgang Hamberger. Er zeigt die Schwierigkeiten, die der Kandidat<br />

Dregger bei se<strong>in</strong>er Bewerbung 1956 als gebürtiger Münsteraner hatte. Aus welchen Grün<strong>den</strong> er dieses<br />

Amt dann doch antreten konnte, bleibt im Dunkeln. Mehrfach wird <strong>in</strong> dem Band auch darauf<br />

h<strong>in</strong>gewiesen, dass Dregger damals, mit 36 Jahren, der jüngste Oberbürgermeister <strong>in</strong> der Bundes-<br />

republik gewesen sei. Erst 1953 hatte er se<strong>in</strong> Großes Juristisches Staatsexamen abgelegt. Was qualifizierte<br />

ihn <strong>für</strong> se<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>stieg <strong>in</strong> die Kommunalpolitik? Die vorherige kurze Referententätigkeit beim<br />

Deutschen Städtetag alle<strong>in</strong> wird es wohl nicht gewesen se<strong>in</strong>.<br />

Deutlich mehr Substanz weist der Aufsatz des Journalisten Bernd Heptner über <strong>den</strong> Landespolitiker<br />

Dregger auf. Als Dregger 1967 <strong>den</strong> Vorsitz der hessischen CDU übernahm, befand sich diese <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em ziemlich kläglichen Zustand. Innerhalb weniger Jahre formte er sie zu e<strong>in</strong>er starken politi-


241 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

schen Kraft. Nach <strong>den</strong> Landtagswahlen 1974 und 1978 stellte die CDU jeweils die größte Fraktion<br />

im hessischen Landtag. Angesichts des Fortbestehens der sozialliberalen Koalition blieb ihr die Regierungsübernahme<br />

allerd<strong>in</strong>gs verwehrt. Es war die Tragik der politischen Laufbahn Dreggers, dass<br />

die hessischen Landtagswahlen am 26. September 1982 <strong>in</strong> <strong>den</strong> Sog der Bundespolitik gerieten. Als<br />

die sozialliberale Koalition im Bund zerbrach, konnte die hessische SPD mit ihrer höchst e<strong>in</strong>gängigen<br />

Formel „Verrat <strong>in</strong> Bonn“ so viele Wähler mobilisieren, dass die CDU die absolute Mehrheit verfehlte.<br />

Heptner kann zeigen, dass es e<strong>in</strong> Bündel an Ursachen <strong>für</strong> <strong>den</strong> Erfolg der hessischen Christdemokraten<br />

gab. Dregger, der „Wertkonservative“ (Börner, 66), war durchaus e<strong>in</strong> Reformer, als er daran<br />

g<strong>in</strong>g, <strong>für</strong> se<strong>in</strong>e Partei e<strong>in</strong>en schlagkräftigen hauptamtlichen Apparat aufzubauen und ihren Status als<br />

Honoratiorenvere<strong>in</strong> zu been<strong>den</strong>. Die Frage der programmatischen Erneuerung wird dagegen nicht<br />

angeschnitten. Nicht zuletzt waren es die Flügelkämpfe <strong>in</strong> der hessischen SPD, die der CDU e<strong>in</strong>en<br />

unvorhersehbaren Wählerzulauf bescherten. Das Erstarken des l<strong>in</strong>ken Flügels der hessischen Sozialdemokratie<br />

nach dem Rücktritt von Georg-August Z<strong>in</strong>n als M<strong>in</strong>isterpräsi<strong>den</strong>t 1969 führte zu hochgradig<br />

polarisierten Wahlkämpfen, die <strong>in</strong> Fragen der Bildungspolitik kulm<strong>in</strong>ierten. So boten beispielsweise<br />

die hessischen Rahmenrichtl<strong>in</strong>ien <strong>für</strong> die Unterrichtsfächer Deutsch und Gesellschaftslehre<br />

der CDU e<strong>in</strong>en geeigneten Ansatzpunkt, um gegen die Unterm<strong>in</strong>ierung der freiheitlich-demokratischen<br />

Ordnung und die marxistische Unterwanderung der Bundesrepublik zu Felde ziehen zu<br />

können.<br />

Schwächer ersche<strong>in</strong>en wiederum die Abschnitte über Dreggers Zeit als langjähriger Vorsitzender<br />

der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Vor allem bleibt unklar, welche Funktion Dregger<br />

der Fraktion zugewiesen hat. Markus Berger, früher Referent des Fraktionsvorsitzen<strong>den</strong>, weist nur<br />

generell darauf h<strong>in</strong>, dass Dregger dem politischen Willen der Fraktion im Kab<strong>in</strong>ett Gehör zu verschaffen<br />

wusste. Es entsteht gleichwohl der E<strong>in</strong>druck, als habe er sie und sich selbst als treue Erfüllungsgehilfen<br />

der Regierung Kohl/Genscher verstan<strong>den</strong>. Doch es ist im Grunde kaum zu glauben,<br />

dass e<strong>in</strong> Mann mit dem Willen und der Kraft zur politischen Gestaltung wie Dregger se<strong>in</strong>er Fraktion<br />

die Aufgabe, ja Pflicht zur autonomen Entscheidung entzogen haben könnte. Dieses Problem hätte<br />

vertieft diskutiert wer<strong>den</strong> müssen, gerade auch vor dem H<strong>in</strong>tergrund der Wiedervere<strong>in</strong>igung Deutschlands<br />

1989/90.<br />

Dreggers besonderes Augenmerk galt zeitlebens <strong>den</strong> Vertriebenen und <strong>den</strong> – ehrenhaften – Angehörigen<br />

der Wehrmacht. Dabei vertrat er entschie<strong>den</strong> se<strong>in</strong>e Position, etwa zum 50. Jahrestag der Entfesselung<br />

des Zweiten Weltkriegs: „Was <strong>den</strong> Ausgleich im Osten schwieriger macht als im Westen,<br />

ist die Tatsache, dass im Osten nicht nur Grenzen verschoben, sondern auch Millionen Menschen<br />

aus ihrer seit Jahrhunderten angestammten Heimat vertrieben wur<strong>den</strong>. Hier wurde schweres Unrecht,<br />

das vorausgegangen war, mit schwerem Unrecht vergolten.“ [2] Vor dem H<strong>in</strong>tergrund solcher Aussagen<br />

kritisiert Erika Ste<strong>in</strong>bach scharf die Rede Richard von Weizsäckers anlässlich des 40. Jahrestags<br />

der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1985, <strong>in</strong>sbesondere dessen „Floskel“ (117) von der „erzwungenen<br />

Wanderschaft“ Millionen Deutscher. [3] Man kann diesen Ausdruck durchaus als nicht angemessen<br />

ansehen. In jedem Fall hatte Weizsäcker zuvor ausgeführt, dass <strong>den</strong> Vertriebenen „noch lange<br />

nach dem 8. Mai bitteres Leid und schweres Unrecht widerfahren“ sei – also auch vor dem 8. Mai<br />

1945. Es ist nicht zuviel verlangt, e<strong>in</strong>e Rede <strong>in</strong> ihrer Gesamtheit zu betrachten.<br />

Gerade die Lesart des 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung – wie sie Weizsäcker <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Rede<br />

1985 zum Ausdruck brachte – war es, die Dregger immer wieder angriff. So unterzeichnete er 1995<br />

e<strong>in</strong>en Aufruf „gegen das Vergessen“, <strong>in</strong> dem es hieß, es drohe <strong>in</strong> Vergessenheit zu geraten, „dass dieser<br />

Tag nicht nur das Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft bedeutete, sondern zugleich<br />

auch <strong>den</strong> Beg<strong>in</strong>n von Vertreibungsterror und neuer Unterdrückung im Osten und <strong>den</strong> Beg<strong>in</strong>n<br />

der Teilung unseres Landes.“ [4] Das war e<strong>in</strong>e legitime Sicht der D<strong>in</strong>ge, aber Dregger tat sich und<br />

se<strong>in</strong>em Anliegen mit der Unterschrift unter diesen Aufruf ke<strong>in</strong>en Gefallen, gehörten zu <strong>den</strong> Unter-<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


242 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

zeichnern doch auch Klaus Ra<strong>in</strong>er Röhl, Ulrich Schacht, Heimo Schwilk und Ra<strong>in</strong>er Zitelmann. Sah<br />

er sich wirklich <strong>in</strong> geistiger Nähe zu ihnen? E<strong>in</strong>e Antwort auf diese Frage fehlt.<br />

Der Band bietet zahlreiche Ansatzpunkte <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e ausführlichere, wissenschaftliche Beschäftigung<br />

mit Alfred Dregger. Bisweilen hat das Buch allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>en netten, älteren Herrn aus ihm gemacht.<br />

Das mag Dregger auch gewesen se<strong>in</strong>, aber als Politiker war er kämpferisch, lei<strong>den</strong>schaftlich und umstritten.<br />

Dies hätte noch besser e<strong>in</strong>gefangen wer<strong>den</strong> müssen. Um es mit wenigen Worten zu sagen:<br />

Die Beiträge lei<strong>den</strong> zumeist an zu viel Sympathie und zu wenig Kritik.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Walter Scheel: Re<strong>den</strong> und Interviews (4). 1. Juli 1977 – 30. Juni 1978, Bonn 1978, 69.<br />

[2] Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenografische Berichte, 1. September 1989, 11640.<br />

[3] Rede Weizsäckers am 8. Mai 1985 im Deutschen Bundestag <strong>in</strong>: Richard von Weizsäcker: Re<strong>den</strong><br />

und Interviews (1). 1. Juli 1984 – 30. Juni 1985, Bonn 1986, 288; das Folgende nach ebd. und<br />

280.<br />

[4] Frankfurter Allgeme<strong>in</strong>e Zeitung, 07.04.1995, 3.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Manuel Schramm, Wirtschaft und Wissenschaft <strong>in</strong> DDR und BRD. Die Kategorie<br />

Vertrauen <strong>in</strong> Innovationsprozessen (= Wirtschafts- und Sozialhistorische Studien; Bd. 17),<br />

Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2008, XII + 355 S., ISBN 978-3-412-20174-6, EUR 44,90<br />

Rezensiert von Andreas Malycha<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Geschichte der Mediz<strong>in</strong>, Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 3<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/03/14997.html<br />

Schramm folgt mit se<strong>in</strong>em Buch, e<strong>in</strong>er von der TU Chemnitz<br />

angenommenen Habilitationsschrift, nicht dem e<strong>in</strong>schlägigen<br />

Untersuchungsraster im Verhältnis zwischen Wissenschaft,<br />

Politik und Wirtschaft, das <strong>in</strong> der Wissenschaftsgeschichte<br />

sonst üblich ist. Stattdessen analysiert der Autor anhand der<br />

Kategorie Vertrauen, auf welche Weise Metho<strong>den</strong> der historischen<br />

Innovationsforschung auf die Untersuchung von Wirtschaft<br />

und Wissenschaft <strong>in</strong> der deutschen Nachkriegsgeschichte<br />

anwendbar s<strong>in</strong>d.<br />

Zunächst wer<strong>den</strong> Konzepte der Innovationsforschung vorgestellt<br />

und ihre Anwendbarkeit auf Untersuchungen <strong>in</strong> der<br />

Wirtschafts- und Wissenschaftsgeschichte erläutert. Schramm<br />

sieht se<strong>in</strong>en methodischen Ansatz als Teil e<strong>in</strong>er „Kultur-<br />

geschichte von Innovationsprozessen“, die sowohl über e<strong>in</strong>en<br />

engen geografischen Rahmen h<strong>in</strong>ausgeht als auch die Heterogenität<br />

von Innovationsprozessen <strong>in</strong> unterschiedlichen Branchen<br />

sowie die Dynamik kulturellen Wandels berücksichtigt.<br />

Derartigen Anforderungen entspricht se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach<br />

am ehesten das <strong>in</strong> der Unternehmensgeschichte praktizierte<br />

Konzept der „Mikropolitik im Unternehmen“, das <strong>den</strong> Betrieb als „komplexes Interaktionsgefüge<br />

aus Arbeits-, Kooperations- und Kommunikationsbeziehungen, aus Akteurskoalitionen und Machtstrukturen“<br />

begreift (18). Dadurch soll die Interaktion zwischen Akteuren unterschiedlicher Organisationen<br />

(Wissenschaftler, Ingenieure, Unternehmer, Politiker) im Innovationsprozess <strong>in</strong> <strong>den</strong> Mittelpunkt<br />

rücken, um dabei <strong>den</strong> konkreten Formen der Kooperation, aber auch der Konfrontation und<br />

deren Folgen <strong>für</strong> <strong>den</strong> Erfolg bzw. Misserfolg von Innovationen näher zu kommen.<br />

Als zentralem Bezugspunkt <strong>in</strong> diesem Interaktionsgefüge kommt der Kategorie Vertrauen besondere<br />

Bedeutung zu. Vorrangige Absicht ist es <strong>den</strong>n auch, die Bedeutung eben dieses Vertrauens als<br />

e<strong>in</strong>er formlosen <strong>Institut</strong>ion <strong>für</strong> <strong>den</strong> wirtschaftlichen Erfolg e<strong>in</strong>er Gesellschaft zu belegen. Im Lichte<br />

dieses Konzepts erschien es besonders ertragreich, DDR und Bundesrepublik mite<strong>in</strong>ander zu vergleichen,<br />

da hier die Unterschiede im H<strong>in</strong>blick auf gegebene Vertrauensstrukturen besonders augenfällig<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

Das Vorhaben, <strong>den</strong> herausragen<strong>den</strong> Stellenwert von Vertrauen <strong>in</strong> wirtschaftlichen und wissenschaftlichen<br />

Innovationsprozessen anhand von Fallbeispielen aus verschie<strong>den</strong>en Branchen (Masch<strong>in</strong>en-


244 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

bau, Fe<strong>in</strong>mechanik/Optik, Chemie/Pharmazie) sowohl <strong>in</strong> der DDR als auch <strong>in</strong> der Bundesrepublik<br />

nachzuweisen, hat Manuel Schramm überzeugend umgesetzt. Anhand von regionalen Branchenfallstudien<br />

aus Ost und West, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en Kooperationsbeziehungen zwischen Hochschulen und Forschungs<strong>in</strong>stituten<br />

sowie volkseigenen Betrieben und privaten Unternehmen analysiert wer<strong>den</strong>, weist<br />

er schlüssig nach, dass e<strong>in</strong> großes Maß von Vertrauen zwischen diesen Akteuren tatsächlich e<strong>in</strong>e<br />

große Bedeutung da<strong>für</strong> besitzt, ob Innovationen gel<strong>in</strong>gen oder scheitern.<br />

Von besonderem Interesse ist die Frage, ob und unter welchen Bed<strong>in</strong>gungen Vertrauensnetzwerke <strong>in</strong><br />

der DDR entstan<strong>den</strong> s<strong>in</strong>d und fortdauern konnten. Aus fünf Fallbeispielen <strong>für</strong> Kooperationen zwischen<br />

staatlichen Betrieben auf der e<strong>in</strong>en und Universitäten und außeruniversitären Forschungs<strong>in</strong>stituten<br />

auf der anderen Seite leitet Schramm <strong>den</strong> Befund ab, dass Innovationen unter <strong>den</strong> gesellschaftspolitischen<br />

Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>er Planwirtschaft zwar grundsätzlich möglich waren. Jedoch resultierten die<br />

nachweisbaren Innovationen auf e<strong>in</strong>igen Technologiefeldern (Lasertechnik, Interferenzmikroskopie)<br />

nur zu e<strong>in</strong>em äußerst ger<strong>in</strong>gen Teil aus Vertragsbeziehungen zwischen Forschungs<strong>in</strong>stituten und der<br />

Industrie. Wenn es zu e<strong>in</strong>er Innovation kam, so beispielsweise zur Entwicklung und Herstellung e<strong>in</strong>es<br />

Interferenzmikroskops durch Carl Zeiss Jena im Jahre 1968, dann g<strong>in</strong>g diese aus e<strong>in</strong>er Eigenentwicklung<br />

der Forschungsabteilung des volkseigenen Betriebes hervor. Zwar gab es vertraglich geregelte<br />

Beziehungen zwischen Carl Zeiss und dem <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Optik und Spektroskopie <strong>in</strong> Jena, doch seien<br />

die Kontakte von gegenseitigen Vorbehalten und Misstrauen geprägt gewesen. Ähnliche E<strong>in</strong>schätzungen<br />

leitet Schramm aus <strong>den</strong> anderen Fallbeispielen ab.<br />

Die begrenzte Kooperationsfähigkeit zwischen <strong>den</strong> Akteuren mag zunächst überraschen, <strong>den</strong>n <strong>in</strong><br />

der zweiten Hälfte der 1960er Jahre wurde gerade die Vertragsforschung <strong>in</strong> der DDR staatlich verordnet<br />

und reglementiert. Es fehlte aber, so die Qu<strong>in</strong>tessenz des Buches, an Vertrauen als wichtiger<br />

Basis <strong>für</strong> erfolgreiche Forschungs- und Entwicklungsbeziehungen zwischen Hochschulen, <strong>Institut</strong>en<br />

und Betrieben, das auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em diktatorisch strukturierten Gesellschaftssystem nicht erzwungen<br />

wer<strong>den</strong> konnte. So war das Klima der Zusammenarbeit, das zeigt Manuel Schramm am Beispiel der<br />

Kooperation zwischen Carl Zeiss und der Universität Jena e<strong>in</strong>drucksvoll, <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1960er Jahren<br />

„von e<strong>in</strong>em tiefen Misstrauen geprägt, und vieles spricht da<strong>für</strong>, dass sich daran nichts Grundsätzliches<br />

änderte.“ (104)<br />

Allerd<strong>in</strong>gs ergibt sich aus <strong>den</strong> Untersuchungen Schramms ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>e Bestätigung der bislang<br />

als unumstößlich gelten<strong>den</strong> Behauptung, die Innovationsschwäche der DDR resultiere aus e<strong>in</strong>er<br />

sträflichen Vernachlässigung der Grundlagenforschung, wodurch sich der Rückstand gegenüber dem<br />

Westen seit <strong>den</strong> 1970er Jahre stetig vergrößert habe. In e<strong>in</strong>igen Bereichen, so lässt sich am Beispiel<br />

der Molekularbiologie zeigen, bewegte sich die naturwissenschaftliche Forschung – zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>e<br />

Zeitlang – auf e<strong>in</strong>em hohen Niveau. Schramm kann nun anhand se<strong>in</strong>er fünf Fallbeispiele fundierte<br />

Erklärungen <strong>für</strong> die Innovationsschwäche der DDR aufzeigen, die über die bislang üblichen H<strong>in</strong>weise<br />

auf die Grenzen des planwirtschaftlichen Systems weit h<strong>in</strong>ausgehen.<br />

Für die Bundesrepublik wer<strong>den</strong> Beziehungen zwischen Unternehmen (Siemens, Carl Zeiss, Bayer<br />

AG) und Universitäten bzw. Hochschulen anhand von Fallbeispielen aus <strong>den</strong>selben Branchen analysiert.<br />

Erwartungsgemäß gelangt Schramm im Vergleich zur DDR zu gegenteiligen, gleichwohl branchenspezifisch<br />

differenzierten Ergebnissen. Wird im Masch<strong>in</strong>enbau über <strong>den</strong> gesamten Zeitraum<br />

von 1949 bis Anfang der 1990er Jahre e<strong>in</strong>e bemerkenswert enge Zusammenarbeit zwischen mittelgroßen<br />

Unternehmen und e<strong>in</strong>zelnen <strong>Institut</strong>en der Technischen Hochschulen und Universitäten diagnostiziert,<br />

präsentiert er <strong>für</strong> die Biotechnologie e<strong>in</strong> weniger erfolgreiches Untersuchungsergebnis. Hier<br />

griffen Unternehmen wie Bayer <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1980er Jahren auf eigene Forschungskapazitäten<br />

oder auf Innovationsleistungen aus dem Ausland zurück.<br />

Schramm trübt das ansonsten als makellose Erfolgsgeschichte dargestellte Bild über das westdeutsche<br />

Innovationssystem merklich e<strong>in</strong>. Während <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1950er und 1960er Jahren die Kooperation<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


245 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

zwischen wissenschaftlichen E<strong>in</strong>richtungen und Unternehmen relativ stabil funktioniert habe, seien<br />

derartige Netzwerke <strong>in</strong> <strong>den</strong> Jahrzehnten danach zunehmend fragiler gewor<strong>den</strong>. Auch die gängige<br />

These von der wachsen<strong>den</strong> Verb<strong>in</strong>dung zwischen Hochschule und Wirtschaft <strong>in</strong> <strong>den</strong> bei<strong>den</strong> letzten<br />

Jahrzehnten wird durch quantitative Untersuchungen Schramms widerlegt: Seit <strong>den</strong> 1960er Jahren<br />

hat es e<strong>in</strong>en signifikanten Rückgang der Verb<strong>in</strong>dungen zwischen Hochschulen und Industrie <strong>in</strong> der<br />

Bundesrepublik gegeben. Gleichwohl, so resümiert er, habe das westdeutsche Innovationssystem<br />

über die Jahrzehnte h<strong>in</strong>weg se<strong>in</strong>e Anpassungsfähigkeit demonstriert.<br />

Alles <strong>in</strong> allem belegt der deutsch-deutsche Vergleich, dass der Durchbruch zu wirtschaftlichen Innovationen<br />

nicht vordergründig von diesem oder jenem Regierungsprogramm abh<strong>in</strong>g, sondern dass<br />

bestimmte kulturelle und gesellschaftliche Bed<strong>in</strong>gungen zu Innovationsschwäche, aber auch -stärke<br />

führten. Am Beispiel der staatlich geregelten Vertragsbeziehungen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft<br />

<strong>in</strong> ausgewählten Branchen kann Schramm zeigen, auf welche Weise das Fehlen von zivil-<br />

gesellschaftlichen Strukturen <strong>in</strong> der DDR zum Scheitern der staatlichen Forschungs- und Innovationspolitik<br />

geführt hat. In Anbetracht der vordergründigen Fixierung auf die Kategorie Vertrauen wäre<br />

es allerd<strong>in</strong>gs doch ratsam gewesen, e<strong>in</strong>e weitere Differenzierung nach Branchen und Technologiefeldern<br />

vorzunehmen, um Schramms pauschale Kennzeichnung der DDR als „Vertrauensmangelwirtschaft“<br />

stichhaltiger begrün<strong>den</strong> zu können. Insgesamt handelt es sich jedoch um e<strong>in</strong>e anregende<br />

Studie, die mit e<strong>in</strong>em tragfähigen und orig<strong>in</strong>ellen Untersuchungsansatz e<strong>in</strong>en differenzierten E<strong>in</strong>blick<br />

<strong>in</strong> das Netzwerk von Wissenschaft und Wirtschaft <strong>in</strong> der deutschen Nachkriegsgeschichte ermöglicht.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Mathieu L. L. Segers: Deutschlands R<strong>in</strong>gen mit der Relance. Die Europapolitik der BRD<br />

während der Beratungen und Verhandlungen über die Römischen Verträge (= Europäische<br />

Hochschulschriften. Reihe XXXI: Politikwissenschaft; Bd. 551), Bern/Frankfurt a.M. [u.a.]:<br />

Peter Lang 2008, 343 S., ISBN 978-3-631-57105-7, EUR 56,50<br />

Rezensiert von Veronika Heyde<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 9<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/09/15369.html<br />

Auf dem Weg zur europäischen E<strong>in</strong>igung waren e<strong>in</strong>ige Etappen<br />

besonders bedeutend und trugen entschei<strong>den</strong>d dazu bei,<br />

die Integration voranzutreiben. Dazu gehört auch die „Relance<br />

européenne“ von 1954/1956, der es zu verdanken ist, dass nach<br />

dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgeme<strong>in</strong>schaft<br />

(EVG) die Römischen Verträge unterzeichnet wer<strong>den</strong> konnten.<br />

Ausgangspunkt der 2005 <strong>in</strong> niederländischer Sprache veröffentlichten<br />

und 2008 <strong>in</strong>s Deutsche übersetzten Dissertation<br />

von Matthieu Segers ist die Debatte über die Bedeutung der<br />

Suezkrise (November 1956) <strong>für</strong> die Zustimmung Frankreichs<br />

zum Geme<strong>in</strong>samen Markt. Zeigte dies echten Willen zur europäischen<br />

E<strong>in</strong>igung oder spielten eher geopolitische Überlegungen<br />

e<strong>in</strong>e Rolle? Segers weist darauf h<strong>in</strong>, diese Frage sei der<br />

„Zankapfel schlechth<strong>in</strong> zwischen <strong>den</strong> sogenannten Traditionalisten<br />

und <strong>den</strong> Revisionisten <strong>in</strong> Bezug auf die Erklärung des<br />

Zustandekommens der Römischen Verträge.“ (14) Grundlage<br />

sowohl <strong>für</strong> die traditionelle als auch <strong>für</strong> die revisionistische<br />

Interpretation ist e<strong>in</strong> Brief von Guy Mollet an Konrad A<strong>den</strong>auer<br />

vom 31. Oktober 1956. Traditionalisten wie Hans Küsters oder Pierre Guillen <strong>in</strong>terpretieren<br />

ihn als Aussage da<strong>für</strong>, dass Frankreichs Unterstützung des Geme<strong>in</strong>samen Marktes maßgeblich von<br />

der Suezkrise geprägt war. Revisionisten wie Alan Milward oder Gerard Bossuat argumentieren h<strong>in</strong>gegen,<br />

es gebe ke<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>weise darauf, dass Mollet sich von der Suezkrise habe bee<strong>in</strong>flussen lassen.<br />

Er habe vielmehr schon vorher die Entscheidung getroffen, die europäische Integration voranzutreiben.<br />

Diese Diskussion nutzt Segers dazu, die deutsche Seite des Geschehens näher zu betrachten (18)<br />

und nach der Bedeutung des deutschen E<strong>in</strong>flusses auf Frankreich bei der Zustimmung zum Geme<strong>in</strong>samen<br />

Markt zu fragen. Mit dem Argument, dass die Willensbildung und Entscheidungsf<strong>in</strong>dung <strong>in</strong><br />

der Bundesrepublik Deutschland bei <strong>den</strong> Verhandlungen über die Römischen Verträge nur begrenzt<br />

untersucht wor<strong>den</strong> seien (19), widmet sich Segers <strong>in</strong>tensiv der Analyse der westdeutschen Überlegungen<br />

zwischen November 1956 und März 1957. Ziel der Studie ist, die „Lücke <strong>in</strong> der bestehen<strong>den</strong> Literatur<br />

über die Geschichte der westeuropäischen Zusammenarbeit zu schließen.“ (21)<br />

Dazu geht er chronologisch vor und gliedert se<strong>in</strong>e Studie <strong>in</strong> kurze Zeiträume; von Juni 1954 bis<br />

März 1957 rekapituliert Segers die deutsche Diskussion <strong>in</strong> E<strong>in</strong>- bis Viermonatsschritten. Zuerst analysiert<br />

er die Überlegungen bis zur Konferenz von Mess<strong>in</strong>a im Juni 1955, die <strong>den</strong> Weg <strong>für</strong> die Be-


247 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

richterstellung der sechs EGKS-Mitglieder im Spaak-Komitee ebnete. Ab Mitte 1956 widmet er sich<br />

<strong>den</strong> Regierungsdebatten. Der Ertrag se<strong>in</strong>es Quellen- und Literaturstudiums hält sich freilich <strong>in</strong> Grenzen;<br />

zumeist handelt es sich um ergänzende Details, die das bisher Bekannte nicht <strong>in</strong>frage stellen.<br />

Segers erläutert sehr präzise, wie die Bundesregierung immer wieder <strong>in</strong>nere Ause<strong>in</strong>andersetzungen<br />

über die Europapolitik zu bestehen hatte. Zwar wurde der Grundsatz der Westb<strong>in</strong>dung von der<br />

ganzen Bundesregierung getragen, doch wurde er von <strong>den</strong> M<strong>in</strong>isterien und Führungskräften unterschiedlich<br />

ausgelegt. Während die Gruppe um Walter Hallste<strong>in</strong> nach e<strong>in</strong>er europäischen Föderation<br />

strebte, be<strong>für</strong>wortete Ludwig Erhard e<strong>in</strong>e Freihandelszone; der funktionalistischer ausgerichtete<br />

Franz Etzel nahm e<strong>in</strong>e Zwischenposition e<strong>in</strong>.<br />

Interessant ist, wie man <strong>in</strong> Westdeutschland mit der Frage rang, wie die Beziehungen zu Frankreich<br />

zu gestalten seien. In Bonn gab es e<strong>in</strong>e Kontroverse darüber, ob Deutschland als Beweis <strong>für</strong><br />

se<strong>in</strong>e Politik der Annäherung und Integration bereit se<strong>in</strong> müsse, die politischen, wirtschaftlichen und<br />

militärischen Probleme Frankreichs auf se<strong>in</strong>e Schultern zu nehmen. Hier kann Segers zeigen, wie<br />

diese Ause<strong>in</strong>andersetzung im Vorfeld der Verhandlungen aufgrund e<strong>in</strong>er direkten Verständigung<br />

zwischen A<strong>den</strong>auer und P<strong>in</strong>ay an Bedeutung verlor. Informativ ist auch der H<strong>in</strong>weis, dass A<strong>den</strong>auers<br />

Interesse an der Weiterführung der supranationalen Integration lange Zeit relativ schwach war, weil<br />

er der Lösung der Saarfrage und der Qualität der deutsch-französischen Zusammenarbeit Priorität<br />

e<strong>in</strong>räumte (315). Erst im Herbst 1955 nahm A<strong>den</strong>auer e<strong>in</strong>e deutliche proeuropäische Position e<strong>in</strong><br />

und reagierte damit auf das überraschende Resultat des Saar-Referendums, das Fehlschlagen der<br />

zweiten Genfer Konferenz und die amerikanische Unterstützung von Euratom. Allerd<strong>in</strong>gs hatte diese<br />

Entscheidung ke<strong>in</strong>e konkreten Folgen, da die Regierung Edgar Faures, der auch P<strong>in</strong>ay angehörte, <strong>in</strong><br />

Frankreich stürzte, die Beratungen zum Stillstand kamen und die neue Regierung unter dem „Europäer“<br />

Guy Mollet die Initiative der Verhandlungen über <strong>den</strong> Geme<strong>in</strong>samen Markt und Euratom an<br />

sich riss.<br />

Weiterführende Ergebnisse erbr<strong>in</strong>gt die Untersuchung der Frage, wie die „nationale Positionsbestimmung“<br />

der Bundesrepublik vom westdeutschen Vizevorsitzen<strong>den</strong> der Hohen Behörde der EGKS,<br />

Franz Etzel, und se<strong>in</strong>en Mitarbeitern <strong>in</strong> Luxemburg bee<strong>in</strong>flusst wurde. A<strong>den</strong>auer akzeptierte nach<br />

längeren Überlegungen Etzels Vorschlag, die Gegner weiterer Konzessionen Westdeutschlands an<br />

Frankreich außer Gefecht zu setzen, weil er hoffte, Atomwaffen <strong>für</strong> die Bundesrepublik zu erwerben.<br />

Die Suezkrise – und hier schließt sich der Kreis – bedeutete dabei <strong>für</strong> A<strong>den</strong>auer lediglich <strong>den</strong> dramatischen<br />

H<strong>in</strong>tergrund, der se<strong>in</strong>em Streben nach der westdeutschen Wiederbewaffnung zusätzliche<br />

Dr<strong>in</strong>glichkeit verlieh (318). Allerd<strong>in</strong>gs misst Segers <strong>den</strong> Entscheidungen des launischen A<strong>den</strong>auer<br />

zuviel Bedeutung zu. Denn der alternde Kanzler war stets geneigt, widersprüchliche Interessen <strong>für</strong><br />

se<strong>in</strong>e Zwecke zu nutzen.<br />

Segers’ Fragestellung und se<strong>in</strong> umfangreiches Quellenstudium ergeben e<strong>in</strong>e Monografie, die sich<br />

des Verdiensts rühmen kann, e<strong>in</strong>ige neue Facetten zur Geschichte der europäischen Integration beigesteuert<br />

zu haben. Es hätte hilfreich se<strong>in</strong> können, dem Leser e<strong>in</strong>en weniger deskriptiven und etwas<br />

analytischeren Zugang zu verschaffen. Auch wäre es s<strong>in</strong>nvoll gewesen, kürzere Quellentexte zu zitieren<br />

und sich <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Sprache zu entschei<strong>den</strong>, <strong>in</strong> der zitiert wird. Dies wäre umso nötiger gewesen,<br />

als die Übersetzung vom Niederländischen <strong>in</strong>s Deutsche leider nicht gelungen ist. Viele Begriffe und<br />

Redewendungen wur<strong>den</strong> nicht korrekt verwendet und erschweren die Lektüre – e<strong>in</strong> Problem, das<br />

durch die unpassende E<strong>in</strong>bettung der zahlreichen, nicht selten fehlerhaften, englischen und französischen<br />

Zitate noch verstärkt wird.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Boris Spix: Abschied vom Elfenbe<strong>in</strong>turm? Politisches Verhalten Studierender<br />

1957–1967. Berl<strong>in</strong> und Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen im Vergleich, Essen: Klartext 2008, 722 S.,<br />

ISBN 978-3-89861-966-0, EUR 49,00<br />

Rezensiert von Anne Rohstock<br />

München<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 3<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/03/15506.html<br />

H<strong>in</strong>ter Boris Spix liegt e<strong>in</strong> Mammutunternehmen: Für se<strong>in</strong>e<br />

Dissertation hat er elf Jahre lang Dachbö<strong>den</strong>, Schlosskeller<br />

und Getreidespeicher durchforstet, 25 Archive besucht, 65 Zeitungen<br />

oder Zeitschriften ausgewertet und 23 Zeitzeugen-<br />

gespräche geführt. Resultat dieser Recherchen s<strong>in</strong>d rund 700<br />

Seiten empirisch dichte Beschreibung, die der Autor mit dem<br />

Ziel verfasst hat, mit vorherrschen<strong>den</strong> Me<strong>in</strong>ungen aufzuräumen.<br />

So h<strong>in</strong>terfragt er <strong>in</strong> zwölf Kapiteln das tatsächlich erstaunlich<br />

langlebige Narrativ e<strong>in</strong>er <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1950er und frühen<br />

1960er Jahren überwiegend unpolitischen Stu<strong>den</strong>tenschaft, die<br />

sich erst nach dem Tod ihres Kommilitonen Benno Ohnesorg<br />

am 2. Juni 1967 radikalisiert habe.<br />

Dass sich diese Sichtweise so lange halten konnte, hat mehrere<br />

Gründe. Erstens wurde die These von der sche<strong>in</strong>bar unpolitischen<br />

Haltung der stu<strong>den</strong>tischen Jugend Anfang der<br />

1960er Jahre von der frühen westdeutschen Sozialforschung<br />

untermauert und seither eher selten angezweifelt. Zweitens<br />

stricken ehemalige Protagonisten der „68er“-Bewegung seit nunmehr vierzig Jahren beharrlich am<br />

eigenen Mythos, nach dem sich die Welt erst Ende des Jahrzehnts <strong>in</strong> Bewegung gesetzt habe. Und<br />

drittens trug auch die zeitgeschichtliche Forschung mit der Verschiebung des Fokus’ von <strong>den</strong> „68er“<br />

zu <strong>den</strong> „langen 1960er“ Jahren ihren Teil dazu bei, dass die Stu<strong>den</strong>tenschaft als Träger gesellschaftlicher<br />

Veränderungen <strong>in</strong>sgesamt immer weiter aus dem Blickfeld rückte. Bisher liegen daher kaum<br />

historisch gesicherte Erkenntnisse zu der Frage vor, wie politisch oder unpolitisch die angehen<strong>den</strong><br />

Akademiker <strong>in</strong> der Ära A<strong>den</strong>auer/Erhard eigentlich gewesen s<strong>in</strong>d – e<strong>in</strong>e Forschungslücke, deren<br />

Schließung wiederholt angemahnt wor<strong>den</strong> ist. [1] Mit e<strong>in</strong>em Vergleich der Stu<strong>den</strong>tenschaft <strong>in</strong> Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen<br />

und Berl<strong>in</strong> zwischen 1957 und 1967 hat Spix diese Forderung nun zu großen Teilen<br />

e<strong>in</strong>gelöst.<br />

Methodisch gelungen ist die Komb<strong>in</strong>ation quantifizierender und qualitativer Verfahren. So hat der<br />

Autor <strong>für</strong> jedes der potenziell politisierend wirken<strong>den</strong> Felder – angefangen bei der Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

um das politische Mandat über die deutsche Frage bis h<strong>in</strong> zur Beschäftigung mit der Dritten<br />

Welt, dem Nationalsozialismus, der Kritischen Theorie und der Hochschulreform – das Kunststück<br />

fertiggebracht, deren prozentualen Anteil an allen politischen Beiträgen entweder <strong>in</strong> <strong>den</strong> Stu<strong>den</strong>tenparlamenten<br />

oder <strong>in</strong> maßgeblichen stu<strong>den</strong>tischen Zeitschriften zu berechnen. Diese Leistung kann


249 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

gar nicht hoch genug geschätzt wer<strong>den</strong>, zumal nicht weniger als sieben Universitäten und zwölf stu<strong>den</strong>tische<br />

Gruppierungen im Untersuchungszeitraum berücksichtigt wur<strong>den</strong>. Dort, wo die quantifizierende<br />

Methode an ihre Grenzen stieß, wurde sie um qualitative Verfahren ergänzt.<br />

Auf diese Weise kommt Spix zu ausgesprochen <strong>in</strong>teressanten Befun<strong>den</strong>: So kann er zeigen, dass<br />

die Studieren<strong>den</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Untersuchungsraum bereits ab 1957 von e<strong>in</strong>em ersten Politisierungsschub<br />

erfasst wur<strong>den</strong>. Verantwortlich da<strong>für</strong> war nicht etwa e<strong>in</strong>e durch die beg<strong>in</strong>nende Bildungs-<br />

expansion veränderte soziale Zusammensetzung der Stu<strong>den</strong>ten – diese blieb trotz des enormen Zustroms<br />

über die Jahrzehnte h<strong>in</strong>weg erstaunlich konstant. Vielmehr führte <strong>in</strong> konservativen stu<strong>den</strong>tischen<br />

Gruppen die Ause<strong>in</strong>andersetzung um die deutsche Wiedervere<strong>in</strong>igung zu Demonstrationen,<br />

Geldsammlungen und Resolutionen. In l<strong>in</strong>ksliberalen Stu<strong>den</strong>tenverbän<strong>den</strong> sorgte dagegen die drohende<br />

atomare Bewaffnung der Bundeswehr <strong>für</strong> erste Aktionen. Politisches Engagement vollzog<br />

sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ersten Phase bis 1961 also nicht nur unter weltpolitisch-pazifistischen Vorzeichen, sondern<br />

auch unter nationalstaatlich-konservativen Auspizien. Damit löst Spix <strong>den</strong> Begriff der Politisierung<br />

aus se<strong>in</strong>er bisherigen „l<strong>in</strong>ken“ Engführung und verhilft gleichzeitig alternativen Thematisierungsagenten<br />

des Politischen zu ihrem Recht.<br />

In e<strong>in</strong>em zweiten Abschnitt bis 1965 konstatiert Spix e<strong>in</strong>e „Entpolitisierung“ (679), e<strong>in</strong>e „Phase<br />

politischer Passivität“, <strong>in</strong> der e<strong>in</strong> „Schwenk von rechts nach l<strong>in</strong>ks“ vorbereitet wor<strong>den</strong> sei. Diese „<strong>in</strong>tellektuelle<br />

Neuorientierung“ (681) habe sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er dritten Phase seit 1965 an der FU Berl<strong>in</strong>, ab<br />

1966 <strong>in</strong> Bonn und seit 1967 an allen anderen untersuchten Hochschulen mit neuen Aktionsformen<br />

Bahn gebrochen. An diesem Versuch e<strong>in</strong>er Synthetisierung der zuvor ausführlich dargestellten empirischen<br />

Befunde ist allerd<strong>in</strong>gs Kritik anzumel<strong>den</strong>: Hier rächt sich, dass der Autor se<strong>in</strong>en Politisierungsbegriff<br />

zwar def<strong>in</strong>itorisch gekonnt differenziert, letztlich aber das politische Verhalten Studierender<br />

stets an <strong>den</strong> Ersche<strong>in</strong>ungsformen des Politischen während se<strong>in</strong>es Kulm<strong>in</strong>ationspunkts Ende der<br />

1960er Jahre misst. Massive Kritik auch konservativer Studierender an <strong>den</strong> Moralvorstellungen der<br />

katholischen Kirche, die stu<strong>den</strong>tischen Verdienste im Rahmen der <strong>in</strong>neruniversitären Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

mit der nationalsozialistischen Vergangenheit sowie Forderungen nach e<strong>in</strong>er Demokratisierung<br />

von Hochschule und Gesellschaft seit Beg<strong>in</strong>n der 1960er Jahre haben so <strong>in</strong> Spix’ Deutungsrahmen<br />

ke<strong>in</strong>en Platz. Anders herum müssen gerade vor der Passivitätsthese des Autors besonders<br />

grell abstechende Ereignisse fast zwangsläufig marg<strong>in</strong>alisiert wer<strong>den</strong>. So behandelt Spix <strong>den</strong> spektakulären<br />

Rücktritt des Bonner AStA 1960 sowie die Massendemonstrationen zum 1. Juli 1965 nur am<br />

Rande und erwähnt e<strong>in</strong>en Sitzstreik von angeblich besonders unpolitischen weiblichen Studieren<strong>den</strong><br />

vor dem Düsseldorfer Kultusm<strong>in</strong>isterium zu Beg<strong>in</strong>n des Jahrzehnts mit ke<strong>in</strong>er Silbe.<br />

Dass der Autor auf diese Weise dem Thema <strong>in</strong>newohnendes Erkenntnispotenzial vergibt, ist schade.<br />

Besonderes Gewicht haben diese kle<strong>in</strong>eren Schwächen der Studie aber nicht, zumal sich jeder Leser<br />

se<strong>in</strong> eigenes Bild vom stetig steigen<strong>den</strong> Politisierungsgrad der Stu<strong>den</strong>tenschaft machen kann.<br />

Schwerer wiegt da die Tatsache, dass Spix die Radikalisierung der Studieren<strong>den</strong> ab etwa 1965 nur<br />

negativ, das heißt primär über Konflikte mit universitären und staatlichen Stellen, erklärt. Positive<br />

Politisierungsphänomene, wie sie beispielsweise <strong>in</strong> der stu<strong>den</strong>tischen Adaption von Forderungen anderer<br />

gesellschaftlicher Gruppen, namentlich l<strong>in</strong>ksliberalen Dozenten und Assistenten nachzuweisen<br />

s<strong>in</strong>d, bleiben somit außen vor. Auch die Impulse, die die Reformbemühungen der Politik <strong>in</strong>sbesondere<br />

im Hochschulbereich seit dem ersten Drittel der 1960er Jahre <strong>für</strong> die Stu<strong>den</strong>ten lieferten, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong><br />

dieser methodischen Verkürzung ausgeblendet. Zudem beraubt sich der Autor durch die Begrenzung<br />

des Untersuchungszeitraums bis zum Jahr 1967 der Möglichkeit, die strategische Dimension der<br />

Stu<strong>den</strong>tenrevolte aufzudecken. So verkennt Spix, dass die Radikalisierung der Bewegung weniger<br />

von außen bee<strong>in</strong>flusst als vielmehr „68“-immanent war.<br />

Dennoch ist das Buch une<strong>in</strong>geschränkt zu empfehlen, bietet es doch anhand ausgewählter Beispiele<br />

e<strong>in</strong>e empirisch fundierte, theoretisch versierte und wohltuend differenzierte Analyse der<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


250 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Wandlungsphänomene <strong>in</strong> der westdeutschen Stu<strong>den</strong>tenschaft. Damit hebt sich die Studie nicht nur<br />

von anderen Publikationen zum 40. Jahrestag der Revolte positiv ab. Sie löst auch voll und ganz <strong>den</strong><br />

Anspruch e<strong>in</strong>, <strong>den</strong> der Autor sich selbst gesetzt hat: Die Grundlage zu liefern <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en „systematischeren<br />

Vergleich der Stu<strong>den</strong>tenbewegung <strong>in</strong> der Bundesrepublik mit <strong>den</strong> Entwicklungen <strong>in</strong> anderen<br />

Ländern.“ (12)<br />

Anmerkung:<br />

[1] So zuletzt Axel Schildt: Die Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland bis 1989/90, München<br />

2007.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Franz Georg Strauß: Me<strong>in</strong> Vater. Er<strong>in</strong>nerungen, München: Herbig Verlag 2008, 295 S.,<br />

85 Abb., ISBN 978-3-7766-2573-8, EUR 19,95<br />

Rezensiert von Thomas Schlemmer<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 2<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/02/15334.html<br />

Dass Politiker ihren Lebensabend damit verbr<strong>in</strong>gen, Zeugnis<br />

abzulegen, ist nichts Neues. Schon Konrad A<strong>den</strong>auer, der<br />

Gründervater der Bundesrepublik, setzte mit se<strong>in</strong>en zwischen<br />

1965 und 1968 erschienenen Memoiren Maßstäbe. Helmut<br />

Kohl, der sich oft zum politischen Enkel des ersten Kanzlers<br />

stilisierte, tat es ihm gleich. Dass jedoch die K<strong>in</strong>der bekannter<br />

Politiker zur Feder greifen und ihre Sicht der D<strong>in</strong>ge schildern,<br />

ist eher selten – was man bedauern mag, <strong>den</strong>n gerade dieser<br />

spezielle Blickw<strong>in</strong>kel jenseits der Haupt- und Staatsaktionen<br />

wäre dazu angetan, neben der politischen Biografie auch<br />

menschliche Stärken und Schwächen e<strong>in</strong>flussreicher Persönlichkeiten<br />

besser zu verstehen.<br />

Zwanzig Jahre nach dem Tod se<strong>in</strong>es Vaters Franz Josef<br />

Strauß, der nach e<strong>in</strong>em Zusammenbruch bei e<strong>in</strong>em Jagdausflug<br />

am 3. Oktober 1988 <strong>in</strong> Regensburg starb, hat se<strong>in</strong> Zweitgeborener<br />

Franz Georg (Jahrgang 1961) se<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerungen<br />

an <strong>den</strong> Bundesm<strong>in</strong>ister, CSU-Vorsitzen<strong>den</strong> und bayerischen<br />

M<strong>in</strong>isterpräsi<strong>den</strong>ten veröffentlicht, der nicht nur e<strong>in</strong>e der prägendsten<br />

politischen Figuren der „alten“ Bundesrepublik, sondern<br />

auch e<strong>in</strong>e ihrer umstrittensten und polarisierendsten gewesen ist. Gerade dieser Aspekt ist es,<br />

der <strong>den</strong> Autor umtreibt. Franz Georg Strauß wirft sich geradezu <strong>für</strong> se<strong>in</strong>en Vater <strong>in</strong> die Bresche, der<br />

bis heute „<strong>in</strong> der Er<strong>in</strong>nerung der Menschen präsenter“ sei „als alle, die nach ihm aus dem politischen<br />

Leben ausgeschie<strong>den</strong> s<strong>in</strong>d“. Zahlreiche Berichte <strong>in</strong> <strong>den</strong> verschie<strong>den</strong>sten Medien hätten <strong>in</strong> ihm immer<br />

wieder die Frage hervorgerufen, ob er „im falschen Film sitze, ob hier nicht Leute etwas absichtlich<br />

missverstan<strong>den</strong> haben“. Die Er<strong>in</strong>nerungen von Franz Georg Strauß s<strong>in</strong>d also gleichsam aus der Defensive<br />

geschrieben und vom subjektiven Bemühen gekennzeichnet, <strong>den</strong> verehrten Vater <strong>in</strong> Schutz zu<br />

nehmen. Wer also hofft, von Vater-Sohn-Konflikten, Emanzipation und Ablösungsprozessen lesen<br />

zu können, wird enttäuscht.<br />

Franz Georg Strauß konzentriert sich auf die letzten Lebensjahre se<strong>in</strong>es Vaters, von se<strong>in</strong>er Wahl<br />

zum bayerischen M<strong>in</strong>isterpräsi<strong>den</strong>ten 1978 bis zu se<strong>in</strong>em Tod, die er als junger Erwachsener bewusst<br />

erlebt und begleitet hat. Die Kapitel des Buches s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Regel e<strong>in</strong>em Jahr gewidmet und<br />

stellen e<strong>in</strong> zentrales Ereignis <strong>in</strong> <strong>den</strong> Mittelpunkt (etwa die Kanzlerkandidatur von 1980 im dritten<br />

oder <strong>den</strong> Tod von Marianne Strauß im siebten Kapitel). Dabei bleibt der Verfasser freilich nicht stehen,<br />

sondern beschreibt <strong>in</strong> zahlreichen Rückgriffen und Exkursen die Karriere se<strong>in</strong>es Vaters und die


252 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Geschichte se<strong>in</strong>er Familie. Wer neue Informationen über das Zustandekommen politischer Entscheidungen<br />

erwartet, sollte nicht unbed<strong>in</strong>gt zu diesem Buch greifen. Franz Georg Strauß lehnt sich <strong>in</strong><br />

diesen Passagen vielfach stark an die Er<strong>in</strong>nerungen se<strong>in</strong>es Vaters an, die – Fragment geblieben –<br />

nach se<strong>in</strong>em Tod erschienen s<strong>in</strong>d. Dagegen kann sich die Lektüre <strong>für</strong> <strong>den</strong>jenigen lohnen, der Interesse<br />

an alltäglichen Geschichten aus der Familie e<strong>in</strong>es Spitzenpolitikers hat (dazu etwa die Teile über die<br />

ersten Jahre <strong>in</strong> Rott am Inn oder die Jugend unter der Glasglocke des Personenschutzes <strong>in</strong> <strong>den</strong> bleiernen<br />

Jahren des RAF-Terrorismus). Auch wer mehr über die zahlreichen Reisen von Franz Josef<br />

Strauß wissen will, auf die ihn se<strong>in</strong> Sohn oft begleitet hat, kommt auf se<strong>in</strong>e Kosten, wenn man davon<br />

absieht, dass Franz Georg Strauß offenbar mehr Gespür <strong>für</strong> Land und Leute entwickelt hat als <strong>für</strong><br />

Politik.<br />

Wer von Franz Josef Strauß spricht, kann von <strong>den</strong> Affären, die se<strong>in</strong>e Karriere begleiteten, nicht<br />

schweigen. Se<strong>in</strong> Sohn kommt um dieses Thema ebenfalls nicht herum, auch wenn er es <strong>in</strong> spezifischer<br />

Weise abhandelt, <strong>den</strong>n aus se<strong>in</strong>er Sicht waren diese Affären das Ergebnis politischer Intrigen<br />

und öffentlicher Kampagnen. Franz Georg Strauß lässt sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Urteilen von e<strong>in</strong>em klaren<br />

Freund-Fe<strong>in</strong>d-Schema leiten, wobei es ihm vor allem darauf ankommt, se<strong>in</strong>en Vater und se<strong>in</strong>e Geschwister<br />

Max Josef und Monika <strong>in</strong> Schutz zu nehmen und die Familie Strauß als Monolith ohne<br />

Angriffspunkte ersche<strong>in</strong>en zu lassen. Die Fe<strong>in</strong>de stehen <strong>für</strong> ihn <strong>in</strong> <strong>den</strong> Reihen der Journalisten (namentlich<br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong> Redaktionen des „Stern“, des „Spiegel“ und der „Süddeutschen Zeitung“) und der SPD,<br />

aber auch im bayerischen Justiz- und Beamtenapparat und sogar <strong>in</strong> der CSU, der vorgeworfen wird,<br />

das Erbe von Franz Josef Strauß verspielt und die Familie nach se<strong>in</strong>em Tod im Stich gelassen zu<br />

haben. Man sei „ohne Aussicht auf gerechte Behandlung“, ja „schutzlos“ gewesen und habe „<strong>in</strong><br />

Bayern mit ke<strong>in</strong>erlei Unterstützung rechnen“ können. Das Urteil über e<strong>in</strong>stige Größen der CSU –<br />

von Kurt Faltlhauser über Edmund Stoiber und Max Streibl – fällt entsprechend harsch aus. Man<br />

glaubt fast, e<strong>in</strong>e gewisse Scha<strong>den</strong>freude über die Krise der bayerischen Staatspartei nach Stoibers erzwungenem<br />

Abgang im Jahr 2007 zu erkennen und <strong>den</strong> erhobenen Zeigef<strong>in</strong>ger des Autors zu sehen:<br />

Hätte die CSU <strong>den</strong> von Franz Josef Strauß vorgezeichneten Pfad der Tugend, gekennzeichnet durch<br />

Bürgernähe, Mitmenschlichkeit, Augenmaß und staatlichen E<strong>in</strong>fluss auf die Wirtschaft, nicht verlassen,<br />

wäre ihr auch der Erfolg weiterh<strong>in</strong> sicher gewesen. Es darf bezweifelt wer<strong>den</strong>, dass man Franz<br />

Josef Strauß auf diese Weise gerecht wird und dass die Antwort auf die Krise der Volksparteien, die<br />

auch die CSU zu spüren bekommt, so e<strong>in</strong>fach ist.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Raul Teitelbaum: Die biologische Lösung. Wie die Schoah „wiedergutgemacht“ wurde,<br />

Spr<strong>in</strong>ge: zu Klampen! Verlag 2008, 367 S., ISBN 978-3-86674-026-6, EUR 24,80<br />

Rezensiert von Constant<strong>in</strong> Goschler<br />

Ruhr-Universität Bochum<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 10<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/10/15896.html<br />

„Die biologische Lösung“: Mit diesem knalligen Titel ist es<br />

Raul Teitelbaum gelungen, die These se<strong>in</strong>es Buches <strong>in</strong> griffiger<br />

Weise zu verdichten. Inhaltlich und temporal schließt<br />

dies gewissermaßen an Christian Pross’ Studie „Wiedergutmachung.<br />

Der Kle<strong>in</strong>krieg gegen die Opfer“ [1] an. Und ähnlich<br />

wie der sprichwörtlich gewor<strong>den</strong>e Titel dieses Buches ist<br />

auch der suggestive Titel von Teitelbaums Studie auf dem<br />

besten Weg, sich vom Buchdeckel zu lösen und <strong>in</strong> <strong>den</strong> öffentlichen<br />

Diskurs e<strong>in</strong>zusickern. Pross hatte <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er 1988, auf<br />

dem Höhepunkt der Kampagne zugunsten der „vergessenen<br />

Opfer“ des Nationalsozialismus, erschienenen Studie <strong>den</strong> anklagen<strong>den</strong><br />

F<strong>in</strong>ger vor allem auf die deutsche Entschädigungsbürokratie<br />

gerichtet. Dagegen entwirft Teitelbaum nun das<br />

Bild e<strong>in</strong>er komplizenhaften Verschwörung, an der neben deutschen<br />

und israelischen Politikern und Beamten nicht zuletzt<br />

auch die Jewish Claims Conference partizipiert habe. Geme<strong>in</strong>sam<br />

hätten diese versucht, die Entschädigungsansprüche<br />

jüdischer NS-Verfolgter auf die lange Bank zu schieben, und<br />

damit erreicht, dass e<strong>in</strong> Großteil aus dieser Gruppe niemals<br />

e<strong>in</strong>e Entschädigung <strong>für</strong> ihre Lei<strong>den</strong> während des Holocaust erhalten habe.<br />

Um es kurz zu machen: Das stimmt so e<strong>in</strong>fach nicht und es ließe sich nun e<strong>in</strong>e lange Liste historischer<br />

Irrtümer <strong>in</strong> diesem Buch anführen. Neben e<strong>in</strong>er durchaus selektiven Wahrnehmung der mittlerweile<br />

umfangreichen Sekundärliteratur sowie der Quellen trägt dazu auch der – zurückhaltend<br />

formuliert – voluntaristische Umgang mit Zahlen und Statistiken bei. Um nur e<strong>in</strong> Beispiel da<strong>für</strong> anzugeben:<br />

Teitelbaum argumentiert, dass der Staat Israel das Fünffache dessen <strong>für</strong> Invali<strong>den</strong>renten an<br />

<strong>in</strong>dividuelle Holocaustüberlebende ausgegeben habe, was er von der Bundesrepublik aufgrund des<br />

Luxemburger Abkommens von 1952 erhalten habe. Demgegenüber kam e<strong>in</strong>e israelische Regierungskommission,<br />

welche die Kapitalisierung dieser bei<strong>den</strong> Positionen berücksichtigte, jüngst zu dem Ergebnis,<br />

wonach der Wert der bislang ausbezahlten Renten nur zwischen e<strong>in</strong>em Drittel und der Hälfte<br />

des Wertes der von Deutschland gelieferten Waren und Güter gelegen habe. [2] Auch sonst s<strong>in</strong>d die<br />

Zahlenangaben <strong>in</strong> diesem Buch jeweils um <strong>den</strong> größten dramatischen moralischen Effekt bemüht,<br />

ohne dass e<strong>in</strong>e sorgfältige Ause<strong>in</strong>andersetzung mit deren Grundlagen und Zustandekommen erfolgt<br />

wäre. Als Fachhistoriker müsste man also erst e<strong>in</strong>mal die gelbe Karte zücken.


254 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Alternativ ließe sich aber auch versuchen, dieses Buch an se<strong>in</strong>em eigenen Anspruch zu messen:<br />

Es handelt sich um die subjektive Erlebnisschilderung e<strong>in</strong>es vom Holocaust persönlich betroffenen<br />

Journalisten und Publizisten, der, zum<strong>in</strong>dest soweit es die letzten Jahrzehnte betrifft, auch über die<br />

Entschädigungsangelegenheiten aus der Teilnehmerperspektive berichtet und sich kaum die Mühe<br />

macht, se<strong>in</strong>e aus der Zeitzeugenperspektive gewonnenen persönlichen E<strong>in</strong>drücke zu objektivieren.<br />

Das ist legitim, doch da dieses Buch andererseits mit dem Anspruch auftritt, nicht nur die persönliche<br />

Me<strong>in</strong>ung des Autors zu vertreten, sondern e<strong>in</strong>e gültige Gesamt<strong>in</strong>terpretation der Entschädigung<br />

<strong>für</strong> jüdische NS-Verfolgte zu bieten, ist zu viel Nachsicht wiederum auch nicht angebracht. Dies gilt<br />

umso mehr, als dieses Buch vermutlich vor allem Leser außerhalb der Fachwelt erreichen dürfte.<br />

Ungenau und fehlerhaft ist dieses Buch <strong>in</strong>sbesondere überall dort, wo es die allgeme<strong>in</strong>e Geschichte<br />

der Entschädigung bzw. Nichtentschädigung jüdischer NS-Verfolgter beschreibt. Während diese<br />

Teile zudem auch noch kaum neue Informationen enthalten, s<strong>in</strong>d die letzten Teile des Buches, die<br />

sich mit <strong>den</strong> <strong>in</strong>nerisraelischen Kontroversen zur Entschädigungsfrage beschäftigen, zwar gleichfalls <strong>in</strong><br />

vielerlei H<strong>in</strong>sicht kritikwürdig. Aber immerh<strong>in</strong> enthalten diese – zum<strong>in</strong>dest <strong>für</strong> <strong>den</strong> deutschen Leser<br />

– mancherlei Neues, zumal wenn es um die israelische Entschädigungsdebatte der letzten Jahre geht.<br />

Dabei zeigt sich <strong>in</strong> Teitelbaums Argumentation <strong>in</strong> zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>er H<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong>e gewisse Nähe zu<br />

dem vor e<strong>in</strong>igen Jahren skandalisierten Buch von Norman F<strong>in</strong>kelste<strong>in</strong> über die „Holocaust Industry“<br />

[3]: Beide gehen vor dem H<strong>in</strong>tergrund eigener biografischer Erfahrungen von der angeblichen Benachteiligung<br />

<strong>in</strong>dividueller Holocaustüberlebender bei der Entschädigung durch die Jewish Claims<br />

Conference bzw. auch <strong>den</strong> israelischen Staat aus. Für F<strong>in</strong>kelste<strong>in</strong> war dies allerd<strong>in</strong>gs vor allem e<strong>in</strong><br />

argumentatives Sprungbrett <strong>für</strong> se<strong>in</strong>en radikalen Antizionismus. Bei Teitelbaum kann von solchen<br />

Anwandlungen dagegen ke<strong>in</strong>erlei Rede se<strong>in</strong>: Was bei F<strong>in</strong>kelste<strong>in</strong> zum Vorwand <strong>für</strong> das Ausleben<br />

se<strong>in</strong>er radikalen Israelfe<strong>in</strong>dschaft wurde, stellt bei ihm das eigentliche Anliegen dar.<br />

Man sollte dieses Buch daher vielleicht besser nicht als wissenschaftliche Ause<strong>in</strong>andersetzung mit<br />

der Entschädigung oder Nichtentschädigung jüdischer Holocaustopfer lesen – da<strong>für</strong> enthält es e<strong>in</strong>fach<br />

zu viele schiefe E<strong>in</strong>schätzungen und Fehler. Lesenswert ist dieses Buch h<strong>in</strong>gegen als e<strong>in</strong> Dokument<br />

der jahrzehntelangen und immer noch anhalten<strong>den</strong> Ause<strong>in</strong>andersetzung um die schwierige<br />

Frage, wer legitimerweise die Interessen der leben<strong>den</strong> und vor allem auch der toten jüdischen Holocaustopfer<br />

vertritt.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Christian Pross: Wiedergutmachung. Der Kle<strong>in</strong>krieg gegen die Opfer, Berl<strong>in</strong> 2001 (Nachdruck<br />

der Ausgabe Frankfurt a.M. 1988).<br />

[2] José Brunner/Norbert Frei/Constant<strong>in</strong> Goschler: Komplizierte Lernprozesse. Zur Geschichte<br />

und Aktualität der Wiedergutmachung, <strong>in</strong>: Die Praxis der Wiedergutmachung. Geschichte, Erfahrung<br />

und Wirkung <strong>in</strong> Deutschland und Israel, hrsg. von José Brunner/Norbert Frei/Constant<strong>in</strong><br />

Goschler, Gött<strong>in</strong>gen 2009, 33.<br />

[3] Norman G. F<strong>in</strong>kelste<strong>in</strong>: The Holocaust Industry. Reflections on the Exploitation of Jewish Suffer<strong>in</strong>g,<br />

London/New York 2000.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Jörg Treffke: Gustav He<strong>in</strong>emann – Wanderer zwischen <strong>den</strong> Parteien. E<strong>in</strong>e politische<br />

Biographie, Paderborn: Schön<strong>in</strong>gh 2009, 367 S., ISBN 978-3-506-76745-5, EUR 39,90<br />

Rezensiert von Tim Szatkowski<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 12<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/12/15551.html<br />

Seit längerer Zeit war sie angekündigt, jetzt ist sie erschienen:<br />

Jörg Treffkes politische Biographie über Gustav He<strong>in</strong>emann.<br />

Grundsätzlich ist dieses Vorhaben sehr zu begrüßen, liegen<br />

doch bisher lediglich über zwei Inhaber des höchsten Staatsamts<br />

wissenschaftliche Biographien vor, nämlich über He<strong>in</strong>rich<br />

Lübke und Karl Carstens. Selbst der erste Bundespräsi<strong>den</strong>t,<br />

Theodor Heuss, der <strong>für</strong> das Amt <strong>in</strong> hohem Maße stilbil<strong>den</strong>d<br />

wirkte, ist bisher nicht Gegenstand e<strong>in</strong>er großen biographischen<br />

Abhandlung gewesen, auch wenn glänzende, kürzere<br />

Porträts und andere Veröffentlichungen zu spezifischen Gesichtspunkten<br />

se<strong>in</strong>er Präsi<strong>den</strong>tschaft existieren.<br />

Umso erstaunter ist der Leser nach e<strong>in</strong>em ersten Blick <strong>in</strong><br />

das Inhaltsverzeichnis der nun vorliegen<strong>den</strong> He<strong>in</strong>emann-<br />

Biographie. Treffke widmet der Präsi<strong>den</strong>tschaft se<strong>in</strong>es „Hel<strong>den</strong>“<br />

im achten Kapitel gerade e<strong>in</strong>mal 25 Seiten, also nur<br />

rund zehn Prozent des Haupttextes. Noch dazu präsentiert er<br />

He<strong>in</strong>emann schon nach weniger als 20 Seiten als „Altbundespräsi<strong>den</strong>ten<br />

im Unruhestand“, was auch e<strong>in</strong>en Aussetzer <strong>in</strong><br />

der ansonsten strengen chronologischen Abfolge bedeutet.<br />

Das erste Erstaunen verwandelt sich nach der Durchsicht der E<strong>in</strong>leitung <strong>in</strong> Ratlosigkeit. Hier kündigt<br />

der Autor an, e<strong>in</strong>e „parteipolitische“ Biographie vorzulegen. Diese erhebe nicht <strong>den</strong> Anspruch,<br />

alle Phasen der beruflichen und politischen Laufbahn He<strong>in</strong>emanns abzudecken. So sollen se<strong>in</strong>e Jahre<br />

als Bundes<strong>in</strong>nen- und Bundesjustizm<strong>in</strong>ister sowie als Bundespräsi<strong>den</strong>t nur „am Rande“ (12) an-<br />

geschnitten wer<strong>den</strong>. E<strong>in</strong> solches Projekt kollidiert natürlich mit dem Untertitel der Arbeit, der e<strong>in</strong>e<br />

politische Biographie verspricht, von der erwartet wird, dass sie gerade diese Phasen e<strong>in</strong>er kritischen<br />

und ausführlichen Untersuchung unterzieht. Insoweit liegt – das harte Wort sei dem Rezensenten<br />

nachgesehen – e<strong>in</strong>e Mogelpackung vor.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs verfügt die Biographie auch über große Vorzüge. Dazu gehört unter anderem, dass der<br />

Verfasser se<strong>in</strong> Werk auf der Basis zahlreicher ungedruckter Quellen geschrieben hat. Se<strong>in</strong> Studium<br />

des Archivmaterials ist ohne Zweifel positiv zu vermerken. E<strong>in</strong>e Ausnahme gibt es allerd<strong>in</strong>gs: Bei<br />

der Beschreibung der Quellenlage weist Treffke darauf h<strong>in</strong>, dass die Akten des Bundespräsidialamts<br />

geholfen hätten, He<strong>in</strong>emanns Jahre als Staatsoberhaupt nachzuzeichnen. Aber die Durchsicht der<br />

Anmerkungen zum achten Kapitel ergibt, dass nur e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Dokument aus dem Bestand Bundespräsidialamt<br />

im Bundesarchiv <strong>in</strong> Koblenz herangezogen wurde. Das ist enttäuschend. Nicht zuletzt


256 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

wurde damit e<strong>in</strong>e große Chance vertan, <strong>den</strong>n die Akten aus <strong>den</strong> Jahren der Präsi<strong>den</strong>tschaft He<strong>in</strong>emanns<br />

unterliegen eben nicht mehr der 30-Jahres-Sperrfrist und hätten vermutlich e<strong>in</strong>e erhebliche<br />

Bereicherung dargestellt. „Wer mit dem Zeigef<strong>in</strong>ger allgeme<strong>in</strong>er Vorwürfe auf <strong>den</strong> [...] Drahtzieher<br />

zeigt, sollte daran <strong>den</strong>ken, daß [...] zugleich drei andere F<strong>in</strong>ger auf ihn selbst zurückweisen.“ Diesen<br />

wunderbaren Ausspruch He<strong>in</strong>emanns zitiert Treffke auf Seite 202, und er ist sicher auch <strong>in</strong> diesem<br />

Fall anwendbar. Dennoch muss das beschriebene Manko konstatiert wer<strong>den</strong>.<br />

Zu <strong>den</strong> besten Abschnitten dieses Werkes zählt das (vierte) Kapitel über He<strong>in</strong>emann und das<br />

‚Dritte Reichʻ. Völlig zu Recht räumt Treffke mit dem Mythos auf, He<strong>in</strong>emann sei als Mitglied der<br />

Bekennen<strong>den</strong> Kirche e<strong>in</strong> aktiver Widerstandskämpfer gewesen. Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er<br />

die Auffassung vertritt, He<strong>in</strong>emanns Weg der „beschränkte[n] Kooperation“ mit dem NS-Regime sei<br />

diesem „aus nicht immer nachvollziehbaren Grün<strong>den</strong>“ (75) – im Gegensatz etwa zu Kurt Georg Kies<strong>in</strong>ger<br />

oder Karl Carstens – später nicht mehr vorgehalten wor<strong>den</strong>. Präzise kommt Treffke zu folgender<br />

E<strong>in</strong>schätzung: „Se<strong>in</strong> Widerstand galt ausschließlich dem Alle<strong>in</strong>herrschaftsanspruch der Deutschen<br />

Christen, nicht dem der Nationalsozialisten. Es sollten kirchliche Verhältnisse geändert wer<strong>den</strong>,<br />

nicht staatliche.“ (85) Dabei geht es ihm überhaupt nicht darum, He<strong>in</strong>emann <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Weise zu<br />

beschädigen. So macht er deutlich, dass He<strong>in</strong>emann mit se<strong>in</strong>em Engagement <strong>für</strong> die Bekennende<br />

Kirche durchaus e<strong>in</strong> „gewisses persönliches Risiko“ (79) e<strong>in</strong>g<strong>in</strong>g. Doch letztlich kommt er zu e<strong>in</strong>em<br />

differenzierten Urteil, das besonders erfreulich ist, weil es eben darum geht, der historischen Realität<br />

möglichst nahe zu kommen.<br />

Gut gelungen ist schließlich auch das sechste Kapitel, das sich mit der Gründung der Gesamtdeutschen<br />

Volkspartei durch He<strong>in</strong>emann und ihrem raschen Niedergang beschäftigt. Die Frage, ob sie<br />

f<strong>in</strong>anzielle Unterstützung aus dem Osten Deutschlands erhielt, wird unmissverständlich bejaht. Zum<br />

e<strong>in</strong>en sicherte das Zusammengehen mit dem <strong>in</strong> jeder H<strong>in</strong>sicht verdächtigen Bund der Deutschen<br />

f<strong>in</strong>anzielle Zuwendungen, zum anderen flossen Gelder von der KPD an die GVP. Wusste auch He<strong>in</strong>emann<br />

von diesen dubiosen Machenschaften? Treffke stellt fest, es sei kaum vorstellbar, dass er nicht<br />

<strong>in</strong>formiert gewesen sei: „Ansche<strong>in</strong>end war He<strong>in</strong>emann bereit, sich <strong>in</strong> die Abhängigkeit der DDR-<br />

Machthaber zu begeben, um se<strong>in</strong> politisches Projekt nicht vorzeitig scheitern zu sehen.“ (148 f.) E<strong>in</strong><br />

erfreulich klares Urteil.<br />

Ausführlich beschäftigt sich Treffke mit <strong>den</strong> Grün<strong>den</strong> <strong>für</strong> die Demission He<strong>in</strong>emanns vom Amt<br />

des Bundes<strong>in</strong>nenm<strong>in</strong>isters im Oktober 1950. Es greift jedoch zu kurz, die Tätigkeit des ersten Innenm<strong>in</strong>isters<br />

der jungen Bundesrepublik Deutschland auf <strong>den</strong> Konflikt mit Konrad A<strong>den</strong>auer zu konzentrieren.<br />

Gerne hätte man mehr erfahren, zum Beispiel, wie er das M<strong>in</strong>isterium organisierte, welche<br />

besonderen Probleme sich <strong>in</strong> der Aufbauphase stellten, wie er mit der E<strong>in</strong>stellung politisch belasteter<br />

Personen umg<strong>in</strong>g. Auch die maßgeblichen Reformprojekte des Bundesjustizm<strong>in</strong>isters He<strong>in</strong>emann <strong>in</strong><br />

<strong>den</strong> Jahren von 1966 bis 1969 – deren Bedeutung Treffke zutreffend hoch veranschlagt – wer<strong>den</strong> auf<br />

gerade e<strong>in</strong>mal sieben Seiten viel zu kursorisch behandelt.<br />

Arg enttäuscht wird der Leser dann mit dem kurzen Abschnitt über die fünfjährige Präsi<strong>den</strong>tschaft<br />

He<strong>in</strong>emanns. Schon vor über zwanzig Jahren hat Wolfgang Jäger dazu im fünften Band der „Geschichte<br />

der Bundesrepublik“ ähnliche Informationen gegeben. Dah<strong>in</strong>ter fast noch zurückzufallen,<br />

kann nicht als eigenständige Forschungsleistung bezeichnet wer<strong>den</strong>. Das Amtsverständnis des dritten<br />

Bundespräsi<strong>den</strong>ten wird nur oberflächlich untersucht, und schon gar nicht im Vergleich mit <strong>den</strong><br />

anderen Amts<strong>in</strong>habern. Ke<strong>in</strong>e Rede He<strong>in</strong>emanns wird genauer analysiert, und die Frage, <strong>in</strong>wieweit<br />

er mit se<strong>in</strong>en öffentlichen Äußerungen <strong>den</strong> „Machtwechsel“ von 1969 begleitete oder förderte, nur<br />

am Rande thematisiert.<br />

Fazit: Es ist völlig legitim, e<strong>in</strong>e „parteipolitische“ Biographie zu schreiben; schließlich gehörte<br />

He<strong>in</strong>emann im Laufe se<strong>in</strong>er bewegten politischen Karriere fünf verschie<strong>den</strong>en Parteien an und eignet<br />

sich somit bestens dazu. Es ist aber nicht legitim, dann e<strong>in</strong>e politische Biographie anzukündigen. So<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


257 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

liegt e<strong>in</strong>e Arbeit vor, die <strong>in</strong> Teilen sehr zu überzeugen weiß, <strong>in</strong> anderen wiederum deutlich weniger.<br />

Die Schwäche liegt <strong>in</strong> der Regel nicht <strong>in</strong> dem, was geschrieben, sondern <strong>in</strong> dem, was alles nicht behandelt<br />

wurde. Gleichwohl hat sich Treffke mit konzisen, abgewogenen Urteilen über wichtige<br />

Probleme im Zusammenhang mit der Biographie He<strong>in</strong>emanns verdient gemacht.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Matthias Uhl: Die Teilung Deutschlands. Niederlage, Ost-West-Spaltung und Wiederaufbau<br />

1945–1949, (= Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert; Bd. 11), Berl<strong>in</strong>: be.bra verlag 2009,<br />

208 S., ISBN 978-3-89809-411-5, EUR 19,90<br />

Rezensiert von Heike Amos<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 12<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/12/16215.html<br />

Obwohl mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Mai 1945<br />

noch nicht entschie<strong>den</strong> war, dass es zur Bildung zweier deutscher<br />

Staaten – der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen<br />

Demokratischen Republik – und deren Integration <strong>in</strong><br />

gegensätzliche Machtblöcke kommen würde, deutete sich bereits<br />

früh an, dass der Kalte Krieg und die folgende Teilung<br />

Europas und Deutschlands die wahrsche<strong>in</strong>lichste Lösung des<br />

Konflikts zwischen der UdSSR und <strong>den</strong> Westmächten wer<strong>den</strong><br />

würde. Damit entwickelte sich das <strong>in</strong> der Mitte Europas gelegene<br />

Deutschland nicht, wie ursprünglich erhofft und vorgesehen,<br />

zum Stabilisierungsfaktor zwischen <strong>den</strong> bei<strong>den</strong> Großmächten,<br />

sondern zum Objekt und Opfer ihrer Ause<strong>in</strong>andersetzungen.<br />

„Dass diese Konfrontation nicht plötzlich e<strong>in</strong>trat<br />

und dass zwischen 1945 und 1949 immer wieder Chancen <strong>für</strong><br />

e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Lösung der deutschen Frage bestan<strong>den</strong>“ (9 f.),<br />

zeigt der Autor <strong>in</strong> sieben Kapiteln.<br />

Anhand der Darstellung des unmittelbaren Kriegsendes, der<br />

akuten Nachkriegsprobleme wie Hunger, Wohnungsnot, Trümmerlandschaften,<br />

Umgang mit Kriegsverbrechern, NS-Opferentschädigung<br />

sowie dem Schicksal der Vertriebenen, Kriegsgefangenen, Repatriierten und Remigranten<br />

wer<strong>den</strong> ähnliche, aber auch erste unterschiedliche Entwicklungswege <strong>in</strong> Ost- und Westdeutschland<br />

aufgezeigt. In allgeme<strong>in</strong> verständlicher Weise wird die sowjetische der westlichen Besatzungsherrschaft<br />

gegenübergestellt. Entwicklungen <strong>in</strong> der Sowjetischen Besatzungszone wer<strong>den</strong> mit <strong>den</strong>en<br />

der westlichen Bizone (bzw. Trizone) verglichen. Der beg<strong>in</strong>nende Kalte Krieg wird an <strong>den</strong> Währungsreformen<br />

1948 und der Berl<strong>in</strong>-Blockade festgemacht. Die Studie schließt mit dem Vollzug der<br />

staatlichen Teilung Deutschlands durch die Konstituierung der Bundesrepublik und der DDR. An<br />

e<strong>in</strong>zelnen Eckpunkten – wie der Parteienbildung <strong>in</strong> <strong>den</strong> vier Zonen, dem Aufbau der Zentralverwaltungen<br />

im Osten und der Bizonen-Verwaltung im Westen, der Volkskongressbewegung mit dem<br />

Deutschen Volksrat sowie der Bildung und Arbeit des Parlamentarischen Rates – macht der Band<br />

auch deutlich, „dass unter dem E<strong>in</strong>fluss der jeweiligen Besatzungsmächte die Deutschen [...] <strong>in</strong> West<br />

und Ost [...] <strong>den</strong> Weg zur deutschen Zweistaatlichkeit teils sogar bereitwillig beschritten“ (10).<br />

Sehr gut gelungen s<strong>in</strong>d die vergleichen<strong>den</strong> Abschnitte über die unterschiedlichen, <strong>in</strong>sbesondere<br />

ökonomischen Ausgangsbed<strong>in</strong>gungen, Reparationen und Demontagen und über die Vorgehensweise<br />

<strong>in</strong> der Entnazifizierung und die Reeducation-Pläne der vier alliierten Besatzungsmächte. Ausgewogen


259 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

erörtert wird die „erste Schlacht des Kalten Krieges 1948“ (165) anhand der Währungsreformen, der<br />

Berl<strong>in</strong>-Blockade und der alliierten Luftbrücke.<br />

Dass der Historiker Matthias Uhl e<strong>in</strong> Spezialist <strong>für</strong> die historische Erforschung der sowjetischen<br />

Geheim- und Nachrichtendienste im Kalten Krieg ist, wird <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Kapitelabschnitten allzu deutlich,<br />

was der populären Überblicksdarstellung nicht zuträglich ist. Das Kapitel über die sowjetische<br />

Besatzungsherrschaft bzw. SBZ ist überfrachtet mit Fakten und Zahlen über <strong>den</strong> Aufbau des sowjetischen<br />

Sicherheitsapparates <strong>in</strong> <strong>den</strong> von der Roten Armee besetzten Gebieten. Der sowjetische Geheimdienst<br />

– der NKWD/NKGB-Apparat und die Militärabwehr Smersch – hatte die Aufgabe, nicht nur<br />

Kriegs- und Naziverbrecher, verbliebene faschistische Untergrundgruppen und politische Gegner der<br />

UdSSR zu verfolgen sondern auch Informationen über politische Vorgänge im besetzten Deutschland,<br />

beispielsweise die parteipolitische Situation <strong>in</strong> der SBZ zu beschaffen und e<strong>in</strong> Spionagenetz <strong>in</strong><br />

<strong>den</strong> westlichen Besatzungszonen zu <strong>in</strong>stallieren. Für <strong>den</strong> Zeithistoriker s<strong>in</strong>d diese und die detaillierten<br />

Ausführungen über die sowjetischen Spionageagenturen und Spionageoperationen <strong>in</strong> <strong>den</strong> westlichen<br />

Besatzungszonen <strong>in</strong>teressant, aber es fehlt jeder Vergleich mit <strong>den</strong> Spionageapparaten der<br />

Amerikaner, Briten und Franzosen im Zonen-Deutschland und im sektorengeteilten Berl<strong>in</strong>, die es<br />

doch auch gegeben hat.<br />

Die vorliegende Band wendet sich an e<strong>in</strong>en breiten, an der deutschen <strong>Zeitgeschichte</strong> allgeme<strong>in</strong> <strong>in</strong>teressierten<br />

Leserkreis. Er ist <strong>in</strong> weiten Teilen populär und allgeme<strong>in</strong> verständlich geschrieben und<br />

gibt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Auswahlbibliographie Literaturempfehlungen <strong>für</strong> jene, die sich mit e<strong>in</strong>zelnen Fragen<br />

und Themen der Ost-West-Spaltung Deutschlands und des beg<strong>in</strong>nen<strong>den</strong> Wiederaufbaus <strong>in</strong> <strong>den</strong> Jahren<br />

zwischen 1945 und 1949 vertieft und <strong>in</strong>tensiver beschäftigen wollen.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Jens Wegener: Die Organisation Gehlen und die USA. Deutsch-amerikanische Geheimdienstbeziehungen,<br />

1945–1949 (= Studies <strong>in</strong> Intelligence History; Vol. 2), Münster/Hamburg/Berl<strong>in</strong>/<br />

London: LIT 2008, 146 S., ISBN 978-3-8258-1395-6, EUR 19,90<br />

Rezensiert von Arm<strong>in</strong> Wagner<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Frie<strong>den</strong>sforschung und Sicherheitspolitik, Hamburg<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 10<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/10/15013.html<br />

Jahrzehntelang stammten alle Informationen über die Anfangsjahre<br />

des westdeutschen Auslandsnachrichtendienstes aus nur<br />

zwei Quellen: Den 1971 veröffentlichten Memoiren „Der<br />

Dienst“ von dessen Chef Re<strong>in</strong>hard Gehlen und dem im selben<br />

Jahr erschienenen Buch „Pullach <strong>in</strong>tern“ der Journalisten Hermann<br />

Zoll<strong>in</strong>g und He<strong>in</strong>z Höhne. Zoll<strong>in</strong>g und Höhne waren<br />

über die Spionagetätigkeit der „Organisation Gehlen“ (OG)<br />

und des Bundesnachrichtendienstes (BND), wie der Apparat<br />

seit Übernahme <strong>in</strong> die Verwaltung des Bundes 1956 hieß,<br />

nicht schlecht <strong>in</strong>formiert. Ihr Buch war jedoch auch e<strong>in</strong> politisches<br />

Projekt: Es sollte nicht zuletzt zeigen, welcher Machtkampf<br />

sich h<strong>in</strong>ter <strong>den</strong> Mauern des Dienstsitzes <strong>in</strong> Pullach bei<br />

München nach Übernahme der Regierungsgeschäfte durch<br />

die SPD/FDP-Koalition 1969 abspielte. Kanzleramtsm<strong>in</strong>ister<br />

Horst Ehmke und von ihm ausgewählte Spitzenbeamte zielten<br />

darauf, die alten Seilschaften aus <strong>den</strong> Tagen des ‚Dritten Reichesʻ<br />

und der Ära A<strong>den</strong>auer unter Kontrolle zu bekommen.<br />

Trotz ihres kritischen Zugangs folgen aber letztlich auch Zoll<strong>in</strong>g<br />

und Höhne mit wenigen Abstrichen dem Gründungsmythos Gehlens, dieser habe <strong>den</strong> Amerikanern<br />

quasi die Spielregeln <strong>für</strong> <strong>den</strong> Aufbau des Dienstes diktiert. Nur wenige Generale der Wehrmacht<br />

mögen am Bild der sauber kämpfen<strong>den</strong> Truppe, die durch politisches Vabanque <strong>in</strong> <strong>den</strong> Ru<strong>in</strong> geführt<br />

wurde, so erfolgreich gefeilt haben wie Erich von Manste<strong>in</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en „Verlorenen Siegen“. Ganz<br />

sicher aber hat es ke<strong>in</strong> anderer so gut verstan<strong>den</strong>, um sich herum e<strong>in</strong>en Schleier des Geheimnisses<br />

aufzubauen wie Re<strong>in</strong>hard Gehlen, der seit 1942 im Generalstab des Heeres die Abteilung „Fremde<br />

Heere Ost“ geleitet hatte und nach Kriegsende bis 1968 an der Spitze der OG und des BND stand.<br />

Besonders die Gründungsgeschichte der OG ersche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> Gehlens Memoiren als Deal zwischen<br />

Amerikanern und – gleichberechtigten – deutschen Offizieren.<br />

Erst <strong>in</strong> <strong>den</strong> vergangenen Jahren brachten freigegebene Akten neue Kenntnisse ans Licht und zogen<br />

weitere Publikationen nach sich. [1] So hat Wolfgang Krieger auf der Grundlage der amerikanischen<br />

Aktenedition <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Aufsatz die entschei<strong>den</strong>de Rolle des amerikanischen Militärs und der nachrichtendienstlichen<br />

Community <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton hervorgehoben. [2] In se<strong>in</strong>er Magisterarbeit folgt Jens<br />

Wegener diesem Pfad. Er stützt sich neben der noch immer überschaubaren Literatur vor allem auf


261 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Quellen aus <strong>den</strong> National Archives <strong>in</strong> Maryland. In se<strong>in</strong>em schmalen Bändchen wird aus der vornehmlich<br />

deutschen Saga Gehlens e<strong>in</strong>e sehr amerikanische Geschichte, welche die Gründung der<br />

OG <strong>in</strong> gelungener Weise <strong>in</strong> die Entnazifizierungs- und Entmilitarisierungspolitik sowie die unterschiedlichen<br />

Konzeptionen nachrichtendienstlicher Tätigkeit gegen die Sowjets e<strong>in</strong>bettet.<br />

Während Gehlen mit e<strong>in</strong>igen se<strong>in</strong>er Mitarbeiter im August 1945 zu Verhören <strong>in</strong> die USA aus-<br />

geflogen wurde, begann schon im Spätsommer dieses Jahres durch deutsche Wehrmachtoffiziere die<br />

Informationsbeschaffung aus der Sowjetischen Besatzungszone – unter Leitung der U.S. Army. Hermann<br />

Baun, e<strong>in</strong> des Russischen mächtiger Profi der früheren deutschen UdSSR-Aufklärung, führte<br />

auf deutscher Seite die Offiziersgruppe. Doch die Interessen der Amerikaner waren durchaus widersprüchlich.<br />

Während die Army und <strong>in</strong> der ersten Berl<strong>in</strong>krise alsbald auch die Air Force schnell<br />

Kenntnisse zum Streitkräftedispositiv der Sowjets und deren taktisch-operativen Möglichkeiten erlangen<br />

wollten, misstraute die Heeresspionageabwehr <strong>den</strong> deutschen Offizieren. Das nicht etwa vorrangig,<br />

weil dort Nazis saßen – das CIC kooperierte selbst zum Beispiel mit dem ehemaligen Gestapo-<br />

Chef von Lyon, Klaus Barbie. Vielmehr wollte man unmittelbar nach dem Krieg ke<strong>in</strong>en offensiv<br />

agieren<strong>den</strong> deutschen Geheimdienst unter amerikanischer Flagge gegen <strong>den</strong> sowjetischen Kriegsalliierten<br />

<strong>in</strong> Stellung br<strong>in</strong>gen. Die hohe Zahl von Wehrmachtoffizieren gab Anlass zu der Sorge, dass <strong>in</strong><br />

Pullach der deutsche Generalstab verdeckt überlebte. Die neu gegründete zivile Central Intelligence<br />

Group, aus der 1947 die Central Intelligence Agency (CIA) hervorg<strong>in</strong>g, teilte zunächst solche Vorbehalte<br />

und erkannte zu Recht, dass <strong>in</strong> Pullach zwei Projekte parallel liefen: Denn <strong>in</strong> der Tat versammelte<br />

Gehlen um sich ehemalige Generalstabsoffiziere, die bei Weitem nicht alle e<strong>in</strong>en nachrichtendienstlichen<br />

H<strong>in</strong>tergrund besaßen. Damit bildete der Aufklärungsdienst zugleich e<strong>in</strong> Reservoir<br />

<strong>für</strong> <strong>den</strong> vorerst nicht absehbaren, bei <strong>den</strong> Offizieren aber <strong>für</strong> früher oder später wahrsche<strong>in</strong>lich<br />

gehaltenen Wiederaufbau e<strong>in</strong>er bewaffneten deutschen Macht.<br />

Entschei<strong>den</strong>d aus amerikanischer Sicht war allerd<strong>in</strong>gs, dass die CIA als ziviler Geheimdienst an<br />

politisch-strategischem Wissen und nicht an militärischen Fakten aus der Graswurzelperspektive<br />

<strong>in</strong>teressiert war. Doch als 1946/47 deutlich wurde, dass sich die Sowjetunion zum weltpolitischen<br />

Gegenspieler wandelte, begannen auch die US-Geheimdienste allmählich, die militärischen Kenntnisse<br />

von Gehlens Leuten zu schätzen. Wichtiger noch, die Agency erkannte die Möglichkeit, mit<br />

<strong>den</strong> Informationen aus deutscher Hand die eigene Stellung gegenüber dem State Department wesentlich<br />

zu verbessern und mit dem militärischem Sachverstand des deutschen Dienstes auch gegenüber<br />

dem Pentagon zu punkten. Die Army musste dagegen e<strong>in</strong>sehen, dass die Kosten <strong>für</strong> die Pullacher<br />

Aufklärer längst die eigenen f<strong>in</strong>anziellen Möglichkeiten überstiegen: Für das F<strong>in</strong>anzjahr 1950 beanspruchten<br />

die Deutschen e<strong>in</strong> Budget von 12 Millionen Dollar, <strong>in</strong> Europa stan<strong>den</strong> der Army <strong>für</strong> diese<br />

sogenannten G2-Geschäfte aber überhaupt nur 2,6 Millionen Dollar zur Verfügung. Im Juli 1949<br />

schließlich übernahm die CIA nach längerem R<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton <strong>den</strong> deutschen Aufklärungsdienst.<br />

Wegeners Arbeit br<strong>in</strong>gt mehr Licht <strong>in</strong> das Dunkel der frühen Jahre der „Organisation Gehlen“ –<br />

e<strong>in</strong> Name, der erst im Nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> von dem CIA-Berater James Critchfield Ende 1948 geprägt wurde,<br />

nicht von der U.S. Army und nicht von Gehlen selbst. Dessen Geschick, sich gegenüber se<strong>in</strong>em <strong>in</strong>ternen<br />

Konkurrenten Baun durchzusetzen, die Zügel <strong>in</strong>nerhalb des Dienstes <strong>in</strong> der Hand zu halten<br />

und sich im politischen Bonn als der richtige Mann <strong>für</strong> die Leitung der westdeutschen Spionage zu<br />

positionieren, bleibt unbestritten. Aber zwischen 1945 und 1949 war er nicht das masterm<strong>in</strong>d, das<br />

über das Schicksal des Dienstes bestimmte, wie es Gehlen später selbst gerne darstellte. Er profitierte<br />

allerd<strong>in</strong>gs von der <strong>in</strong>neramerikanischen Kontroverse um Kontrolle und Zukunft des deutschen<br />

Apparates.<br />

E<strong>in</strong>e Reihe von naheliegen<strong>den</strong> Schlussfolgerungen führt <strong>den</strong> Autor zu neuen Interpretationen auch<br />

im Detail. Die quellengestützte Beweisführung muss hier und da noch ausgeweitet wer<strong>den</strong>, das<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


262 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Thema ist nicht ausgeschöpft. Aber um zu verstehen, was sich <strong>in</strong> Pullach abspielte, muss der Historiker<br />

künftig verstärkt darauf achten, was eigentlich h<strong>in</strong>ter <strong>den</strong> Kulissen <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton geschah.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Vgl. Donald Steury (ed.): On the Front L<strong>in</strong>es of the Cold War. Documents on the Intelligence<br />

War <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, 1946 to 1961. Wash<strong>in</strong>gton (D.C.) 1999; James H. Critchfield: Partners at the<br />

Creation. The Men Beh<strong>in</strong>d Postwar Germany’s Defense and Intelligence Establishment, Annapolis<br />

2003; Timothy Naftali: Re<strong>in</strong>hard Gehlen and the United States, <strong>in</strong>: Richard Breitmann (et<br />

al.): U.S. Intelligence and the Nazis, Wash<strong>in</strong>gton (D.C.) 2004, 375-418.<br />

[2] Vgl. Wolfgang Krieger: US patronage of German postwar <strong>in</strong>telligence, <strong>in</strong>: Loch K. Johnson<br />

(ed.): Handbook of Intelligence Studies, London/New York 2007, 91-102.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


Benjam<strong>in</strong> Ziemann: Katholische Kirche und Sozialwissenschaften 1945–1975 (= Kritische<br />

Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 175), Gött<strong>in</strong>gen: Van<strong>den</strong>hoeck & Ruprecht 2007,<br />

396 S., ISBN 978-3-525-35156-7, EUR 44,90<br />

Rezensiert von Theresia Bauer<br />

Historisches Sem<strong>in</strong>ar, Ludwig-Maximilians-Universität, München<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 4<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/04/13006.html<br />

Benjam<strong>in</strong> Ziemann verfolgt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Habilitationsschrift<br />

e<strong>in</strong> (sozial)theoretisch und methodisch wohlüberlegtes Untersuchungsprogramm,<br />

das der Katholizismusforschung wie auch<br />

der zeithistorischen Erforschung der Geschichte der Bundesrepublik<br />

neue Impulse und E<strong>in</strong>sichten gibt. Die Studie will<br />

<strong>den</strong> Bereich der Religion/Kirche, der <strong>in</strong> der allgeme<strong>in</strong>en Geschichtsschreibung<br />

zur Entwicklung Westdeutschlands nach<br />

1945 vor allem dann, wenn sie modernisierungstheoretisch<br />

argumentiert, marg<strong>in</strong>alisiert wird, e<strong>in</strong>en angemessenen Stellenwert<br />

verschaffen. Sie zeigt, dass die katholische Kirche<br />

zwischen 1945 und 1975 verschie<strong>den</strong>e sozialwissenschaftliche<br />

Konzepte anwandte, die zu e<strong>in</strong>er Verwissenschaftlichung<br />

führten und letztlich dazu beitrugen, die Kirche <strong>in</strong> der Gesellschaft<br />

präsent und handlungsfähig zu halten.<br />

Die Untersuchung geht von der Frage nach der Verb<strong>in</strong>dung<br />

von Säkularisierung und Verwissenschaftlichung <strong>in</strong> der katholischen<br />

Kirche nach 1945 aus und entwickelt hier<strong>für</strong> e<strong>in</strong> breit<br />

angelegtes Frageraster, das empirisch überzeugend bearbeitet<br />

wird. Der Autor hält dezidiert am mitunter umstrittenen und abgelehnten Säkularisierungsbegriff<br />

fest, um religiösen Wandel überhaupt beschreiben zu können. Säkularisierung me<strong>in</strong>t im S<strong>in</strong>ne Niklas<br />

Luhmanns, dass Religion <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er funktional differenzierten Gesellschaft mit der religiösen Neutralisierung<br />

anderer Handlungsfelder von Politik, Wirtschaft, Medien, Wissenschaft und Erziehung zu<br />

Recht kommen muß. Die Inkulturation des katholischen Glaubens wird aus der Perspektive der Kirche<br />

als Organisation, ihrer pastoralen Strategie und <strong>in</strong>neren Strukturprobleme untersucht, also dezidiert<br />

nicht mit dem Konzept der sozialmoralischen Milieus. Über diese theoretischen u.a. Grundlagen <strong>in</strong>formiert<br />

die E<strong>in</strong>leitung überzeugend.<br />

Sechs Untersuchungsfelder nehmen sodann <strong>den</strong> E<strong>in</strong>fluß der Sozialwissenschaften auf die katholische<br />

Kirche <strong>in</strong> <strong>den</strong> Blick und fragen, <strong>in</strong>wiefern deren Konzepte <strong>in</strong> Praktiken kirchlichen Handelns<br />

e<strong>in</strong>drangen und das Soziale veränderten. Kapitel 1 widmet sich der kirchlichen Statistik, die im beg<strong>in</strong>nen<strong>den</strong><br />

20. Jahrhundert mit der Errichtung der Kölner Zentralstelle e<strong>in</strong>e bis 1945 e<strong>in</strong>zigartige<br />

<strong>Institut</strong>ionalisierung <strong>in</strong> Europa erfuhr. Diese Form der Selbstbeobachtung stärkte zwar <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1920er<br />

Jahren das Milieubewußtse<strong>in</strong> der sich immer noch <strong>in</strong>ferior fühlen<strong>den</strong> Katholiken Weimars, <strong>in</strong>dem<br />

die so erfasste Orthopraxie von Kirchenbesuch über Osterkommunion bis Heiratsverhalten öffentlich


264 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

dokumentiert wurde. Sie legte aber bald auch <strong>den</strong> F<strong>in</strong>ger <strong>in</strong> aufbrechende Wun<strong>den</strong>, weil das Milieu<br />

<strong>in</strong> dieser Beschreibung spätestens <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1950er Jahren zählbar schwand. Der statistische Befund<br />

führte jedoch nicht zu e<strong>in</strong>er generellen Umorientierung <strong>in</strong> der pastoralen Praxis – noch <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1950er<br />

Jahren wurde <strong>in</strong>nerkirchlich die steigende Zahl an Mischehen als das schwerwiegendste Problem <strong>für</strong><br />

<strong>den</strong> Bestand des Katholizismus angesehen. Aber die Statistik erhöhte <strong>den</strong> Wissensdurst nach sozialen<br />

Zusammenhängen. In Adaption französischer religionssoziologischer Ansätze beschäftigte sich<br />

die Soziographie (Kapitel 2) mit der Frage, welche Katholiken sich warum von der kirchlichen Orthopraxie<br />

abwandten. Diese soziographischen Verfahren wur<strong>den</strong> seit <strong>den</strong> 1950er Jahren hauptsächlich<br />

<strong>in</strong> Nordwestdeutschland und im Erzbistum München-Freis<strong>in</strong>g von Dom<strong>in</strong>ikanern geme<strong>in</strong>sam mit lokalem<br />

kirchlichen Personal durchgeführt und verfolgten das missionarische Ziel, die sogenannten Abständigen<br />

wiederzugew<strong>in</strong>nen. Die Soziographie zeigte erstmals sozialwissenschaftlich systematisch<br />

– was zuvor <strong>in</strong> Seelsorgsberichten etwa des Erzbistums München-Freis<strong>in</strong>g nur als qualitative Beobachtung<br />

nachzulesen war –, dass sich soziale Umweltfaktoren, allen voran die Zugehörigkeit zur<br />

modernen Erwerbsarbeitswelt, unmittelbar auf die Orthopraxie und die Kirchenzugehörigkeit auswirkten:<br />

die Industriearbeit wirkte säkularisierend, nicht die Mischehenquote war das Kernproblem.<br />

Obwohl die Soziographie ihre selbstgesteckte missionarische Aufgabe verfehlte, veränderte diese<br />

sozialwissenschaftliche Herangehensweise die Selbstbeschreibung der Kirche doch dauerhaft.<br />

Das zweite Vatikanische Konzil (1961–1965) leitete die Öffnung der katholischen Kirche h<strong>in</strong> zur<br />

modernen, säkularen Welt e<strong>in</strong> und begünstigte auch e<strong>in</strong>en Wechsel des sozialwissenschaftlichen Instrumentariums.<br />

Die Umfrageforschung (Kapitel 3) etwa funktionierte anders als die noch von e<strong>in</strong>em<br />

antimodernen Kirchenverständnis geprägte Soziographie: es <strong>in</strong>teressierten nun E<strong>in</strong>stellungen und<br />

Motivlagen der Antworten<strong>den</strong>. In Vorbereitung der geme<strong>in</strong>samen Synode der deutschen Bistümer<br />

(1971–1975) ließ die katholische Kirche e<strong>in</strong>e Umfrage unter allen Katholiken Deutschlands durchführen.<br />

Inhaltlich flossen die 4,4 Millionen Rückantwortbögen kaum <strong>in</strong> <strong>den</strong> Verlauf der Synode e<strong>in</strong>,<br />

zu der bislang ke<strong>in</strong>e umfassende Untersuchung vorliegt. Doch die Kirche demonstrierte hiermit und<br />

mehr noch mit umfangreichen Repräsentativumfragen (<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Demoskopie Allensbach, Deutsche<br />

Bischofskonferenz) sichtbar ihre Öffnung h<strong>in</strong> zur Partizipation. Die Demoskopie entschärfte<br />

letztlich die massiven <strong>in</strong>nerkirchlichen Ause<strong>in</strong>andersetzungen <strong>in</strong> <strong>den</strong> turbulenten Jahren zwischen<br />

1966 und 1972. Sie verfe<strong>in</strong>erte das Repertoire der Selbstbeobachtung und -beschreibung, so sehr ihre<br />

Ergebnisse auch zu e<strong>in</strong>er „selbst produzierten Enttäuschung“ (202) führten.<br />

Kapitel 4 beschreibt <strong>den</strong> E<strong>in</strong>zug der Rollen- und Organisationssoziologie <strong>in</strong> <strong>den</strong> Kirchenapparat ab<br />

1965. Diese umfassen<strong>den</strong> Neuordnungsversuche von Bistumsverwaltungen (<strong>in</strong> Münster, <strong>in</strong> München-<br />

Freis<strong>in</strong>g) bis h<strong>in</strong> zur Aufgabe des Pfarrpr<strong>in</strong>zips zugunsten von Großpfarreien mit bis zu 100.000 Katholiken<br />

erschienen unumgänglich, weil die Kirche der Ansicht war, dass nur so die Folgeprobleme der<br />

Säkularisierung, vor allem die Berufskrise der Priester und der eklatante Priestermangel, aufgefangen<br />

wer<strong>den</strong> könnten. Vieles ließ sich <strong>in</strong> der ursprünglich avisierten Form nicht umsetzen, sei es aufgrund<br />

e<strong>in</strong>es traditionell-kanonistischen Kirchenverständnisses oder weil erfolgversprechende Ansätze <strong>in</strong><br />

der Regionalplanung versickerten; anderes blieb <strong>in</strong> modifizierter Form dauerhaft erhalten, wie etwa<br />

der E<strong>in</strong>satz von akademisch ausgebildeten Laien <strong>in</strong> der Seelsorge neben <strong>den</strong> Priestern und die Errichtung<br />

von Pfarrverbän<strong>den</strong>.<br />

Im fünften Kapitel geht es um die Rezeption und <strong>den</strong> E<strong>in</strong>fluß von humanwissenschaftlichen Konzepten<br />

<strong>in</strong> der Kirche. Vor allem <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1970er Jahren flossen von der katholischen Kirche zuvor abgelehnte<br />

und/oder höchst umstrittene psychologische, psychotherapeutische und gruppendynamische<br />

Metho<strong>den</strong> (etwa die Tiefenpsychologie Freuds, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Variante ohne ihren Pansexualismus) <strong>in</strong> die<br />

Kirche e<strong>in</strong>. In der praktischen Seelsorge gab es Neuerungen, etwa bei der Ohrenbeichte oder auch<br />

durch neue Konzepte zur Seelenführung der Gläubigen. Auch der <strong>in</strong>nerkirchliche Dialog veränderte<br />

sich nachhaltig durch e<strong>in</strong>en egalitären und kooperativen Umgangston. Die psychologischen Konzepte<br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


265 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

eigneten sich durchaus auch zum <strong>in</strong>nerkirchlichen Frustrationsabbau. Für die Pastoral war entschei<strong>den</strong>d,<br />

dass es der Kirche gelang, <strong>den</strong> E<strong>in</strong>zelnen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Ganzheit und nicht nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten<br />

Funktion (z.B. als Arbeitnehmer) anzusprechen.<br />

Kapitel 6 richtet <strong>den</strong> Blick auf „e<strong>in</strong>ige Konstellationen der kontroversen Semantik [...], mit der die<br />

Wirkungen vor allem der Soziologie auf die Kirche <strong>in</strong> der Zeit von ca. 1965 bis 1975 beschrieben<br />

wor<strong>den</strong> s<strong>in</strong>d“ (319). Auch wenn der Autor damit se<strong>in</strong>en Ansatz und die verb<strong>in</strong><strong>den</strong>de Klammer def<strong>in</strong>iert,<br />

so überzeugt diese Präsentation durchaus richtiger und spannender Beobachtungsstränge e<strong>in</strong>er<br />

diskursgeschichtlichen Untersuchung des Re<strong>den</strong>s über Sozialwissenschaften nicht ganz. Das Dargestellte<br />

ersche<strong>in</strong>t von der Sache her sehr disparat; man wünscht sich als Leser zum e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>gehendere<br />

diskursgeschichtliche Aufarbeitung, zum anderen e<strong>in</strong>e problemorientierte Darlegung der<br />

zeithistorischen Zusammenhänge und H<strong>in</strong>tergründe, wohl wissend, dass diese sicherlich empirisch<br />

noch nicht fundiert zu bearbeiten s<strong>in</strong>d. Angesprochen wur<strong>den</strong> etwa die öffentlich wirksam wer<strong>den</strong>de<br />

Sprachgewalt von Theologen, die sich teils gegen die Maxime der Bischöfe richtete, und die besondere<br />

Rolle der Pastoraltheologie nach dem Konzil. Es geht aber auch um die Politisierung der Soziologie<br />

und deren Rückwirkungen auf die katholische Soziallehre und um daraus resultierende Konflikte<br />

<strong>in</strong> Universitäten oder um Ause<strong>in</strong>andersetzungen zwischen Soziologen und Amtskirche.<br />

Diese Studie ist wahrlich ke<strong>in</strong>e leichte Kost. Sie ist wenig geeignet als E<strong>in</strong>stiegslektüre <strong>in</strong> die Katholizismusgeschichte<br />

nach 1945, da<strong>für</strong> theoretisch und methodisch versiert, hoch reflektiert <strong>in</strong> der<br />

Durchführung, <strong>in</strong> der empirischen Fundierung wie <strong>in</strong> der sprachlichen Präsentation voll überzeugend.<br />

Mit se<strong>in</strong>em <strong>in</strong>novativen und str<strong>in</strong>gent verfolgten Untersuchungsprogramm gel<strong>in</strong>gt dem Autor<br />

e<strong>in</strong>e bee<strong>in</strong>druckende Forschungsleistung. Diese zeigt die Modernisierungsfähigkeit und -leistung der<br />

Kirche als Organisation, aber auch die Grenzen und hat die problemerzeugende Komponente des religiösen<br />

Wandels zum<strong>in</strong>dest im Blick. Die Studie holt die Geschichte der katholischen Kirche als<br />

Großorganisation zu Recht mitten <strong>in</strong> die sozial- und wissenshistorische Problemkonstellation der<br />

westdeutschen Geschichte here<strong>in</strong>. Zu wünschen bleibt, dass der Ansatz der Studie, nach Selbstverortung<br />

und Reaktionen von Kirche <strong>in</strong> modernen Gesellschaften zu fragen, <strong>für</strong> andere Zeiten, <strong>für</strong><br />

andere Länder oder auf anderen Ebenen fortgeführt wird. Da<strong>für</strong> müßten aber kirchliche Akten aus<br />

<strong>den</strong> 1960er und 1970er Jahren <strong>in</strong> größerem Ausmaß (nicht nur <strong>für</strong> das Bistum Münster) und besser<br />

als bisher zugänglich se<strong>in</strong>.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland und ihre Vorgeschichte


DDR und ihre Vorgeschichte<br />

Robert Allertz: Die RAF und das MfS. Fakten und Fiktionen. In Zusammenarbeit mit<br />

Gerhard Neiber, Berl<strong>in</strong>: Das Neue Berl<strong>in</strong> 2008, 224 S., ISBN 978-3-360-01090-2, EUR 14,90<br />

Rezensiert von Tobias Hof<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong> München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/05/15516.html<br />

Unmittelbar nach der deutschen Wiedervere<strong>in</strong>igung war <strong>in</strong><br />

der Öffentlichkeit von e<strong>in</strong>er engen Kooperation zwischen<br />

dem M<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> Staatssicherheit (MfS) und der Roten<br />

Armee Fraktion (RAF) die Rede. Aufgrund der schwierigen<br />

Quellenlage fehlt zwar bislang e<strong>in</strong>e umfassende Monografie<br />

über dieses Thema, aber Wissenschaftler unterschiedlicher<br />

Diszipl<strong>in</strong>en haben sich <strong>in</strong> zahlreichen Aufsätzen über die möglichen<br />

ideellen und materiellen Verb<strong>in</strong>dungen zwischen dem<br />

DDR-Geheimdienst und <strong>den</strong> westdeutschen Terroristen geäußert.<br />

So besteht mittlerweile e<strong>in</strong> breiter Konsens darüber,<br />

dass die vermutete aktive Förderung der RAF durch das MfS<br />

überschätzt wurde. Vielmehr nahm das MfS gegenüber <strong>den</strong><br />

Terroristen wohl e<strong>in</strong>e passive Rolle e<strong>in</strong>, <strong>in</strong>dem Terroristen die<br />

Durchreise gewährt wurde oder Aussteiger <strong>in</strong> die Gesellschaft<br />

der DDR <strong>in</strong>tegriert wur<strong>den</strong>.<br />

Im Jahr 2008 legte Robert Allertz se<strong>in</strong> Buch „Die RAF und<br />

das MfS“ vor. Allertz, Diplomjournalist und Reserveoffizier,<br />

ist als freier Publizist tätig und steht dem „Insiderkomitee zur<br />

Förderung der kritischen Aneignung der Geschichte des MfS“<br />

nahe, das Mitarbeiter des MfS <strong>in</strong>s Leben gerufen haben. Das<br />

Buch be<strong>in</strong>haltet Interviews, die er mit ehemaligen Mitarbeitern<br />

des MfS führte und Aufsätze, die unter anderem von Gerhard Neiber, dem ehemaligen Stellvertreter<br />

des M<strong>in</strong>isters <strong>für</strong> Staatssicherheit, und Gerhard Plomann, e<strong>in</strong>em engen Mitarbeiter Neibers, stammen.<br />

Abgeschlossen wird das Werk durch e<strong>in</strong>en von Allertz verfassten Nachruf auf Neiber, der am<br />

13. Februar 2008 verstarb. Aufgrund der gesamten Anlage des Buches muss Allertz mehr als Herausgeber<br />

<strong>den</strong>n als Verfasser gelten.<br />

Dem vom Titel suggerierten Thema widmen sich die verschie<strong>den</strong>en Beiträge freilich kaum und<br />

wenn, so wird e<strong>in</strong>e aktive Zusammenarbeit zwischen MfS und RAF stets verne<strong>in</strong>t. Lediglich die Aussteigerprogramme<br />

„Stern I“ und „Stern II“ wer<strong>den</strong> näher beschrieben: Ehemalige Terroristen erhielten


267 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

die Staatsbürgerschaft der DDR sowie neue I<strong>den</strong>titäten. Sie wur<strong>den</strong> nicht an die Bundesrepublik<br />

ausgeliefert, da zwischen bei<strong>den</strong> deutschen Staaten ke<strong>in</strong> Rechtshilfeabkommen bestan<strong>den</strong> habe und<br />

e<strong>in</strong>e Auslieferung von Staatsbürgern der DDR e<strong>in</strong> Bruch der Verfassung gewesen wäre.<br />

Wesentlich mehr Informationen bietet das Buch über die <strong>in</strong>ternationale terroristische Szene nach<br />

dem Olympiaattentat von 1972, wie sie das MfS wahrnahm, und über die Gegenmaßnahmen, die das<br />

M<strong>in</strong>isterium e<strong>in</strong>leitete. Dabei wer<strong>den</strong> E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> die strukturellen Veränderungen der Behörde und<br />

<strong>in</strong> die Vorstellungen über <strong>den</strong> Terrorismus geboten, <strong>den</strong> man als gesellschaftliche Folge von Kapitalismus<br />

und Imperialismus def<strong>in</strong>ierte – gezielt gesteuert von <strong>den</strong> westlichen Geheimdiensten, um die<br />

Errichtung e<strong>in</strong>es Polizeistaats zu rechtfertigen. Mit <strong>den</strong> „humanistischen Grundanliegen des Sozialismus“<br />

(84) sei der Terrorismus h<strong>in</strong>gegen unvere<strong>in</strong>bar gewesen. Ferner sei wegen der Wachsamkeit<br />

des MfS, <strong>den</strong> gesellschaftlichen Verhältnissen und der Wachsamkeit der Bürger die terroristische<br />

Gefahr <strong>in</strong> der DDR ger<strong>in</strong>g gewesen. Dieses Interpretationsmuster wird auch nicht verlassen, wenn<br />

Bezug zu Ereignissen vom Zweiten Weltkrieg bis heute genommen wird: So sei unter anderem der<br />

Staatsterror des stal<strong>in</strong>istischen Regimes e<strong>in</strong>e legitime Abwehrreaktion gegen subversive, vom Westen<br />

unterstützte Gruppen gewesen. Auch die Geschehnisse nach dem 11. September 2001 wür<strong>den</strong> beweisen,<br />

dass Krieg und Terror die zentralen politischen Mittel des Westens seien. Denn schließlich<br />

gebe es ke<strong>in</strong>en „Unterschied zwischen dem Überfall auf <strong>den</strong> Sender Gleiwitz und <strong>den</strong> auf e<strong>in</strong> Hochhaus<br />

der Hochf<strong>in</strong>anz.“ (71)<br />

Den Anspruch, Fakten von Fiktionen zu trennen, erfüllt das Buch zu ke<strong>in</strong>er Zeit. Es liefert weder<br />

neue Erkenntnisse, noch wer<strong>den</strong> die teils abstrusen Thesen stichhaltig belegt. Auch die angekündigten<br />

Dokumente bleibt Allertz schuldig. Die abgebildeten Fotokopien von Akten der Bundesbehörde<br />

<strong>für</strong> die Stasiunterlagen sollen diese Lücke sche<strong>in</strong>bar kaschieren, enthalten jedoch ke<strong>in</strong>erlei verwertbaren<br />

Informationen. Die vielfach zitierte Sekundärliteratur – unter anderem von Andreas von Bülow<br />

und Gerhard Feldbauer [1] – ist darüber h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong> der Forschung umstritten.<br />

Allertz bietet <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie führen<strong>den</strong> Funktionären des M<strong>in</strong>isteriums <strong>für</strong> Staatssicherheit e<strong>in</strong>e<br />

Plattform, um ihre e<strong>in</strong>stige Arbeit zu rechtfertigen und <strong>in</strong> e<strong>in</strong> positives Licht zu rücken. Ziel des Buches<br />

ist es, das MfS als e<strong>in</strong>en „ganz normalen Geheimdienst“ darzustellen, se<strong>in</strong>e Arbeit und Mitarbeiter<br />

zu rehabilitieren und ihn gegenüber <strong>den</strong> westlichen Geheimdiensten moralisch zu überhöhen.<br />

Des Weiteren ist e<strong>in</strong>e Sympathie mit <strong>den</strong> sozialrevolutionären terroristischen Gruppen <strong>in</strong> ihrem<br />

Kampf gegen <strong>den</strong> bundesdeutschen „Polizeistaat“, der immer wieder als Erbe des ‚Dritten Reichesʻ<br />

dargestellt wird, zu erkennen. E<strong>in</strong>e derart euphemistische und ideologisch gefärbte Darstellung<br />

wirkt heute nicht nur deplatziert und anachronistisch, sondern lässt die Forschungsliteratur über die<br />

DDR und die Arbeit des MfS vollkommen außer Acht.<br />

Der ideologisch verklärende Blick beschränkt sich zum allgeme<strong>in</strong>en Ärgernis jedoch nicht nur auf<br />

die Arbeit des DDR-Geheimdiensts. Vielmehr wer<strong>den</strong> gebetsmühlenartig Verschwörungstheorien zu<br />

<strong>den</strong> Ereignissen seit 1945 ohne Belege angeführt. Dabei zeugt die Äußerung von Allertz, dass e<strong>in</strong><br />

Anschlag wie <strong>in</strong> New York <strong>in</strong> der DDR dank der Arbeit des MfS nicht möglich gewesen wäre, nicht<br />

nur von e<strong>in</strong>er ebenso naiven wie verzerrten Weltsicht, sondern auch von se<strong>in</strong>er Unkenntnis über <strong>den</strong><br />

<strong>in</strong>ternationalen Terrorismus.<br />

Trotz dieser großen Schwächen liefert das Buch zwischen <strong>den</strong> Zeilen vere<strong>in</strong>zelt <strong>in</strong>teressante E<strong>in</strong>blicke<br />

<strong>in</strong> die Organisationsstruktur des M<strong>in</strong>isteriums <strong>für</strong> Staatssicherheit. So wird detailliert der<br />

Aufbau der Hauptabteilung XXII geschildert, die mit der Abwehr des Terrorismus betraut war. Auch<br />

die Darstellung der Aussteigerprogramme besitzt Substanz. Die These von ihrer herausragen<strong>den</strong><br />

Bedeutung <strong>für</strong> das Ende der RAF, wie dies <strong>in</strong>sbesondere Neiber und Plomann behaupten, ist mit<br />

Sicherheit nicht haltbar, sollte aber nicht gänzlich als bloße Propaganda abgetan wer<strong>den</strong>. Denn gerade<br />

das Beispiel der Anti-Terrorismus-Politik Italiens zeigt, dass die gesellschaftliche Re<strong>in</strong>tegration ehemaliger<br />

Terroristen e<strong>in</strong> wichtiger Bestandteil e<strong>in</strong>er erfolgreichen Gegenstrategie se<strong>in</strong> kann.<br />

DDR und ihre Vorgeschichte


268 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Die wenigen positiven E<strong>in</strong>drücke können die Mängel des Buches bei Weitem nicht abmildern geschweige<br />

<strong>den</strong>n ausgleichen. Wer sich über die Kooperation zwischen MfS und RAF e<strong>in</strong>en Überblick<br />

verschaffen möchte, kann dieses Buch getrost übergehen. Ihm seien lieber Arbeiten anerkannter Experten<br />

wie Tobias Wunschik oder Michael Ploetz empfohlen. [2] Wer jedoch e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>druck darüber<br />

gew<strong>in</strong>nen möchte, wie ehemalige Mitarbeiter des MfS versuchen, ihre e<strong>in</strong>stige Arbeit zu verklären<br />

und sich zu rehabilitieren, dem wird es nicht erspart bleiben, sich mit diesem Band ause<strong>in</strong>anderzusetzen.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Vgl. Andreas von Bülow: Im Namen des Staates – CIA, BND und die krim<strong>in</strong>ellen Machenschaften<br />

der Geheimdienste, München 1998; Gerhard Feldbauer: Agenten, Terror, Staatskomplott.<br />

Der Mord an Aldo Moro, Rote Briga<strong>den</strong> und CIA, Köln 2000.<br />

[2] Tobias Wunschik: Das M<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> Staatssicherheit und der Terrorismus <strong>in</strong> Deutschland, <strong>in</strong>:<br />

Diktaturen <strong>in</strong> Europa im 20. Jahrhundert – der Fall DDR, hrsg. von He<strong>in</strong>er Timmermann, Berl<strong>in</strong><br />

1996, 289-302; Michael Ploetz: Mit RAF, Roten Briga<strong>den</strong> und Action Directe. Terrorismus und<br />

Rechtsextremismus <strong>in</strong> der Strategie von SED und KPdSU, <strong>in</strong>: Zeitschrift des Forschungsverbundes<br />

SED-Staat 22 (2007), 117-144.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

DDR und ihre Vorgeschichte


Dolores L. August<strong>in</strong>e: Red Prometheus. Eng<strong>in</strong>eer<strong>in</strong>g and Dictatorship <strong>in</strong> East Germany, 1945–<br />

1990, Cambridge, Mass.: MIT Press 2007, xxx + 380 S., ISBN 978-0-262-01236-2, GBP 25,95<br />

Rezensiert von Georg Wagner-Kyora<br />

Universität Hannover<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 2<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/02/14905.html<br />

Mit dieser Technik- und Sozialgeschichte der DDR liegt die<br />

erste Gesamtschau ihrer prägen<strong>den</strong> Technikergeneration vor.<br />

Sie <strong>in</strong>tegriert e<strong>in</strong>e Geschichte der Hochtechnologie, der Bildungswege<br />

von Technikern und vor allem diejenige ihrer politischen<br />

Behauptungskämpfe gegen e<strong>in</strong> diktatorisches, dezidiert<br />

antibürgerlich auftretendes Parteiregime. Die Autor<strong>in</strong> hat e<strong>in</strong>e<br />

luzide Bilanz aus der Perspektive jener Techniker geschrieben,<br />

die mit dem latenten Resistenzpotenzial ihres Erf<strong>in</strong>dergenies<br />

immer produktiv umzugehen wussten, ohne die Machthaber<br />

aus ihrem Kalkül auszugrenzen. Denn ten<strong>den</strong>ziell stellten sie<br />

die Diktatur <strong>in</strong> ihrem umfassen<strong>den</strong> Geltungsanspruch immer<br />

dann <strong>in</strong> Frage, wenn sie Entscheidungsprozesse bee<strong>in</strong>flussten,<br />

die außerhalb des Beurteilungsvermögens der machtbewussten<br />

SED-Autoritäten lagen. Infolgedessen stand die DDR immer<br />

im Zeichen von Duldung und Förderung e<strong>in</strong>es schwer kontrollierbaren<br />

Innovationspotenzials, das, wie August<strong>in</strong>e bilanziert,<br />

die DDR hätte besser machen können, als sie es gewesen war, hätte man es nur gewähren lassen<br />

(343-351).<br />

Die Autor<strong>in</strong> hat e<strong>in</strong> sehr nach<strong>den</strong>klich machendes Buch geschrieben, <strong>den</strong>n sie erklärt das technologische<br />

Scheitern der DDR als e<strong>in</strong>e Fehlentwicklung auf lange Sicht, der sich zahllose <strong>in</strong>dividuelle<br />

Berufsschicksale entgegenstemmten. Dem widerständigen Mitmachen von aufstiegsorientierten Modernisierern<br />

lag die E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e prekäre Zeiterfahrung nach dem NS-Regime zugrunde. Sie schmiedete<br />

neue, brüchige, aber gesellschaftspolitisch wirksame Koalitionen zwischen antagonistisch def<strong>in</strong>ierten<br />

Klassen, ohne <strong>den</strong> Graben zwischen dem Selbstbewusstse<strong>in</strong> der e<strong>in</strong>en und der anderen, die<br />

die politische Macht usurpiert hatten, überw<strong>in</strong><strong>den</strong> zu können.<br />

Dazwischen lag auch die schmerzhafte Erfahrung der jüngsten deutschen Geschichte, lag die<br />

Angst vor politischem Machtverlust und letztlich auch vor unkontrollierbaren, auch kriegerischen<br />

Konflikten an der Frontl<strong>in</strong>ie des Kalten Kriegs und schließlich der permanente Rechtfertigungszwang<br />

gegenüber dem alles kontrollieren<strong>den</strong> Sowjetregime der Besatzer und der immer präsenten<br />

„Freunde“ <strong>in</strong> der DDR. Ohne Vertrauen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e autonome Loyalität der Techniker-Erf<strong>in</strong>der, <strong>den</strong>en<br />

beileibe nicht alles egal war, was der DDR-„Sozialismus“ schuf, riss die SED-Kamarilla aber mit<br />

dem e<strong>in</strong>en Arm e<strong>in</strong>, was jene mit dem anderen aufgebaut hatten.<br />

August<strong>in</strong>e hat e<strong>in</strong>e diszipl<strong>in</strong>ierte, chronologisch und thematisch auf zentrale Felder der Industriegeschichte<br />

der DDR abzielende Innovationsgeschichte aus der Sicht ihrer führen<strong>den</strong> Akteure <strong>in</strong> <strong>den</strong>


270 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

wichtigsten Forschungsabteilungen der DDR geschrieben. Sie fokussiert auf die stilbil<strong>den</strong><strong>den</strong> Besonderheiten<br />

der technologischen Leitsektoren aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Auf die<br />

Halbleiterproduktion, auf die Mikroelektronik, auf Laser, die Computertechnologie und die Atomkraft.<br />

Visionäre Leitbilder kommen ebenso zu ihrem Recht wie die Praxis des Aushandelns von<br />

Entwicklungschancen <strong>in</strong> der politisierten Planbürokratie. Damit folgt sie konsequent der neueren<br />

Ausrichtung der <strong>in</strong>ternationalen Technikgeschichte auf e<strong>in</strong>e Verknüpfung technologischer und sozialer<br />

sowie kultureller Entwicklungsfaktoren.<br />

Die aus langjährigen Forschungen <strong>in</strong> Deutschland erwachsene Studie der New Yorker Geschichtsprofessor<strong>in</strong><br />

beg<strong>in</strong>nt mit e<strong>in</strong>er komprimierten Begründung der leiten<strong>den</strong> Fragestellung <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>leitung,<br />

die gleichzeitig e<strong>in</strong>en höchst lesenswerten Forschungsüberblick präsentiert. Sie fragt nach <strong>den</strong><br />

Technologiepotenzialen der DDR und ihren Begrenzungen. Von der ehemals weltweit führen<strong>den</strong><br />

Technologielandschaft waren nur noch geplünderte Ru<strong>in</strong>en übrig geblieben, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en e<strong>in</strong>e <strong>den</strong>noch<br />

exzellente erste DDR-Forschergeneration <strong>den</strong> <strong>in</strong>ternationalen Anschluss suchte.<br />

Anschließend entfaltet die Autor<strong>in</strong> ihren außeror<strong>den</strong>tlich weittragen<strong>den</strong> neuen Forschungsansatz<br />

e<strong>in</strong>er auf die Führungsschicht der DDR-Erf<strong>in</strong>dergeneration begrenzten Biografiegeschichte, die gleichzeitig<br />

e<strong>in</strong>e Technologiegeschichte und ihre Aneignungsprozesse <strong>in</strong> der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts<br />

be<strong>in</strong>haltet. Sie verknüpft diesen Ansatz mit der politischen Ereignisgeschichte, sofern diese<br />

die Lebensläufe dieser führen<strong>den</strong> Technikergeneration <strong>in</strong> <strong>den</strong> knapp 45 Jahren der SBZ und späteren<br />

DDR betraf.<br />

Die Darstellung beg<strong>in</strong>nt mit <strong>den</strong> <strong>in</strong> die Sowjetunion verschleppten, etwa 1000 Spitzenforschern<br />

aus der Atomtechnologie, dann folgen drei chronologische Kapitel über die politischen Veränderungen<br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong> 1950er und 1960er Jahren, also <strong>den</strong> gol<strong>den</strong>en Jahren des DDR-Wirtschaftswunders nach 1953<br />

und se<strong>in</strong>er erfolglosen Fortsetzung <strong>in</strong> <strong>den</strong> NÖSPL-Wirtschaftsreformen der späten Ulbrichtära. In<br />

Kapitel 5 zeigt August<strong>in</strong>e, wie stark e<strong>in</strong>zelne, ganz besonders prom<strong>in</strong>ente Forscher unter Stasidruck<br />

gerieten, obwohl sie Spitzenleistungen erbrachten. Kapitel 6 enthält die äußerst lesenswerte Darstellung<br />

der späten Technikutopien der DDR. Sie waren universal und menschheitsbeglückend angelegt<br />

und sie lieferten mit e<strong>in</strong>er subtilen, massenpsychologisch ausgereizten Propagandatechnik <strong>in</strong> <strong>den</strong> pittoresken<br />

Mosaik-Comics e<strong>in</strong>malige Chancen zur Propagierung e<strong>in</strong>es populären Technikerimages.<br />

Leider kann über die Verbreitung dieser außergewöhnlich aufschlussreichen Bildergeschichten wenig<br />

gesagt wer<strong>den</strong>.<br />

In Kapitel 7 zeigt August<strong>in</strong>e das ganze Potenzial e<strong>in</strong>er neueren Gesellschaftsgeschichte im Schnittfeld<br />

von Biografie-, Politik-, Innovations- und Diskursgeschichte auf, <strong>in</strong>dem sie die Ergebnisse e<strong>in</strong>es<br />

begleiten<strong>den</strong> Oral-History-Projektes über die retrospektive Technikererfahrung, auch <strong>in</strong> der Genderperspektive,<br />

auswertet. Hierbei resümiert sie zentrale qualitative Ergebnisse, welche die neuere<br />

DDR-Erforschung substanziell bereichern.<br />

In Kapitel 8 beendet die Autor<strong>in</strong> ihr Buch mit langen Ausführungen über das Scheitern der Mikroelektroniktechnologie<br />

am wichtigsten Innovationsstandort Jena, der neben dem traditionellen akademischen<br />

Zentrum an der TU Dres<strong>den</strong> e<strong>in</strong>e selbsttragende Innovationsdyanmik erreicht hatte. Durch die<br />

extensive Militarisierung der Mikroelektronik, die seit 1976/77 zum wichtigsten Industrialisierungsprogramm<br />

der DDR aufgebaut wor<strong>den</strong> war, verkümmerten jedoch ihre Innovationspotenziale. Dieses<br />

Scheitern war auch der „stasification of Zeiss“ (313) geschuldet, womit die Autor<strong>in</strong> ihr zentrales Erklärungsargument,<br />

dasjenige der irrwitzigen politischen Überformung von Technologiepotenzialen<br />

<strong>in</strong> der DDR-Ökonomie, erneut zur Geltung br<strong>in</strong>gt.<br />

Das Buch von August<strong>in</strong>e hat das Zeug zum Standardwerk über die Technologiegeschichte der<br />

DDR, weil es diese aus der Sicht ihrer Akteure, jener Macher aus <strong>den</strong> Forschungszentren und Industrieunternehmen<br />

schreibt. Oftmals mit großem Genie und noch größerer Kompromissfähigkeit ausgestattet,<br />

meisterten sie <strong>den</strong> Spagat zwischen <strong>den</strong> politischen Ansprüchen des Regimes und <strong>den</strong> Gesetzen<br />

DDR und ihre Vorgeschichte


271 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

des Forscherdase<strong>in</strong>s. Auch wenn es sich dabei nur um wenige prom<strong>in</strong>ente Eliteangehörige handelt,<br />

die besonders großem Druck ausgesetzt waren, lassen sich daraus die Parameter e<strong>in</strong>er Gesellschaftsgeschichte<br />

ableiten. Sie beleuchten die Innensicht des Experiments Modernisierungssozialismus<br />

Marke DDR, das, wie die Autor<strong>in</strong> zu Recht betont, immer auf Massenmobilisierung angelegt war.<br />

Dar<strong>in</strong> lag möglicherweise die größte Chance, die Kohäsionskräfte <strong>in</strong> der DDR-Gesellschaft gegen<br />

<strong>den</strong> drohen<strong>den</strong> Verfall der diktatorischen Autorität der Parteistrategen abzusichern. Nicht zufällig<br />

kumulierte diese Ende der 1980er Jahre, als das Scheitern aller Hochtechnologieutopien offenkundig<br />

gewor<strong>den</strong> war. Für die gesellschaftspolitischen Aushandlungsprozesse zwischen Erf<strong>in</strong>dergenies und<br />

Politikerkasten, die auch <strong>für</strong> jede andere Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts von Bedeutung<br />

waren, liefert „Red Prometheus“ wesentliche Anregungen, wie man leitende Fragestellungen und luzide<br />

Erklärungsangebote aus e<strong>in</strong>er unerschöpflich breit gelagerten und stellenweise äußerst kurzweilig zu<br />

lesen<strong>den</strong> Empirie ableiten kann. Besondere <strong>für</strong> die Analyse jener Vergleichsgesellschaft, die der<br />

DDR am nächsten lag, diejenige der Sowjetunion, setzt ihr Buch Maßstäbe e<strong>in</strong>er zielgerichteten<br />

Hermeneutik, die die Akteure nicht aus dem Blickfeld e<strong>in</strong>er Makrogeschichte verliert.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

DDR und ihre Vorgeschichte


Wolfgang Benz: Auftrag Demokratie. Die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik und die<br />

Entstehung der DDR 1945–1949, Berl<strong>in</strong>: Metropol 2009, 528 S., ISBN 978-3-940938-42-8, EUR<br />

29,90<br />

Rezensiert von Heike Amos<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 12<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/12/16308.html<br />

Wolfgang Benz verfolgt mit se<strong>in</strong>er jüngst erschienenen Monographie<br />

das Ziel, im geschichtsträchtigen Jubiläumsjahr 2009<br />

die „<strong>in</strong> <strong>den</strong> Schatten gedrängte Kenntnis über die Entstehungs-<br />

und Gründungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland<br />

(BRD) wie der Deutschen Demokratischen Republik<br />

(DDR)“ wieder hervorzuholen. Benz kritisiert, dass sich <strong>in</strong> der<br />

öffentlichen Me<strong>in</strong>ung die „griffige Metapher von der ‚Stunde<br />

Nullʻ“, die sich vom Zusammenbruch des NS-Regimes im Mai<br />

1945 bis zu <strong>den</strong> bei<strong>den</strong> Staatsgründungen im September bzw.<br />

im Oktober 1949 ausgedehnt haben soll, zur „bequemen Legende“<br />

(9, 478) gewor<strong>den</strong> sei. Die Entwicklung im Vier-<br />

Zonen-Deutschland unter alliierter Besatzungsherrschaft „wäre<br />

dann reduziert auf <strong>den</strong> verme<strong>in</strong>tlich selbstverursachten Wiederaufbauerfolg<br />

im Westen“ und die „selbstgefällige moralische<br />

Überlegenheit im Osten“ (9), mit dem „praktizierten<br />

Antifaschismus“ die richtigen Lehren aus der Geschichte<br />

gezogen zu haben. Die unangenehmen Assoziationen der Besatzungszeit<br />

– Hunger und Flüchtl<strong>in</strong>gsnot, Demontage und<br />

Entnazifizierung, Demut, Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit<br />

bei <strong>den</strong> Deutschen – wür<strong>den</strong> lieber verdrängt als wahrgenommen. Auf alliierte Weisung nämlich<br />

wurde <strong>in</strong> Deutschland Demokratie gegründet: im Westen durch Wahlen, durch legitimierte parlamentarische<br />

Repräsentation, im Osten als „antifaschistisch-demokratisches“ Ordnungsmodell auf<br />

Weisung Moskaus. Damit seien aber, so Benz, die Ergebnisse der bei<strong>den</strong> Staatsgründungen noch<br />

nicht vorweggenommen, weder der ökonomische und politische Erfolg der BRD noch das Scheitern<br />

der DDR: „Nach unterschiedlichen Konzeptionen <strong>in</strong>s Leben getreten, hatten beide deutsche Staaten<br />

die Chance des Neubeg<strong>in</strong>ns [...] Aber weder war die BRD zum Restaurationsregime determ<strong>in</strong>iert<br />

noch musste die DDR sich zwangsläufig zur stal<strong>in</strong>istischen Diktatur entwickeln.“ (10)<br />

Wolfgang Benz will mit se<strong>in</strong>em Buch die dramatischen Entstehungsbed<strong>in</strong>gungen, die politischen<br />

und ökonomischen Strukturen der bei<strong>den</strong> Staatsgründungen nachzeichnen und damit e<strong>in</strong>er „Legen<strong>den</strong>-<br />

und Mythenbildung“ (10, 477) entgegenwirken. In sieben Kapiteln – Besatzungsherrschaft<br />

1945/46, Bizone, Marshallplan und Währungsreform im Westen, Volkskongreßbewegung und Berl<strong>in</strong>-Blockade<br />

im Osten, Weg zum Grundgesetz, Bundestagswahlkampf, zwei Staatsgründungen –<br />

wird dargestellt, wie sich auf vielen Handlungsebenen Wiederaufbau und Neubau im Vier-Zonen-<br />

Deutschland unter alliierten Vorgaben und Kontrollen vollzog.


273 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Der rechtsstaatliche Weg wurde <strong>den</strong> Deutschen im Westen von <strong>den</strong> Westalliierten förmlich aufgedrängt,<br />

so Benz. Es habe e<strong>in</strong>en „Auftrag Demokratie“ gegeben, dem oft westdeutscher Widerstand<br />

entgegentrat. E<strong>in</strong> Beispiel da<strong>für</strong> war die Neugestaltung des Rundfunksystems, das die Alliierten gegen<br />

die deutschen Vorstellungen e<strong>in</strong>führten und über dessen Funktionieren sie bis 1955 wachten.<br />

Die (West)deutschen wollten zwar e<strong>in</strong> Art „Propagandam<strong>in</strong>isterium“ vermei<strong>den</strong>, konnten sich e<strong>in</strong>en<br />

öffentlichen Rundfunk ohne staatliche Kontrolle jedoch nicht vorstellen. Aus Großbritannien und<br />

<strong>den</strong> USA wurde das Konzept der Unabhängigkeit des Rundfunks vom Staat und die Dezentralisierung<br />

der Sender und Radiostationen e<strong>in</strong>geführt. Für öffentlich-rechtliche Anstalten, die nicht dem<br />

Zugriff des Staatsapparates ausgesetzt waren, gab es <strong>in</strong> Deutschland ke<strong>in</strong>e Vorbilder. In der SBZ<br />

entwickelte die SMAD h<strong>in</strong>gegen <strong>den</strong> Rundfunk zur Lenkung der öffentlichen Me<strong>in</strong>ung; die Kontrolle<br />

des zentralisierten Mediums erfolgte dann durch e<strong>in</strong>e Abteilung der Ost-Berl<strong>in</strong>er SED-Zentrale.<br />

Auch angesichts des alliierten Auftrags zur Weststaatsgründung (Frankfurter Dokumente) sowie<br />

bei <strong>den</strong> Beratungen und der Verabschiedung des Grundgesetzes als Verfassung e<strong>in</strong>es westdeutschen<br />

Staates regte sich zunächst Widerstand bei allen Parteienvertretern: Westdeutsche Politiker wollten<br />

das Odium und die Verantwortung der Spaltung Deutschlands nicht auf sich nehmen.<br />

Irritierend bei der Lektüre der Studie s<strong>in</strong>d Sätze bzw. ganze Absätze, die wortwörtlich an verschie<strong>den</strong>en<br />

Stellen der Darstellung wiederholt wer<strong>den</strong> (95, 96, 98, 141, 144, 217 usw.). So schien<br />

Benz der halbseitige Absatz – die rhetorische Frage und Antwort danach, warum es von Seiten der<br />

Deutschen gegen die Besatzungsmächte nirgendwo und nirgendwann zu nennenswerten Aktivitäten,<br />

Sabotage oder Widerstandshandlungen gekommen sei – so wichtig, dass er zwei Mal <strong>in</strong> verschie<strong>den</strong>en<br />

Zusammenhängen auftaucht (95, 217).<br />

Während der Weg zur Errichtung der Bundesrepublik detailliert, faktenreich und archivgestützt<br />

erörtert wird – u. a. lassen längere Zitate von Zeitzeugen auch e<strong>in</strong>en Blick auf die deutsche Bef<strong>in</strong>dlichkeit<br />

unter der Besatzung zu –, gilt dies <strong>für</strong> die dargestellten Ereignisse sowie die politisch Handeln<strong>den</strong><br />

<strong>in</strong> der SBZ nicht. Nicht nur quantitativ gesehen geht Benz allzu schnell und undifferenziert<br />

über die ostdeutsche Nachkriegsgeschichte h<strong>in</strong>weg, auch se<strong>in</strong>e Literaturnachweise verwundern. [1]<br />

Der Leser gew<strong>in</strong>nt <strong>den</strong> E<strong>in</strong>druck, als habe der Autor die Forschungsliteratur zur SBZ/DDR-<br />

Geschichte der letzten zwanzig Jahre nicht wahrgenommen. An verschie<strong>den</strong>en Textstellen behauptet<br />

er sogar, es existieren noch ke<strong>in</strong>e Forschungsergebnisse über bestimmten Themenfelder – wie über<br />

die Schaffung und Stal<strong>in</strong>isierung der SED, über <strong>den</strong> Gründungsprozess der DDR oder zur ostdeutschen<br />

Verfassungsdiskussion. In e<strong>in</strong>em anderen Textabschnitt wird erklärt, die Höhe der Reparationsleistungen<br />

aus der SBZ an die Sowjetunion sei unbekannt, um dann e<strong>in</strong>ige Seiten weiter darüber zu<br />

referieren und neue Forschungsliteratur anzugeben! Memoiren von ostdeutschen oder sowjetischen<br />

Politikern wer<strong>den</strong> ebenso wie Biographien über diese nicht berücksichtigt.<br />

Wolfgang Benz fasst mit se<strong>in</strong>em neuen Buch Ergebnisse aus drei Jahrzehnten eigener Forschung<br />

zur deutschen Nachkriegsgeschichte zusammen. Die Studie ist sicher e<strong>in</strong> Standardwerk zur Vorgeschichte<br />

der Bundesrepublik. Als Standardwerk zur Gründungsgeschichte der DDR kann es h<strong>in</strong>gegen<br />

nicht bezeichnet wer<strong>den</strong>.<br />

Anmerkung:<br />

[1] Oft zitiert Benz: Autorenkollektiv unter Leitung von Rolf Badstübner: Geschichte der Deutschen<br />

Demokratischen Republik, Berl<strong>in</strong> (Ost) 1981; Rolf Badstübner: DDR. Wer<strong>den</strong> und Wachsen.<br />

Zur Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik, Frankfurt a. M. 1975; Wolfgang Me<strong>in</strong>icke:<br />

Die Entnazifizierung <strong>in</strong> der sowjetischen Besatzungszone 1945 bis 1948, <strong>in</strong>: ZfG 32 (1984),<br />

968-979; Hermann Weber, Geschichte der DDR, München 1985.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

DDR und ihre Vorgeschichte


Sandra Carius: Projekt: E<strong>in</strong>heitssozialversicherung. Entstehung der e<strong>in</strong>heitlichen<br />

Sozialversicherung <strong>in</strong> der SBZ/DDR von 1945 bis 1952 am Beispiel Thür<strong>in</strong>gens<br />

(= Schriften zur Rechtswissenschaft; Bd. 107), Berl<strong>in</strong>: Wissenschaftlicher Verlag Berl<strong>in</strong> 2008,<br />

328 S., ISBN 978-3-86573-406-8, EUR 42,00<br />

Rezensiert von Dierk Hoffmann<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 10<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/10/15915.html<br />

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wur<strong>den</strong> bekanntlich <strong>in</strong> der sowjetischen Besatzungszone<br />

rasch die Weichen <strong>in</strong> Richtung E<strong>in</strong>heitssozialversicherung gestellt. Zwischen <strong>den</strong> von der SMAD<br />

zugelassenen Parteien war das Ziel e<strong>in</strong>er Vere<strong>in</strong>igung sämtlicher Versicherungszweige und -träger<br />

sowie die Ausdehnung der Versicherungspflicht auf nahezu alle Berufs- und Bevölkerungsgruppen<br />

im Grundsatz unstrittig. Die sowjetische Besatzungsmacht verh<strong>in</strong>derte <strong>in</strong> ihrer Zone <strong>den</strong> Wiederaufbau<br />

von Interessenorganisationen, sodass sich im Gegensatz zu <strong>den</strong> westlichen Besatzungszonen<br />

ke<strong>in</strong> Widerstand gegen die Neuordnung des Systems sozialer Sicherheit formieren konnte. Mit der<br />

Gründung der Zentralverwaltung <strong>für</strong> Arbeit und Sozial<strong>für</strong>sorge (ZVAS) im Sommer 1945 schien<br />

sich e<strong>in</strong> rascher Abschluss dieses alten Reformprojektes der deutschen Arbeiterbewegung abzuzeichnen.<br />

Da die Sowjetunion jedoch <strong>den</strong> Ausgang der Verhandlungen im Alliierten Kontrollrat abwarten<br />

wollte, untersagte Karlshorst der ostdeutschen Verwaltung bis Ende 1946, e<strong>in</strong>e entsprechende Verordnung<br />

zu erlassen, die die Sozialversicherung <strong>in</strong> der SBZ zwar vere<strong>in</strong>heitlicht, <strong>den</strong> Graben zu <strong>den</strong><br />

Westzonen aber vertieft hätte.<br />

So konnte der Aufbau der E<strong>in</strong>heitssozialversicherung zunächst nur auf Länderebene erfolgen. Das<br />

untersucht Sandra Carius <strong>in</strong> der vorliegen<strong>den</strong> rechtshistorischen Studie, die auf ihrer Dissertation an<br />

der Universität Jena aus dem Jahr 2001 basiert, e<strong>in</strong>gehend am Beispiel Thür<strong>in</strong>gens. Die Autor<strong>in</strong> hat<br />

die e<strong>in</strong>schlägigen Aktenbestände der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der<br />

DDR im Bundesarchiv (SAPMO) sowie <strong>in</strong>sbesondere des thür<strong>in</strong>gischen Hauptstaatsarchivs ausgewertet.<br />

Die wichtigsten Entwicklungsstationen s<strong>in</strong>d bereits seit e<strong>in</strong>iger Zeit bekannt: Die Landesregierungen<br />

reagierten anfangs sehr reserviert auf die Umstrukturierungspläne, <strong>den</strong>n sie be<strong>für</strong>chteten e<strong>in</strong>e<br />

zunehmende Zentralisierung der Sozialversicherung <strong>in</strong> <strong>den</strong> Hän<strong>den</strong> der Berl<strong>in</strong>er Zentralverwaltung.<br />

ZVAS und Landesverwaltungen arbeiteten <strong>in</strong> der Frühphase parallel am Aufbau der E<strong>in</strong>heitsver-<br />

sicherung, allerd<strong>in</strong>gs mit zum Teil gegensätzlicher Zielrichtung. Während die Zentralverwaltung<br />

daran <strong>in</strong>teressiert war, ihren Zuständigkeitsbereich zu Lasten der Länder ständig zu erweitern, waren<br />

die zuständigen Landesm<strong>in</strong>isterien darauf bedacht, ihren E<strong>in</strong>fluss zu wahren. Somit g<strong>in</strong>g es gar nicht<br />

um unterschiedliche <strong>in</strong>haltliche Auffassungen, sondern lediglich um Fragen des <strong>in</strong>stitutionellen Aufbaus<br />

und der Kompetenzverteilung. Unter dem Dach der Landesversicherungsanstalten wur<strong>den</strong> die<br />

Orts-, Betriebs-, Innungs- und Landkrankenkassen sowie die Ersatzkassen und alle Renten- und Unfallversicherungsträger<br />

vere<strong>in</strong>igt. Carius schildert – nach e<strong>in</strong>em sehr knappen historischen Rückblick<br />

auf die Entstehung und Entwicklung der Bismarck’schen Sozialversicherung bis 1945 – detailliert<br />

<strong>den</strong> Verwaltungsaufbau <strong>in</strong> Thür<strong>in</strong>gen und beschreibt <strong>den</strong> Ausbau der Sozialleistungen <strong>in</strong> <strong>den</strong> e<strong>in</strong>zelnen<br />

Versicherungszweigen.


275 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

In <strong>den</strong> Ländern erfolgte als erstes der Zusammenschluss der Krankenversicherungsträger, der<br />

trotz anfänglichen Widerstands noch bestehender Kassen rasch abgeschlossen wurde. Die neu gebildete<br />

Krankenversicherung übernahm <strong>in</strong> der Folge auch Aufgaben der Renten- und Unfallversicherung<br />

und entwickelte sich zum Nukleus der E<strong>in</strong>heitssozialversicherung. Als Letztes nahmen die<br />

Landesverwaltungen die Rentenauszahlung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em stark e<strong>in</strong>geschränkten Umfang wieder auf. Erst<br />

Anfang 1946 konnte hier mit der Leistungsauszahlung begonnen wer<strong>den</strong>, wobei anfangs nur die<br />

Hälfte des <strong>in</strong> der alten Reichsversicherungsordnung vorgesehenen Rentensatzes gewährt wurde. Die<br />

Landesverwaltungen führten sowohl e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>destrente als auch e<strong>in</strong>e Höchstgrenze bei der Rentengewährung<br />

e<strong>in</strong>. Die M<strong>in</strong>destrente sollte e<strong>in</strong> Existenzm<strong>in</strong>imum garantieren. Trotz mehrmaliger Erhöhung<br />

durch die ZVAS reichte sie jedoch nicht zur Deckung des Lebensunterhaltes der Rentner <strong>in</strong><br />

der SBZ/DDR aus. Auch der Neuanfang <strong>in</strong> der Arbeitslosenversicherung verlief nicht ohne Schwierigkeiten.<br />

Dieser Zweig des Systems sozialer Sicherheit war sogar im ersten Entwurf der Sozialversicherungsordnung<br />

noch gar nicht vorgesehen. Sowohl ZVAS als auch SED-Führung g<strong>in</strong>gen davon aus,<br />

dass es <strong>in</strong> Deutschland ke<strong>in</strong>e Arbeitslosigkeit mehr geben werde und von daher e<strong>in</strong> eigenständiger<br />

Versicherungszweig nicht notwendig sei. Die Nachkriegsarmut und vor allem das Ansteigen der<br />

Arbeitslosenzahlen 1947 belehrten jedoch die politisch Verantwortlichen e<strong>in</strong>es Besseren.<br />

Die Autor<strong>in</strong> geht <strong>in</strong> ihrer Studie auch ausführlich auf <strong>den</strong> SMAD-Befehl Nr. 28 vom 28. Januar<br />

1947 e<strong>in</strong>, der die Vere<strong>in</strong>heitlichung der Sozialversicherung auf zonaler Ebene e<strong>in</strong>leitete. Die drei<br />

Teilverordnungen bildeten das rechtliche Fundament der Sozialversicherung, das <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en wichtigsten<br />

Elementen nahezu unverändert bestehen blieb. Die Verordnung über die Sozialpflichtversicherung<br />

schrieb das Pr<strong>in</strong>zip der Volksversicherung fest. Es wurde ke<strong>in</strong>e versicherungsrechtliche Unterscheidung<br />

mehr zwischen e<strong>in</strong>zelnen Berufsgruppen getroffen. Die E<strong>in</strong>ebnung sozialrechtlicher Unterschiede<br />

betraf die besonders <strong>in</strong> Deutschland stark ausgeprägte sogenannte Kragenl<strong>in</strong>ie, d.h. die Unterscheidung<br />

zwischen Arbeitern und Angestellten. Für die Angestellten wurde ke<strong>in</strong>e eigenständige<br />

Versicherung aufgebaut. Außerdem verloren die Beamten ihre bisherige Sonderstellung im System<br />

sozialer Sicherheit. Carius weist aber zu Recht auch darauf h<strong>in</strong>, dass das Pr<strong>in</strong>zip der E<strong>in</strong>heitssozialversicherung<br />

mit e<strong>in</strong>em <strong>für</strong> alle Beschäftigten e<strong>in</strong>heitlichen Leistungssystem noch vor der DDR-<br />

Gründung durchbrochen wurde. Als e<strong>in</strong>e <strong>für</strong> <strong>den</strong> wirtschaftlichen Aufbau des Landes wichtige Berufsgruppe<br />

behielten etwa die Bergarbeiter e<strong>in</strong>ige ihrer aus der Tradition der Knappschaft stammen<strong>den</strong><br />

Sonderrechte. Das <strong>in</strong>dividuelle E<strong>in</strong>kommen wurde als Kriterium <strong>für</strong> die Zugehörigkeit zur Sozialpflichtversicherung<br />

bedeutungslos. Entschei<strong>den</strong>d war vielmehr die Anzahl der Beschäftigten: Nur<br />

die Selbstständigen mit mehr als fünf Beschäftigten blieben aus der E<strong>in</strong>heitsversicherung ausgeschlossen.<br />

Für diese Personengruppe, die durch die Zentralverwaltungswirtschaft ökonomisch immer weiter<br />

<strong>in</strong>s Abseits gedrängt wurde, schuf die SED-Führung e<strong>in</strong>e sogenannte freiwillige Versicherung mit<br />

schlechteren Konditionen. Der Befehl Nr. 28 übernahm von <strong>den</strong> gesetzlichen Regelungen auf Landesebene<br />

unter anderem auch das Versicherungspr<strong>in</strong>zip. Alle Versicherten hatten zehn Prozent ihres<br />

monatlichen Bruttoe<strong>in</strong>kommens an die Sozialversicherung abzuführen; die Beitragsbemessungsgrenze<br />

lag bei 600,- DM (Ost). Das Beitragssystem wurde im Übrigen bis zum Untergang der DDR<br />

nicht an die sich ändern<strong>den</strong> sozioökonomischen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen angepasst.<br />

Carius untersucht außerdem die Personalpolitik <strong>in</strong> der Sozialversicherungsanstalt (SVA) Thür<strong>in</strong>gen.<br />

Dabei thematisiert sie unter anderem die Entnazifizierung <strong>in</strong> <strong>den</strong> ersten Nachkriegsjahren sowie<br />

die Kaderpolitik Anfang der fünfziger Jahre, obwohl der personelle Umbau 1949 schon weitgehend<br />

abgeschlossen war. Als Leser hätte man sich noch Genaueres über die Ausschaltung ehemaliger Sozialdemokraten<br />

<strong>in</strong> der Versicherungsverwaltung und deren Ersetzung durch Kommunisten gewünscht.<br />

Die Studie schließt zeitlich gesehen mit dem Ende der selbstverwalteten SVA Thür<strong>in</strong>gen und der Errichtung<br />

e<strong>in</strong>er zentralen Sozialversicherungsanstalt 1951/52. Die Autor<strong>in</strong> bestätigt das Urteil bisheriger<br />

Forschungsarbeiten, die <strong>den</strong> E<strong>in</strong>fluss der sowjetischen Besatzungsmacht auf dem Gebiet der Sozial-<br />

DDR und ihre Vorgeschichte


276 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

versicherung sehr ger<strong>in</strong>g veranschlagt haben. Besonders aufschlussreich s<strong>in</strong>d die Buchpassagen, <strong>in</strong><br />

<strong>den</strong>en Carius <strong>den</strong> Widerstand der Betriebskrankenkasse Carl-Zeiss Jena schildert. Sie kann nachweisen,<br />

dass der Protest gegen die Schließung von Sondere<strong>in</strong>richtungen umso erfolgreicher war, je stärker<br />

die wirtschaftlichen Interessen der SMA bzw. SED tangiert wur<strong>den</strong> (290). Insgesamt handelt es sich<br />

um e<strong>in</strong>e handwerklich solide Studie, die am Ende aber e<strong>in</strong>e nicht unwichtige Frage offen lässt: Welche<br />

Bedeutung kommt dem Land Thür<strong>in</strong>gen bei der Neugestaltung der Sozialversicherung noch zu,<br />

wenn die Verfasser<strong>in</strong> mehrmals zu Recht auf <strong>den</strong> nicht nur politisch, sondern auch f<strong>in</strong>anzpolitisch<br />

äußerst engen Gestaltungsspielraum der Landesregierung h<strong>in</strong>weist?<br />

Redaktionelle Betreuung: Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

DDR und ihre Vorgeschichte


Mark Fenemore: Sex, Thugs and Rock ‘n’ Roll. Teenage Rebels <strong>in</strong> Cold-War East Germany,<br />

(= Monographs <strong>in</strong> German History; Bd. 17), New York/Oxford: Berghahn Books 2007, 277 S.,<br />

ISBN 978-1-57181-532-3, £ 45,00<br />

Rezensiert von Marc-Dietrich Ohse<br />

Hannover<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 9<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/09/15941.html<br />

Mark Fenemore wählt <strong>für</strong> se<strong>in</strong>e Monografie über Jugendkulturen<br />

beziehungsweise Jugendsubkulturen <strong>in</strong> der SED-Diktatur<br />

e<strong>in</strong>e Genderperspektive und betritt damit weitestgehend Neuland.<br />

Die Studie erweitert die Kenntnisse über Jugend(-politik)<br />

wie auch über Geschlechterverhältnisse <strong>in</strong> der DDR um wichtige<br />

Aspekte. Fenemore führt se<strong>in</strong>e Thesen am Beispiel Leipzigs<br />

aus [1], weil dort erkennbar sei, dass Jugendrebellion<br />

sich nicht auf Unterschichten beziehungsweise die Arbeiterklasse<br />

beschränkt, sondern auch die „middle class“ ergriffen<br />

habe (8).<br />

Die Studie schließt an die Arbeit Detlev Peukerts über Meuten<br />

im Nationalsozialismus an und fragt dementsprechend<br />

weniger nach <strong>Institut</strong>ionen der Jugendpolitik als nach <strong>den</strong><br />

Grün<strong>den</strong> <strong>für</strong> das Scheitern der Gleichschaltung Jugendlicher<br />

<strong>in</strong> der Diktatur. [2] Zum anderen folgt Fenemore dem Ansatz<br />

des Birm<strong>in</strong>gham Centre of Contemporary Cultural Studies<br />

(CCCS), der – <strong>in</strong> Anlehnung an Antonio Gramsci – zwischen<br />

hegemonialen (offiziellen) Kulturen und resistenten Subkulturen<br />

unterscheidet. Allerd<strong>in</strong>gs geht der Autor <strong>in</strong>sofern darüber h<strong>in</strong>aus, als er nachweist, dass gerade<br />

mit Blick auf die Geschlechterverhältnisse Elemente der Hegemonialkultur auch <strong>in</strong> <strong>den</strong> Subkulturen<br />

zu f<strong>in</strong><strong>den</strong> seien (9f.).<br />

Dies belegt Fenemore sehr e<strong>in</strong>gehend und anschaulich anhand der Entwicklung von Geschlechterbildern<br />

beziehungsweise Rollenzuweisungen und deren Revitalisierung <strong>in</strong> Konflikten zwischen<br />

dem SED-Staat und nonkonformen Jugendlichen. Dem voraus gehen e<strong>in</strong>e knappe Skizze der Forschungsfragen<br />

und e<strong>in</strong>e Darstellung des Ansatzes und der Quellenlage sowie e<strong>in</strong> kurzer Aufriss der<br />

politischen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen und <strong>Institut</strong>ionen der „zigzag policies <strong>in</strong> relation to gender, youth<br />

and sexuality.“ (29) Fenemore stützt sich auf e<strong>in</strong> breites Spektrum archivalischer Quellen (lokaler,<br />

regionaler und zentralstaatlicher Bestände, bis h<strong>in</strong> zu Stasiakten), auf Presseveröffentlichungen, narrative<br />

Interviews wie auch e<strong>in</strong>en – begrenzten – Fundus aus Literatur, Film und Fotografie.<br />

Sehr e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich gel<strong>in</strong>gt es dem Autor, Korrelationen zwischen nonkonformen Jugend(sub-)kulturen<br />

<strong>in</strong> der DDR und ihrer Stigmatisierung durch <strong>den</strong> SED-Staat mit Zuweisungen von Geschlechterrollen<br />

und -stereotypen aufzuzeigen. Dabei stellt Fenemore gewisse janusköpfige, ambivalente<br />

(„b<strong>in</strong>ary“) Zuschreibungen fest (239). So habe der SED-Staat, bis h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> die Alltagswelt der


278 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Arbeit, e<strong>in</strong> heroisches Männlichkeitsideal propagiert, dessen Traditionen – entgegen dem anti-<br />

faschistischen Selbstverständnis der SED – zum Teil <strong>in</strong> die Zeit des Nationalsozialismus zurückreichten.<br />

Ähnliche Kont<strong>in</strong>uitäten f<strong>in</strong>det Fenemore <strong>in</strong> der Stigmatisierung alternativer sexueller Lebensweisen,<br />

etwa im Verhältnis zur Homosexualität, vor allem aber <strong>in</strong> der Ause<strong>in</strong>andersetzung mit dem<br />

sich wandeln<strong>den</strong> (sexuellen) Selbstverständnis von jungen Frauen.<br />

An <strong>den</strong> Stellen, wo der Verfasser sehr detailliert auf die Rollenzuweisungen und deren praktische<br />

Umsetzung e<strong>in</strong>geht, ist se<strong>in</strong>e Studie besonders überzeugend. So zeigt Fenemore e<strong>in</strong>erseits die kommunistischen<br />

Ideale des kämpferischen Arbeiters und antifaschistischen Verteidigers des Sozialismus<br />

(45-50) und andererseits das – geradezu traditionelle – Bild der sozialistischen Frau, die um<br />

Re<strong>in</strong>heit und Mütterlichkeit bemüht se<strong>in</strong> solle und vorrangig auf e<strong>in</strong>e helfende Funktion bei Aufbau<br />

und Verteidigung des Sozialismus und dementsprechende Unterstützung des Kämpfers und Arbeiters<br />

reduziert werde (56-58). Diesen Männlichkeits- und Weiblichkeitsidealen stehen die nonkonformen<br />

bis devianten jungen Männer gegenüber. Deren eigene Rollenzuschreibungen deckten sich gleichwohl<br />

zum Teil mit <strong>den</strong>en der SED – nämlich dort, wo es um Härte und damit auch um die Unterordnung<br />

des „Schwachen“, e<strong>in</strong>schließlich des Frem<strong>den</strong> und des Weiblichen g<strong>in</strong>g. Ihnen gegenüber stehen<br />

die nonkonformen jungen Frauen, deren sexuelle (Selbst-)Befreiung und Selbstbehauptung als „unsauber“,<br />

„krank(haft)“ und „asozial“ diskrim<strong>in</strong>iert wer<strong>den</strong> (187-190).<br />

Der Wandel der Weiblichkeit fand überwiegend im Privaten statt, da er nicht nur von <strong>den</strong> alten<br />

Männern der SED weitgehend missbilligt wurde. Das Gleiche gilt <strong>für</strong> die Homosexuellen, auf die<br />

der Autor nur <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Zusammenfassung kurz e<strong>in</strong>geht (237f.). Beides führte, wie er e<strong>in</strong>gesteht, zu<br />

Ungleichgewichten <strong>in</strong> der Quellenbasis und zum Teil eben auch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Ausführungen. Dar<strong>in</strong> liegt<br />

e<strong>in</strong>e Schwäche se<strong>in</strong>es Buches. Die große Stärke der Studie besteht jedoch dar<strong>in</strong>, dass sie Männlichkeitsideale<br />

und deren praktischen Vollzug <strong>in</strong> <strong>den</strong> verschie<strong>den</strong>sten Zusammenhängen untersucht und<br />

zusammenführt. Das wird unter anderem dort besonders <strong>in</strong>teressant, wo Fenemore die Tugen<strong>den</strong> von<br />

Neonazis <strong>in</strong> der DDR mit <strong>den</strong>en von SED-Funktionären vergleicht und deutliche Parallelen zwischen<br />

<strong>den</strong> Idealen des harten Mannes auf der Straße und des braven Bürgers auf der Arbeit und zu<br />

Hause nachzeichnen kann (221).<br />

Insgesamt f<strong>in</strong>det der Verfasser etliche Ambivalenzen, wenn er feststellt, dass die Partei hier e<strong>in</strong>erseits<br />

Traditionsl<strong>in</strong>ien der Arbeiterbewegung fortgesetzt, andererseits aber <strong>in</strong> der Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

mit Jugendlichen und deren Nonkonformismus <strong>in</strong> Habitus, Musik und Mode sowie vor allem im<br />

Verhältnis der Geschlechter kle<strong>in</strong>bürgerliche Normen sich zu eigen gemacht und genutzt habe. Habe<br />

die SED dadurch e<strong>in</strong>en Konsens der Älteren herstellen können, auf <strong>den</strong> Fenemore nicht näher e<strong>in</strong>geht,<br />

so habe die Partei ihn mit der Jugend nur dann erreicht, wenn sie ihr Offenheit und Toleranz<br />

entgegenbrachte (157).<br />

Im Umgang mit der Jugend neigten die Kommunisten <strong>in</strong> der DDR zu vielfältigen Fehlschlüssen<br />

und Fehlgriffen. Dazu zählt, dass ihr Männlichkeitsideal sich nicht nur mit dem der Arbeiterklasse,<br />

sondern eben auch mit dem des Nationalsozialismus deckte. Das Gleiche gilt <strong>für</strong> die kämpferische,<br />

teilweise gewaltverherrlichende Rhetorik und <strong>für</strong> die Ausgrenzung alternativer Lebensentwürfe, e<strong>in</strong>schließlich<br />

des sexuellen Selbstverständnisses, die als „asozial“ und damit als „geme<strong>in</strong>schaftsfremd“<br />

<strong>den</strong>unziert und sanktioniert wur<strong>den</strong>.<br />

Gleichwohl seien mit dem Verzicht auf die Geschlechtertrennung <strong>in</strong> der Arbeit der FDJ und der<br />

progressiven Frauenpolitik seit Anfang der Siebzigerjahre I<strong>den</strong>tifikationsangebote <strong>für</strong> junge Frauen<br />

bereitgestellt wor<strong>den</strong>. Junge Männer h<strong>in</strong>gegen hätten sich dort am ehesten mit dem SED-Staat i<strong>den</strong>tifiziert,<br />

wo dessen Rollenzuschreibungen sich mit <strong>den</strong> eigenen deckten. Die Stigmatisierung abweichender<br />

Rollen(selbst-)verständnisse h<strong>in</strong>gegen habe langfristig zu e<strong>in</strong>er Stärkung jenes Potenzials geführt,<br />

das sich seit Anfang der Achtzigerjahre <strong>in</strong> der Bürgerrechtsbewegung formierte.<br />

DDR und ihre Vorgeschichte


279 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Anmerkungen:<br />

[1] Vgl. mit demselben lokalen Fokus u.a.: Michael Vester u.a. (Hrsg.): Soziale Milieus <strong>in</strong> Ostdeutschland.<br />

Gesellschaftliche Strukturen zwischen Zerfall und Neubildung, Köln 1995; Dorothee<br />

Wierl<strong>in</strong>g: Geboren im Jahr E<strong>in</strong>s. Der Jahrgang 1949 <strong>in</strong> der DDR, Berl<strong>in</strong> 2002. Fenemore<br />

berücksichtigt h<strong>in</strong>gegen nicht Annegret Schüle: „Die Sp<strong>in</strong>ne“. Die Erfahrungsgeschichte weiblicher<br />

Industriearbeit im VEB Leipziger Baumwollsp<strong>in</strong>nerei, Leipzig 2001, und Marc-Dietrich<br />

Ohse: Jugend nach dem Mauerbau. Anpassung, Protest und Eigens<strong>in</strong>n, Berl<strong>in</strong> 2003.<br />

[2] Detlev Peukert: Volksgenossen und Geme<strong>in</strong>schaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren<br />

unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

DDR und ihre Vorgeschichte


Silke Fengler: Entwickelt und fixiert. Zur Unternehmens- und Technikgeschichte<br />

der deutschen Foto<strong>in</strong>dustrie, dargestellt am Beispiel der Agfa AG Leverkusen und des<br />

VEB Filmfabrik Wolfen (1945–1995) (= Bochumer Schriften zur Unternehmens- und<br />

Industriegeschichte; Bd. 18), Essen: Klartext 2009, 311 S., ISBN 978-3-8375-0012-7, EUR 29,95<br />

Rezensiert von Ra<strong>in</strong>er Karlsch<br />

Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 10<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/10/16252.html<br />

Am 17. Februar 2008 kam es zur spektakulärsten Sprengung<br />

<strong>in</strong> der Geschichte Münchens. Das 52 Meter hohe Agfa-Haus<br />

wurde zugunsten e<strong>in</strong>es neu entstehen<strong>den</strong> grünen Viertels abgebrochen.<br />

Dieser Abriss war symbolträchtig: Damit verschwand<br />

e<strong>in</strong> weiteres Überbleibsel der e<strong>in</strong>stmals stolzen und<br />

leistungsstarken deutschen Kamera- und Foto<strong>in</strong>dustrie. Warum<br />

der Lebenszyklus dieser Branchen <strong>in</strong> bei<strong>den</strong> deutschen Staaten<br />

an der Schwelle zum 21. Jahrhundert endete, ist die zentrale<br />

Frage des sehr lesenswerten Buches von Silke Fengler,<br />

das auf ihrer 2007 an der RWTH Aachen verteidigten Dissertation<br />

beruht.<br />

Im ersten Kapitel wird das Modell der Pfadabhängigkeit<br />

als methodischer Ansatz <strong>für</strong> die Untersuchung vorgestellt und<br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong> folgen<strong>den</strong> Ausführungen überzeugend am Beispiel der<br />

klassischen Silberhalogenid-Fotografie demonstriert. Diese bildete<br />

sich Anfang des 20. Jahrhunderts aus und erreichte mit<br />

der Entwicklung des Agfa-Colorfilms 1936 e<strong>in</strong>en Höhepunkt.<br />

Der Actiengesellschaft <strong>für</strong> Anil<strong>in</strong>fabrikation (Agfa) gelang damit der Aufstieg zum Global Player<br />

und zum zweitgrößten Unternehmen der Fotochemie weltweit, übertroffen nur von Eastman Kodak.<br />

Wichtigster Produktionsstandort der Agfa war seit 1909 das <strong>in</strong> der preußischen Prov<strong>in</strong>z Sachsen<br />

(heute Sachsen-Anhalt) gelegene Wolfen. Die Fotopapierfabrik <strong>in</strong> Leverkusen erlangte erst nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg, als dort als Ersatz <strong>für</strong> die nunmehr <strong>in</strong> der Sowjetischen Besatzungszone<br />

(SBZ) liegen<strong>den</strong> Produktionskapazitäten e<strong>in</strong>e neue Filmfabrik erbaut wurde, zunehmende Bedeutung.<br />

Konsequent konzentriert sich Silke Fengler auf die Hauptl<strong>in</strong>ien der Unternehmens- und Technikgeschichte<br />

beider Standorte. Nur soweit es <strong>für</strong> das Verständnis der Gesamtentwicklung der Agfa<br />

zw<strong>in</strong>gend erforderlich ist, wird auch die Entwicklung der Kamerafabrik <strong>in</strong> München berücksichtigt.<br />

Im zweiten Kapitel wird der Aufstieg der Agfa zum Weltunternehmen beschrieben. Die Autor<strong>in</strong><br />

referiert dazu die e<strong>in</strong>schlägige Literatur. Die Rollen der e<strong>in</strong>zelnen Standorte waren klar verteilt:<br />

Wolfen produzierte Film, Leverkusen Fotopapier und das Kamerawerk München lieferte Kameras<br />

und Laborgeräte, während die Berl<strong>in</strong>er Vertriebszentrale <strong>den</strong> Absatz organisierte, ganz nach dem<br />

Pr<strong>in</strong>zip „alles aus e<strong>in</strong>er Hand“. Etwas mehr hätte man gern zur Konkurrenz mit Kodak erfahren, zumal<br />

die Autor<strong>in</strong> hervorhebt, dass das amerikanische Unternehmen <strong>für</strong> die Agfa das Maß aller D<strong>in</strong>ge


281 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

war und blieb. Phasen e<strong>in</strong>es scharfen Preiskampfes wechselten wiederholt mit Versuchen zur Interessenabgrenzung,<br />

bis h<strong>in</strong> zu Kartellabsprachen. [1]<br />

Im dritten Kapitel wird die Teilung des Unternehmens <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en ost- und e<strong>in</strong>en westdeutschen<br />

Nachfolger behandelt. Sowohl der Agfa AG Leverkusen als auch dem VEB Filmfabrik gelang es <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er etwa 20-jährigen Rekonstruktionsphase an die Erfolge der Vorkriegszeit anzuknüpfen. E<strong>in</strong>e<br />

entschei<strong>den</strong>de Voraussetzung da<strong>für</strong> war die Beibehaltung der historisch gewachsenen arbeitsteiligen<br />

Strukturen und wechselseitigen B<strong>in</strong>dungen, trotz <strong>in</strong>nerdeutscher Grenze und <strong>den</strong> Friktionen des Kalten<br />

Krieges.<br />

Auch der Wolfener Filmfabrik gelang, wie Fengler überzeugend belegt, die Rückgew<strong>in</strong>nung von<br />

Exportmärkten und dies trotz erheblicher Verluste durch Abwanderung und Demontagen. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

deuteten sich Ende der 1950er Jahre zunehmende Probleme an: Die Filmfabrik stieß an ihre Kapazitätsgrenzen,<br />

e<strong>in</strong> Ende der Kooperation mit Leverkusen zeichnete sich ab, es gab Qualitätsprobleme,<br />

der Export g<strong>in</strong>g zunehmend <strong>in</strong> die RGW-Länder, e<strong>in</strong> Zusammengehen mit der Kamera<strong>in</strong>dustrie <strong>in</strong><br />

Dres<strong>den</strong> kam nicht zustande und die Forschungsleistungen stagnierten. All dies wurde jedoch noch<br />

durch <strong>den</strong> hervorragen<strong>den</strong> Markennamen und das komplette Sortiment an Filmen, das Wolfen zu<br />

bieten hatte, überdeckt. E<strong>in</strong> Aspekt kommt <strong>in</strong> der Darstellung etwas zu kurz. Die wirtschaftlichen<br />

Schwierigkeiten des VEB Filmfabrik Wolfen h<strong>in</strong>gen auch damit zusammen, dass <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1950er und<br />

1960er Jahren die Herstellung von Chemiefasern <strong>in</strong> Wolfen e<strong>in</strong>en immer größeren Stellenwert e<strong>in</strong>nahm.<br />

Beide Produktionsl<strong>in</strong>ien an e<strong>in</strong>em Standort zu betreiben, war <strong>den</strong>kbar ungünstig, doch wurde<br />

diese der Kriegswirtschaft des NS-Regimes geschuldete Struktur bis zum Ende der DDR beibehalten.<br />

Im vierten Kapitel analysiert die Autor<strong>in</strong> die Ausreifungs- und Stagnationsphase (1964–81) der<br />

Agfa AG Leverkusen und des VEB Filmfabrik Wolfen bzw. ab 1970 Fotochemischen Komb<strong>in</strong>ats.<br />

Insbesondere dieser Teil des Buches, der <strong>den</strong> größten Umfang e<strong>in</strong>nimmt, besticht durch e<strong>in</strong>e sehr<br />

dichte und quellengesättigte Darstellung. Mit dem Konzentrationsprozess <strong>in</strong> der westdeutschen Foto<strong>in</strong>dustrie<br />

und dem 1964 erfolgten Zusammenschluss mit der Gevaert Photoproducten N.V. Mortsel<br />

konnte die Agfa ihre Marktpositionen ausbauen. In Schwierigkeiten geriet zuerst die Kameraproduktion.<br />

Die Unternehmensleitung schätzte <strong>den</strong> Trend zur Digitalisierung falsch e<strong>in</strong>. Während man <strong>in</strong><br />

München auf e<strong>in</strong>en schnellen E<strong>in</strong>stieg <strong>in</strong> die elektronische Bildaufzeichnung drängte, sah man <strong>in</strong><br />

Leverkusen ke<strong>in</strong>en akuten Handlungsbedarf. Erst nach herben Rückschlägen entschloss sich Agfa-<br />

Gevaert nicht länger am Agfa-Colorverfahren festzuhalten, sondern nun doch das Amateurfilmsegment<br />

Kodak-kompatibel zu machen. Dies gelang nur, weil die Konzernmutter Bayer e<strong>in</strong>en solchen Schritt<br />

unterstützte.<br />

Über vergleichbare Ressourcen verfügte Wolfen nicht. Dort war <strong>in</strong>zwischen das Agfa-Erbe schon<br />

weitgehend aufgezehrt. Die Ursachen <strong>für</strong> die schwere Krise, <strong>in</strong> die das Fotochemische Komb<strong>in</strong>at<br />

Mitte der 1970er Jahre geriet, wer<strong>den</strong> überzeugend analysiert. Weder kam es, trotz e<strong>in</strong>iger Ansätze,<br />

zu e<strong>in</strong>er funktionieren<strong>den</strong> Arbeitsteilung und Forschungskooperation im Rat <strong>für</strong> gegenseitige Wirtschaftshilfe<br />

(RGW) noch konnten die Schwächen <strong>in</strong> der Forschung und Entwicklung überwun<strong>den</strong><br />

wer<strong>den</strong>. Selbst auf <strong>den</strong> osteuropäischen Märkten kam Wolfen mehr und mehr unter Druck. Dabei<br />

wusste die Leitung des Komb<strong>in</strong>ats sehr wohl, was zu tun gewesen wäre: Schnellstmöglich auf das<br />

Kodak-System im Farbfilmbereich überzugehen. Doch alle diesbezüglichen Forderungen verhallten<br />

bei <strong>den</strong> zentralen Planungsbehör<strong>den</strong> und <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en Alle<strong>in</strong>gang reichten die Ressourcen des Komb<strong>in</strong>ats<br />

nicht aus. Bis 1990 sollte <strong>den</strong>noch der Umstieg auf neue Kodak-kompatible Farbfilme bewältigt<br />

wer<strong>den</strong>, wozu es aber nicht mehr kam.<br />

Etwas knapp geraten ist der Epilog <strong>in</strong> Kapitel fünf. Silke Fengler beschreibt die kurze Phase der<br />

Hoffnung auf e<strong>in</strong>e Rückkehr der Agfa an ihre alte Wirkungsstätte und die anschließende Enttäuschung<br />

über das Ende der Filmfabrikation <strong>in</strong> Wolfen Mitte der 1990er Jahre. Zehn Jahre später<br />

musste auch Agfa Photo Insolvenz anmel<strong>den</strong>. Hauptgrund da<strong>für</strong> war das zu lange Festhalten an e<strong>in</strong>em<br />

DDR und ihre Vorgeschichte


282 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

spezifischen nationalen Technologiepfad. Inwieweit sich aus dem Modell der Pfadabhängigkeit weiterreichende<br />

Schlussfolgerungen über das Innovationsverhalten <strong>in</strong> verschie<strong>den</strong>en Wirtschaftssystemen<br />

ableiten lassen, bleibt weiter zu prüfen. Der wissenschaftliche Apparat sowie Glossar und Abkürzungsverzeichnis<br />

s<strong>in</strong>d ebenso sorgfältig erarbeitet wor<strong>den</strong> wie der gesamt Text. Insgesamt reiht sich<br />

die Studie von Silke Fengler würdig e<strong>in</strong> <strong>in</strong> die qualitativ hochwertige Reihe der Bochumer Schriften<br />

zur Unternehmens- und Industriegeschichte.<br />

Anmerkung:<br />

[1] Vgl. Mike Luck: Historisch-wirtschaftliche Entwicklung der Eastman Kodak AG <strong>in</strong> Deutschland<br />

von 1927–1956, Diplomarbeit, Humboldt-Universität Berl<strong>in</strong>, 30.1.1996, IFM Wolfen, Archiv<br />

Nr. 475.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

DDR und ihre Vorgeschichte


Uta Franke: Sand im Getriebe. Die Geschichte der Leipziger Oppositionsgruppe um<br />

He<strong>in</strong>rich Saar 1977 bis 1983, (= Zeitfenster. Beiträge der Stiftung Sächsische Ge<strong>den</strong>kstätten<br />

zur <strong>Zeitgeschichte</strong>; Bd. 2), Leipzig: Universitätsverlag 2007, 287 S., ISBN 978-3-86583-230-6,<br />

EUR 19,00<br />

Maria Nooke: Für Umweltverantwortung und Demokratisierung. Die Forster Oppositionsgruppe<br />

<strong>in</strong> der Ause<strong>in</strong>andersetzung mit Staat und Kirche, Berl<strong>in</strong>: Christoph L<strong>in</strong>ks Verlag 2008,<br />

461 S., ISBN 978-3-86153-479-2, EUR 34,90<br />

Rezensiert von Ilko-Sascha Kowalczuk<br />

Abteilung Bildung und Forschung bei der Bundesbeauftragten <strong>für</strong> die Stasi-Unterlagen, Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 4<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/04/15011.html<br />

Die Literatur zu Opposition, Widerstand und politischer Strafverfolgung<br />

e<strong>in</strong>schließlich der Haft <strong>in</strong> der DDR ist immens<br />

und mittlerweile kaum noch <strong>für</strong> Fachleute überschaubar. Jedes<br />

Schicksal bewegt. Die Er<strong>in</strong>nerungsliteratur ist breit gefächert.<br />

Zuweilen beschleicht <strong>den</strong> Leser dabei das Gefühl, die Er<strong>in</strong>nerungen<br />

s<strong>in</strong>d zu stark aus e<strong>in</strong>er nachträglichen Perspektive geschrieben.<br />

Das ist nicht zu kritisieren, lässt solche Literatur<br />

aber nicht selten vor allem <strong>für</strong> aktuelle Er<strong>in</strong>nerungsdiskurse<br />

<strong>in</strong>teressant ersche<strong>in</strong>en. Wissenschaftliche Studien wiederum, die<br />

von e<strong>in</strong>stigen Protagonisten verfasst wer<strong>den</strong>, lei<strong>den</strong> oft daran,<br />

dass die Quellenarbeit nicht immer wissenschaftlichen Kriterien<br />

entspricht, sondern die Autoren ihre subjektiven Er<strong>in</strong>nerungen<br />

<strong>in</strong> die Interpretationen zu stark e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen oder nicht<br />

kenntlich machen. Das ist verständlich. Zugleich aber wird so<br />

e<strong>in</strong>e Literaturgattung bedient, die zwischen wissenschaftlicher<br />

Analyse und subjektiver Er<strong>in</strong>nerung changiert und <strong>den</strong> Leser<br />

zuweilen etwas ratlos zurücklässt.<br />

Die bei<strong>den</strong> hier vorzustellen<strong>den</strong> Bücher e<strong>in</strong>t zunächst, dass<br />

beide Autor<strong>in</strong>nen die Gegenstände ihrer historischen Untersuchungen gut kennen und sie sich so<br />

selbst zu Untersuchungsobjekten machen. Uta Franke war Mitglied e<strong>in</strong>er von Kirchen unabhängigen<br />

„staatsfe<strong>in</strong>dlichen Gruppe“ <strong>in</strong> Leipzig seit Mitte der siebziger Jahre. Maria Nooke gehörte <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

achtziger Jahren zu e<strong>in</strong>er oppositionellen Gruppe <strong>in</strong> Forst, die sich <strong>in</strong> der Kirche etablierte, ökumenisch<br />

ausgerichtet war und deren Mitglieder e<strong>in</strong> christliches Selbstverständnis hatten. Beide Frauen<br />

waren an gesellschaftlichen Veränderungen <strong>in</strong>teressiert, <strong>für</strong> beide bedeutete Freiheit nicht e<strong>in</strong>e<br />

abstrakte Kategorie, sondern war e<strong>in</strong>e konkrete Zielvorstellung, die sie auch <strong>für</strong> die DDR-Gesellschaft<br />

anstrebten. Und bei<strong>den</strong> ist es e<strong>in</strong>drucksvoll gelungen, Bücher zu schreiben, die der wissenschaftlichen<br />

Beschäftigung mit der DDR-Gesellschaft und dem SED-Staat Impulse verleihen. Dabei<br />

gel<strong>in</strong>gt dem Buch von Uta Franke zudem der Spagat, auch die eigene bewegende Lebensgeschichte


284 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

so zu <strong>in</strong>tegrieren, dass die Leserschaft nicht nur viele und auch überraschende E<strong>in</strong>blicke en detail <strong>in</strong><br />

die Überlegungen junger Oppositioneller <strong>in</strong> <strong>den</strong> siebziger Jahren und zugleich <strong>in</strong> die Arbeit von<br />

SED, MfS und politischer Strafjustiz erhält, sondern bei aller Distanz zudem e<strong>in</strong> Buch <strong>in</strong> der Hand<br />

hält, das auf e<strong>in</strong>e außeror<strong>den</strong>tlich angenehme sachliche Art emotional berührt. Maria Nookes Buch<br />

basiert auf e<strong>in</strong>er Dissertation, was wohl auch <strong>den</strong> anderen Stil erklärt. Insider freilich wissen, dass<br />

sie sich selbst <strong>in</strong> ihrer eigenen Darstellung als handelnde Person stark zurücknimmt, zählte sie doch<br />

zu <strong>den</strong> Köpfen der analysierten Forster Gruppe. Die Unterschiedlichkeit beider Bücher ist nicht nur<br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong> verschie<strong>den</strong>en Zeiträumen, die behandelt wer<strong>den</strong>, zu suchen. Die Geschichte von Nooke<br />

mündet <strong>in</strong> der Revolution von 1989, die von Franke 1979 im Gefängnis.<br />

Uta Franke beschreibt anhand von MfS-Akten, Interviews<br />

und anderen Quellen, wie sich Mitte der siebziger Jahre <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Freundeskreis aus politischen Diskussionszirkeln feste<br />

Strukturen entwickelten, die schließlich konkrete Aktionen<br />

beförderten. Es handelte sich um junge Leute, die <strong>den</strong> SED-<br />

Sozialismus kritisierten und ablehnten und e<strong>in</strong>en freiheitlichen<br />

Sozialismus anstrebten. E<strong>in</strong>en Politisierungsschub erfuhr die<br />

lose Gruppe 1976 durch die Selbstverbrennung von Pfarrer<br />

Oskar Brüsewitz und die Ausbürgerung Wolf Biermanns.<br />

Durch Zufall lernte sie He<strong>in</strong>rich Saar (1920–1995) kennen.<br />

Dieser war bereits 1958 als „Revisionist“ zu acht Jahren<br />

Zuchthaus verurteilt wor<strong>den</strong>. Zuvor war der Altkommunist an<br />

der Leipziger Universität als Wissenschaftler und Funktionär<br />

tätig. Nach se<strong>in</strong>er Amnestierung 1961 arbeitete er auch als<br />

IM des MfS, aber nicht mehr an e<strong>in</strong>er Universität. Saar war<br />

es, der die Gruppe aufforderte, nicht nur zu diskutieren, sondern<br />

auch zu handeln. Deren spektakulärste Aktion bestand<br />

dar<strong>in</strong>, am Völkerschlacht<strong>den</strong>kmal zwei Losungen <strong>in</strong> zehn<br />

Meter Länge und e<strong>in</strong>em Meter Höhe anzusprayen, die 1978<br />

die Freilassung Rudolf Bahros forderte. Saar erhielt erneut 7 Jahre und 6 Monate Gefängnis, Uta<br />

Franke 2 Jahre und 4 Monate, mehrere weitere Männer und Frauen zum Teil mehrjährige Freiheitsstrafen.<br />

Das Besondere an Frankes Buch ist die detailgenaue Rekonstruktion, die weder die verschie<strong>den</strong>en<br />

Motive glättet noch D<strong>in</strong>ge wie Mut, Verrat, Standhaftigkeit, Zweifel, Naivität oder Wankelmütigkeit<br />

ausspart. Hier wer<strong>den</strong> Menschen als Individuen und als Handelnde <strong>in</strong> Gruppen nicht vorgeführt,<br />

sondern <strong>in</strong> ihrem widersprüchlichen Denken und Handeln e<strong>in</strong>drucksvoll nachgezeichnet. Obwohl die<br />

Autor<strong>in</strong> Teil dieser Gruppe und demzufolge Ziel e<strong>in</strong>er bald e<strong>in</strong>setzen<strong>den</strong> umfassen<strong>den</strong> Beobachtungs-<br />

und Zersetzungsstrategie des MfS war, gel<strong>in</strong>gt ihr auch die Schilderung der perfi<strong>den</strong> MfS-<br />

Aktivitäten beispielhaft. Das Buch ist zudem außeror<strong>den</strong>tlich anschaulich und flüssig geschrieben.<br />

Und besonders ist hervorzuheben, dass die Autor<strong>in</strong> nicht nur die Haftbed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>drücklich<br />

nachzeichnet, sondern auch die Zeit nach dem „Freikauf“ durch die Bundesregierung (1981/82) mit<br />

e<strong>in</strong>bezieht. Da es sich um junge Erwachsene handelte, die <strong>in</strong> die Mühlen der politischen Strafjustiz<br />

gerieten, ist schließlich hervorzuheben, dass Uta Franke auch private Belastungen nicht ausspart:<br />

Gerade und vor allem die kle<strong>in</strong>en K<strong>in</strong>der, die noch 20 Jahre später, nun selbst erwachsen, fragten, ob<br />

dies nicht alles verantwortungslos gewesen sei. Immerh<strong>in</strong> mussten mehrere K<strong>in</strong>der e<strong>in</strong>ige Jahre ohne<br />

ihre Mütter und/oder Väter aufwachsen. Uta Frankes Tochter sche<strong>in</strong>t je<strong>den</strong>falls trotz aller Belastungen<br />

zu Recht stolz auf ihre Mutter zu se<strong>in</strong>, <strong>den</strong>n sie hat ihre Mutter nicht nur mit zu diesem Buch <strong>in</strong>spiriert,<br />

sondern mit ihrem Freund zugleich <strong>den</strong> ersten Dokumentarfilm über die Gruppe gedreht. Man<br />

DDR und ihre Vorgeschichte


285 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

kann dem Buch nur e<strong>in</strong>e große Verbreitung wünschen: In der politischen Bildung ebenso wie <strong>in</strong> der<br />

zeithistorischen Forschung, als Quelle im Schulunterricht und wie es überhaupt jedem historisch Interessierten,<br />

der sich über Formen von Diktaturwirklichkeiten kundig machen will, dr<strong>in</strong>gend nahegelegt<br />

sei. Ich habe je<strong>den</strong>falls nur selten e<strong>in</strong> Buch von e<strong>in</strong>er(m) „Betroffenen“ gelesen, das so überzeugend<br />

wissenschaftliche Rationalität, persönliche Er<strong>in</strong>nerungen und e<strong>in</strong>e klare, aber ausdrucksstarke<br />

Sprache zu vere<strong>in</strong>en wusste. Chapeau!<br />

Maria Nookes Buch über <strong>den</strong> „Ökumenischen Frie<strong>den</strong>skreis der Region Forst“ stellt e<strong>in</strong>e wichtige<br />

regionalgeschichtliche Untersuchung zur Geschichte von Opposition und Widerstand <strong>in</strong> <strong>den</strong> achtziger<br />

Jahren dar. Die Autor<strong>in</strong> erläutert zunächst ihre Forschungsziele und Fragestellungen, geht auf die<br />

Quellen ebenso e<strong>in</strong> wie auf Begrifflichkeiten und <strong>den</strong> Forschungsstand und versäumt es nicht, ihre<br />

methodischen Ansätze vorzustellen. Anschließend skizziert sie souverän die lokalen Kontexte der<br />

Region Forst, wobei sie sich <strong>in</strong>sbesondere auf die Herrschaftstechniken, die Geschichten der Kirchen<br />

und als zentralen Standortfaktor <strong>den</strong> Braunkohletagebau konzentriert. Hervorzuheben ist dabei, dass<br />

sie diese regionalhistorischen Bemerkungen <strong>in</strong> größere historische Entwicklungsprozesse e<strong>in</strong>ordnet<br />

und so die Kont<strong>in</strong>uitäten und Brüche <strong>in</strong> <strong>den</strong> Entwicklungen nach 1945 betonen kann. Im ersten<br />

Hauptkapitel zeichnet sie sehr differenziert die Entstehung seit Mitte der achtziger Jahre, die <strong>in</strong>nere<br />

Verfasstheit und die Rolle der Gruppe im Herbst 1989 nach und kommt zu dem Ergebnis, dass die<br />

kle<strong>in</strong>e Gruppe e<strong>in</strong>en Lernort <strong>für</strong> Demokratie und Freiheit darstellte, was sich 1989 und auch danach<br />

als politisch nützlich herausstellen sollte. Im Kern g<strong>in</strong>g es um Fragen, wie der Gesellschaftskrise <strong>in</strong><br />

der DDR begegnet, wie Demokratie und Freiheit erstritten, wie die Umwelt wieder <strong>in</strong>takt gesetzt<br />

wer<strong>den</strong> könnte.<br />

Im zweiten Hauptkapitel stehen vier Protagonisten der Oppositionsgruppe im Zentrum. Maria<br />

Nooke führte mit ihnen offene Interviews. Sie analysiert vier verschie<strong>den</strong>e Handlungstypen, die sich<br />

<strong>in</strong>nerhalb der Gruppe herausstellten: der Aktionist, der S<strong>in</strong>nsucher, der Interessenvertreter und der<br />

Politiker. Das geschieht e<strong>in</strong>leuchtend und gerade hier offerieren sich Forschungswege, die andere<br />

(regional-)historische Studien zur Opposition aufgreifen und überprüfen sollten. Erst im Vergleich –<br />

der <strong>in</strong> dieser Studie leider kaum stattf<strong>in</strong>det – wird sich ermessen lassen, <strong>in</strong>wiefern hier überregional<br />

Typisches oder Besonderes zutage befördert wurde.<br />

Im Gegensatz zu dem Buch von Uta Franke gibt es jedoch an der Studie von Maria Nooke e<strong>in</strong> von<br />

ihr nicht gerade elegant gelöstes methodisches Problem zu kritisieren. Sie taucht zwar selbst e<strong>in</strong>ige<br />

Male im Text und <strong>in</strong> <strong>den</strong> Fußnoten als zeithistorische Person auf, aber dass e<strong>in</strong>e zentrale Figur <strong>in</strong> ihrem<br />

Buch, Günter Nooke, die zudem e<strong>in</strong>en eigenen Abschnitt erhält, ihr Ehemann war und ist, kommt –<br />

gel<strong>in</strong>de gesagt – zu wenig heraus. So gibt es hier e<strong>in</strong>e doppelte Nähe zum Untersuchungsgegenstand:<br />

Nämlich die eigene Involviertheit der Autor<strong>in</strong> und dann die ihres Ehemannes. Das ist erwähnenswert,<br />

weil sich daraus natürlich auch im historischen Prozess Konstellationen, Diskussionen und<br />

eventuell auch Konflikte ergaben, die unreflektiert und unbenannt bleiben. Zudem hätte dem Leser<br />

erläutert wer<strong>den</strong> müssen, wie <strong>in</strong> dieser persönlichen Nähe distanzierte wissenschaftliche Analyse<br />

entstehen kann.<br />

Es gibt e<strong>in</strong>e Passage <strong>in</strong> diesem Buch, die dieses Dilemma geradezu e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich vor Augen führt.<br />

1975 kam es <strong>in</strong> der Region Forst zu e<strong>in</strong>em spektakulären Vorfall, der die Menschen auch noch nach<br />

1990 bewegte und aufwühlte. E<strong>in</strong> wegen „Republikflucht“ und „staatsfe<strong>in</strong>dlicher Hetze“ zu e<strong>in</strong>er<br />

mehrjährigen Haftstrafe verurteilter Mann floh aus dem Cottbuser Gefängnis, um über die polnische<br />

Ostsee <strong>in</strong> die Bundesrepublik zu flüchten. Auf se<strong>in</strong>er Flucht suchte er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Pfarrhaus Schutz und<br />

Hilfe. Entgegen <strong>in</strong>nerkirchlichen Vere<strong>in</strong>barungen <strong>in</strong>formierten schließlich nach langen Debatten<br />

zwei Pfarrer die Polizei, die ihn festnahm. Der Mann erhielt zehn weitere Monate Gefängnis. E<strong>in</strong>er<br />

der daran beteiligten Pfarrer Georg Herche, der selbst 1958 zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt<br />

wor<strong>den</strong> war, ist der Vater der Autor<strong>in</strong>, was der Leser aber nicht erfährt. Das ist umso be<strong>den</strong>klicher,<br />

DDR und ihre Vorgeschichte


286 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

da Nooke das Vorgehen, die Polizei e<strong>in</strong>zuschalten, mit „christlich-ethischen Grün<strong>den</strong>“ verteidigt und<br />

völlig übertrieben von e<strong>in</strong>er Medienkampagne gegen die beteiligten Pfarrer spricht. Der H<strong>in</strong>tergrund<br />

ihrer Argumentation bleibt <strong>für</strong> <strong>den</strong> unwissen<strong>den</strong> Leser unklar. Die um ihr Verhältnis zu Herche wissen,<br />

können nun gerade „christlich-ethische Gründe“ nicht nachvollziehen, haben sie doch dem politischen<br />

Flüchtl<strong>in</strong>g dessen eigene Entscheidung, alles <strong>für</strong> die Freiheit zu riskieren, vormundschaftlich abgenommen.<br />

Dabei stand Nooke e<strong>in</strong> Zitat zur Verfügung, mit dem sie sehr gut die komplizierte Situation der<br />

Pfarrer, der Region, aber auch des Flüchtl<strong>in</strong>gs ohne eigene Kommentare beschreibt: „[...] man erkennt<br />

Diktaturen daran, dass es solche Tragödien dort gibt.“ (84) Die methodischen Bemerkungen<br />

von Maria Nooke zur eigenen Forschungssituation (29f.) befriedigen nicht und lassen ke<strong>in</strong>e Ansätze<br />

erkennen, wie sie das Problem <strong>in</strong> <strong>den</strong> Griff bekommen wollte. Man hätte schon gern erfahren, wie<br />

dieser Vorgang z.B. die Autor<strong>in</strong> selbst geprägt und vielleicht ihr politisches Selbstverständnis bee<strong>in</strong>flusst<br />

hat. Doch abgesehen von diesem E<strong>in</strong>wand stellt Maria Nookes Arbeit e<strong>in</strong>en wichtigen Beitrag<br />

zur Geschichte der Opposition <strong>in</strong> der Spätphase der DDR dar. Es s<strong>in</strong>d nicht die großen Thesen, die<br />

ihre Arbeit auszeichnen, sondern die detailgenaue historische Rekonstruktion e<strong>in</strong>er Gruppe. Der Erkenntnisgew<strong>in</strong>n<br />

ist groß.<br />

So haben wir es hier mit zwei Studien zu tun, die ihre Perspektive jeweils auf e<strong>in</strong>e andere Oppositionsgruppe<br />

fokussieren, dabei im Vergleich neben Geme<strong>in</strong>samkeiten auch viele Unterschiede aufweisen,<br />

die mit der weltanschaulichen Ausrichtung ebenso zusammenhängen wie mit <strong>den</strong> verschie<strong>den</strong>en<br />

historischen wie regionalen Kontexten. Und <strong>in</strong>sgesamt stellen beide Bücher Beispiele dar, wie<br />

Subjekte der Geschichte sich selbst zu Objekten der Forschung machen können.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

DDR und ihre Vorgeschichte


Mary Fulbrook: Das ganz normale Leben. Alltag und Gesellschaft <strong>in</strong> der DDR.<br />

Aus dem Englischen von Karl Nicolai, Darmstadt: Primus Verlag 2008, 364 S., 7 Abb.,<br />

ISBN 978-3-89678-643-2, EUR 29,90<br />

Rezensiert von Thomas Großbölt<strong>in</strong>g<br />

Westfälische Wilhelms-Universität, Münster<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 7/8<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/07/15118.html<br />

Was war die DDR? Auch (fast) zwanzig Jahre nach dem Ableben<br />

dieses Staates s<strong>in</strong>d wir mit dieser Frage noch nicht fertig,<br />

sondern diskutieren auf <strong>den</strong> unterschiedlichsten Ebenen hoch<br />

kontrovers. Ausgangspunkt des Buches ist diese Situation, die<br />

die britische Deutschlandhistoriker<strong>in</strong> Mary Fulbrook mit Blick<br />

auf die Vere<strong>in</strong>igung des geteilten Deutschlands als Paradoxon<br />

beschreibt: Als sich im November 1989 die Mauer öffnete,<br />

taten sich dem Blick des Westens nicht nur verfallene Städte<br />

und gravierende Umweltzerstörungen auf, sondern auch e<strong>in</strong><br />

vorher allenfalls geahntes Maß an politischer Repression.<br />

Dennoch meldete sich aus <strong>den</strong> Reihen der ehemaligen DDR-<br />

Bürger rasch Protest, als diese Strukturen aufgedeckt und<br />

medial breit bekannt gemacht wur<strong>den</strong>. Mit dem Verweis auf<br />

Unterdrückung und Eisernen Vorhang sei nicht abzubil<strong>den</strong>,<br />

was man bis zu 40 Jahre lang erlebt habe, so der Tenor e<strong>in</strong>er<br />

Gegenbewegung, die als ‚Ostalgieʻ wohl nur unzureichend<br />

charakterisiert ist. Trotz Verweigerung wichtiger Grundrechte,<br />

so Mary Fulbrooks Schlussfolgerung, „erschien die DDR<br />

während langer Zeitabschnitte – <strong>in</strong> manchen mehr als <strong>in</strong> anderen – vielen ihrer Bürger als ganz<br />

‚normalʻ und selbstverständlich.“<br />

Der Titel der deutschsprachigen Version bündelt diese Intention noch e<strong>in</strong>mal: „E<strong>in</strong> ganz normales<br />

Leben. Alltag und Gesellschaft <strong>in</strong> der DDR“ – drei Jahre nach der Publikation des englischen Orig<strong>in</strong>als<br />

legt der Primus-Verlag e<strong>in</strong>e deutsche Übersetzung des Buches von Mary Fulbrook vor. Während<br />

der englische Titel „The People’s State. East Germany from Hitler to Honecker“ auf elegante<br />

Weise mit der Doppeldeutigkeit des realsozialistischen Vokabulars spielt, br<strong>in</strong>gt der deutsche Titel<br />

noch stärker die Haupt<strong>in</strong>tention des Buches auf <strong>den</strong> Punkt. Mary Fulbrook geht es darum, „besser zu<br />

verstehen, wie es nach Me<strong>in</strong>ung vieler Ostdeutscher möglich war, <strong>in</strong> der DDR e<strong>in</strong> ganz ‚normalesʻ<br />

Leben zu führen, und zu erforschen, wie sich zusammen mit umfassenderen Veränderungen <strong>in</strong> der<br />

sozialen Struktur und Erfahrung h<strong>in</strong>tergründige Auffassungen von ‚Normalitätʻ entwickelten.“ (10)<br />

Damit stehen weder der kle<strong>in</strong>e Teil der Bevölkerung im Zentrum, der <strong>in</strong> Opposition zum Regime<br />

stand, noch diejenigen, die zum eng begrenzten Kreis der laut Autor<strong>in</strong> auf 500 bis 600 Personen begrenzten<br />

Spitzen <strong>in</strong> Partei, Sicherheitsapparat und Verwaltung zählten. Stattdessen setzt Fulbrook<br />

mit ihrem Buch dazu an, das Leben derjenigen DDR-Bürger und -Bürger<strong>in</strong>nen zu erklären, die niemals


288 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

an die vom Machtapparat gesetzten <strong>in</strong>neren und äußeren Grenzen stießen und deshalb davon ausg<strong>in</strong>gen,<br />

die besagten „ganz normalen Leben“ zu führen.<br />

In e<strong>in</strong>em ersten Kapitel skizziert Fulbrook dazu nicht nur Konsumpraktiken, das häusliche Heim<br />

und die private Alltags- und Freizeit, sondern sie thematisiert dabei ebenso Geburt und Tod, Jugend<br />

und Jugendkulturen wie auch die <strong>in</strong> der DDR kultivierten Geschlechterrollen. Im S<strong>in</strong>ne ihrer These<br />

kann sie zeigen, dass <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> der poststal<strong>in</strong>istischen Zeit der rote Pietismus der 1950er Jahre<br />

abgelöst wurde von der Formel „Leben im Sozialismus.“ Das Regime setzte immer weniger darauf,<br />

das Leben se<strong>in</strong>er Bürger allumfassend zu regulieren, sondern akzeptierte zunehmend <strong>in</strong>dividuelle<br />

lebensweltliche Abweichungen, solange sie bestimmte Grenzen nicht überschritten.<br />

Im zweiten Großkapitel widmet sie sich dem gesellschaftlichen Großexperiment, das die SED mit<br />

ihrer Übernahme der Macht <strong>in</strong> Gang setzte. An der Spitze der Machtpyramide macht Mary Fulbrook<br />

e<strong>in</strong>e überschaubare Zahl von Spitzenfunktionären aus, zu der sie neben <strong>den</strong> (vornehmlich) Männern<br />

des Zentralkomitees die oberste Generalität von Nationaler Volksarmee und M<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> Staatssicherheit<br />

zählt. Wie stark auch andere Schichten vom Staat geformt und verändert wur<strong>den</strong>, verfolgt<br />

sie <strong>in</strong> ihrer Skizze des Weges vom Bürgertum zur „sozialistischen Intelligenz“ sowie mit Blick auf<br />

die „Auflösung der deutschen Arbeiterklasse (und des Bauernstandes).“ Bee<strong>in</strong>druckend kann sie zeigen,<br />

wie stark der Umgestaltungswille sich Bahn brach <strong>in</strong> Ansätzen zu e<strong>in</strong>er sozial immer weiter<br />

egalisierten Gesellschaft und gleichzeitig Platz schuf <strong>für</strong> neue soziale Dist<strong>in</strong>ktionen, die sich ebenso<br />

an der Nähe zum politischen Machtapparat wie aber auch an Kontakten <strong>in</strong> <strong>den</strong> Westen und <strong>den</strong> damit<br />

verbun<strong>den</strong>en Möglichkeiten, Westdevisen zu bekommen, ausrichteten.<br />

Der zentrale Kern des Buches ist zweifelsohne das Interpretament von der „partizipatorischen<br />

Diktatur“, welches Fulbrook <strong>in</strong> Kapitel 3 ihres Buches entwickelt: Die SED-Diktatur, so e<strong>in</strong>e ihrer<br />

zentraler Thesen, wurde „durch das Agieren und Interagieren der großen Mehrheit der Bevölkerung<br />

aufrecht erhalten.“ (309) Geschätzte 400.000 hauptamtliche Funktionäre, e<strong>in</strong> bis zwei Millionen ehrenamtliche<br />

Aktive <strong>in</strong> sozialen und politischen Organisationen wie die fast 170.000 Inoffiziellen Mitarbeiter<br />

des M<strong>in</strong>isteriums <strong>für</strong> Staatssicherheit bildeten das Rückgrat e<strong>in</strong>es „Bienenkorb“-Staates, der von<br />

der Partizipation se<strong>in</strong>er Bürger getragen wurde: Politische Überzeugung, der Wille, sich <strong>für</strong> die Geme<strong>in</strong>schaft<br />

e<strong>in</strong>zusetzen, oder auch das Schielen darauf, dass <strong>den</strong> K<strong>in</strong>dern der Zugang zur höheren<br />

Bildung nicht verwehrt wurde – die Motive <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e solche Beteiligung waren vielfältig. Neben Zonen<br />

des Dissenses konstatiert Fulbrook auch breite Politik-und Gesellschaftsbereiche, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en die Regulierungen<br />

und Gestaltungsversuche auf breiten Konsens stießen. Neben der <strong>in</strong> Literatur und Kunst<br />

partiell zugelassenen Kritik, die vor allem als streng kontrollierte Ersatzöffentlichkeit <strong>in</strong> ihrer Ventilfunktion<br />

zu werten ist, richtet sie ihren Blick auf das E<strong>in</strong>gabewesen der DDR. Hier wurde von Staats<br />

wegen dazu ermuntert, Missstände zu benennen und geme<strong>in</strong>sam mit <strong>den</strong> zuständigen Verwaltungs<strong>in</strong>stanzen<br />

zu beheben. Insbesondere seit Mitte der 1970er Jahre, so zeigt Fulbrook, zogen dabei alle<br />

Beteiligten an e<strong>in</strong>em Strang, zum<strong>in</strong>dest so lange die <strong>in</strong>neren und äußeren Grenzen des Systems nicht<br />

tangiert wur<strong>den</strong>. „Die Erfahrung e<strong>in</strong>er gewissen Freiheit, konstruktive Beteiligung am sozialistischen<br />

Projekt und Unterstützung durch dieses“ waren „nachweislich genau zur gleichen Zeit möglich [...]<br />

wie das Erkennen äußerer politischer Zwänge.“<br />

Was Mary Fulbrook mit ihren Ausführungen leistet, ist enorm: Sie macht das Bild von der DDR<br />

wieder komplexer als es die allzu simple Konfrontation von totalitarismustheoretisch <strong>in</strong>spirierten<br />

Entwürfen e<strong>in</strong>erseits und ‚ostalgischenʻ Weichzeichnungen andererseits <strong>in</strong>s öffentliche Bewusstse<strong>in</strong><br />

gehoben hat. So überzeugend die damit verbun<strong>den</strong>e Erklärung der Stabilität des politischen und gesellschaftlichen<br />

Systems der DDR ist, so wirft die Idee der „partizipatorischen Diktatur“ bei weiterer<br />

Reflexion auch Fragen auf: Was hat der notorische Stasi-Informant tatsächlich geme<strong>in</strong> mit der jungen<br />

Familie, die sich mittels E<strong>in</strong>gaben um die Zuweisung e<strong>in</strong>er Wohnung bemühte? Zweifelsohne<br />

wer<strong>den</strong> hier e<strong>in</strong>e ganze Reihe von Verhaltensweisen unter dem Stichwort der „Partizipation“ sub-<br />

DDR und ihre Vorgeschichte


289 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

sumiert, die kaum auf e<strong>in</strong>en Nenner zu br<strong>in</strong>gen s<strong>in</strong>d. Vor diesem H<strong>in</strong>tergrund wird auch die zentrale<br />

Argumentationskette schwächer: Gewiss hat sich die große Mehrheit der DDR-Bevölkerung <strong>den</strong><br />

Spielregeln des Regimes angepasst, diese <strong>in</strong> Teilen nicht nur akzeptiert, sondern auch begrüßt. Dass<br />

dieses Verhalten zur Stabilität der Diktatur beitrug, steht außer Frage. Ob sie deswegen aber ihr Leben<br />

auch als e<strong>in</strong> „normales“ empfan<strong>den</strong>? Der wachsende Unmut seit Mitte der 1980er Jahre ist wohl<br />

nicht nur mit dem Verblassen der sozialistischen Utopie und e<strong>in</strong>em aufkommen<strong>den</strong> Materialismus zu<br />

erklären, sondern muss auch die im engeren S<strong>in</strong>ne politische Unzufrie<strong>den</strong>heit mit <strong>in</strong>s Kalkül ziehen.<br />

Das große Verdienst des Buches ist m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong> Doppeltes: Es bietet e<strong>in</strong> profundes sozial-<br />

geschichtliches Panorama der DDR und trägt damit dem häufig geäußerten Wunsch nach Synthesen<br />

Rechnung, die Schneisen <strong>in</strong> die überwucherte Forschungslandschaft schlagen. Darüber h<strong>in</strong>aus aber<br />

erschöpft es sich nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bloßen Darstellung, Mary Fulbrook richtet ihr Buch konsequent und<br />

überzeugend auf die These von der partizipatorischen Diktatur aus. Damit wird es thesenstark und<br />

diskussionsanregend. Es sei e<strong>in</strong>e falsche Annahme, dass Staaten entweder auf Zwang oder auf Zustimmung<br />

beruhen und dass diejenigen, die auf Zustimmungspotenziale h<strong>in</strong>weisen, <strong>den</strong> Zwang bestreiten<br />

(310). Mit Aussagen wie diesen räumt sie Barrieren e<strong>in</strong>er bislang viel zu politisierten Diskussion<br />

beiseite und gibt wichtige Anstöße dazu, sowohl geschichtswissenschaftlich wie auch mit Blick auf<br />

die historisch-politische Bildung unser Bild von der DDR zu diskutieren. Dass dabei Mary Fulbrooks<br />

Darstellung unwidersprochen bliebe, ist wohl nicht zu erwarten.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

DDR und ihre Vorgeschichte


Klaus Hermsdorf: Kafka <strong>in</strong> der DDR. Er<strong>in</strong>nerungen e<strong>in</strong>es Beteiligten, hrsg. von<br />

Gerhard Schneider/Frank Hörnigk, Berl<strong>in</strong>: Verlag Theater der Zeit 2006, 285 S.,<br />

ISBN 978-3-934344-93-8, EUR 16,00<br />

Rezensiert von Elke Scherstjanoi<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 12<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/12/17444.html<br />

Klaus Hermsdorf (1929–2006), Germanist, Literaturwissenschaftler<br />

und Hochschuldozent <strong>in</strong> der DDR, erlebte die Veröffentlichung<br />

se<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerungen nicht mehr, die als Fragment<br />

von Kollegen herausgegeben wur<strong>den</strong>. Medien und Geschichtsschreibung<br />

würdigten sie öffentlich kaum. Der leicht<br />

ironische Essay beschreibt persönliche Reifungsprozesse,<br />

Blickerweiterungen, Erfolge und Rückschläge <strong>in</strong> fachlicher<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzung, dazugehörige private Begegnungen und<br />

politische Kontexte. Er spart Inkonsequenz im Handeln und<br />

Hilflosigkeit nicht aus. Unvollendet sche<strong>in</strong>t nur die Struktur<br />

der Darreichung.<br />

Im Mittelpunkt stehen Hermsdorfs Studien zu Franz Kafka<br />

und deren öffentliche Verwertung bzw. Zensur. Auch der<br />

wenig E<strong>in</strong>geweihte weiß: „Kafka und se<strong>in</strong> Werk stan<strong>den</strong> [...]<br />

<strong>in</strong> der DDR über Jahre und Jahrzehnte im Widerspruch zu<br />

allem, was <strong>für</strong> die Gesellschaft offiziell als wertvolles und<br />

damit anzueignendes kulturelles Erbe galt“ (so die Herausgeber,<br />

273). Gleichwohl gab es e<strong>in</strong>e DDR-spezifische Kafka-<br />

Forschung. Dies als e<strong>in</strong>en lebbaren Widerspruch darzustellen,<br />

gel<strong>in</strong>gt Hermsdorf gut. Die autobiografische Unterfütterung<br />

bereichert die Problematisierung der Zusammenhänge.<br />

Hermsdorf wurde 1954 als Assistent am Germanistischen <strong>Institut</strong> der Humboldt-Universität e<strong>in</strong>gestellt<br />

und auf Kafka aufmerksam. Se<strong>in</strong>en Plänen „öffnete sich e<strong>in</strong> Zeitfenster, das die missliche<br />

Eigenschaft hatte, im W<strong>in</strong>de der Entwicklung auf- und zuzuklappen“ (11). Wir erfahren, wie „die<br />

Voraussetzungs- und Zusammenhanglosigkeit, mit der Kafkas Name kometenhaft am schon fremd<br />

gewor<strong>den</strong>en westlichen Kulturhorizont auftauchte, [...] <strong>den</strong> Zugang zu se<strong>in</strong>em Werk [<strong>in</strong> der DDR]<br />

erschwerte“ (25) , auch weil er e<strong>in</strong>er Gruppe kommunistischer Intellektueller, die mit dem SED-<br />

Herrschaftssystem <strong>in</strong> Konflikt gerieten, „zum Medium e<strong>in</strong>er antisowjetischen Totalitarismuskritik<br />

[...] wurde“ (23). Hermsdorf beschreibt h<strong>in</strong>tergründig die Situation am von Alfred Kantorowicz geleiteten<br />

Lehrstuhl und <strong>in</strong> der von Hans Mayer geführten Abteilung am Germanistik<strong>in</strong>stitut. Die <strong>in</strong><br />

nationaler H<strong>in</strong>sicht vergleichsweise offene Forschungskonstellation regte ihn zu e<strong>in</strong>er Synthese von<br />

literatur- und gesellschaftswissenschaftlichen Fragen an, die während e<strong>in</strong>es Studienaufenthalts <strong>in</strong><br />

Prag wichtige neue Impulse erhielt. „Die beg<strong>in</strong>nende ‚Entstal<strong>in</strong>isierungʻ gab dem versandeten ‚neuen<br />

Kursʻ unerwarteten Auftrieb und zeitigte besonders im kulturellen und literarischen Leben, unter


291 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Philosophen und Historikern affektive Reizungen, neue Erwartungen und gegen <strong>den</strong> ängstlich auf<br />

der Stelle treten<strong>den</strong> Parteiapparat opponierende Aktivitäten. [...] Für mich wurde 1956 das Jahr, <strong>in</strong><br />

dem der Stern Kafkas im Osten aufg<strong>in</strong>g [...] als Kürzel und Chiffre, als Name mit zeichenhafter Bedeutung.“(57)<br />

Denn es markierte „weiße Flecken <strong>in</strong> dem durch Realismusdef<strong>in</strong>itionen nicht weniger<br />

als durch Parteigenossenschaft, Antifaschismus, Exilschicksal, Volksfront-Kameradschaft und DDR-<br />

Bürgerschaft zusammengebackenen Kanon“; es eröffnete zugleich aber auch <strong>den</strong> Kampf „um die<br />

Kunst der ‚Moderneʻ, der <strong>in</strong> der DDR e<strong>in</strong> Vierteljahrhundert andauerte und ke<strong>in</strong> Kampf um Kunstauffassungen<br />

war, sondern um Kulturherrschaft“, <strong>in</strong> dem Kafka „literaturwissenschaftlich ignoriert<br />

oder unterbelichtet, literaturkritisch nicht vermittelt und vor allem: nicht gedruckt“ wurde (59).<br />

1959 wurde Hermsdorf mit e<strong>in</strong>er Arbeit zu Kafkas Romanfragment „Der Verschollene“ pro-<br />

moviert. An der Dissertation habe er wenig Freude gehabt, sie sei e<strong>in</strong> missglücktes literarisches Experiment<br />

gewesen, das gesicherte philologische Substanz enthielt, aber auch „verkürzte und verdrehte<br />

Extremitäten“ (83). Hermsdorf richtet e<strong>in</strong>en sachlichen Blick auf se<strong>in</strong>e damaligen Ansichten, selten<br />

gel<strong>in</strong>gt akademische Selbstkritik so überzeugend. „Die größten Fehler me<strong>in</strong>er Dissertation waren die<br />

vermeidbaren“, wozu er die nicht erforderliche und „ungeschickt begründete“ Zuordnung von Kafkas<br />

Werk zur Deka<strong>den</strong>zdichtung zählt. 1961 erschien se<strong>in</strong> Buch mit dem Romanfragment. Vor dem<br />

H<strong>in</strong>tergrund des „Bitterfelder Weges“ durfte Hermsdorf zufolge se<strong>in</strong>e Dissertation ersche<strong>in</strong>en.<br />

Selbstbewusst nennt er se<strong>in</strong> Werk die „erste wissenschaftlich begründete Stimme des Ostens“ zu<br />

Kafka (112) und erklärt, warum er und se<strong>in</strong> Kollege Helmut Richter, der 1962 über Kafka promovierte<br />

und publizierte, 1963 freudig die E<strong>in</strong>ladung tschechischer Kollegen annahmen – und am Ende<br />

ratlos se<strong>in</strong> mussten: Ihnen g<strong>in</strong>g es gar nicht um die philosophische Dimension des Kafka-Erbes, sondern<br />

um <strong>den</strong> kunstkritischen Blick „auf e<strong>in</strong>en zur Ikone gewor<strong>den</strong>en Dichter“ (121), der sie gleichwohl<br />

bee<strong>in</strong>druckte. Dass der Verlag Rütten & Loen<strong>in</strong>g ab 1961 e<strong>in</strong>e Kafka-Edition vorbereitete,<br />

musste ermutigen. Das „Kafkaeske“ der Situation führt Hermsdorf uns gut vor Augen:<br />

Seit Sommer 1961 Lektor an der Prager Karls-Universität und damit öfter <strong>in</strong> vertrauliche Gespräche<br />

mit dem tschechoslowakischen Literaturhistoriker Eduard Goldstücker gezogen, bekam Hermsdorf<br />

<strong>den</strong> frischen kulturpolitischen W<strong>in</strong>d dort zu spüren. Die Frage der menschlichen Entfremdung <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em krisenhaften sozialen Raum, zugespitzt auf Entfremdung im Sozialismus, zur Hauptfrage e<strong>in</strong>er<br />

Kafka-Konferenz zu machen, war <strong>den</strong>noch nicht unbed<strong>in</strong>gt zw<strong>in</strong>gend. Die Liblicer Dichterehrung<br />

zum 80. Geburtstag Kafkas geriet zu e<strong>in</strong>er „Parteikonferenz“, und zwar just zu der Zeit, als man die<br />

Kafka-Edition <strong>in</strong> der DDR schon fast wieder begraben hatte.<br />

Der Mythos der Kafka-Konferenz von Liblice von 1963 – „als dessen eigentlicher Urheber Ernst<br />

Fischer gelten muss“ (153) – besagt, „die Sprecher der DDR“ seien isoliert gewesen. Fischers<br />

Tagungsbericht „diente <strong>in</strong> Ost und West als authentische Quelle, die sie nicht war“ (165), und reizte<br />

SED-Kulturpolitiker, sich besonders niederträchtig öffentlich zu Liblice zu äußern. Das wiederum<br />

und die spätere Ostberl<strong>in</strong>er Schmähung der Kräfte des „Prager Frühl<strong>in</strong>gs“ verstärkten das dauerhafte<br />

Urteil über die „Ostberl<strong>in</strong>er Delegation“. Hermsdorf rekonstruiert <strong>den</strong> Konferenzverlauf und beschreibt<br />

se<strong>in</strong>e zwiespältigen E<strong>in</strong>drücke. Kafka als Glaubensbekenntnis war <strong>den</strong> Ostberl<strong>in</strong>er Germanisten<br />

nicht abzur<strong>in</strong>gen. Dieser angebliche „stupide Stal<strong>in</strong>ismus der Delegierten aus der Sowjetzone“<br />

(Günter Zehm, Die Welt, 19.7.1963) wird ihnen bis heute verübelt. Hermsdorf belässt es aber nicht<br />

bei e<strong>in</strong>er Gegendarstellung, sondern analysiert auch zeitnahe ideologiekämpferische Ereignisse im<br />

Ostblock, was aus se<strong>in</strong>er damaligen Prager Perspektive besonders aufschlussreich gel<strong>in</strong>gt. Tragische<br />

Gestalt der Geschichte, so Hermsdorf, war Goldstücker.<br />

Die ostdeutsche Kafka-Ausgabe aus „pseudomarxistischem Gezänk heraus[zu]halten“ (196), sah<br />

Hermsdorf nun als vordr<strong>in</strong>glich an. Nach Berl<strong>in</strong> zurückgekehrt und nun auch Leiter der Abteilung<br />

Neueste deutsche Literatur am Germanistischen <strong>Institut</strong>, hatte er ab 1964 Anteil an der neuerlichen<br />

Vorbereitung e<strong>in</strong>er Edition. Die Lizenzverhandlungen mit dem S. Fischer Verlag und Max Brod ge-<br />

DDR und ihre Vorgeschichte


292 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

rieten zum „Machtkampf um die wechselseitige Anerkennung oder Verh<strong>in</strong>derung von Interpretationsmonopolen“<br />

(196). Endlich kam Mitte 1965 e<strong>in</strong> Kafka-Band <strong>in</strong> <strong>den</strong> DDR-Buchhandel, dann 1967<br />

das Fragment „Amerika“, beides <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>ster Auflage. E<strong>in</strong>e zweite Kafka-Konferenz <strong>in</strong> Liblice<br />

(November 1965) entzog <strong>den</strong> „scholastischen Kontroversen“ der ersten <strong>den</strong> Bo<strong>den</strong> (213f.), doch<br />

zeitgleich verschlechterte sich das kulturpolitische Klima <strong>in</strong> der DDR erneut.<br />

Hermsdorf zählte sich zu <strong>den</strong> 68ern <strong>in</strong> der DDR, er war Protagonist „neuer Ansätze und Vorstöße“<br />

(229). 1968 habilitierte er sich zu Schelmengeschichten bei Thomas Mann. Die Analyse der ostdeutschen<br />

Kafka-Forschung hat mit diesem Buch e<strong>in</strong>en guten Anfang gemacht. Zugleich ist e<strong>in</strong> bemerkenswertes<br />

Selbstporträt entstan<strong>den</strong>, Zeugnis e<strong>in</strong>es Wissenschaftlerdase<strong>in</strong>s <strong>in</strong> der DDR. E<strong>in</strong>e Kurzvita<br />

und e<strong>in</strong> Verzeichnis der Veröffentlichungen Hermsdorfs f<strong>in</strong><strong>den</strong> sich im Anhang.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

DDR und ihre Vorgeschichte


Peter Hübner/Christa Hübner: Sozialismus als soziale Frage. Sozialpolitik <strong>in</strong> der DDR<br />

und Polen 1968–1976. Mit e<strong>in</strong>em Beitrag von Christoph Boyer zur Tschechoslowakei (= Zeithistorische<br />

Studien; Bd. 45), Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2008, 520 S., ISBN 978-3-412-20203-3,<br />

EUR 59,90<br />

Rezensiert von Silke Röttger<br />

Leipzig<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 4<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/04/14895.html<br />

„Sozialismus als Soziale Frage“ – dieser Gleichklang hat im<br />

heutigen wiedervere<strong>in</strong>igten Deutschland e<strong>in</strong>e ungebrochene<br />

Kont<strong>in</strong>uität. Die sozialen „Errungenschaften“ s<strong>in</strong>d (neben dem<br />

angeblichen Antifaschismus) das Phänomen, das am nachhaltigsten<br />

das Bild der DDR abseits der wissenschaftlichen Forschung<br />

prägt. Die Wurzeln dieser Entwicklung liegen <strong>in</strong> der<br />

hohen ideologisch-propagandistischen Aufladung, die die Wirtschafts-<br />

und Sozialpolitik auf <strong>den</strong> höchsten Parteiebenen <strong>in</strong><br />

allen Ländern des östlichen Blocks stets erfuhr. Wie János<br />

Kornai 1992 gezeigt hat, wur<strong>den</strong> im „sozialistischen System“<br />

die wirtschaftlichen Strukturen von der Ideologie und dem<br />

Willen der Partei zum Machterhalt so nachhaltig geprägt, dass<br />

sämtliche Entscheidungen nur <strong>in</strong>nerhalb dieses unverrückbaren<br />

Rahmens getroffen wer<strong>den</strong> konnten.<br />

Dieselbe Beobachtung hat M. Ra<strong>in</strong>er Lepsius 1994 am<br />

Beispiel der DDR als „Entdifferenzierung der <strong>Institut</strong>ionen“<br />

bezeichnet, die bewirkt, dass alle Entscheidungen von Partei<strong>in</strong>stanzen<br />

getroffen wer<strong>den</strong>. Dieses Phänomen ist <strong>für</strong> sozialistische<br />

Staaten typisch und führt dazu, dass auf dem Gebiet der Wirtschaft die ökonomische Effizienz<br />

als Rationalitätskriterium und Handlungsleitfa<strong>den</strong> stets h<strong>in</strong>ter der politischen Zweckmäßigkeit zurückstehen<br />

muss: „Das zentrale Rationalitätskriterium war die Erhaltung der Macht der Partei.“ [1]<br />

Vor diesem H<strong>in</strong>tergrund fällt Peter Hübners Untersuchung des „Sozialismus als soziale Frage“,<br />

die mit Christa Hübner als Koautor<strong>in</strong> erstellt wurde, seltsam neutral aus. Hübner analysiert die Sozialpolitik<br />

der DDR und Polens zwischen 1968 und 1976. E<strong>in</strong>en prom<strong>in</strong>enten Platz nehmen dabei die<br />

Krisenmonate 1970/71 e<strong>in</strong>, die <strong>in</strong> bei<strong>den</strong> Ländern nicht nur Wechsel an <strong>den</strong> Parteispitzen, sondern<br />

auch wirtschafts- und sozialpolitische Kursveränderungen mit sich brachten. Die folgen<strong>den</strong> Jahre bis<br />

zum Ausbruch e<strong>in</strong>er erneuten polnischen Krise 1976 wer<strong>den</strong> kenntnis- und detailreich „gewissermaßen<br />

als e<strong>in</strong>e deutsch-polnische Parallelgeschichte“ beschrieben (24). Ergänzende Kapitel untersuchen die<br />

Perzeption der polnischen Politik durch die SED.<br />

Hoch<strong>in</strong>teressant und aufschlussreich ist die umfangreiche Studie vor allem durch ihren vergleichen<strong>den</strong><br />

Ansatz, der hier am Beispiel der Sozialpolitik e<strong>in</strong>mal mehr verdeutlicht, dass es sich beim<br />

„Ostblock“ ke<strong>in</strong>eswegs um e<strong>in</strong> monolithisches Gebilde handelte. E<strong>in</strong> deutlicher Unterschied zwischen


294 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

der DDR und Polen, der entschei<strong>den</strong><strong>den</strong> E<strong>in</strong>fluss auf die Gestaltung der jeweiligen Sozialpolitik hatte,<br />

war z.B. das Arbeitskräftepotenzial. Während der Betriebsalltag <strong>in</strong> der DDR von e<strong>in</strong>em ständigen<br />

Mangel an Arbeitskräften geprägt war, herrschte <strong>in</strong> Polen e<strong>in</strong> spürbarer Überschuss. E<strong>in</strong> Schwerpunkt<br />

der polnischen Sozialpolitik <strong>in</strong> <strong>den</strong> 70er Jahren bestand dementsprechend dar<strong>in</strong>, durch verschie<strong>den</strong>e<br />

Anreize (Teilzeit, dreijähriger unbezahlter Mutterurlaub) Frauen und <strong>in</strong>sbesondere Mütter<br />

von e<strong>in</strong>er vollen Erwerbstätigkeit fernzuhalten. Diesem Ziel kam e<strong>in</strong> Familienbild entgegen, das <strong>in</strong><br />

Polen traditioneller war als <strong>in</strong> der DDR. In diesem Zusammenhang bleibt die Rolle der katholischen<br />

Kirche <strong>in</strong> Polen, die die Familien- und Sozialpolitik der Partei wiederholt öffentlich bewertete, jedoch<br />

leider unterbelichtet, wie auch überhaupt der Vergleich der Mentalitäten der deutschen bzw. polnischen<br />

Bevölkerung und deren Akzeptanz des Systems zu kurz kommt. So wirken die sozialpolitischen<br />

Akteure auf <strong>den</strong> höchsten Ebenen von SED und PVAP zwar stets getrieben, doch was sie antreibt,<br />

benennt Hübner lediglich pauschal mit der Anspruchs<strong>in</strong>flation, die <strong>in</strong> bei<strong>den</strong> Ländern die <strong>in</strong>tendierten<br />

politischen Wirkungen der „sozialistischen Errungenschaften“ schnell zunichtemachte (15, 460).<br />

Doch warum verlief dann die Entwicklung <strong>in</strong> Polen so viel krisenhafter als <strong>in</strong> der DDR? Nur vage<br />

lässt sich e<strong>in</strong> möglicher Grund da<strong>für</strong> herauskristallisieren, wenn Gierek noch auf dem VII. Parteitag<br />

der PVAP 1975 davon spricht, Polen habe die „meisten Aufgaben der Übergangsperiode vom Kapitalismus<br />

zum Sozialismus“ erfüllt (342). E<strong>in</strong>e solche Selbste<strong>in</strong>schätzung wäre <strong>in</strong> der DDR schon zu<br />

Ulbrichts Zeiten un<strong>den</strong>kbar gewesen. Offensichtlich waren <strong>in</strong> Polen tief verwurzelte gesellschaftliche<br />

Mechanismen am Werk, die e<strong>in</strong>e ideologische Überheblichkeit der Partei wie im Fall der SED verh<strong>in</strong>derten<br />

und der PVAP auch auf dem Gebiet der Sozialpolitik weniger Spielräume <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en Legitimationszugew<strong>in</strong>n<br />

ließen.<br />

Weil Hübner die allem übergeordnete Ebene der ideologischen Zwänge und des ständigen Legitimationsstrebens<br />

der Parteien vernachlässigt, wirkt <strong>in</strong> der vorliegen<strong>den</strong> Studie die Sozialpolitik Honeckers<br />

und Giereks stark operativ. Tatsächlich aber wurde sie gerade vor dem H<strong>in</strong>tergrund der polnischen<br />

Krise im Dezember 1970 im folgen<strong>den</strong> Jahrzehnt (und bis zum Ende des Ostblocks) eher stärker <strong>für</strong><br />

<strong>den</strong> höheren Zweck des Machterhalts <strong>in</strong>strumentalisiert als zuvor, wie Christoph Kleßmann und André<br />

Ste<strong>in</strong>er gezeigt haben. [2] So bleibt Hübners Bewertung der Streikwelle <strong>in</strong> Polen 1970/71 unvollständig:<br />

Die sozialpolitischen Maßnahmen und Versprechen seien e<strong>in</strong>e „schwere Hypothek“ <strong>für</strong><br />

Gierek gewesen (185) – doch die eigentliche Hypothek bleibt unerwähnt, nämlich die erschossenen<br />

Arbeiter und die verlorene Glaubwürdigkeit der polnischen „Arbeiterpartei“, die ja gerade durch die<br />

sozialpolitischen Versprechen wiederhergestellt wer<strong>den</strong> sollte.<br />

Dieses Defizit des ansonsten äußerst verdienstvollen Buches wird durch e<strong>in</strong>en Aufsatz von Christoph<br />

Boyer ausgeglichen, der im Anhang <strong>den</strong> Blick auf die Tschechoslowakei weitet und die „Tschechoslowakische<br />

Sozial- und Konsumpolitik im Übergang von der Reform zur Normalisierung“ untersucht.<br />

Er bettet die Sozial- und Konsumpolitik nicht nur <strong>in</strong> das Gesamtsyndrom der „Normalisierung“<br />

e<strong>in</strong>, sondern erklärt sie sogar zu ihrem „zentral wichtigen Element.“ (473) Diese Untersuchungsebene<br />

ermöglicht es, strukturelle Ähnlichkeiten zur DDR sichtbar zu machen: In bei<strong>den</strong> Ländern folgte<br />

dem Reformabbruch e<strong>in</strong>e politische und ökonomische Rezentralisierung und e<strong>in</strong>e Sozial- und Konsumpolitik,<br />

die vor allem pazifizierende Funktionen zu erfüllen hatte. Boyers These von der Familienähnlichkeit<br />

zwischen dem „Realsozialismus“ der DDR und der „Normalisierung“ <strong>in</strong> der ČSSR lässt<br />

die Unterschiede zum polnischen Entwicklungspfad, der seit <strong>den</strong> 70er Jahren trotz aller sozialpolitischen<br />

Anstrengungen zu e<strong>in</strong>er immer stärkeren Erosion der Parteimacht führte, umso deutlicher hervortreten.<br />

Es erweist sich, dass e<strong>in</strong> Vergleich der Sozialpolitik erst unter E<strong>in</strong>beziehung der ideologisch-legitimatorischen<br />

Zwänge, <strong>den</strong>en alle sozialistischen Regime unterlagen, e<strong>in</strong> vollständiges<br />

Bild ergibt. Insofern rundet erst Boyers Beitrag dieses lesenswerte Buch vollends ab.<br />

In vielen detailreichen und quellennahen Passagen, z.B. über <strong>den</strong> Umgang der PVAP mit Gomułka<br />

nach dessen Sturz oder über Giereks berühmten Auftritt vor Danziger Arbeitern, wird das Buch se<strong>in</strong>em<br />

DDR und ihre Vorgeschichte


295 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Hauptanliegen, angesichts des häufig mangelhaften Wissens deutscher Forscher über Polen „e<strong>in</strong>[en]<br />

ganz triviale[n] Informationsbedarf zu befriedigen“ (23), jederzeit gerecht.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] M. Ra<strong>in</strong>er Lepsius: Die <strong>Institut</strong>ionenordnung als Rahmenbed<strong>in</strong>gung der Sozialgeschichte der<br />

DDR, <strong>in</strong>: Sozialgeschichte der DDR, hrsg. von Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka/Hartmut Zwahr,<br />

Stuttgart 1994, 17-30, hier 21.<br />

[2] Christoph Kleßmann: Gesamtbetrachtung, <strong>in</strong>: Deutsche Demokratische Republik 1961–1971. Politische<br />

Stabilisierung und wirtschaftliche Mobilisierung (Geschichte der Sozialpolitik <strong>in</strong><br />

Deutschland seit 1945, Bd. 9), hrsg. von Christoph Kleßmann, Ba<strong>den</strong>-Ba<strong>den</strong> 2006, 791-813,<br />

hier 797; André Ste<strong>in</strong>er: Zwischen Konsumversprechen und Innovationszwang. Zum wirtschaftlichen<br />

Niedergang der DDR, <strong>in</strong>: Weg <strong>in</strong> <strong>den</strong> Untergang. Der <strong>in</strong>nere Zerfall der DDR, hrsg. von<br />

Konrad H. Jarausch/Mart<strong>in</strong> Sabrow, Gött<strong>in</strong>gen 1999, 153-192, hier 156.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

DDR und ihre Vorgeschichte


Elke Kimmel: „... war ihm nicht zuzumuten, länger <strong>in</strong> der SBZ zu bleiben“. DDR-Flüchtl<strong>in</strong>ge<br />

im Notaufnahmelager Marienfelde, Berl<strong>in</strong>: Metropol 2009, 116 S., ISBN 978-3-940938-36-7,<br />

EUR 14,00<br />

Rezensiert von Frank Hoffmann<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Deutschlandforschung, Ruhr-Universität Bochum<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/05/15946.html<br />

Unter <strong>den</strong> Ge<strong>den</strong>kstätten Berl<strong>in</strong>s nimmt die Er<strong>in</strong>nerungsstätte<br />

Notaufnahmelager Marienfelde, im Sü<strong>den</strong> des Bezirks Tempelhof<br />

gelegen, e<strong>in</strong>e sche<strong>in</strong>bar periphere Rolle e<strong>in</strong>. Tatsächlich<br />

ist sie mit über 1,3 Millionen Flüchtl<strong>in</strong>gen aus der DDR, die<br />

das Lager zwischen se<strong>in</strong>er Gründung 1953 und 1990 passierten,<br />

e<strong>in</strong> wichtiger Er<strong>in</strong>nerungsort der deutschen Teilungs-<br />

geschichte. Hier bündelten sich <strong>in</strong>dividuelle Schicksale zwischen<br />

totalitärer Gewaltherrschaft der SED und bürokratischer<br />

Aufnahme- und Verteilungsprozedur im Westen zu<br />

e<strong>in</strong>em Kapitel der Ost-West-Beziehungen, das heute <strong>in</strong> der<br />

sehr e<strong>in</strong>drucksvollen und anschaulichen Ausstellung als lebendige<br />

Zeithistorie studiert wer<strong>den</strong> kann.<br />

Mit dem Notaufnahmegesetz von 1950 hatte die Bundesrepublik<br />

die allen Deutschen nach dem Grundgesetz zustehende<br />

Freizügigkeit <strong>für</strong> Zuwanderer aus der SBZ/DDR e<strong>in</strong>geschränkt,<br />

vor allem um sozial- und wirtschaftspolitische Steuerungs-<br />

und Verteilungsmechanismen bei der Bewältigung der<br />

massenhaften Fluchtbewegung zu schaffen. Aber das Gesetz<br />

war auch Ausdruck e<strong>in</strong>er generellen Abwehrhaltung und tief sitzender Skepsis gegenüber <strong>den</strong> zuwandern<strong>den</strong><br />

Deutschen aus der DDR. Auch wenn die Bestimmungen wiederholt novelliert, ergänzt<br />

(Bundesvertriebenen- und Flüchtl<strong>in</strong>gsgesetz, 1953, BVFG) und durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts<br />

präzisiert wur<strong>den</strong>: Das Procedere der Notaufnahme blieb im Kern bis zur<br />

Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion am 1. Juli 1990 gültig. Zuwanderer aus der DDR mussten<br />

sich <strong>in</strong> <strong>den</strong> Notaufnahmelagern, voran <strong>in</strong> Marienfelde, <strong>in</strong>tensiven Befragungen unterziehen. Sicher<br />

nicht unbegründet angesichts der Versuche des DDR-Staatssicherheitsdienstes, Agenten <strong>in</strong> <strong>den</strong> Westen<br />

e<strong>in</strong>zuschleusen. Und doch lässt e<strong>in</strong>en bei der Lektüre des Buchs von Elke Kimmel die Frage nach<br />

der historischen und moralischen Legitimität e<strong>in</strong>er solchen Kontrolle von Deutschen durch Deutsche<br />

nicht los. Kritisch überprüften die Anhörungskommissionen <strong>in</strong>sbesondere die Motivation zum Verlassen<br />

der DDR, wobei sich rasch das Idealbild e<strong>in</strong>es „politischen Flüchtl<strong>in</strong>gs“ herausbildete, während<br />

wirtschaftliche oder <strong>in</strong>dividuelle Gründe <strong>für</strong> die Aufnahme oft nicht reichten.<br />

Die kle<strong>in</strong>e Studie hat ihren Schwerpunkt genau <strong>in</strong> dieser Fragestellung: War es <strong>für</strong> <strong>den</strong> E<strong>in</strong>zelnen<br />

zumutbar, <strong>in</strong> der DDR auszuharren? Jakob Kaiser, der erste Bundesm<strong>in</strong>ister <strong>für</strong> Gesamtdeutsche<br />

Fragen, forderte <strong>in</strong> häufigen Appellen, <strong>in</strong> der DDR zu bleiben. Nur wer „zw<strong>in</strong>gende Gründe“, gar


297 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

„Gefahr <strong>für</strong> Leib und Leben“ oder die „persönliche Freiheit“ belegen konnte, erhielt die anfangs<br />

nicht selten verweigerte Notaufnahme. Indes hält sich das Buch nach e<strong>in</strong>er konzisen Darlegung der<br />

rechtlichen Aspekte nicht lange beim Notaufnahmeverfahren auf, sondern macht auf die mit ihm<br />

verbun<strong>den</strong>e Wahrnehmung der ostdeutschen Landsleute aufmerksam. In drei Fallstudien geht es um<br />

die Anerkennung als Sowjetzonenflüchtl<strong>in</strong>g nach dem BVFG von 1953, welches gegenüber der „Notaufnahme“<br />

zusätzliche Integrationsleistungen eröffnete, um die – vor allem an der Situation der „Illegalen“,<br />

also im Notaufnahmeverfahren Abgewiesenen, festgemachte – Wahrnehmung der Flüchtl<strong>in</strong>ge<br />

im Westen, die zwischen „Vorurteil und Mitgefühl“ schwankte, und schließlich um die jugendlichen<br />

Zuwanderer, <strong>den</strong>en im Westen besondere „Fürsorge“ galt. Alle Kapitel basieren auf Quellenbestän<strong>den</strong><br />

des Marienfelder Lagers, die freilich zumeist <strong>den</strong> Weg der Flüchtl<strong>in</strong>ge nach Verlassen des Lagers<br />

widerspiegeln. Die Ause<strong>in</strong>andersetzungen um die Anträge auf Erteilung e<strong>in</strong>es BVFG-Ausweises als<br />

Sowjetzonenflüchtl<strong>in</strong>g zogen sich oft Jahre h<strong>in</strong> und beschäftigten die Behör<strong>den</strong>.<br />

Elke Kimmels eher illustrative als systematische Analyse der Widerspruchsakten schafft bewegende<br />

E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> deutsche Wirklichkeiten der Nachkriegszeit, etwa die von bei<strong>den</strong> Seiten kritisch<br />

beäugten Grenzgänger <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> vor dem Mauerbau oder die Gewissensnöte von Grenzsoldaten. Gut<br />

herausgearbeitet wird, wie sich mit Fortschreiten der Teilung und vor allem nach dem 13. August<br />

1961 die E<strong>in</strong>stellung der Westbehör<strong>den</strong> gegenüber <strong>den</strong> DDR-Flüchtl<strong>in</strong>gen wandelte und e<strong>in</strong>er großzügigeren<br />

Anerkennungspraxis Raum gab. Dieser Stimmungswandel galt auch <strong>für</strong> die Medien, die <strong>in</strong><br />

<strong>den</strong> fünfziger Jahren manche Flüchtl<strong>in</strong>gsgruppen noch hart aburteilten, so besonders die als ‚arbeitsscheue<br />

Asozialeʻ gebrandmarkten Illegalen. Ähnliche Skepsis ob ihrer Prägung durch die sozialistische<br />

Ideologie galt <strong>den</strong> jugendlichen Zuwanderern, die aber e<strong>in</strong>e privilegierte Aufnahmesituation<br />

hatten und mit dem Ehrgeiz der Jugendsozial<strong>für</strong>sorge <strong>für</strong> <strong>den</strong> Westen „gerüstet“ wur<strong>den</strong>, oft eher zu<br />

ihrem Unwillen.<br />

Kimmels Studien bestätigen, erweitern und variieren bereits bekannte Befunde zur gesellschaftlichen<br />

Integration und politischen Perzeption von Flüchtl<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> Westdeutschland. Trotz reicher<br />

Quellen- und Literaturbelege ist das handliche Buch gewiss weniger als genu<strong>in</strong>er Forschungsbeitrag<br />

und mehr als fundierte Vertiefung e<strong>in</strong>es Besuchs der Marienfelder Ge<strong>den</strong>kstätte gedacht. Dies leistet<br />

das liebevoll mit guten Fotos und farbig abgebildeten Dokumenten ausgestattete, präzis und lebendig<br />

geschriebene Buch hervorragend.<br />

E<strong>in</strong>es der faksimilierten Briefdokumente ist das orthografisch unsichere Entschuldigungsschreiben<br />

e<strong>in</strong>er jungen Frau, die von Marienfelde zurück <strong>in</strong> die DDR gegangen ist: Gar nicht e<strong>in</strong>mal enttäuscht<br />

von der von vielen Rückwanderern beklagten Kälte im Westen, sondern e<strong>in</strong>fach, weil sich die eigenen<br />

Familiennöte „geklärt hatten“, e<strong>in</strong> schöner Beleg der bei aller Politisierung oft ganz <strong>in</strong>dividuellen<br />

Geschichte der deutsch-deutschen Migration.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

DDR und ihre Vorgeschichte


Peter Krewer: Geschäfte mit dem Klassenfe<strong>in</strong>d. Die DDR im <strong>in</strong>nerdeutschen Handel 1949–<br />

1989, Trier: Kliomedia 2008, 332 S., ISBN 978-3-89890-122-2, EUR 36,00<br />

Rezensiert von Peter E. Fäßler<br />

Dres<strong>den</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 2<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/02/14327.html<br />

Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Bundesrepublik<br />

Deutschland und der DDR s<strong>in</strong>d weitgehend aus der öffent-<br />

lichen Er<strong>in</strong>nerung verschwun<strong>den</strong>. Am ehesten dürften die bei<strong>den</strong><br />

Milliar<strong>den</strong>kredite im kollektiven Gedächtnis präsent se<strong>in</strong>,<br />

die der stramme Antikommunist Franz-Josef Strauß <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

frühen 1980er Jahren nach Ostberl<strong>in</strong> vermittelt hatte. Auch<br />

die dubiosen Geschäfte des Bereichs „Kommerzielle Koord<strong>in</strong>ierung“<br />

im DDR-Außenhandelsm<strong>in</strong>isterium unter Leitung<br />

von Alexander Schalck-Golodkowski stoßen noch auf e<strong>in</strong><br />

gewisses, gleichwohl abnehmendes öffentliches Interesse.<br />

Darüber h<strong>in</strong>aus aber spielen die <strong>in</strong>nerdeutschen Wirtschaftsbeziehungen<br />

<strong>in</strong> der zeithistorischen Diskussion um die<br />

deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte nur e<strong>in</strong>e marg<strong>in</strong>ale<br />

Rolle. Angesichts ihrer Bedeutung überrascht das ihnen entgegengebrachte<br />

Des<strong>in</strong>teresse, welches sich u.a. an der überschaubaren<br />

Anzahl e<strong>in</strong>schlägiger Monografien ablesen lässt.<br />

[1] Nun hat Peter Krewer mit se<strong>in</strong>er <strong>in</strong> Trier bei Lutz Raphael<br />

angefertigten Dissertation e<strong>in</strong>e weitere Untersuchung zum Thema vorgelegt. Sie umfasst die gesamten<br />

vier Jahrzehnte deutscher Doppelstaatlichkeit, berücksichtigt also auch die bislang kaum erforschten<br />

1970er und 1980er Jahre. E<strong>in</strong> besonderes Augenmerk legt der Autor nach eigener Aussage<br />

auf Akteure und Vorgänge <strong>in</strong> der DDR, weil die entsprechende Quellenüberlieferung von SED, Behör<strong>den</strong><br />

und Unternehmen bekanntlich bis zum Jahr 1989 <strong>für</strong> Historiker zugänglich ist.<br />

Peter Krewer entwickelt e<strong>in</strong> ambitioniertes Forschungsprogramm, dem er vier „Leitfragen“ voranstellt:<br />

Er beabsichtigt – erstens – die handlungsleiten<strong>den</strong> Motive und organisatorischen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />

auf ostdeutscher Seite herauszuarbeiten. Zweitens beschäftigt ihn die Frage nach dem<br />

deutschlandpolitischen Stellenwert der Wirtschaftsbeziehungen. Als drittes Erkenntnisziel will der<br />

Autor die tatsächlichen Folgewirkungen des <strong>in</strong>nerdeutschen Handels auf die DDR-Volkswirtschaft<br />

benennen, und viertens möchte er prüfen, <strong>in</strong> welchem politischen Spannungsverhältnis sich der Handel<br />

mit Westdeutschland zur SED-Ideologie befand.<br />

Es fällt auf, dass <strong>in</strong> <strong>den</strong> detaillierten Ausführungen zum Interzonenhandel (1945–1949) sowie<br />

zum deutsch-deutschen Handel bis 1972/73, soweit er sich im Rahmen des Berl<strong>in</strong>er Abkommens<br />

(1951/1960) vollzog, die Motive und Entscheidungen der Akteure beider deutscher Staaten gleichermaßen<br />

beleuchtet wer<strong>den</strong>. Erst jener Teil der Untersuchung, der die 1970/80er Jahre behandelt,<br />

fokussiert auf die DDR, wie es der Buchtitel erwarten lässt. Erstaunlicherweise blendet Krewer aber


299 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

<strong>für</strong> diesen Zeitraum <strong>den</strong> auf Basis des Berl<strong>in</strong>er Abkommens durchgeführten Handel nahezu völlig<br />

aus. Statt dessen konzentriert er sich auf h<strong>in</strong>länglich bekannte Geschäfte des Bereichs „Kommerzielle<br />

Koord<strong>in</strong>ierung“, als da wären Kunst- und Antiquitätenhandel, Müllverschiebung und illegale Warentransfers.<br />

Krewers Dissertation verzichtet auf e<strong>in</strong>en theoretischen Analyserahmen, der Autor schreibt ausgesprochen<br />

ereignisorientiert. Diese Vorgehensweise ist <strong>in</strong> der Zeitgeschichtsschreibung durchaus<br />

üblich, setzt aber e<strong>in</strong>e dem Forschungsvorhaben angemessene Quellenbasis voraus. E<strong>in</strong>e solche ist<br />

bei der vorliegen<strong>den</strong> Studie nicht zu erkennen. Beispielsweise fehlen <strong>für</strong> die Analyse der Interessenlagen<br />

und Entscheidungsabläufe <strong>in</strong>nerhalb der politischen Führungsebene der DDR die entschei<strong>den</strong><strong>den</strong><br />

Quellenbestände von Politbüro, Zentralkomitee und <strong>den</strong> ihnen nachgeordneten Fachabteilungen.<br />

Mögliche Folgewirkungen der deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen auf die DDR-Volkswirtschaft<br />

analysiert der Autor unter weitgehendem Verzicht auf statistische Daten. Als e<strong>in</strong>zige Tabelle<br />

listet er im Anhang die h<strong>in</strong>länglich bekannten Überblicksangaben des Statistischen Bundesamtes<br />

zum deutsch-deutschen Handel auf. Wirtschaftsstatistisches Material von DDR-Behör<strong>den</strong>, das bei aller<br />

gebotenen Vorsicht <strong>für</strong> die Thematik sehr wohl relevant wäre, sucht man vergebens.<br />

Krewers Quellenauswahl birgt noch ganz andere Rätsel. So schmücken zahlreiche archivalische<br />

Quellenangaben die Fußnoten se<strong>in</strong>er Ausführungen, soweit sie die frühe Phase der deutsch-deutschen<br />

Wirtschaftsbeziehungen betreffen. Etliche davon f<strong>in</strong><strong>den</strong> sich auch <strong>in</strong> <strong>den</strong> erwähnten e<strong>in</strong>schlägigen<br />

Monografien. Überraschenderweise sprudeln die Archivquellen ab <strong>den</strong> frühen 1970er Jahren nur<br />

noch sehr spärlich, <strong>den</strong>n anders lassen sich die jetzt dom<strong>in</strong>ieren<strong>den</strong> Verweise auf Bundestagsdrucksachen<br />

der Jahre 1992 bis 1994 kaum erklären.<br />

Ebenso eigenwillig wie die Quellenauswahl setzt Krewer auch se<strong>in</strong>e thematischen Schwerpunkte.<br />

Er begründet nicht, weshalb er <strong>für</strong> die ersten bei<strong>den</strong> Jahrzehnte sowohl die Bundesrepublik als auch<br />

die DDR <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Analyse gleich stark gewichtet, nicht aber <strong>für</strong> die bei<strong>den</strong> nachfolgen<strong>den</strong> Deka<strong>den</strong>.<br />

E<strong>in</strong>e Erklärung da<strong>für</strong>, dass er ab <strong>den</strong> 1970er Jahre fast ausschließlich auf die Aktivitäten des Bereichs<br />

„Kommerzielle Koord<strong>in</strong>ierung“ fokussiert, bleibt er ebenfalls schuldig. Kle<strong>in</strong>ere Merkwürdigkeiten,<br />

etwa die ausführlich behandelte Thalheim-Gleitze-Kontroverse und die ebenso ausführliche Analyse<br />

von Schalck-Golodkowskis Dissertation – beide Exkurse tragen nichts Wesentliches zur eigentlichen<br />

Problematik bei und s<strong>in</strong>d andernorts bestens nachzulesen –, seien nur am Rande benannt. Es fällt auf,<br />

dass der Autor se<strong>in</strong>e thematischen Schwerpunkte ausgerechnet dort setzt, wo unsere Kenntnisse bereits<br />

recht gut s<strong>in</strong>d, und dass er e<strong>in</strong>en Bogen um offenkundige Forschungslücken schlägt.<br />

Krewers Antworten auf die e<strong>in</strong>gangs formulierten „Leitfragen“ fallen e<strong>in</strong>igermaßen unbefriedigend<br />

aus. So kommt er mit Blick auf die Auswirkungen des deutsch-deutschen Handels auf die<br />

DDR-Volkswirtschaft zu dem Schluss, dass sie <strong>in</strong> langfristiger Perspektive <strong>den</strong> Verfall des kle<strong>in</strong>eren<br />

der bei<strong>den</strong> deutschen Staaten mit herbeigeführt hätten. Nähere Erläuterungen zu diesem <strong>in</strong>teressanten<br />

Gedanken fehlen, e<strong>in</strong>e Vorstellung von <strong>den</strong> quantitativen Dimensionen liefert der Autor nicht.<br />

Die These, dass die ökonomische Interessenlage handlungsbestimmend <strong>für</strong> die maßgeblichen Akteure<br />

<strong>in</strong> Ostberl<strong>in</strong> war, ist grosso modo zutreffend. Auch liegt der Autor richtig, wenn er deren seit <strong>den</strong><br />

1970er Jahren wachsende Bereitschaft erkennt, auf ökonomische Zugeständnisse der Bundesregierung<br />

mit Entgegenkommen im politischen bzw. humanitären Bereich zu reagieren. Aber das s<strong>in</strong>d<br />

E<strong>in</strong>sichten, die bereits der aufmerksame Zeitgenosse gew<strong>in</strong>nen konnte. Der Rezensent hätte sich e<strong>in</strong>e<br />

differenzierte Analyse der Gemengelage widersprüchlicher Interessen und ihrer Vertreter <strong>in</strong>nerhalb<br />

der sozialistischen Machtzentrale gewünscht. Leider versäumt es Krewer, spannende Fragen etwa<br />

nach der Schmerzgrenze bei politisch-humanitären Zugeständnissen seitens der SED-Führung zu<br />

stellen, geschweige <strong>den</strong>n zu beantworten.<br />

Was bleibt als Qu<strong>in</strong>tessenz? Vielleicht jener letzte Satz, der ansche<strong>in</strong>end <strong>den</strong> Kern der Dissertation<br />

auf <strong>den</strong> Punkt br<strong>in</strong>gt: „Jener Teufelskreislauf von wirtschaftlicher Schädigung und gesellschaftlicher<br />

DDR und ihre Vorgeschichte


300 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Spaltung Ostdeutschlands bei gleichzeitiger kurzfristiger Herrschaftsstabilisierung und darauf folgendem<br />

erneutem sozio-ökonomischen Scha<strong>den</strong> durch weitere KoKo-Aktionen wurde erst durch <strong>den</strong><br />

Zusammenbruch der SED-Diktatur beendet.“ Aha.<br />

Anmerkung:<br />

[1] Friedrich von Heyl: Der <strong>in</strong>nerdeutsche Handel mit Eisen und Stahl 1945–1972. Deutsch-deutsche<br />

Beziehungen im Kalten Krieg, Köln 1997; Peter E. Fäßler: Durch <strong>den</strong> „Eisernen Vorhang“. Die<br />

deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen 1949 bis 1969, Köln, Weimar, Wien 2006; Michael<br />

Kruse: Politik und deutsch-deutsche Wirtschaftsbeziehungen von 1945 bis 1989, Berl<strong>in</strong> 2005.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

DDR und ihre Vorgeschichte


Barbara Könczöl: Märtyrer des Sozialismus. Die SED und das Ge<strong>den</strong>ken an Rosa Luxemburg<br />

und Karl Liebknecht, Frankfurt a.M.: Campus 2008, 361 S., ISBN 978-3-593-38747-5,<br />

EUR 34,90<br />

Rezensiert von Thomas Schaarschmidt<br />

Zentrum <strong>für</strong> Zeithistorische Forschung, Potsdam<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 6<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/06/15231.html<br />

Dieses Buch hält mehr als der Titel verspricht. Es geht der<br />

Autor<strong>in</strong> nicht nur um das offizielle Ge<strong>den</strong>ken an die KPD-<br />

Gründer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, sondern um<br />

das Gesamtensemble der Ge<strong>den</strong>kkultur <strong>in</strong> der DDR. Wie Barbara<br />

Könczöl überzeugend nachweisen kann, erschöpfte sich<br />

das Gründungsnarrativ der SED nicht im antifaschistischen<br />

Widerstandskampf gegen die NS-Diktatur. Dieser war immer<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e umfassende Meistererzählung e<strong>in</strong>gebun<strong>den</strong>, an deren<br />

Anfang die Ermordung Luxemburgs und Liebknechts im<br />

Januar 1919 stand.<br />

Dabei hatte es schon die KPD der Weimarer Republik nicht<br />

leicht mit ihrer Parteigründer<strong>in</strong>, da sich deren Kritik am Len<strong>in</strong>ismus<br />

nur schlecht mit der seit Mitte der Zwanzigerjahre<br />

vollzogenen Fixierung auf das bolschewistische Diktaturmodell<br />

vere<strong>in</strong>baren ließ. Das spätere Bestreben der SED,<br />

zwischen Rosa Luxemburg als Märtyrer<strong>in</strong> und ihren theoretischen<br />

Fehlern zu differenzieren, knüpfte an diese Praxis an,<br />

führte aber dazu, dass mit dem fortschreiten<strong>den</strong> Utopieverlust<br />

des „Sozialismus <strong>in</strong> <strong>den</strong> Farben der DDR“ das alljährliche<br />

Ge<strong>den</strong>kritual der Luxemburg-Liebknecht-Feiern immer <strong>in</strong>haltsärmer wurde und sich die Parteigründer<strong>in</strong><br />

zunehmend als Referenz <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Systemkritik unterschiedlicher Provenienz anbot.<br />

Barbara Könczöl orientiert sich <strong>in</strong> ihrer Dissertation an der These, dass sich die SED mit der fast<br />

religiös überhöhten Hel<strong>den</strong>verehrung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts selbst sakralisierte,<br />

um sich als Vollender<strong>in</strong> des kommunistischen Heilsplans zu legitimieren und gegen alle Anfechtungen<br />

zu immunisieren. In e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>führen<strong>den</strong> Kapitel geht sie folglich der Frage nach, welche theoretischen<br />

Angebote die Debatten über politische und Zivilreligionen <strong>für</strong> die Analyse der Mythenproduktion<br />

der KPD/SED bieten. Dabei kommt sie zu dem Schluss, dass sich die Partei nach 1945 e<strong>in</strong>e von<br />

Märtyrern beglaubigte Tradition erfand, um ihren eigenen messianischen Anspruch glaubhaft vertreten<br />

zu können. Auch wenn man Zweifel anmel<strong>den</strong> kann, ob gerade die Zeitperspektive das entschei<strong>den</strong>de<br />

Dist<strong>in</strong>ktionsmerkmal zwischen marxistischen und nationalsozialistischen Utopien (64) ist, bieten die<br />

umsichtigen Überlegungen zum Gründungsmythos der Partei doch e<strong>in</strong>e ausgezeichnete Ausgangsbasis<br />

<strong>für</strong> die folgen<strong>den</strong> Erkundungen zum Luxemburg-Liebknecht-Ge<strong>den</strong>ken.


302 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Dass Barbara Könczöl dieses bis <strong>in</strong> die Zeit der Weimarer Republik zurückverfolgt, erweist sich<br />

als e<strong>in</strong> Glücksgriff, da sich wichtige Grundmuster des Ge<strong>den</strong>kens schon seit <strong>den</strong> späten Zwanzigerjahren<br />

abzeichneten. Dazu zählen neben der problematischen Trennung zwischen Rosa Luxemburg<br />

und dem „Luxemburgismus“ die Ten<strong>den</strong>z, die Parteigründer<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong> Schatten Karl Liebknechts zu<br />

stellen, die Aufwertung Len<strong>in</strong>s und Thälmanns oder auch das dichotomische Freund-Fe<strong>in</strong>d-Denken,<br />

<strong>in</strong> dem die SPD e<strong>in</strong>deutig auf Seiten der Reaktion verortet wurde.<br />

Noch während des Zweiten Weltkriegs konstruierten die deutschen Kommunisten im Exil e<strong>in</strong>e<br />

Kont<strong>in</strong>uitätsl<strong>in</strong>ie von der Ermordung Luxemburgs und Liebknechts bis „zu <strong>den</strong> Gräueltaten des Nationalsozialismus“<br />

(124) und dem antifaschistischen Widerstandskampf. Trotz der taktischen Öffnung<br />

zur SPD 1945 und 1946 war der Führungsanspruch der KPD damit bereits festgeschrieben wor<strong>den</strong>.<br />

Während das Schlagwort des „Luxemburgismus“ <strong>in</strong> <strong>den</strong> folgen<strong>den</strong> Jahren dazu diente, alle politischen<br />

Häresien anzuprangern, wurde Rosa Luxemburg gleichzeitig zum Teil e<strong>in</strong>er Parteigenealogie,<br />

die Thälmann zum „legitimen Erben der bei<strong>den</strong> Parteigründer“ und Wilhelm Pieck zum B<strong>in</strong>deglied<br />

zur aktuellen Parteiführung unter Walter Ulbricht erklärte.<br />

Wie Könczöl e<strong>in</strong>drucksvoll belegt, folgten die Bemühungen der Parteiführung, die Inszenierung<br />

Rosa Luxemburgs als Ikone von ihren theoretischen Schriften abzukoppeln, bestimmten Konjunkturen.<br />

Auf das offizielle Narrativ <strong>in</strong> Fred Oelßners Luxemburg-Biografie von 1951 folgten nach 1956<br />

Bestrebungen, <strong>den</strong> „Luxemburgismus“ als „Erf<strong>in</strong>dung antikommunistischer Ideologen“ abzutun und<br />

die kommunistische Revolutionär<strong>in</strong> vor diesen <strong>in</strong> Schutz zu nehmen. Nachdem die parteioffizielle<br />

Er<strong>in</strong>nerung an Rosa Luxemburg <strong>in</strong> <strong>den</strong> Fünfzigerjahren immer weiter <strong>in</strong> <strong>den</strong> H<strong>in</strong>tergrund getreten<br />

war, sorgte erst die westdeutsche Luxemburg-Rezeption <strong>in</strong> <strong>den</strong> späten Sechzigerjahren da<strong>für</strong>, dass es<br />

die SED-Führung wagte, die Schrift über die russische Revolution <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Ausgabe der Gesammelten<br />

Werke zu veröffentlichen. Dass sich damit ke<strong>in</strong>e ernsthafte Ause<strong>in</strong>andersetzung mit <strong>den</strong> Ideen Rosa<br />

Luxemburgs verband, zeigte sich spätestens <strong>in</strong> <strong>den</strong> Achtzigerjahren, als Margarethe von Trottas<br />

Luxemburg-Film die Partei erneut auf dem falschen Be<strong>in</strong> erwischte und sie e<strong>in</strong>räumen musste, dass<br />

ihr holzschnittartiges Bild der Parteigründer<strong>in</strong> auf weitaus weniger Resonanz stieß als das Filmporträt<br />

aus westlicher Produktion.<br />

Die bei<strong>den</strong> folgen<strong>den</strong> Kapitel über die „Ge<strong>den</strong>kstätte der Sozialisten“ und die alljährlichen<br />

Kampfdemonstrationen zu Ehren von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht im Januar greifen die<br />

e<strong>in</strong>gangs formulierten Thesen der mythischen Überhöhung und Sakralisierung der Partei wieder auf.<br />

Akribisch untersucht Barbara Könczöl die Inhalte und Formen des Ge<strong>den</strong>kens <strong>in</strong> diachroner Perspektive<br />

und im Gesamtkontext der DDR-Ge<strong>den</strong>kkultur. So wer<strong>den</strong> die „Ge<strong>den</strong>kstätte der Sozialisten“<br />

mit dem sowjetischen Ehrenmal <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Treptow und der KZ-Ge<strong>den</strong>kstätte Buchenwald verglichen<br />

und die „Kampfdemonstrationen“ zu Ehren von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht im<br />

Rahmen des offiziellen Feiertagskalenders analysiert. Überzeugend kann die Autor<strong>in</strong> darlegen, wie<br />

sich die Parteiführung alljährlich als Erb<strong>in</strong> „von Karl und Rosa“ <strong>in</strong>szenierte und <strong>in</strong>thronisierte.<br />

Etwas mehr Aufschluss hätte man sich darüber gewünscht, wie die Rituale von der Parteibasis<br />

und dem Rest der Bevölkerung wahrgenommen wur<strong>den</strong> und welche nicht <strong>in</strong>tendierten Nebenwirkungen<br />

das zwiespältige Erbe Rosa Luxemburgs hatte. Schon die verstreuten H<strong>in</strong>weise <strong>in</strong> Barbara<br />

Könczöls Analyse machen deutlich, dass gerade Luxemburgs Kritik des Len<strong>in</strong>ismus e<strong>in</strong>en idealen<br />

Anknüpfungspunkt <strong>für</strong> reformkommunistische Positionen bot – angefangen von der Sozialistischen<br />

Arbeiterpartei (SAP) <strong>in</strong> der späten Weimarer Republik über Wolfgang Harich bis zu Robert Havemann<br />

und Wolf Biermann.<br />

Es wirkt daher wie e<strong>in</strong>e Engführung der Argumentation, dass sich der Schlussteil der Untersuchung<br />

auf die Luxemburg-Rezeption <strong>in</strong> <strong>den</strong> oppositionellen Gruppierungen der späten Achtzigerjahre und<br />

die Beteiligung von Regimekritikern an der offiziellen „Kampfdemonstration der Berl<strong>in</strong>er Werktätigen“<br />

im Januar 1988 konzentriert. Dass Rosa Luxemburg auch <strong>für</strong> die <strong>in</strong>nerparteiliche Kritik e<strong>in</strong>e<br />

DDR und ihre Vorgeschichte


303 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

wichtige Referenz blieb, wird nur knapp mit e<strong>in</strong>em H<strong>in</strong>weis auf <strong>den</strong> Leipziger Historiker Werner<br />

Bramke gestreift, könnte aber e<strong>in</strong>e Erklärung da<strong>für</strong> bieten, wie schnell es der PDS nach 1989 gelang,<br />

die Parteigründer<strong>in</strong> zur Symbolfigur e<strong>in</strong>es demokratischen Sozialismus zu verwandeln.<br />

Diese Überlegungen ändern aber nichts am Gesamte<strong>in</strong>druck des Buches. Barbara Könczöl hat mit<br />

ihrer Dissertation über das Luxemburg-Liebknecht-Ge<strong>den</strong>ken e<strong>in</strong>en wichtigen Beitrag zur Geschichtspolitik<br />

der SED, zu <strong>den</strong> Diskussionen um <strong>den</strong> Kommunismus als S<strong>in</strong>nwelt sowie zu <strong>den</strong> Debatten<br />

über Diktaturen und politische Religionen vorgelegt.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

DDR und ihre Vorgeschichte


Christian Lotz: Die Deutung des Verlusts. Er<strong>in</strong>nerungspolitische Kontroversen im<br />

geteilten Deutschland um Flucht, Vertreibung und die Ostgebiete (1948–1972) (= Neue<br />

Forschungen zur Schlesischen Geschichte; Bd. 15), Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2007, X + 327 S.,<br />

ISBN 978-3-412-15806-4, EUR 37,90<br />

Rezensiert von Michael Schwartz<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 11<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/11/13961.html<br />

Zwei Jahrzehnte nach Mauerfall und Wiedervere<strong>in</strong>igung wird<br />

von e<strong>in</strong>er Geschichtsschreibung zur Bundesrepublik das Paralleluniversum<br />

der SBZ/DDR weiterh<strong>in</strong> allzu oft ignoriert.<br />

Dennoch rückt allmählich e<strong>in</strong>e Forschungsperspektive <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

Vordergrund, die sich auf das „doppelte Deutschland“ konzentriert.<br />

[1] Das gilt auch <strong>für</strong> das Thema Vertreibung und Vertriebenen<strong>in</strong>tegration,<br />

dessen er<strong>in</strong>nerungspolitische Dimension<br />

gerade <strong>in</strong> jüngster Zeit an Aktualität und Brisanz gewonnen<br />

hat. Versuche, der Entwicklung <strong>in</strong> bei<strong>den</strong> deutschen Staaten<br />

und Gesellschaften gerecht zu wer<strong>den</strong>, s<strong>in</strong>d bisher über Sammelbände<br />

nicht h<strong>in</strong>ausgelangt oder <strong>in</strong>haltlich ungleichgewichtig<br />

oder essayistisch geblieben. [2] E<strong>in</strong> systematischer Vergleich<br />

fehlt bislang; er wird – um dies vorweg zu nehmen – auch <strong>in</strong><br />

der Studie von Christian Lotz nicht erschöpfend geboten.<br />

Immerh<strong>in</strong> kann Lotz das Desiderat e<strong>in</strong> Stück weit e<strong>in</strong>lösen;<br />

die Systematik se<strong>in</strong>es komparatistischen Ansatzes ist se<strong>in</strong>e<br />

Stärke, zugleich aber auch Ursache se<strong>in</strong>er Begrenztheit und<br />

partiellen Fragwürdigkeit.<br />

Lotz geht es um die Er<strong>in</strong>nerungspolitik, die sich sowohl auf das Ereignis (Vertreibung) als auch<br />

auf <strong>den</strong> Raum (zu „Ostgebieten“ vere<strong>in</strong>facht) bezog. Der Erfolg oder Misserfolg solcher Er<strong>in</strong>nerungspolitik<br />

lässt <strong>in</strong>direkt Rückschlüsse auf <strong>den</strong> Verlauf von Vertriebenen<strong>in</strong>tegration <strong>in</strong> Bundes-<br />

republik oder DDR zu. Ob die von Lotz getroffene Entscheidung, die konträren deutschen bzw. polnischen<br />

Term<strong>in</strong>i der Vertreibung und Aussiedlung „synonym“ zu nutzen (4), e<strong>in</strong>e glückliche ist, darf<br />

bezweifelt wer<strong>den</strong> – dem aktuellen Trend der Forschung entspricht sie nicht. Indem Lotz die räumliche<br />

Dimension der Er<strong>in</strong>nerungspolitik auf die „Ostgebiete“ im S<strong>in</strong>ne der 1945 verlorenen ostdeutschen<br />

Reichsgebiete <strong>in</strong> <strong>den</strong> Grenzen von 1937 bezieht, verengt er <strong>den</strong> Raumbezug auf die deutsch-polnische<br />

Relation – was forschungspragmatisch legitim ist, aber e<strong>in</strong>e Begründung der Exklusion sonstiger<br />

Er<strong>in</strong>nerungsräume (vom Baltikum bis nach Südosteuropa) nicht obsolet macht. Indem der Autor dies<br />

mit Stillschweigen übergeht, erspart er sich (und uns) die Antwort auf die wichtige Frage, wie repräsentativ<br />

die am deutsch-polnischen Fall gewonnenen Resultate se<strong>in</strong> dürften. Überzeugender fällt die<br />

Def<strong>in</strong>ition des Verhältnisses von Er<strong>in</strong>nerungspolitik und Vergangenheitspolitik aus (7). Kenntnis-


305 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

reich und anregend ist – auch dann, wenn man ihm nicht zustimmt – die Ause<strong>in</strong>andersetzung mit<br />

dem Forschungsstand.<br />

Methodisch konzipiert Lotz se<strong>in</strong>e Arbeit als Vergleich der Er<strong>in</strong>nerungspolitiken von vier politischen<br />

oder gesellschaftlichen <strong>Institut</strong>ionen mit gesamtdeutscher Dimension – die Selbstorganisation<br />

von Vertriebenen am Beispiel der Landsmannschaft Schlesien, die <strong>in</strong> der DDR verboten war, aber<br />

auch dort h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>wirkte; der Gerlach-Gesellschaft (Deutsch-Polnische Gesellschaft) der DDR, die auch<br />

<strong>in</strong> der Bundesrepublik über e<strong>in</strong> weith<strong>in</strong> konformes Äquivalent verfügte; der Schlesischen Evangelischen<br />

Kirche, die <strong>in</strong> der DDR weiterexistierte und <strong>in</strong> der Bundesrepublik als lockere „Geme<strong>in</strong>schaft<br />

evangelischer Schlesier“ fortbestand; schließlich die gouvernementale Dimension, <strong>in</strong>dem auf DDR-<br />

Seite das ZK der SED und das M<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> Staatssicherheit, auf westdeutscher Seite die M<strong>in</strong>isterien<br />

<strong>für</strong> Vertriebene und <strong>für</strong> gesamtdeutsche Fragen <strong>in</strong> <strong>den</strong> Fokus gelangen (23f.).<br />

In <strong>den</strong> folgen<strong>den</strong> Kapiteln spielt der Autor diese Versuchsanordnung <strong>in</strong> <strong>den</strong> ersten drei Jahrzehnten<br />

deutsch-deutscher Geschichte durch und gelangt zur Unterscheidung von drei Phasen: Die Jahre<br />

zwischen 1948 und 1956/57 betrachtet er als Formationsphase unterschiedlicher Deutungsangebote,<br />

zwischen 1956 und „Mitte der sechziger Jahre“ glaubt er e<strong>in</strong>e „Verschiebung der Kräfteverhältnisse“<br />

beobachten zu können, und <strong>in</strong> der Folgezeit bis 1972 konstatiert er „Politisierung und Isolation“. Die<br />

erste Phase ist wenig orig<strong>in</strong>ell, die zweite zum<strong>in</strong>dest orig<strong>in</strong>ell term<strong>in</strong>iert, die dritte weist nur mit dem<br />

Isolations-Begriff e<strong>in</strong> Unterscheidungsmerkmal auf, während Politisierung eher als durchgehender<br />

Grundzug ersche<strong>in</strong>t.<br />

Betrachtet man zunächst die zeitliche E<strong>in</strong>teilung, stellt sich die Frage, weshalb Lotz als Ausgangspunkt<br />

das Jahr 1948 wählt. Dies ersche<strong>in</strong>t willkürlich, <strong>den</strong>n die Notwendigkeit zu er<strong>in</strong>nerungspolitischer<br />

Deutung ergab sich bereits 1945 – und ebenso existierten politisch-adm<strong>in</strong>istrative, kirchliche<br />

und prototypisch sogar landsmannschaftliche Deutungsagenturen vor 1948. Noch fragwürdiger ersche<strong>in</strong>t<br />

die nächste Zäsursetzung: Lotz beobachtet, dass die schlesische Landsmannschaft <strong>in</strong> er<strong>in</strong>nerungspolitischen<br />

Deutungskonflikten „unübersehbar“ ab 1956/57 „immer mehr <strong>in</strong>s H<strong>in</strong>tertreffen“<br />

geraten sei, belegt dies jedoch lediglich mit Zitaten aus <strong>den</strong> 1960er Jahren – was <strong>den</strong>n auch sehr viel<br />

plausibler ist und dem Forschungsstand entspricht (132). Kirchliche Bestrebungen <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e neue<br />

Ostpolitik und Vertriebenenverbandskritik durch l<strong>in</strong>ke Medien traten ebenfalls erst nach 1960 deutlicher<br />

hervor. Dass die westdeutsche SED-gesteuerte Freundschaftsgesellschaft ab Ende der 1950er<br />

oder vielleicht doch erst ab Anfang der 1960er Jahre „erste Erfolge“ erzielt habe (172f.), wird nicht<br />

empirisch belegt, sondern nur postuliert, verweist jedoch ebenfalls auf e<strong>in</strong>e wahrsche<strong>in</strong>lichere Zäsur<br />

um 1960. Ob sich dann e<strong>in</strong>e zweite Phase bis Mitte der 1960er Jahre halten lässt, zumal Lotz selbst<br />

„eher e<strong>in</strong> weicher Übergang [...] zwischen 1963 und 1967“ vorschwebt (263), oder ob man nicht<br />

besser die zweite und dritte Phase zusammenfassen sollte, kann hier nur gefragt wer<strong>den</strong>. Je<strong>den</strong>falls<br />

ersche<strong>in</strong>t selbst die abschließende Zäsur von 1972 wenig zw<strong>in</strong>gend, wenn der Verfasser selbst zugibt,<br />

dass <strong>in</strong> der Folgezeit „die Debatten ke<strong>in</strong>eswegs beendet waren“ (ebd.).<br />

Inhaltlich bietet Lotz’ Darstellung viele <strong>in</strong>teressante Details und Deutungen. Fragt man jedoch<br />

nach der Stimmigkeit se<strong>in</strong>er Gesamt<strong>in</strong>terpretation, stellen sich folgende Probleme: Wie stimmig ist<br />

e<strong>in</strong>e Vergleichsanordnung, die mit Elementen hantiert, welche sich bei näherer Betrachtung als<br />

ungleich und damit zum<strong>in</strong>dest als schwer vergleichbar herausstellen? Die evangelische Kirche<br />

Schlesiens <strong>in</strong> der DDR war als Voll<strong>in</strong>stitution eben etwas Anderes als das Rest<strong>in</strong>stitut der Schlesiergeme<strong>in</strong>schaft<br />

<strong>in</strong>nerhalb der EKD; die schlesische Landsmannschaft war etwas Anderes und als Vetospieler<br />

von ganz anderer gesellschaftlicher Bedeutung als die marg<strong>in</strong>ale Gerlach-Gesellschaft und<br />

ihr noch unwichtigerer westdeutscher Ableger. Lotz’ Konzentration auf die von dieser DDR-Organisation<br />

betriebene Er<strong>in</strong>nerungspolitik verzerrt das Bild der SED-Gesamtstrategie, <strong>den</strong>n die Übernahme<br />

polnischer Deutungen kennzeichnete ke<strong>in</strong>eswegs die SED-Umsiedlerpolitik <strong>in</strong>sgesamt. E<strong>in</strong><br />

Vergleich, der auf derart ungleiche Elemente setzt, wird zwangsläufig schief.<br />

DDR und ihre Vorgeschichte


306 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

H<strong>in</strong>zu kommen Zweifel an e<strong>in</strong>zelnen <strong>in</strong>haltlichen Aussagen: Zweifelhaft etwa ersche<strong>in</strong>t Lotz’ Behauptung,<br />

die er<strong>in</strong>nerungspolitische „SED-Strategie“ habe seit Anfang der 1960er Jahre nicht nur <strong>in</strong><br />

der DDR „Erfolg“ gehabt, sondern „später auch teilweise <strong>in</strong> Westdeutschland“ (182). Hier wüsste man<br />

gern: Wie misst man Erfolg? Kann man von erfolgreicher Repression auf erfolgreiche Deutungshegemonie<br />

schließen? Und lässt sich e<strong>in</strong>e gesellschaftliche Langzeitentwicklung mechanisch e<strong>in</strong>em Akteur<br />

zurechnen? War der westdeutsche Deutungswandel der 60er Jahre SED-bee<strong>in</strong>flusst oder nicht eher<br />

e<strong>in</strong>e eigendynamische Parallelentwicklung? Lotz glaubt an die Gestaltungsmacht politischer Akteure,<br />

zumal <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Diktatur (obschon er <strong>den</strong> Diktaturcharakter der DDR ansonsten kaum betont, sondern<br />

eher e<strong>in</strong>er konturlosen Äquidistanz huldigt), <strong>den</strong>n <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Sicht konnte die SED „die Ausstrahlungskraft<br />

ihrer Deutung <strong>in</strong> Ost- und Westdeutschland“ zwischen 1955 und 1965 „wesentlich vergrößern“<br />

(185). Das mag sogar stimmen, wenn man be<strong>den</strong>kt, dass diese Ausstrahlung zuvor <strong>in</strong> der<br />

DDR ger<strong>in</strong>g und <strong>in</strong> Westdeutschland kaum gegeben war. Doch war das entschei<strong>den</strong>de Deutungshoheit?<br />

Im Westen darf man punktuelle Erfolge wie <strong>den</strong> SED-Beitrag zum Sturz nicht nur Oberländers,<br />

sondern noch e<strong>in</strong>es weiteren Vertriebenenm<strong>in</strong>isters (<strong>den</strong> Lotz nicht erwähnt) ke<strong>in</strong>esfalls überschätzen.<br />

Und selbst <strong>für</strong> die DDR muss man Lotz’ These von der Durchschlagskraft der SED-Politik<br />

(186) gegenüber <strong>den</strong> dissi<strong>den</strong>t bleiben<strong>den</strong> gesellschaftlichen „Nischen“ deutlich relativieren. Kle<strong>in</strong>ere<br />

Unstimmigkeiten kommen h<strong>in</strong>zu: Wenn die Forderung der Sowjetunion nach der „Curzon-L<strong>in</strong>ie“ auf<br />

das durch <strong>den</strong> deutschen Überfall von 1941 erzeugte „Sicherheitsbedürfnis“ zurückgeführt wird (50),<br />

bleibt die mit dem Hitler-Stal<strong>in</strong>-Pakt von 1939 gegebene Vorgeschichte gänzlich unbeachtet.<br />

Insgesamt fällt das Ergebnis dieses deutsch-deutschen Vergleichs früher Er<strong>in</strong>nerungspolitiken an<br />

die Vertreibung somit ernüchternd aus. Dennoch hat Lotz e<strong>in</strong>en deutsch-deutschen Pfad beschritten,<br />

der unbed<strong>in</strong>gt weiter begangen wer<strong>den</strong> sollte – freilich mit deutlicherer Herausarbeitung von Demokratie-<br />

und Diktaturkontexten sowie größerer Berücksichtigung der Eigendynamik gesellschaftlicher<br />

Entwicklungen gegenüber politischen Aktionen. Auf diesem Wege kann die Lektüre von Lotz’ Studie<br />

behilflich se<strong>in</strong>. Am wenigsten dort, wo apodiktisch geurteilt wird – wie über Vere<strong>in</strong>fachungsstrategien<br />

der Landsmannschaften, die ihrerseits (Stichwort Völkerrecht) von Lotz zu sehr vere<strong>in</strong>facht<br />

wer<strong>den</strong> (64). Am ehesten da, wo Lotz S<strong>in</strong>n <strong>für</strong> Dialektik beweist – etwa <strong>in</strong> der These, e<strong>in</strong>e „unfreiwillige<br />

Allianz“ aus SED und Landsmannschaften habe die Er<strong>in</strong>nerung an Vertreibung und Ost-<br />

gebiete mit „unterschiedlicher Absicht“ derart politisiert, dass diese Er<strong>in</strong>nerung schließlich „schrittweise<br />

aus der öffentlichen Diskussion h<strong>in</strong>ausgedrängt“ wor<strong>den</strong> sei (268). Ob das stimmt? Je<strong>den</strong>falls<br />

ist es neu, frech, anregend – und nur über e<strong>in</strong>en deutsch-deutschen Vergleich zu behaupten, der andernorts<br />

allzu oft noch fehlt.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Paradigmatisch: Udo Wengst/Hermann Wentker (Hrsg.): Das doppelte Deutschland. 40 Jahre<br />

Systemkonkurrenz, Berl<strong>in</strong> 2008.<br />

[2] Dierk Hoffmann/Michael Schwartz (Hrsg.): Geglückte Integration? Spezifika und Vergleichbarkeiten<br />

der Vertriebenen-Integration <strong>in</strong> der SBZ/DDR, München 1999; Dierk Hoffmann/Marita<br />

Krauss/Michael Schwartz (Hrsg.): Vertriebene <strong>in</strong> Deutschland. Interdiszipl<strong>in</strong>äre Ergebnisse und<br />

Forschungsperspektiven, München 2000; Michael Schwartz: Vertriebene und „Umsiedlerpolitik“.<br />

Integrationskonflikte <strong>in</strong> <strong>den</strong> deutschen Nachkriegs-Gesellschaften und die Assimilationsstrategien<br />

<strong>in</strong> der SBZ/DDR 1945–1961, München 2004; Andreas Kossert: Kalte Heimat. Die Geschichte<br />

der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2008; Michael Schwartz: Vertriebene<br />

im doppelten Deutschland. Integrations- und Er<strong>in</strong>nerungspolitik <strong>in</strong> der DDR und <strong>in</strong> der Bundesrepublik,<br />

<strong>in</strong>: Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong> 56 (2008), 101-151.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

DDR und ihre Vorgeschichte


Ingrid Miethe/Mart<strong>in</strong>a Schiebel: Biografie, Bildung und <strong>Institut</strong>ion. Die Arbeiter-und Bauern-<br />

Fakultäten <strong>in</strong> der DDR. Unter Mitarbeit von Enrico Lippmann und Stephanie Schafhirt<br />

(= Biographie- und Lebensweltforschung; Bd. 6), Frankfurt a.M.: Campus 2008, 364 S.,<br />

8 Abb., 4 Tabellen, ISBN 978-3-593-38604-1, EUR 39,90<br />

Rezensiert von Gert Geißler<br />

Deutsches <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Internationale Pädagogische Forschung, Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 7/8<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/07/14697.html<br />

Die Studie ist Teil e<strong>in</strong>es größeren, von der Deutschen Forschungsgeme<strong>in</strong>schaft<br />

(DFG) geförderten Forschungsprojekts<br />

zur Geschichte der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät (ABF) Greifswald.<br />

Bereits die aus diesem Forschungszusammenhang hervorgegangene,<br />

2007 erschienene Publikation von Ingrid Miethe<br />

über „Bildung und soziale Ungleichheit <strong>in</strong> der DDR“ wird<br />

man als e<strong>in</strong>e der bemerkenswertesten Leistungen jüngerer<br />

bildungshistorischer DDR-Forschung bezeichnen können.<br />

Bei der hier vorzustellen<strong>den</strong> zweiten Studie handelt es sich<br />

um e<strong>in</strong>e biografische <strong>Institut</strong>ionenanalyse. Zunächst trifft der<br />

Leser auf längere Erläuterungen des theoretischen, methodischen<br />

und methodologischen Ansatzes. Es kann se<strong>in</strong>, dass ihn<br />

diese zwar von der fachlichen Kompetenz der Autor<strong>in</strong>nen voll<br />

überzeugt, aber <strong>in</strong>haltlich noch nicht so recht gefesselt haben.<br />

Im Anschluss daran folgt e<strong>in</strong>e Abhandlung, die durch <strong>den</strong><br />

Wechsel der Analyseebenen, von Datenbasis und Methode<br />

besticht. So erlebt der Leser gleichsam „hautnah“ Geschichte.<br />

Die Beurteilung ist geprägt durch e<strong>in</strong>e nüchtern-kritische Distanz<br />

und e<strong>in</strong> hohes Maß an Sachlichkeit.<br />

Nach e<strong>in</strong>er profun<strong>den</strong> historischen Skizze, mit der die <strong>Institut</strong>ion <strong>in</strong> <strong>den</strong> gesamtgesellschaftlichen<br />

Kontext rückt, führt der Text zu unmittelbar verantwortlichen Akteuren des historisch-<strong>in</strong>stitutionellen<br />

Geschehens, zum Lehrkörper der ABF <strong>in</strong> Greifswald. Die Autor<strong>in</strong>nen gehen <strong>den</strong> Rekrutierungswegen<br />

der Lehrpersonen nach, stellen die E<strong>in</strong>stellungskriterien fest und entwickeln anschließend<br />

e<strong>in</strong>e Typologie von Lehren<strong>den</strong>: Den Typus der „Alten Garde“, des „Alten Studienrates“, des<br />

„Nachkriegsdozenten“, dann der „Selbstrekrutierten“ – also jener Personen, die später über <strong>den</strong> Abschluss<br />

der Oberschule <strong>in</strong> der DDR zu ABF-Lehrkräften wur<strong>den</strong>. Das Aufschließen allgeme<strong>in</strong>er und<br />

spezifischer Zeitverhältnisse gew<strong>in</strong>nt nachfolgend nochmals an Kraft, <strong>in</strong>dem anhand biografischnarrativer<br />

Interviews hermeneutische Fallrekonstruktionen vorgenommen wer<strong>den</strong>.<br />

Mit der Komb<strong>in</strong>ation von Ego-Dokumenten, archivalischen Quellen und solchen, die durch Gespräch<br />

und Nachfragen erzeugt s<strong>in</strong>d, verfügt die Abhandlung über e<strong>in</strong>e Quellenbasis, mit der <strong>Institut</strong>ionengeschichte<br />

und Lebensgeschichten überzeugend als e<strong>in</strong> „<strong>in</strong>teraktives Verhältnis“ beschrieben<br />

wer<strong>den</strong> können. Entsprechend steht die „Passung zwischen Biografie und <strong>Institut</strong>ionen“ (322) im


308 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Blick. Dabei wird auch deutlich, wie hierarchisch-autoritäre Grundsozialisationen, aber auch bildungsbürgerliche<br />

Traditionen und Mentalitäten, nicht weniger säkularisierte protestantische Arbeitsethik,<br />

teils auch bloße, nahezu beliebig steuerbare „i<strong>den</strong>tifikatorische Mimesis“ (<strong>für</strong> die später, <strong>in</strong><br />

anderen Zusammenhängen, der „Wendehals“ stehen wird) das <strong>in</strong>stitutionelle Klima zum<strong>in</strong>dest an der<br />

ABF <strong>in</strong> Greifswald mitbestimmten. Die Autor<strong>in</strong>nen setzen die Passungsverhältnisse sodann <strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />

Kräftefeld von totalitär <strong>in</strong>tendierter Herrschaftsausübung und Herrschaftssicherung. Sie konstatieren,<br />

dass die Beteiligten unterschiedliche Handlungsräume hatten, nutzten und gestalteten, auf diese<br />

Weise die <strong>Institut</strong>ion mit schufen und ihr e<strong>in</strong>e je spezifische Prägung gaben. Als Untersuchungsergebnis<br />

halten sie fest, dass <strong>Institut</strong>ionalisierung nicht nur Ergebnis adm<strong>in</strong>istrativer Entscheidungen und<br />

zentraler Vorgaben, sondern auch sozialen Handelns ist.<br />

So wie die Autor<strong>in</strong>nen ihren Gegenstand fassen, Geschichte verstehen und präsentieren, könnten<br />

sie, wären sie nicht Sozialwissenschaftler<strong>in</strong>nen, wohl auch Romane oder Theaterstücke schreiben –<br />

der Stoff je<strong>den</strong>falls gibt das her. Aber auch die Sozialwissenschaft hat ihre Möglichkeiten. Leser, die<br />

Me<strong>in</strong>ungen im S<strong>in</strong>ne der hier vorgelegten Forschungsergebnisse notgedrungen auf Erleben bauen,<br />

also schlichtes, unaufgeklärtes Alltagsbewusstse<strong>in</strong> repräsentieren, wer<strong>den</strong> sehen, dass sie sich deshalb<br />

nicht unbed<strong>in</strong>gt geirrt haben müssen.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

DDR und ihre Vorgeschichte


Hans Reichelt: Die deutschen Kriegsheimkehrer. Was hat die DDR <strong>für</strong> sie getan?,<br />

Berl<strong>in</strong>: edition ost 2008, 224 S., ISBN 978-3-360-01089-6, EUR 14,90<br />

Rezensiert von Andreas Hilger<br />

Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 3<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/03/15781.html<br />

Hans Reichelt, geboren 1925, befand sich von Mai 1945 bis<br />

Dezember 1949 <strong>in</strong> sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Dort<br />

engagierte sich der Wehrmachtleutnant und kurzzeitige Anwärter<br />

auf e<strong>in</strong>e NSDAP-Parteimitgliedschaft <strong>in</strong> der Antifa.<br />

Vor se<strong>in</strong>er Rückkehr nach Deutschland Ende 1949 absolvierte<br />

Reichelt e<strong>in</strong>en Lehrgang auf der Zentralen Antifa-Schule <strong>in</strong><br />

Talica, dann trat er <strong>in</strong> der DDR als überzeugter Kommunist<br />

(31f.) der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD)<br />

bei. In der DBD bekleidete er schnell hohe Ämter. Ab 1950<br />

war er zudem Abgeordneter der Volkskammer und – mit kurzer<br />

Unterbrechung – von 1953 bis 1963 M<strong>in</strong>ister <strong>für</strong> Land- und<br />

Forstwirtschaft der DDR. Den Mauerfall 1989 schließlich erlebte<br />

Reichelt, mittlerweile stellvertretender Vorsitzender der<br />

DBD, als M<strong>in</strong>ister <strong>für</strong> Umweltschutz und Wasserwirtschaft;<br />

er spielte aber schon 1990 ke<strong>in</strong>e bedeutsame politische Rolle<br />

mehr.<br />

Angesichts dieses Lebenslaufs könnte e<strong>in</strong>e Geschichte<br />

deutscher Kriegsgefangener <strong>in</strong> der UdSSR aus der Feder von<br />

Hans Reichelt aufschlussreich und spannend zu lesen se<strong>in</strong>:<br />

Die dramatischen <strong>in</strong>dividuellen Lernprozesse, die der Wandlung<br />

soldatischer Antikommunisten zu Kommunisten zugrunde<br />

lagen, s<strong>in</strong>d bis heute nicht e<strong>in</strong>gehend aufgearbeitet und wer<strong>den</strong> oft von traditionellen Plattitü<strong>den</strong> des<br />

vergangenen Ost-West-Konflikts überdeckt. Reichelts Leben dokumentiert Aufstiegschancen und<br />

-grenzen ehemaliger Antifa-Kader <strong>in</strong> DDR-Strukturen: Hier ließe sich <strong>den</strong> verschlungenen Karrierewegen<br />

im Spannungsfeld <strong>in</strong>nerer Machtkämpfe, der ostdeutschen Parteienlandschaft und dem ostdeutsch-sowjetischen<br />

Verhältnis nachspüren. Zudem war Reichelt als Mitglied der ostdeutschen<br />

Regierungsdelegation, die im August 1953 im Vorfeld von Massenentlassungen von deutschen Gefangenen<br />

aus der UdSSR <strong>in</strong> Moskau weilte, direkter Augenzeuge sowjetischer und ostdeutscher<br />

Kriegsgefangenenpolitik.<br />

Die vorliegende Veröffentlichung leistet allerd<strong>in</strong>gs zur Aufarbeitung dieser Themenfelder ke<strong>in</strong>en<br />

Beitrag. Das Buch liest sich vielmehr als bloße Fortsetzung althergebrachter SED-Propaganda. So<br />

wird die Instrumentalisierung der Entlassungen 1948 <strong>für</strong> die SED-Wahlkampagne, wie bereits 1946,<br />

zum Beleg <strong>für</strong> angebliche Bemühungen Ostberl<strong>in</strong>s um<strong>in</strong>terpretiert. Die sowjetische Verantwortung<br />

<strong>für</strong> die Verzögerung der Repatriierung bis Ende 1949 – und die entsprechende Passivität der SED –


310 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

wird unter Nebelkerzen verdeckt (58f.). Entlassungen von 1953, die die UdSSR aus <strong>in</strong>nenpolitischen<br />

Grün<strong>den</strong> heraus betrieb, aber offiziell bewusst zur Imagepflege der DDR gutschrieb, wer<strong>den</strong> von<br />

Reichelt auf Basis eben dieser bewusst irreführen<strong>den</strong> offiziellen Verlautbarungen auf dem Positivkonto<br />

der SED verbucht, ebenso die letzten Entlassungen von 1955/1956 – und das alles ohne jede<br />

Beachtung der relevanten Publikationen und Quelleneditionen aus deutschen oder russischen Archiven,<br />

die <strong>in</strong> <strong>den</strong> letzten 15 Jahren erarbeitet wur<strong>den</strong>. [1] Auffallend ist auch, dass sich die Darstellung<br />

anderen wichtigen Fragen verschließt: Dass sich unter <strong>den</strong> Entlassenen der 1950er Jahre e<strong>in</strong> hoher<br />

Anteil von Zivilgefangenen befand, ist Reichelt ke<strong>in</strong>e Diskussion wert. Dabei waren diese Zivilisten<br />

immerh<strong>in</strong> nach dem Krieg von sowjetischen Tribunalen verurteilt und als Häftl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> die UdSSR<br />

deportiert wor<strong>den</strong>. Die ganze DDR-Politik gegenüber <strong>den</strong> offiziell als „Kriegsverbrechern“ apostrophierten<br />

Gefangenen lässt sich s<strong>in</strong>nvoll nur unter E<strong>in</strong>beziehung beider Personengruppen schreiben.<br />

Die weiteren historischen Lücken, Fehler und Miss<strong>in</strong>terpretationen müssen hier gar nicht weiter aufgelistet<br />

wer<strong>den</strong>. Unappetitlich wird es, wenn Reichelt polemische Analogien zwischen frühen westdeutschen<br />

„Kamera<strong>den</strong>sch<strong>in</strong>derprozessen“ und heutigen Verfahren gegen „IM“ (120f.) oder zwischen<br />

Otto Grotewohl und Oskar Lafonta<strong>in</strong>e (110f.) zieht. Nicht nur an solchen Stellen verliert das Buch<br />

endgültig jeglichen Bo<strong>den</strong> unter <strong>den</strong> Füßen und degeneriert zur re<strong>in</strong>en Kampfschrift.<br />

Die Lektüre br<strong>in</strong>gt <strong>in</strong>des auch Positives: Der Autor bestätigt quasi wider Willen die bisherige Forschung<br />

bezüglich der E<strong>in</strong>flusslosigkeit der SED-Führung auf fundamentale Entscheidungen sowjetischer<br />

Kriegsgefangenenpolitik. Zudem legt Reichelt <strong>in</strong>direkt offen, dass es der SED <strong>in</strong> der „Kriegsgefangenenfrage“<br />

weniger um frühe und allgeme<strong>in</strong>e Heimführungen g<strong>in</strong>g, als um e<strong>in</strong>e adäquate<br />

– politische? – „Betreuung <strong>in</strong> <strong>den</strong> sowjetischen Lagern, [...] die Ausbildung künftiger Kader“, die<br />

anschließende Aufnahme der Heimkehrer <strong>in</strong> Deutschland „und deren E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung <strong>in</strong> die zu entwickelnde<br />

neue Gesellschaft“ (49). Auch das ist e<strong>in</strong> Befund, der sich durchaus mit wissenschaftlichen Untersuchungen<br />

<strong>in</strong> Deckung br<strong>in</strong>gen lässt. Schließlich er<strong>in</strong>nert das Buch an die zynische Kaltschnäuzigkeit,<br />

mit der ostdeutsche Größen sich der Problematik mitunter näherten. Grotewohl spielte noch<br />

1955 wider besseres Wissen die Bedeutung von Gefangenen <strong>in</strong> sowjetischem Gewahrsam herunter.<br />

Reichelt hat ebenfalls die „tatsächliche gesellschaftliche Bedeutung des Vorgangs“ nicht begriffen.<br />

Diese war ke<strong>in</strong>eswegs „unerheblich“ (141). Natürlich machten sich Regierungen <strong>in</strong> Ost und West die<br />

„Kriegsgefangenenfrage“ im Kalten Krieg zunutze. Dies gelang aber nur, weil das Thema <strong>in</strong> bei<strong>den</strong><br />

deutschen Nachkriegsgesellschaften virulent war.<br />

Aus der Sicht der Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen ist die Schrift Reichelts nur e<strong>in</strong><br />

misslungener Versuch von ideologisch angetriebenem Geschichtsrevisionismus. Dies entspricht <strong>den</strong><br />

Bemühungen ehemaliger MfS-Kader, die aus ihrer Perspektive Geschichte und Staat der DDR, ihrer<br />

Parteien und Organe verklären. Im Kontext der Diskussionen über die heutige öffentliche Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

mit der DDR und dem öffentlichen Ge<strong>den</strong>ken an die DDR hat Mart<strong>in</strong> Sabrow mit gutem<br />

Recht davor gewarnt, <strong>den</strong> „deutschen Vergangenheitsdiskurs <strong>in</strong> e<strong>in</strong> öffentliches Diktaturgedächtnis<br />

und e<strong>in</strong> privates Lebensgedächtnis“ zu spalten. „Die öffentliche Er<strong>in</strong>nerung“, so Sabrow weiter, „hat<br />

die Wahl, ob sie die Erfahrungen der Zeitgenossen dauerhaft ausgrenzen will oder kritisch aufzunehmen<br />

bereit ist, um sie mit <strong>den</strong> Mitteln der fachwissenschaftlichen Aufklärung, der politischen<br />

Bildung und der historischen Musealisierung zu befragen und <strong>in</strong> ihren geschichtlichen Kontext e<strong>in</strong>zubetten.<br />

Entscheidet sie sich <strong>für</strong> die Ausgrenzung, wird die historische I<strong>den</strong>titätssuche der ostdeutschen<br />

Mehrheitsbevölkerung sich auch weiterh<strong>in</strong> ihre eigenen Er<strong>in</strong>nerungsorte <strong>in</strong> Gestalt von Ostalgie-<br />

Shows und DDR-Alltagsmuseen schaffen.“ [2] Die öffentliche Er<strong>in</strong>nerung ist, nimmt man die Publikation<br />

von Hans Reichelt als Beispiel, gut beraten, diesen komplexen Prozess der „historischen I<strong>den</strong>titätssuche“<br />

Ostdeutschlands nicht von privaten Schwelgereien, Rechtfertigungsversuchen und Beschwörungen<br />

alter Entscheidungsträger ad absurdum führen zu lassen, und gerade hier ist die Begleitung<br />

durch e<strong>in</strong>e kritische Geschichtswissenschaft besonders gefordert.<br />

DDR und ihre Vorgeschichte


311 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Anmerkungen:<br />

[1] Vgl. bereits Beate Ihme-Tuchel: Die Entlassung der deutschen Kriegsgefangenen im Herbst<br />

1955 im Spiegel der Diskussion zwischen der SED und der KPdSU, <strong>in</strong>: Militärgeschichtliche<br />

Mitteilungen 53 (1994), 449-465. Zum Forschungsstand u.a. Frank Biess: Homecom<strong>in</strong>gs: return<strong>in</strong>g<br />

POWs and the legacies of defeat <strong>in</strong> postwar Germany, Pr<strong>in</strong>ceton 2006.<br />

[2] Mart<strong>in</strong> Sabrow: Die Zukunft der Aufarbeitung und die Argumente der Vergangenheit. Zur Kritik<br />

an <strong>den</strong> Empfehlungen der Expertenkommission <strong>für</strong> die öffentliche Ause<strong>in</strong>andersetzung mit der<br />

SED-Diktatur, <strong>in</strong>: Deutschland Archiv 39 (2006), 905.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

DDR und ihre Vorgeschichte


Matthias Rogg: Armee des Volkes? Militär und Gesellschaft <strong>in</strong> der DDR (= Militärgeschichte<br />

der DDR; Bd. 15), Berl<strong>in</strong>: Christoph L<strong>in</strong>ks Verlag 2008, XIV + 687 S., ISBN 978-3-86153-478-5,<br />

EUR 39,90<br />

Rezensiert von Christian Th. Müller<br />

Hamburger <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Sozialforschung<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 6<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/06/15178.html<br />

Kaum e<strong>in</strong> Bereich der Geschichte des zweiten deutschen Staates<br />

ist <strong>in</strong> <strong>den</strong> letzten zwei Jahrzehnten so gründlich erforscht<br />

wor<strong>den</strong> wie se<strong>in</strong> Militär und die Militarisierung der DDR-<br />

Gesellschaft. Matthias Rogg hat nun mit se<strong>in</strong>er Potsdamer<br />

Habilitationsschrift die erste umfassende Darstellung zum<br />

Verhältnis von Militär und Gesellschaft <strong>in</strong> der DDR vorgelegt.<br />

Im Zentrum steht hier nicht alle<strong>in</strong> die Frage, <strong>in</strong> welcher Beziehung<br />

„das Volk“ zu „se<strong>in</strong>er Armee“ stand, sondern auch wie<br />

sich Herrschaft <strong>in</strong> der DDR als soziale Praxis gestaltete. Dabei<br />

greift er auf e<strong>in</strong> bee<strong>in</strong>druckend breites Spektrum von Materialien<br />

zurück. Neben archivalischen Quellen unterschiedlichster<br />

Provenienz stützt sich se<strong>in</strong>e Darstellung auch auf Film- und<br />

Fernsehproduktionen, Selbstzeugnisse und Belletristik sowie<br />

auf Zeitzeugenbefragungen und demoskopische Erhebungen.<br />

Dazu kommt die umfassende Auswertung der <strong>in</strong>zwischen recht<br />

umfangreichen Forschungsliteratur zum Thema.<br />

Auf der Höhe der Forschung analysiert Rogg <strong>in</strong> acht Kapiteln<br />

die verschie<strong>den</strong>en Facetten se<strong>in</strong>es komplexen Unter-<br />

suchungsgegenstandes. Die allgeme<strong>in</strong>en Entwicklungsten<strong>den</strong>zen und Probleme <strong>in</strong> <strong>den</strong> Streitkräften<br />

wie im zivil-militärischen Verhältnis wer<strong>den</strong> dabei immer wieder am Beispiel der näher untersuchten<br />

Garnisonsstädte Wolfen und Bitterfeld konkretisiert und zum Teil recht plastisch dargestellt.<br />

Die Untersuchung beg<strong>in</strong>nt mit der Betrachtung des Selbst-, Freund- und Fe<strong>in</strong>dbildes der Nationalen<br />

Volksarmee (II.). Sodann wer<strong>den</strong> die Strukturen und Formen der wehrpolitischen Mobilisierung<br />

betrachtet (III.). Innovativ ist dabei die breite Darstellung der unterschiedlichsten Spielarten militärpolitischer<br />

Öffentlichkeitsarbeit von der Präsentation des Militärs <strong>in</strong> Medien, Kunst und öffentlichem<br />

Raum über die „Patenschaftsarbeit“ <strong>in</strong> Schulen und Betrieben bis h<strong>in</strong> zur Rolle von Traditionszimmern<br />

und „militärpolitischen Kab<strong>in</strong>etten“.<br />

Das IV. Kapitel thematisiert die Wehrmotivation der Jugendlichen und schildert anschaulich die<br />

chronischen Probleme sowie die oft nur als Nötigung zu charakterisieren<strong>den</strong> Metho<strong>den</strong> der „Gew<strong>in</strong>nung“<br />

von Berufs- und Zeitsoldaten. Endet dieses Kapitel mit der Verabschiedung der Jugendlichen<br />

zum Wehrdienst <strong>in</strong> <strong>den</strong> Schulen und Betrieben, so beg<strong>in</strong>nt das folgende mit <strong>den</strong> ersten E<strong>in</strong>drücken<br />

im „Objekt“ und der abgeschlossenen, tristen Existenz <strong>in</strong> <strong>den</strong> Kasernen der NVA. E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich schildert<br />

Matthias Rogg die umfassende Inpflichtnahme der Armeeangehörigen zur Aufrechterhaltung


313 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

e<strong>in</strong>er maßlos überzogenen Gefechtsbereitschaft, die damit verbun<strong>den</strong>en Dienstzeitbelastungen, die<br />

massiv e<strong>in</strong>geschränkte Gewährung von Ausgang und Urlaub sowie die mannigfaltigen Defizite der<br />

Unterbr<strong>in</strong>gung, Versorgung und Freizeitgestaltung. Diese Deprivationen fan<strong>den</strong> ihre soziale Entsprechung<br />

im rauen Klima zwischen Vorgesetzten und Unterstellten ebenso wie zwischen <strong>den</strong> unterschiedlichen<br />

Diensthalbjahren der Wehrpflichtigen und Zeitsoldaten. Gebetsmühlenartige politische<br />

Indoktr<strong>in</strong>ation sowie umfassende Überwachung und Diszipl<strong>in</strong>ierung steigerten die Unattraktivität<br />

des Soldatse<strong>in</strong>s im real existieren<strong>den</strong> Sozialismus noch weiter. Die Sprache der Soldatensubkultur<br />

war folgerichtig voller Ablehnung und Verachtung gegen die Armee und ihre Funktionsträger (327 f.).<br />

Lehnen sich die Kapitel II bis V zum Teil eng an <strong>den</strong> bereits vorhan<strong>den</strong>en Forschungsstand an, so<br />

wird mit <strong>den</strong> folgen<strong>den</strong> drei Kapiteln Neuland betreten. Das VI. Kapitel „Im H<strong>in</strong>terland“ thematisiert<br />

erstmals die Lebenswelt der Berufssoldaten und ihrer Familien, die Auswirkungen des militärischen<br />

Berufes auf das Privatleben sowie die zivil-militärischen Beziehungs- und Konfliktfelder am Standort.<br />

Kennzeichnend sei dabei e<strong>in</strong> „aseptisches Verhältnis“ (447) zur zivilen Gesellschaft gewesen. So<br />

zogen es viele Offiziere vor, <strong>in</strong> der Freizeit Zivil zu tragen, um etwaigen Pöbeleien aus dem Weg zu<br />

gehen (446), während das Zusammentreffen oft gleichermaßen alkoholisierter Zivilpersonen mit Armeeangehörigen<br />

<strong>in</strong> Uniform nicht selten <strong>in</strong> verbale oder tätliche Ause<strong>in</strong>andersetzungen mündete (443).<br />

Beliebter waren die Militärangehörigen, wenn sie als „Acker- und Fabriksoldaten“ <strong>den</strong> chronischen<br />

Arbeitskräftemangel <strong>in</strong> bestimmten Wirtschaftsbereichen ausglichen oder als Katastrophenhelfer<br />

agierten. Kapitel VII konzentriert sich hier vor allem auf die Landwirtschaft, <strong>den</strong> E<strong>in</strong>satz <strong>in</strong> der<br />

Braunkohle sowie auf Großbauprojekte wie <strong>den</strong> „Palast der Republik“ oder <strong>den</strong> Fährhafen Mukran.<br />

Dazu kommt noch e<strong>in</strong>e Detailstudie zum E<strong>in</strong>satz <strong>in</strong> der Bitterfelder Chemie<strong>in</strong>dustrie.<br />

Danach wird die Rolle der gedienten Reservisten <strong>in</strong> der zivilen Gesellschaft – vor allem <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

Betrieben – sowie der oft komplizierte Übergang ehemaliger Berufssoldaten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e zivile Tätigkeit<br />

untersucht. Anders als von <strong>den</strong> Wehrideologen der SED erhofft, trugen die Reservisten jenseits der<br />

offiziellen Propaganda zumeist e<strong>in</strong> kritisches Bild der Streitkräfte <strong>in</strong> die Gesellschaft, während die<br />

ehemaligen Berufssoldaten ohne systematische Vorbereitung auf e<strong>in</strong>e zivile Verwendung und nun<br />

hautnah konfrontiert mit dem dürftigen Sozialprestige des Soldatenberufes <strong>den</strong> Übergang <strong>in</strong>s Zivilleben<br />

oft als krisenhaft erlebten.<br />

Bevor Matthias Rogg das Resümee se<strong>in</strong>er Untersuchung zieht, zeichnet er unter Nutzung demoskopischer<br />

Daten die Langzeittrends der E<strong>in</strong>stellungs- und Motivationsstrukturen von Wehrpflichtigen,<br />

Zeit- und Berufssoldaten zwischen <strong>den</strong> sechziger und <strong>den</strong> späten achtziger Jahren nach. Die dar<strong>in</strong><br />

gerade <strong>in</strong> der Spätphase des SED-Regimes zum Ausdruck kommende Unzufrie<strong>den</strong>heit war dann – so<br />

die Vermutung Roggs – auch e<strong>in</strong> wesentlicher Grund da<strong>für</strong>, dass die SED-Führung auf e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>satz<br />

der Armee gegen die friedliche Revolution weitgehend verzichtete (576).<br />

Die immer wieder aufgegriffene Leitfrage, ob die NVA e<strong>in</strong>e „Armee des Volkes“ gewesen sei,<br />

wird schließlich mit e<strong>in</strong>em „großen Ne<strong>in</strong>“ und e<strong>in</strong>em „kle<strong>in</strong>en Ja“ beantwortet (581). Das bleibt<br />

ebenso vage wie der Begriff „Armee des Volkes“ selbst, an dessen Def<strong>in</strong>ition bereits die Wehrideologen<br />

der SED gescheitert waren (66) und der auch von Rogg nicht näher präzisiert wird. Folgerichtig<br />

arbeitet er sich an e<strong>in</strong>em diffus bleiben<strong>den</strong> Propagandatopos ab, der schon als solcher schwerlich soziale<br />

Realität wer<strong>den</strong> konnte. Die e<strong>in</strong>en griffigen Buchtitel abgebende Leitfrage erhält so jedoch e<strong>in</strong>en<br />

bloß rhetorischen Charakter, was aus heuristischer Sicht e<strong>in</strong>igermaßen unglücklich ist.<br />

Dazu kommen e<strong>in</strong>zelne paradox anmutende Befunde. So konstatiert Rogg nach ausführlicher<br />

Schilderung der diversen Spielarten zivil-militärischer Kooperationsbeziehungen im Raum Bitterfeld,<br />

dass die NVA im Leben der DDR-Bürger wider Erwarten nicht „sehr präsent“ gewesen sei (426-<br />

432), oder er führt die wichtige Rolle des Militärs als Katastrophenhelfer ausgerechnet darauf zurück,<br />

dass die Zivilverteidigung „aufgrund ihrer paramilitärischen Struktur und Ausbildung da<strong>für</strong><br />

ungeeignet war.“ (496)<br />

DDR und ihre Vorgeschichte


314 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

In scharfem Kontrast zum sonst akribischen Quellennachweis <strong>für</strong> e<strong>in</strong>zelne Details fallen die Belege<br />

gerade bei der Generalisierung bestimmter Negativphänomene zum Teil erstaunlich dünn aus. Das<br />

ist etwa der Fall, wenn <strong>den</strong> Armeeangehörigen pauschal e<strong>in</strong>e „hohe Gewaltbereitschaft“ (443) unterstellt<br />

oder dem Alkohol am E<strong>in</strong>berufungstag „e<strong>in</strong>e dom<strong>in</strong>ierende Rolle“ (278) zugeschrieben wird.<br />

In diesen Überzeichnungen zeigt sich als generelles Problem erneut das Fehlen e<strong>in</strong>es klaren Bewertungsmaßstabes<br />

sowie des Vergleichs zu anderen Militärorganisationen oder der zivilen Gesellschaft,<br />

die gerade bei der Präsentation von Fallzahlen und Statistiken e<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>nvolle Bewertung oftmals erst<br />

möglich machen.<br />

Trotz dieser Defizite hat Matthias Rogg e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>sgesamt gelungene Gesamtschau zum Thema Militär<br />

und Gesellschaft <strong>in</strong> der DDR vorgelegt, die schon aufgrund ihrer Materialfülle und Systematik zu<br />

e<strong>in</strong>em Standardwerk wer<strong>den</strong> dürfte.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

DDR und ihre Vorgeschichte


Frank Roggenbuch: Das Berl<strong>in</strong>er Grenzgängerproblem. Verflechtung und Systemkonkurrenz<br />

vor dem Mauerbau (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berl<strong>in</strong>; Bd. 107),<br />

Berl<strong>in</strong>: de Gruyter 2008, XIII + 481 S., ISBN 978-3-11-020344-8, EUR 128,00<br />

Rezensiert von Bett<strong>in</strong>a Effner<br />

Stiftung Berl<strong>in</strong>er Mauer – Er<strong>in</strong>nerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 7/8<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/07/15143.html<br />

Zeitweilig pendelten mehrere zehntausend Menschen im geteilten<br />

Berl<strong>in</strong>: Die e<strong>in</strong>en, weil sie <strong>in</strong> Ostberl<strong>in</strong> oder im zu<br />

Bran<strong>den</strong>burg gehören<strong>den</strong> Stadtrandgebiet lebten und <strong>in</strong> Westberl<strong>in</strong><br />

arbeiteten, zur Schule g<strong>in</strong>gen oder studierten („West-<br />

Grenzgänger“); die anderen, weil sie umgekehrt <strong>in</strong> <strong>den</strong> Westsektoren<br />

ansässig waren und ihrem Beruf im Ostteil der Stadt<br />

nachg<strong>in</strong>gen („Ost-Grenzgänger“). Sie alle überschritten auf<br />

diese Weise <strong>in</strong> ihrem Alltag nahezu täglich die Systemgrenze,<br />

die Berl<strong>in</strong> durchschnitt.<br />

Betrachtet man die Gruppe dieser sogenannten Grenzgänger,<br />

rückt die e<strong>in</strong>e, historisch gewachsene Stadt Berl<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

Blick, deren Funktionszusammenhänge und Strukturen sich<br />

mit der Teilung nicht ad hoc neu formieren ließen. So hatten<br />

beispielsweise e<strong>in</strong>ige Künstler, Wissenschaftler und Ärzte ihre<br />

Wohnquartiere traditionellerweise schwerpunktmäßig <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

westlichen Bezirken, während ihnen die Infrastruktur des Ostsektors<br />

– besonders der Bezirk Mitte mit se<strong>in</strong>en Kulturstätten<br />

und Krankenhäusern – gute Beschäftigungsmöglichkeiten<br />

bot. Es ist die hier offenbar wer<strong>den</strong>de „Dialektik [...] von politischer<br />

Teilung und soziokultureller E<strong>in</strong>heit“ (6), die Frank Roggenbuch an dem Forschungsgegen-<br />

stand „Grenzgänger“ <strong>in</strong>teressiert. Er ordnet se<strong>in</strong>e 2007 als Dissertation e<strong>in</strong>gereichte zeithistorische<br />

Untersuchung e<strong>in</strong>em Forschungskontext zu, der Verflechtungsfaktoren und wechselseitiges Aufe<strong>in</strong>anderbezogense<strong>in</strong><br />

von Ost und West im Berl<strong>in</strong>-Bran<strong>den</strong>burger Raum stärker als bisher berücksichtigen<br />

und dadurch e<strong>in</strong>e neue Sicht auf die Ause<strong>in</strong>andersetzungen im Kalten Krieg gew<strong>in</strong>nen will.<br />

Ob der Verflechtungs- und damit zunächst <strong>in</strong>tegrative Faktor „Grenzgängerwesen“ diese Qualität<br />

behielt oder schließlich eher spaltend wirkte, ist e<strong>in</strong>e der Kernfragen von Roggenbuchs Arbeit. In<br />

vier chronologisch angelegten Abschnitten untersucht er die Entwicklung des Grenzgängerwesens <strong>in</strong><br />

der Zeit der offenen Systemgrenze bis 1961. Das erste Kapitel widmet sich der Entstehung des Phänomens<br />

im Zusammenhang der ersten Berl<strong>in</strong>krise. Als „Initialzündung“ wertet Roggenbuch die<br />

zweite Westberl<strong>in</strong>er Währungsreform vom 20. März 1949, welche die Berl<strong>in</strong>er Westsektoren nach<br />

e<strong>in</strong>er Phase des Währungsdualismus vollständig auf Westmark umstellte. In Bezug auf die weit über<br />

100.000 Westberl<strong>in</strong>er, die jenseits der Westsektoren beschäftigt waren und ihre E<strong>in</strong>künfte daher <strong>in</strong><br />

der deutlich kursschwächeren Ostwährung bezogen, wurde damit e<strong>in</strong>e Sonderregelung notwendig.


316 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Sie griff <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>es komplizierten Lohnausgleichsverfahrens. Vere<strong>in</strong>facht gesprochen wurde e<strong>in</strong><br />

bestimmter Anteil der Westmarkbezüge von West-Grenzgängern von e<strong>in</strong>er Lohnausgleichskasse <strong>in</strong><br />

Ostmark getauscht, mit <strong>den</strong>en der Arbeitnehmer an se<strong>in</strong>em Wohnort im Ostsektor bezahlen konnte.<br />

Umgekehrt konnte e<strong>in</strong> Ost-Grenzgänger e<strong>in</strong>en Teil se<strong>in</strong>er Ostbezüge <strong>in</strong> Westmark tauschen und auf<br />

diese Weise se<strong>in</strong>e Lebenshaltungskosten im Westteil der Stadt decken. Die Lohnausgleichskasse<br />

wurde somit zu „dem künstlichen Herz[en], das die Verflechtungskategorie Grenzgängerwesen am<br />

Leben erhielt“ (113). Dass sich die Westberl<strong>in</strong>er Politik mit derart aufwendigen Mitteln <strong>in</strong> der Grenzgängerfrage<br />

engagierte, h<strong>in</strong>g mit ihrem Bestreben zusammen, Ostarbeitsverhältnisse von Westberl<strong>in</strong>ern<br />

zu erhalten. H<strong>in</strong>tergrund war die westsektorale Massenarbeitslosigkeit, die Roggenbuch als <strong>den</strong> bedeutendsten<br />

sozioökonomischen Faktor des Grenzgängerwesens <strong>in</strong> <strong>den</strong> frühen 1950er Jahren e<strong>in</strong>schätzt.<br />

Die wirtschafts- und <strong>in</strong>sbesondere arbeitsmarktpolitische Dimension des Grenzgängerproblems<br />

war <strong>in</strong>sofern erheblich und <strong>für</strong> die Politik handlungsleitend. Daneben allerd<strong>in</strong>gs kamen auf diesem<br />

Feld, wie Roggenbuch im zweiten Kapitel darlegt, dezidiert politische Erwägungen zum Tragen. So<br />

nutzte der Senat die Lohnausgleichskasse als Instrument, um im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Sowjetisierungsprävention<br />

gegen politische Gegner mit Wohnsitz <strong>in</strong> Westberl<strong>in</strong> vorzugehen: E<strong>in</strong> dekretierter „Ausschluss<br />

vom Umtausch“ sollte Mitglieder und Arbeitnehmer der SED, des FDGB und ihrer Gliederungen<br />

treffen. Auf östlicher Seite veränderten die forcierte Abschottung und der mit der II. Parteikonferenz<br />

e<strong>in</strong>hergehende Sowjetisierungsschub 1952 die Ost-Grenzgängerpolitik der SED. Die Maßnahmen<br />

ließen die Distanz zwischen <strong>den</strong> Systemen wachsen und damit auch die Vorbehalte gegenüber Arbeitnehmern,<br />

die gleichsam mit e<strong>in</strong>em Be<strong>in</strong> im kapitalistischen „Fe<strong>in</strong>desland“ stan<strong>den</strong>. Ihren Niederschlag<br />

fand diese Entwicklung <strong>in</strong> Massenentlassungen von Ost-Grenzgängern.<br />

Die folgen<strong>den</strong> Kapitel führen <strong>den</strong> skizzierten multiperspektivischen Ansatz fort. Es ist e<strong>in</strong>e Stärke<br />

von Roggenbuchs Untersuchung, dass er se<strong>in</strong>en Gegenstand differenziert von verschie<strong>den</strong>en Politikfeldern<br />

(etwa Wirtschaft, Recht, Propaganda) her beleuchtet und punktuell auch Bezüge zur Tagespolitik<br />

herstellt. Zudem befasst er sich mit der Wahrnehmung und Behandlung der Ost- wie der<br />

West-Grenzgänger gleichermaßen <strong>für</strong> die West- und <strong>für</strong> die Ostseite. Deutlich wird dabei, dass die<br />

Konkurrenz auch zu <strong>in</strong>ternen Widersprüchen führen konnte. So schnitt sich die SED mit dem Abbau<br />

der Ost-Grenzgänger <strong>in</strong>s eigene Fleisch, da sich <strong>in</strong> der zweiten Hälfte der 1950er Jahre immer spürbarer<br />

e<strong>in</strong> Arbeitskräftemangel abzeichnete. In Kapitel drei beschreibt Roggenbuch, wie sich die<br />

Grenzgängerpolitik Ostberl<strong>in</strong>s vor diesem H<strong>in</strong>tergrund radikalisierte. Denn negativ wirkte sich neben<br />

dem Ost- (aus Sicht der SED) vor allem das West-Grenzgängertum aus. Nicht alle<strong>in</strong> wur<strong>den</strong> dem<br />

Ostberl<strong>in</strong>er Arbeitsmarkt darüber dr<strong>in</strong>gend benötigte Fachkräfte <strong>in</strong> steigender Anzahl entzogen, seit<br />

<strong>in</strong> Westberl<strong>in</strong> Mitte der 1950er Jahre die Konjunktur e<strong>in</strong>setzte. Auch hatten eben diese Arbeitskräfte<br />

aufgrund von Quotenerhöhungen der Lohnausgleichskasse mehr Westmark <strong>in</strong> der Tasche, was durch<br />

„Währungsspekulation“ <strong>den</strong> ostseitigen Kaufkraftüberhang vergrößerte und die Mängel der Planwirtschaft<br />

verschärfte. Insofern s<strong>in</strong>d es wiederum wirtschaftliche Entwicklungen, die laut Roggenbuch<br />

auch <strong>in</strong> dieser Phase <strong>den</strong> Schlüssel zum Verständnis des Grenzgängerproblems liefern. Die<br />

SED-Führung reagierte mit Repression. Diskrim<strong>in</strong>ierung und Terrorisierung sollten das West-Grenzgängerwesen<br />

reduzieren, <strong>in</strong>dem sie die betroffenen Menschen zur Aufnahme e<strong>in</strong>er Arbeit im Osten<br />

bewegten – mit wenig Erfolg. Vielmehr stieg die Zahl der West-Grenzgänger <strong>in</strong> der zweiten Hälfte<br />

der 1950er Jahre auf rund 40.000 an.<br />

Das vierte Kapitel zeigt, wie die Repression nach kurzem Abflauen ab Sommer 1960 verschärft<br />

<strong>in</strong>s Werk gesetzt und die Grenzgängerfrage zudem zur Flankierung des Mauerbaus politisch massiv<br />

<strong>in</strong>strumentalisiert wurde. In diesem Zusammenhang s<strong>in</strong>d die sich ergeben<strong>den</strong> Bezüge zwischen<br />

Grenzgängerwesen und Fluchtbewegung aufschlussreich. Beide Ersche<strong>in</strong>ungen trugen zur Zuspitzung<br />

der Krise 1960/61 bei und gehörten gleichzeitig zu ihren prägnantesten Ersche<strong>in</strong>ungen, wobei <strong>in</strong>folge<br />

DDR und ihre Vorgeschichte


317 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

des Drucks immer mehr West-Grenzgänger selbst zu „Republikflüchtigen“ wur<strong>den</strong>. Außerdem verkörperten<br />

beide Gruppierungen <strong>für</strong> die SED e<strong>in</strong> Fe<strong>in</strong>dbild, weil sie sich dem propagierten System<br />

entzogen und verme<strong>in</strong>tlich ohne Gegenleistung von der DDR profitierten. Für e<strong>in</strong>e groß angelegte<br />

Stimmungsmache durch Aufbau e<strong>in</strong>es „öffentlichen Fe<strong>in</strong>des“ eigneten sich die Flüchtl<strong>in</strong>ge laut<br />

Roggenbuch jedoch nicht, da mit der Thematisierung des Massenexodus unweigerlich e<strong>in</strong>e Systemkrise<br />

konzediert wor<strong>den</strong> wäre. Die Grenzgänger allerd<strong>in</strong>gs eigneten sich auch wegen des mit ihnen<br />

verbun<strong>den</strong>en Neidpotenzials („Schmarotzer“, „Schieber“, „Speckjäger“) umso besser: „Nicht zuletzt<br />

auf Grund der ‚Inszenierungʻ des Grenzgängerproblems konnte die Grenzschließung <strong>für</strong> die SED zu<br />

e<strong>in</strong>em Erfolg wer<strong>den</strong>.“ (395)<br />

Durch <strong>den</strong> Mauerbau wurde das Grenzgängerwesen komplett stillgelegt – aus Sicht der SED die<br />

e<strong>in</strong>zig überzeugende Lösung. Schließlich hatte neben anderen Faktoren auch das Grenzgängerproblem<br />

gezeigt, dass die DDR <strong>in</strong> der Systemkonkurrenz mit offener Grenze nicht bestehen konnte. Unter<br />

<strong>den</strong> Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>er <strong>für</strong> <strong>den</strong> Osten negativen Wirtschaftsentwicklung wurde das Grenzgängerwesen<br />

zu e<strong>in</strong>em immer gewichtigeren Störfaktor. Demzufolge war es am Ende, so Roggenbuchs Fazit <strong>in</strong><br />

Bezug auf die oben formulierte Frage, „nahezu vollständig von der divergieren<strong>den</strong> Wirkung der Systemkonkurrenz<br />

geprägt und somit letztlich selbst e<strong>in</strong> Faktor der Des<strong>in</strong>tegration“ (454).<br />

Der Autor hat <strong>für</strong> se<strong>in</strong>e Untersuchung umfangreiche Archivmaterialien zu <strong>den</strong> politischen Akteuren<br />

auf verschie<strong>den</strong>en Ebenen <strong>in</strong> West und Ost ausgewertet sowie ergänzend Presseberichte und e<strong>in</strong>ige<br />

Zeitzeugenbefragungen herangezogen. Auf dieser Basis kann er e<strong>in</strong>e umfassende und systematische<br />

monografische Darstellung zum Berl<strong>in</strong>er Grenzgängerwesen vorlegen, was bisher als Desiderat der<br />

wenig ausgebildeten Forschung zu diesem Thema gelten musste. Allerd<strong>in</strong>gs merkt man Roggenbuchs<br />

Studie die Pionierarbeit auch an: Sie präsentiert <strong>in</strong> detailreichen Verschl<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>e große Menge<br />

Stoff, ohne dem Leser allzu viele Schneisen durch das Dickicht zu schlagen. Mehr bündelndanalysierende<br />

Passagen wären hilfreich gewesen. Auch der ausgeprägte Nom<strong>in</strong>alstil und die etwas<br />

hölzerne Begrifflichkeit erschweren die Lektüre. Gleichwohl: Frank Roggenbuch hat die Forschung<br />

zum Berl<strong>in</strong>er Grenzgängerwesen mit se<strong>in</strong>er Untersuchung auf e<strong>in</strong>e neue wissenschaftliche Basis gestellt.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

DDR und ihre Vorgeschichte


Christian Saehrendt: Kunst als Botschafter e<strong>in</strong>er künstlichen Nation. Studien zur Rolle der<br />

bil<strong>den</strong><strong>den</strong> Kunst <strong>in</strong> der Auswärtigen Kulturpolitik der DDR (= Pallas Athene. Beiträge zur<br />

Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte; Bd. 27), Stuttgart: Franz Ste<strong>in</strong>er Verlag 2009,<br />

197 S., ISBN 978-3-515-09227-2, EUR 34,00<br />

Rezensiert von Kathleen Schroeter<br />

Leipzig<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/05/15282.html<br />

Im Gegensatz zu <strong>den</strong> „harten“ politikwissenschaftlichen Themen<br />

wer<strong>den</strong> Untersuchungen über Kunst und Alltagskultur <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>igen DDR-Forscherkreisen noch mit Skepsis betrachtet.<br />

Mit Christian Saehrendts Publikation über die auswärtige Kulturpolitik<br />

der DDR ist e<strong>in</strong>e Arbeit erschienen, die das Zusammenwirken<br />

beider Sphären, das Zusammenspiel von Politik,<br />

Machtanspruch und Kunst aufzeigt. Gibt es zur Kulturpolitik<br />

und Kunstentwicklung <strong>in</strong>nerhalb der DDR bereits e<strong>in</strong>ige<br />

grundlegende Publikationen, so wur<strong>den</strong> die kulturellen Beziehungen<br />

zum Ausland bislang nur sehr partiell behandelt.<br />

Saehrendt betrachtet nun <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Studie zur Rolle der (überwiegend<br />

zeitgenössischen) bil<strong>den</strong><strong>den</strong> Kunst <strong>in</strong> der auswärtigen<br />

Kulturpolitik der DDR nicht nur die deutsch-deutschen Kulturbeziehungen,<br />

sondern die Gesamtheit der auswärtigen Kulturpolitik,<br />

wobei er <strong>den</strong> Schwerpunkt auf die alte Bundesrepublik<br />

und die westlichen Alliierten legt und da<strong>für</strong> umfangreiches Archivmaterial<br />

und Interviews mit beteiligten Akteuren auswertet.<br />

In se<strong>in</strong>em Kapitel zu <strong>den</strong> Grundlagen der auswärtigen, zentralistisch durch die Führungsgremien<br />

der SED geplanten Kulturpolitik der DDR skizziert der Autor knapp die beteiligten Akteure, <strong>Institut</strong>ionen<br />

und Mittlerorganisationen, zu <strong>den</strong>en die Liga <strong>für</strong> Völkerfreundschaft und der Verband Bil<strong>den</strong>der<br />

Künstler der DDR gehörten, sowie deren Absichten <strong>in</strong> <strong>den</strong> westlichen, östlichen und <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

blockfreien Staaten. Im „nichtsozialistischen Ausland“ war es bis zur Aufnahme der DDR <strong>in</strong> die<br />

UNO das Ziel der auswärtigen Kulturpolitik, auf „Nebengleisen“ (62) die <strong>in</strong>ternationale Anerkennung<br />

zu erlangen. Häufig konnte <strong>in</strong> dieser Zeit aber nur auf nicht-staatlicher Ebene mit <strong>den</strong> kommunistischen<br />

Gruppierungen und <strong>den</strong> aus Sicht der DDR „progressiven Künstlern“ dieser Länder zusammengearbeitet<br />

wer<strong>den</strong>. Saehrendt zeigt auf, dass die Reichweite dieser Bemühungen jedoch –<br />

auch aufgrund der chronischen Devisenknappheit der DDR – begrenzt blieb.<br />

Im Kulturaustausch mit <strong>den</strong> verbündeten Staaten im Osten galt es laut Saehrendt zunächst, die<br />

kriegsbed<strong>in</strong>gten, antideutschen Vorbehalte abzubauen – die deutsche Position im östlichen Bündnis<br />

musste erst noch legitimiert wer<strong>den</strong>. Da<strong>für</strong> präsentierte man Kunst unter <strong>den</strong> Stichworten Antifaschismus<br />

und Antimilitarismus und <strong>in</strong>itiierte Geme<strong>in</strong>schaftsprojekte, die <strong>den</strong> geme<strong>in</strong>samen Widerstandskampf<br />

gegen die Nationalsozialisten beschwören sollten. Die häufig liberalere Kunstpolitik <strong>in</strong> <strong>den</strong>


319 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

„sozialistischen Bruderländern“, z.B. <strong>in</strong> Polen, barg <strong>für</strong> die DDR aber auch Bedrohungen. Zum Ende<br />

der DDR, so Saehrendt, war das westliche Interesse an Kunst aus der DDR größer und lukrativer als<br />

das aus dem Osten, sodass nur die „zweite Wahl“ an Kunstwerken <strong>in</strong> die Ostblockstaaten exportiert<br />

wurde. Das mag die ger<strong>in</strong>ge Resonanz im Osten noch verstärkt haben, die Bevölkerung Polens zum<strong>in</strong>dest<br />

„blickte quasi über die DDR h<strong>in</strong>weg nach Westen.“ (77)<br />

Ausstellungen bil<strong>den</strong>der Kunst „als <strong>in</strong>ternationales Aushängeschild der DDR“ sowie die bil<strong>den</strong>de<br />

Kunst als devisenbr<strong>in</strong>gendes Exportgut bil<strong>den</strong> dann <strong>den</strong> Schwerpunkt des nächsten Kapitels. Während<br />

die bil<strong>den</strong>de Kunst der DDR bis weit <strong>in</strong> die 1960er Jahre ke<strong>in</strong>e <strong>in</strong>ternationale Beachtung erfuhr,<br />

wuchs das Interesse im Zuge der Entspannungspolitik. Dies war laut Saehrendt auch bed<strong>in</strong>gt durch<br />

die gleichzeitige Liberalisierung der Kunstpolitik der SED, die e<strong>in</strong>e größere Formen- und Themenvielfalt<br />

zuließ. Ab Mitte der 1970er Jahre wur<strong>den</strong> dann über <strong>den</strong> Staatlichen Kunsthandel zunehmend<br />

Verkaufsausstellungen durchgeführt – die dadurch gewonnenen E<strong>in</strong>nahmen konnten jedoch (trotz<br />

Zugeständnissen an devisenbr<strong>in</strong>gende Sammler) nicht im geplanten Umfang gesteigert wer<strong>den</strong>.<br />

Die Teilnahme von Willi Sitte, Wolfgang Mattheuer, Werner Tübke und Bernhard Heisig an der<br />

documenta 6 im Jahr 1977 machte die vier Maler aus der DDR schlagartig bekannt. Wie der Autor<br />

im Kapitel zu Kunstausstellungen im <strong>in</strong>nerdeutschen Verhältnis zeigt, wur<strong>den</strong> sie und dann auch ihre<br />

Schüler <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1980er Jahren vermehrt <strong>in</strong> Westdeutschland ausgestellt. Damit wur<strong>den</strong> aber auch Bilder<br />

gezeigt, die Kritik an <strong>den</strong> Lebensverhältnissen der DDR enthielten. Der politische Prestigegew<strong>in</strong>n<br />

dieser Ausstellungen war daher auch umstritten: Während sie auf der e<strong>in</strong>en Seite als „Beweis“ <strong>für</strong><br />

geistige Freiheit gelten konnten, <strong>in</strong>terpretierte die westliche Presse die Kunst junger DDR-Künstler<br />

auch als Zeugnis oppositioneller Stimmungen oder Leiderfahrungen.<br />

Die schwach entwickelten kulturellen Beziehungen zu <strong>den</strong> westlichen Alliierten, die jeweils <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em eigenen Kapitel abgehandelt wer<strong>den</strong>, erfuhren erst <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1980er Jahren e<strong>in</strong>e Aufwertung. E<strong>in</strong><br />

Beleg da<strong>für</strong> s<strong>in</strong>d die Abschlüsse offizieller Kulturabkommen mit Frankreich 1980 und Großbritannien<br />

1985 sowie e<strong>in</strong>e Reihe von Ausstellungen, auf die der Autor näher e<strong>in</strong>geht. Beispiele s<strong>in</strong>d unter<br />

anderen die ersten großen Überblicksausstellungen mit Kunst aus der DDR im Jahr 1981 <strong>in</strong> Paris,<br />

1984/85 <strong>in</strong> verschie<strong>den</strong>en englischen sowie 1989 <strong>in</strong> amerikanischen Städten. Mit diesen Ländern befan<strong>den</strong><br />

sich die kulturellen Beziehungen auf dem Höhepunkt, als die DDR kollabierte.<br />

Der Autor fragt auch nach historischen Kont<strong>in</strong>uitäten und stellt der auswärtigen Kulturpolitik der<br />

DDR daher e<strong>in</strong> Kapitel zur Weimarer Republik und zum „Dritten Reich“ voran. In e<strong>in</strong>em anschließen<strong>den</strong><br />

Kapitel zur auswärtigen Kulturpolitik der Bundesrepublik, die sich deutlich von der nationalsozialistischen<br />

Vergangenheit als auch vom zweiten deutschen Staat abzugrenzen versuchte, geht<br />

Saehrendt auf die permanente Konkurrenz der bei<strong>den</strong> deutschen Staaten <strong>in</strong> der Darbietung deutscher<br />

Kultur im Ausland e<strong>in</strong>. Die DDR musste dabei trotz e<strong>in</strong>iger gegen die Bundesrepublik gerichteter<br />

Kampagnen die Überlegenheit der bundesrepublikanischen Kulturpolitik akzeptieren. Aus der historischen<br />

E<strong>in</strong>ordnung zieht der Autor lediglich das Fazit, dass die Bundesrepublik die vermehrt künstlerische<br />

Autonomie achtende, pluralistische und mit staatsfernen Mittlerorganisationen arbeitende<br />

Kulturpolitik der Weimarer Republik fortgeführt, die DDR sich jedoch stark an die UdSSR angelehnt<br />

habe. Diese These wird jedoch von Saehrendt nicht weiter unterfüttert, f<strong>in</strong>det doch die auswärtige<br />

Kulturpolitik der UdSSR ke<strong>in</strong>e nähere Betrachtung (alle<strong>in</strong> deren zu Genüge bekanntes Dogma des<br />

„Sozialistischen Realismus“ wird kurz erwähnt). Parallelen zwischen der Kulturpolitik der bei<strong>den</strong><br />

deutschen Diktaturen, die es bei aller Problematik e<strong>in</strong>es solchen Vergleichs offensichtlich auch gegeben<br />

hat (so z.B. die von Saehrendt erwähnte Zentralisierung der Kulturpolitik und weitgehende<br />

Zurückdrängung von (halb-) privaten Mittlerorganisationen), wer<strong>den</strong> ebenfalls nicht behandelt. Mit<br />

Blick auf diese Ergebnisse stellt sich die Frage, ob anstelle des historischen Vorspanns e<strong>in</strong>e stärkere<br />

Konzentration auf die Spezifika der auswärtigen Kulturpolitik der DDR oder lediglich e<strong>in</strong>e stärkere<br />

Kontrastierung mit der Bundesrepublik nicht s<strong>in</strong>nvoller gewesen wäre. Auch der relativ breite Aus-<br />

DDR und ihre Vorgeschichte


320 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

blick auf die auswärtige Kulturpolitik der neuen Bundesrepublik und <strong>den</strong> heutigen Umgang mit dem<br />

künstlerischen Erbe der DDR, <strong>in</strong> das der Autor auch Neo Rauch e<strong>in</strong>bezieht, lenkt vom eigentlichen<br />

Thema ab. Dagegen bleiben die Beschreibungen der Aushandlungsprozesse zwischen <strong>den</strong> Akteuren<br />

<strong>in</strong> der DDR recht kurz. Hier hätten mit Blick auf <strong>den</strong> eigentlichen Gegenstand der Arbeit noch stärker<br />

die mit dem Export bil<strong>den</strong>der Kunst verbun<strong>den</strong>en Wirkungsabsichten sowie die Widersprüchlichkeit<br />

der ke<strong>in</strong>eswegs str<strong>in</strong>genten Kulturpolitik herausgearbeitet wer<strong>den</strong> können. Und auch wenn<br />

es der weitgefasste Untersuchungsgegenstand zwangsläufig mit sich br<strong>in</strong>gt, dass viele Aussagen <strong>in</strong><br />

der vorliegen<strong>den</strong> Publikation summarisch bleiben müssen, entsteht <strong>in</strong> der knappen Darstellung der<br />

häufig sehr komplexen Prozesse so manches schiefe Bild: So f<strong>in</strong><strong>den</strong> sich z.B. die von Saehrendt<br />

beschriebenen systemkritischen Momente <strong>in</strong> <strong>den</strong> Bildern von Wolfgang Mattheuer tatsächlich, <strong>den</strong>noch<br />

kann davon abgeleitet nicht e<strong>in</strong>fach pauschal von e<strong>in</strong>er „oppositionellen Leipziger Schule“ (95)<br />

gesprochen wer<strong>den</strong>.<br />

Dessen ungeachtet liegt mit Saehrendts Buch e<strong>in</strong>e überfällige und begrüßenswerte Überblicksdarstellung<br />

vor. Die Leistung liegt <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> der knappen Zusammenschau e<strong>in</strong>zelner Akteure,<br />

Themenfelder und Ereignisse <strong>in</strong>nerhalb dieses weiten Politikfeldes. Sie sollte nun als Ausgangspunkt<br />

<strong>für</strong> vertiefende Darstellungen der <strong>in</strong> dieser Publikation angesprochenen vielfältigen Aspekte dienen.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

DDR und ihre Vorgeschichte


Silke Satjukow: Besatzer. „Die Russen“ <strong>in</strong> Deutschland 1945–1994, Gött<strong>in</strong>gen: Van<strong>den</strong>hoeck &<br />

Ruprecht 2008, 405 S., 6 Abb., 10 Tab., ISBN 978-3-525-36380-5, EUR 34,90<br />

Rezensiert von Jan Foitzik<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 3<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/03/14246.html<br />

Die sowjetischen Truppen waren „konstitutiver Teil der DDR-<br />

Realität“, schrieb 1995 Timothy Garton Ash. Ihre Habilitationsschrift,<br />

die sie als „um e<strong>in</strong>en kulturhistorischen Ansatz“<br />

erweiterte „Politik-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte<br />

der sowjetischen Besatzung“ vorstellt, fokussiert Silke Satjukow<br />

auf das Verhältnis zwischen der „Gruppe“ der sowjetischen<br />

Truppen <strong>in</strong> der DDR und der DDR-Bevölkerung. Die<br />

Arbeit besteht aus vier Teilen und beg<strong>in</strong>nt mit dem Abzug der<br />

Truppen, im 2. Kapitel wird der Bogen unter der Überschrift<br />

„die Zeit der Besetzung“ „vom Kriegsende bis 1961“ gespannt,<br />

die Phase von 1961 bis 1994 figuriert als „die Zeit der<br />

Besatzung“. Im Schlusskapitel stellt sie „Besatzer und Besetzte“<br />

vor dem H<strong>in</strong>tergrund der Theorie e<strong>in</strong>er wechselseitigen<br />

Grenzziehung vor. Dar<strong>in</strong> isoliert die Verfasser<strong>in</strong> vier „Zäsuren<br />

und Konjunkturen“ von „generationsspezifischen Annäherungen<br />

und Distanzierungen“: 1947 (Isolation der Truppen von<br />

der deutschen Bevölkerung und Fraternisierungsverbot), Juni<br />

1953 (neue Kompromisse im Zuge der SED-Politik des „Aufbaus<br />

des Sozialismus“ und der Demonstration der militärischen Stärke der UdSSR <strong>in</strong> der DDR, die<br />

sich <strong>in</strong> der Souveränitätserklärung von 1954 und im Stationierungsabkommen von 1957 manifestieren),<br />

1961 (der Bau der Mauer beendete die „Phase der Besetzung“, „die Mythen waren verfasst“,<br />

„es begann die Phase der Besatzung, der jahrzehntelangen E<strong>in</strong>übung gangbarer Kompromissformen“).<br />

E<strong>in</strong>e vierte Zäsur wird Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre gesetzt, als die sowjetische<br />

Afghanistan-Intervention, Glasnost und Perestroika <strong>den</strong> e<strong>in</strong>geübten Umgang <strong>in</strong> Frage gestellt hätten<br />

(316f.). Der geme<strong>in</strong>same „Mythos der Befreiung“ zerbrach an der generationsspezifischen Differenzierung,<br />

das Bündnis zwischen Besatzern und Besetzten, zwischen Befreiern und Befreiten löste sich<br />

auf.<br />

Konzeptionell verstellt die S<strong>in</strong>gularisierung der Besetzung/Besatzung/Befreiung der DDR auf die<br />

„gesamtdeutsche Vorgeschichte“ <strong>den</strong> Blick auf e<strong>in</strong>en spezifischen Aspekt des ostdeutsch-sowjetischen<br />

Verhältnisses: „Russen“ dienten <strong>in</strong> der DDR nämlich gleich zweifach als „Projektionsfläche <strong>für</strong> die<br />

Verschiebung von Schuld“, wie die Verfasser<strong>in</strong> stellenweise überhöht argumentiert: Das zweite Mal<br />

zum<strong>in</strong>dest „parteioffiziös“ bei der Kompensation der „stal<strong>in</strong>istischen Deformation“. Oder anders<br />

formuliert: Die Distanzierung von der Hegemonialmacht wirkte <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit dem kollektiven<br />

Eskapismus der DDR-Deutschen (<strong>den</strong> Satjukow an e<strong>in</strong>igen Stellen als „kulturelle Überlegenheit“


322 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

anspricht, Rudolf Herrnstadt schrieb 1948 noch vom „wahrhaft blöds<strong>in</strong>nigen Dünkel“) legitimationsstiftend.<br />

Nicht thematisiert wer<strong>den</strong> auch die militärpolitische Bedeutung der „Gruppe“, die „polnische<br />

Entwicklung“ <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1970/1980er Jahren, die „Ölpreiskrise“ oder die NATO-Nachrüstung zu<br />

Beg<strong>in</strong>n der 1980er Jahre, obwohl sie Relevanz hatten. Da<strong>für</strong> sche<strong>in</strong>t oft Unspezifisches zur sowjetischostdeutschen<br />

Grenzziehung herangezogen wor<strong>den</strong> zu se<strong>in</strong>, das bei näherem H<strong>in</strong>sehen nur allgeme<strong>in</strong>e<br />

völkerrechtliche Vertragsfragen mit viel „Seelenlärm“ koloriert. Nicht unbed<strong>in</strong>gt spezifisch war<br />

auch die bereits 1945 erfolgte Kasernierung, weil sie traditionell üblich war. Die im Sommer 1947<br />

erfolgte „totale räumliche und psychische Isolierung der Truppen“ (62), als auch höhere Offiziere<br />

und zivile Angestellte <strong>in</strong> gesonderten „Sperrgebieten“ von der deutschen Bevölkerung separiert<br />

wur<strong>den</strong>, stand bereits unter anderen Vorzeichen. Allerd<strong>in</strong>gs blieb die Besatzungsverwaltung als Träger<br />

von Ordnungsfunktionen noch e<strong>in</strong>ige Jahre im öffentlichen Raum präsent. Die Fraternisierung<br />

mit Deutschen war nebenbei auch <strong>in</strong> der SBZ schon 1945 verboten wor<strong>den</strong> und nicht erst 1947. Neu<br />

kam jedoch h<strong>in</strong>zu, dass die „Gruppe“ nun auch von der „westlichen Deka<strong>den</strong>z“ isoliert und als „Ansteckungsherd“<br />

<strong>für</strong> die Heimat unter Quarantäne gestellt wurde, wie 1961 dann die gesamte DDR.<br />

Dieser „strukturelle“ Abgrenzungsfaktor wird nur <strong>in</strong>direkt reflektiert. Generell bleibt dabei zu beachten,<br />

dass die 1940er Jahre durch russisches und dann wieder vor allem die 1980er Jahre durch Aktenmaterial<br />

des Staatssicherheitsdienstes der DDR vergleichsweise gut dokumentiert s<strong>in</strong>d. Beachtung<br />

hätte daher die Frage verdient, welchen E<strong>in</strong>fluss diese <strong>für</strong> die 1950er Jahre sehr erheblichen Überlieferungslücken<br />

auf die Theoriebildung hatten.<br />

Opfer der fragmentierten und durchaus tückischen Quellenlage wurde die Verfasser<strong>in</strong> an e<strong>in</strong>igen<br />

Stellen, so beispielsweise bei der Konstruktion der „mythischen Grunderzählung von der Befreiung“<br />

(312), als „die Besatzer dem deutschen Volk die Hand zur Versöhnung reichten“, vorgestellt als Stal<strong>in</strong>s<br />

Großtat zur Gründung der DDR. In Wirklichkeit wiederholte das Zitat aber nur die deutsche<br />

Ambition von 1945, wie sie Grotewohl, Koch, Hermes u.a. „als die allerersten Opfer Hitlers“ vortrugen.<br />

Die sowjetische Zensur kassierte die Orig<strong>in</strong>albelege und DDR-Archivare später auch die<br />

Kopien. Dies als Randnotiz zu e<strong>in</strong>igen Propagandabildern, die Satjukow zwar abwertend „Propageme“<br />

nennt, aber an e<strong>in</strong>igen Stellen als authentische Sachbelege benutzt. Über e<strong>in</strong>iges kann man h<strong>in</strong>wegsehen:<br />

Etwa über die „als Vorsichtsmaßnahme“ kommentierte Ablösung von Tschujkow durch<br />

Gretschko als Oberbefehlshaber im Mai 1953 (73). Es handelte sich um e<strong>in</strong>en Rout<strong>in</strong>eaustausch.<br />

„Vorsichtshalber“ flog man erst am 17. Juni 1953 zwei Marschälle nach Ostberl<strong>in</strong> e<strong>in</strong>.<br />

Das Buch ist materialgesättigt, aber nicht leicht zugänglich, weil assoziativ-puzzlehaft sortiert. Es<br />

transportiert viele wertvolle Fakten, die Quellenbelege s<strong>in</strong>d aber auch deshalb e<strong>in</strong>zeln zu studieren,<br />

weil bisweilen kühne Argumentationsbögen gespannt wer<strong>den</strong>, die nicht immer belastbar s<strong>in</strong>d. Tollkühn<br />

wirken sie im Zusammenhang mit der behaupteten Veränderung der nationalen Zusammensetzung<br />

der „Gruppe“ und dem angeblichen Traditionsbruch. Mit dem Beg<strong>in</strong>n des Afghanistankrieges<br />

seien aus der DDR „Elitee<strong>in</strong>heiten“ zum Kampfe<strong>in</strong>satz <strong>in</strong> <strong>den</strong> H<strong>in</strong>dukusch abgezogen wor<strong>den</strong> und <strong>in</strong><br />

die DDR sei Ersatz aus <strong>den</strong> „mittelasiatischen Landesteilen“ gekommen – (245: Die russische Quellenangabe<br />

ist nebenbei nicht auflösbar). Selbst dann, wenn das Afghanistan-Kont<strong>in</strong>gent von<br />

100.000–120.000 Mann zur Gänze aus der DDR abgezogen wor<strong>den</strong> wäre, wäre da<strong>für</strong> aber etwa nur<br />

e<strong>in</strong> Fünftel des Truppenbestandes nötig gewesen bzw. grob geschätzt weniger als e<strong>in</strong> Zwanzigstel<br />

e<strong>in</strong>es sowjetischen Wehrpflichtigenjahrgangs. Und selbst dann, wenn man solche und weitere spezielle<br />

Details (1981 Kriegsrecht <strong>in</strong> Polen, NATO- Raketennachrüstung) nicht näher prüfen will, hätte<br />

es zum<strong>in</strong>dest kommentiert wer<strong>den</strong> müssen, wieso 1988 nach Aussagen des sowjetischen Verteidigungsm<strong>in</strong>isters<br />

30 Prozent der sowjetischen Soldaten nicht russisch lesen konnten (127: zitiert nach<br />

BStU-Archiv, <strong>in</strong> dem sich die Arbeitsübersetzung e<strong>in</strong>es Redebeitrags vom 27. Parteitag der KPdSU<br />

von 1986 bef<strong>in</strong>det). Russisch war doch schon seit 1938 <strong>in</strong> der UdSSR Unterrichts-Pflichtsprache.<br />

Und auch wenn der Anteil der sowjetischen Rekruten „aus Mittelasien und Kaukasus“ 1988 bei<br />

DDR und ihre Vorgeschichte


323 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

37 Prozent lag (124), heißt es nicht, dass die „Gruppe“ <strong>in</strong> der DDR nach dem Pr<strong>in</strong>zip der statistischen<br />

Repräsentation aufgestellt wurde.<br />

Infolge der ethnischen Fragmentierung verfiel schon Anfang der 1980er Jahre die Moral der<br />

Truppe (134) und zwischen 1970 und 1989 machten Straftaten sowjetischer Soldaten zum Nachteil<br />

der DDR-Bevölkerung statistisch gesehen 0,7 bis 2,5 Prozent der DDR-Strafdelikte aus. Übersehen<br />

wird dabei aber, dass somit die Truppenangehörigen deutlich unterdurchschnittlich krim<strong>in</strong>ell waren,<br />

<strong>den</strong>n ihr Anteil an der DDR-Bevölkerung betrug etwa 3,5 Prozent, zudem handelte es sich im Vergleich<br />

um e<strong>in</strong>e besonders aktive, männlich dom<strong>in</strong>ierte Altersgruppe. Damit lag eher e<strong>in</strong> Indiz <strong>für</strong> die<br />

Isolation der „Gruppe“ von der DDR-Gesellschaft vor. Spätestens hier schlägt die stellenweise auftretende<br />

Irritation <strong>in</strong> Ratlosigkeit um. Insgesamt drängt sich der Verdacht auf, dass am Ende der<br />

1980er Jahre „<strong>in</strong> geheimen DDR-Regierungspapieren“, die <strong>in</strong>tensiv als Quellen genutzt wur<strong>den</strong>, nur<br />

das repetiert wurde, was das Volk unmittelbar nach Kriegsende spontan wahrgenommen und <strong>in</strong> die<br />

Sphäre der „<strong>in</strong>formellen sozialen Kommunikation“ „verdrängt“ hatte: Der „Mongole“ von 1945<br />

mutierte nur zum „Mittelasiaten“ und „Kaukasier“ und konvertierte zum Islam. Nebenbei hätte die<br />

Verfasser<strong>in</strong> sich selbst und auch dem Benutzer e<strong>in</strong>en Dienst erwiesen, wenn sie die Belege skrupulöser<br />

präsentiert hätte: E<strong>in</strong>ige zitierte amtliche Informationen stammen nämlich offenbar nur vom Hörensagen<br />

und e<strong>in</strong> Teil von ihnen ist sachlich falsch. Um Missverständnissen vorzubeugen: Der Wertewandel<br />

<strong>in</strong> der DDR der 1980er Jahre und vor allem die gewachsene Sensibilität der Öffentlichkeit<br />

s<strong>in</strong>d unstrittig, zweifelhaft ersche<strong>in</strong>en nur der vorgestellte Begründungszusammenhang und die Annahme<br />

e<strong>in</strong>er kont<strong>in</strong>uierlichen, l<strong>in</strong>ear progressiven Entwicklung. Sie sche<strong>in</strong>t vielmehr nicht vorzuliegen.<br />

In das vorgestellte Konstrukt lässt sich auch nicht e<strong>in</strong>ordnen, warum 1990 das „Russen“-Bild der<br />

DDR-Bürger (und der Westberl<strong>in</strong>er) wesentlich skeptischer ausfiel als das der Westdeutschen. Stellenweise<br />

sche<strong>in</strong>en nicht h<strong>in</strong>reichend „gegengeprüfte“ Wahrnehmungselemente zur Rekonstruktion<br />

der Wirklichkeit benutzt wor<strong>den</strong> zu se<strong>in</strong>.<br />

Belassen wir es aber bei solchen Zweifeln, <strong>den</strong>n aus Platzgrün<strong>den</strong> können hier Belege nicht e<strong>in</strong>zeln<br />

zerbröselt, der Generationsbegriff problematisiert oder gar auf „e<strong>in</strong>e entideologisierte, <strong>in</strong>dividualistisch<br />

<strong>den</strong>kende Jugend“ <strong>in</strong> der UdSSR e<strong>in</strong>gegangen wer<strong>den</strong>, die – vermutlich ab <strong>den</strong> 1960er Jahren<br />

–, „anders als ihre Großväter und Väter, nicht mehr bereit [war], Opfer <strong>für</strong> die Sache des Sozialismus<br />

zu erbr<strong>in</strong>gen“ (142). Als Indiz verweist Satjukow auf die ansteigen<strong>den</strong> Desertionsfälle. Ihre<br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong> Quellen ohneh<strong>in</strong> übertriebene Zahl sank aber 1988 auffallend stark, und der „Betriebsausflug“<br />

der „Gruppe“ <strong>in</strong> die Tschechoslowakei 1968 wurde von der Autor<strong>in</strong> wohl schlicht übersehen. Zudem<br />

bleibt es zweifelhaft, ob „Russen“ wirklich wie „Deutsche“ funktionieren. Nicht nur deshalb, weil<br />

Ideologie <strong>in</strong> der Sowjetunion, glaubt man russischen Soziologen, ab 1956 ke<strong>in</strong>en sozialformativen<br />

Stellenwert mehr hatte, während die DDR e<strong>in</strong>e Kopfgeburt blieb.<br />

E<strong>in</strong>e bee<strong>in</strong>druckende Arbeit, die wegen der eigenwilligen Struktur kritisch gelesen wer<strong>den</strong> muss,<br />

um ihre Qualitäten zu erkennen. Beim Lesen stellt sich freilich oft das Gefühl e<strong>in</strong>, dass weniger<br />

mehr gewesen wäre.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

DDR und ihre Vorgeschichte


Manuel Schramm: Wirtschaft und Wissenschaft <strong>in</strong> DDR und BRD. Die Kategorie<br />

Vertrauen <strong>in</strong> Innovationsprozessen (= Wirtschafts- und Sozialhistorische Studien; Bd. 17),<br />

Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2008, XII + 355 S., ISBN 978-3-412-20174-6, EUR 44,90<br />

Rezensiert von Andreas Malycha<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Geschichte der Mediz<strong>in</strong>, Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 3<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/03/14997.html<br />

Schramm folgt mit se<strong>in</strong>em Buch, e<strong>in</strong>er von der TU Chemnitz<br />

angenommenen Habilitationsschrift, nicht dem e<strong>in</strong>schlägigen<br />

Untersuchungsraster im Verhältnis zwischen Wissenschaft,<br />

Politik und Wirtschaft, das <strong>in</strong> der Wissenschaftsgeschichte<br />

sonst üblich ist. Stattdessen analysiert der Autor anhand der<br />

Kategorie Vertrauen, auf welche Weise Metho<strong>den</strong> der historischen<br />

Innovationsforschung auf die Untersuchung von Wirtschaft<br />

und Wissenschaft <strong>in</strong> der deutschen Nachkriegsgeschichte<br />

anwendbar s<strong>in</strong>d.<br />

Zunächst wer<strong>den</strong> Konzepte der Innovationsforschung vorgestellt<br />

und ihre Anwendbarkeit auf Untersuchungen <strong>in</strong> der<br />

Wirtschafts- und Wissenschaftsgeschichte erläutert. Schramm<br />

sieht se<strong>in</strong>en methodischen Ansatz als Teil e<strong>in</strong>er „Kultur-<br />

geschichte von Innovationsprozessen“, die sowohl über e<strong>in</strong>en<br />

engen geografischen Rahmen h<strong>in</strong>ausgeht als auch die Heterogenität<br />

von Innovationsprozessen <strong>in</strong> unterschiedlichen Branchen<br />

sowie die Dynamik kulturellen Wandels berücksichtigt.<br />

Derartigen Anforderungen entspricht se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach<br />

am ehesten das <strong>in</strong> der Unternehmensgeschichte praktizierte<br />

Konzept der „Mikropolitik im Unternehmen“, das <strong>den</strong> Betrieb als „komplexes Interaktionsgefüge<br />

aus Arbeits-, Kooperations- und Kommunikationsbeziehungen, aus Akteurskoalitionen und Machtstrukturen“<br />

begreift (18). Dadurch soll die Interaktion zwischen Akteuren unterschiedlicher Organisationen<br />

(Wissenschaftler, Ingenieure, Unternehmer, Politiker) im Innovationsprozess <strong>in</strong> <strong>den</strong> Mittelpunkt<br />

rücken, um dabei <strong>den</strong> konkreten Formen der Kooperation, aber auch der Konfrontation und<br />

deren Folgen <strong>für</strong> <strong>den</strong> Erfolg bzw. Misserfolg von Innovationen näher zu kommen.<br />

Als zentralem Bezugspunkt <strong>in</strong> diesem Interaktionsgefüge kommt der Kategorie Vertrauen besondere<br />

Bedeutung zu. Vorrangige Absicht ist es <strong>den</strong>n auch, die Bedeutung eben dieses Vertrauens als<br />

e<strong>in</strong>er formlosen <strong>Institut</strong>ion <strong>für</strong> <strong>den</strong> wirtschaftlichen Erfolg e<strong>in</strong>er Gesellschaft zu belegen. Im Lichte<br />

dieses Konzepts erschien es besonders ertragreich, DDR und Bundesrepublik mite<strong>in</strong>ander zu vergleichen,<br />

da hier die Unterschiede im H<strong>in</strong>blick auf gegebene Vertrauensstrukturen besonders augenfällig<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

Das Vorhaben, <strong>den</strong> herausragen<strong>den</strong> Stellenwert von Vertrauen <strong>in</strong> wirtschaftlichen und wissenschaftlichen<br />

Innovationsprozessen anhand von Fallbeispielen aus verschie<strong>den</strong>en Branchen (Masch<strong>in</strong>en-


325 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

bau, Fe<strong>in</strong>mechanik/Optik, Chemie/Pharmazie) sowohl <strong>in</strong> der DDR als auch <strong>in</strong> der Bundesrepublik<br />

nachzuweisen, hat Manuel Schramm überzeugend umgesetzt. Anhand von regionalen Branchenfallstudien<br />

aus Ost und West, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en Kooperationsbeziehungen zwischen Hochschulen und Forschungs<strong>in</strong>stituten<br />

sowie volkseigenen Betrieben und privaten Unternehmen analysiert wer<strong>den</strong>, weist<br />

er schlüssig nach, dass e<strong>in</strong> großes Maß von Vertrauen zwischen diesen Akteuren tatsächlich e<strong>in</strong>e<br />

große Bedeutung da<strong>für</strong> besitzt, ob Innovationen gel<strong>in</strong>gen oder scheitern.<br />

Von besonderem Interesse ist die Frage, ob und unter welchen Bed<strong>in</strong>gungen Vertrauensnetzwerke <strong>in</strong><br />

der DDR entstan<strong>den</strong> s<strong>in</strong>d und fortdauern konnten. Aus fünf Fallbeispielen <strong>für</strong> Kooperationen zwischen<br />

staatlichen Betrieben auf der e<strong>in</strong>en und Universitäten und außeruniversitären Forschungs<strong>in</strong>stituten<br />

auf der anderen Seite leitet Schramm <strong>den</strong> Befund ab, dass Innovationen unter <strong>den</strong> gesellschaftspolitischen<br />

Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>er Planwirtschaft zwar grundsätzlich möglich waren. Jedoch resultierten die<br />

nachweisbaren Innovationen auf e<strong>in</strong>igen Technologiefeldern (Lasertechnik, Interferenzmikroskopie)<br />

nur zu e<strong>in</strong>em äußerst ger<strong>in</strong>gen Teil aus Vertragsbeziehungen zwischen Forschungs<strong>in</strong>stituten und der<br />

Industrie. Wenn es zu e<strong>in</strong>er Innovation kam, so beispielsweise zur Entwicklung und Herstellung e<strong>in</strong>es<br />

Interferenzmikroskops durch Carl Zeiss Jena im Jahre 1968, dann g<strong>in</strong>g diese aus e<strong>in</strong>er Eigenentwicklung<br />

der Forschungsabteilung des volkseigenen Betriebes hervor. Zwar gab es vertraglich geregelte<br />

Beziehungen zwischen Carl Zeiss und dem <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Optik und Spektroskopie <strong>in</strong> Jena, doch seien<br />

die Kontakte von gegenseitigen Vorbehalten und Misstrauen geprägt gewesen. Ähnliche E<strong>in</strong>schätzungen<br />

leitet Schramm aus <strong>den</strong> anderen Fallbeispielen ab.<br />

Die begrenzte Kooperationsfähigkeit zwischen <strong>den</strong> Akteuren mag zunächst überraschen, <strong>den</strong>n <strong>in</strong><br />

der zweiten Hälfte der 1960er Jahre wurde gerade die Vertragsforschung <strong>in</strong> der DDR staatlich verordnet<br />

und reglementiert. Es fehlte aber, so die Qu<strong>in</strong>tessenz des Buches, an Vertrauen als wichtiger<br />

Basis <strong>für</strong> erfolgreiche Forschungs- und Entwicklungsbeziehungen zwischen Hochschulen, <strong>Institut</strong>en<br />

und Betrieben, das auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em diktatorisch strukturierten Gesellschaftssystem nicht erzwungen<br />

wer<strong>den</strong> konnte. So war das Klima der Zusammenarbeit, das zeigt Manuel Schramm am Beispiel der<br />

Kooperation zwischen Carl Zeiss und der Universität Jena e<strong>in</strong>drucksvoll, <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1960er Jahren<br />

„von e<strong>in</strong>em tiefen Misstrauen geprägt, und vieles spricht da<strong>für</strong>, dass sich daran nichts Grundsätzliches<br />

änderte.“ (104)<br />

Allerd<strong>in</strong>gs ergibt sich aus <strong>den</strong> Untersuchungen Schramms ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>e Bestätigung der bislang<br />

als unumstößlich gelten<strong>den</strong> Behauptung, die Innovationsschwäche der DDR resultiere aus e<strong>in</strong>er<br />

sträflichen Vernachlässigung der Grundlagenforschung, wodurch sich der Rückstand gegenüber dem<br />

Westen seit <strong>den</strong> 1970er Jahre stetig vergrößert habe. In e<strong>in</strong>igen Bereichen, so lässt sich am Beispiel<br />

der Molekularbiologie zeigen, bewegte sich die naturwissenschaftliche Forschung – zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>e<br />

Zeitlang – auf e<strong>in</strong>em hohen Niveau. Schramm kann nun anhand se<strong>in</strong>er fünf Fallbeispiele fundierte<br />

Erklärungen <strong>für</strong> die Innovationsschwäche der DDR aufzeigen, die über die bislang üblichen H<strong>in</strong>weise<br />

auf die Grenzen des planwirtschaftlichen Systems weit h<strong>in</strong>ausgehen.<br />

Für die Bundesrepublik wer<strong>den</strong> Beziehungen zwischen Unternehmen (Siemens, Carl Zeiss, Bayer<br />

AG) und Universitäten bzw. Hochschulen anhand von Fallbeispielen aus <strong>den</strong>selben Branchen analysiert.<br />

Erwartungsgemäß gelangt Schramm im Vergleich zur DDR zu gegenteiligen, gleichwohl branchenspezifisch<br />

differenzierten Ergebnissen. Wird im Masch<strong>in</strong>enbau über <strong>den</strong> gesamten Zeitraum<br />

von 1949 bis Anfang der 1990er Jahre e<strong>in</strong>e bemerkenswert enge Zusammenarbeit zwischen mittelgroßen<br />

Unternehmen und e<strong>in</strong>zelnen <strong>Institut</strong>en der Technischen Hochschulen und Universitäten diagnostiziert,<br />

präsentiert er <strong>für</strong> die Biotechnologie e<strong>in</strong> weniger erfolgreiches Untersuchungsergebnis. Hier<br />

griffen Unternehmen wie Bayer <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1980er Jahren auf eigene Forschungskapazitäten<br />

oder auf Innovationsleistungen aus dem Ausland zurück.<br />

Schramm trübt das ansonsten als makellose Erfolgsgeschichte dargestellte Bild über das westdeutsche<br />

Innovationssystem merklich e<strong>in</strong>. Während <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1950er und 1960er Jahren die Kooperation<br />

DDR und ihre Vorgeschichte


326 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

zwischen wissenschaftlichen E<strong>in</strong>richtungen und Unternehmen relativ stabil funktioniert habe, seien<br />

derartige Netzwerke <strong>in</strong> <strong>den</strong> Jahrzehnten danach zunehmend fragiler gewor<strong>den</strong>. Auch die gängige<br />

These von der wachsen<strong>den</strong> Verb<strong>in</strong>dung zwischen Hochschule und Wirtschaft <strong>in</strong> <strong>den</strong> bei<strong>den</strong> letzten<br />

Jahrzehnten wird durch quantitative Untersuchungen Schramms widerlegt: Seit <strong>den</strong> 1960er Jahren<br />

hat es e<strong>in</strong>en signifikanten Rückgang der Verb<strong>in</strong>dungen zwischen Hochschulen und Industrie <strong>in</strong> der<br />

Bundesrepublik gegeben. Gleichwohl, so resümiert er, habe das westdeutsche Innovationssystem<br />

über die Jahrzehnte h<strong>in</strong>weg se<strong>in</strong>e Anpassungsfähigkeit demonstriert.<br />

Alles <strong>in</strong> allem belegt der deutsch-deutsche Vergleich, dass der Durchbruch zu wirtschaftlichen Innovationen<br />

nicht vordergründig von diesem oder jenem Regierungsprogramm abh<strong>in</strong>g, sondern dass<br />

bestimmte kulturelle und gesellschaftliche Bed<strong>in</strong>gungen zu Innovationsschwäche, aber auch -stärke<br />

führten. Am Beispiel der staatlich geregelten Vertragsbeziehungen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft<br />

<strong>in</strong> ausgewählten Branchen kann Schramm zeigen, auf welche Weise das Fehlen von zivil-<br />

gesellschaftlichen Strukturen <strong>in</strong> der DDR zum Scheitern der staatlichen Forschungs- und Innovationspolitik<br />

geführt hat. In Anbetracht der vordergründigen Fixierung auf die Kategorie Vertrauen wäre<br />

es allerd<strong>in</strong>gs doch ratsam gewesen, e<strong>in</strong>e weitere Differenzierung nach Branchen und Technologiefeldern<br />

vorzunehmen, um Schramms pauschale Kennzeichnung der DDR als „Vertrauensmangelwirtschaft“<br />

stichhaltiger begrün<strong>den</strong> zu können. Insgesamt handelt es sich jedoch um e<strong>in</strong>e anregende<br />

Studie, die mit e<strong>in</strong>em tragfähigen und orig<strong>in</strong>ellen Untersuchungsansatz e<strong>in</strong>en differenzierten E<strong>in</strong>blick<br />

<strong>in</strong> das Netzwerk von Wissenschaft und Wirtschaft <strong>in</strong> der deutschen Nachkriegsgeschichte ermöglicht.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

DDR und ihre Vorgeschichte


Hermann Schreyer: Das staatliche Archivwesen der DDR. E<strong>in</strong> Überblick (= Schriften des<br />

Bundesarchivs; Bd. 70), Düsseldorf: Droste 2008, XII + 308 S., ISBN 978-3-7700-1626-6,<br />

EUR 42,00<br />

Rezensiert von Klaus A. Lankheit<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 11<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/11/15708.html<br />

Historiker wissen e<strong>in</strong> wohlgeordnetes staatliches Archivwesen<br />

zu schätzen, <strong>den</strong>n immer noch s<strong>in</strong>d staatliche Schriftquellen,<br />

wie sie <strong>in</strong> <strong>den</strong> Archiven aufbewahrt wer<strong>den</strong>, Grundlage e<strong>in</strong>er<br />

seriösen Geschichtsschreibung. Der Zugang zu <strong>den</strong> Quellen<br />

hängt jedoch vielfach von rechtlichen und politischen Faktoren<br />

ab. Wie stark e<strong>in</strong> Staat se<strong>in</strong> Archivwesen zu politischen Zwecken<br />

<strong>in</strong>strumentalisieren kann, zeigt Hermann Schreyer <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

„Überblick“ über „das staatliche Archivwesen der DDR“.<br />

Schreyer sieht vier Entwicklungsphasen des DDR-Archivwesens.<br />

Die erste „bürgerliche“ Phase dauerte von 1945 bis<br />

1957. Personell griff man zunächst auch auf politisch Belastete<br />

zurück, um die durch <strong>den</strong> Krieg verursachten Probleme zu<br />

lösen. Die Sicherung, Bergung und Rückführung von Akten<br />

aus <strong>den</strong> Auslagerungsstandorten sowie deren Ordnung und<br />

Erschließung wur<strong>den</strong> <strong>in</strong> Angriff genommen, wobei es auch<br />

gelang, Verzeichnungsrückstände aus der Zeit vor 1945 aufzuarbeiten.<br />

Zügig entstand e<strong>in</strong> rechtlicher und organisatorischer Rahmen<br />

mit der Schaffung der Zentralverwaltung der staatlichen Archive und der Verordnung über das<br />

Archivwesen von 1950. Durch die neue Eigentumsstruktur der Wirtschaft lag nun auch die E<strong>in</strong>richtung<br />

von Betriebsarchiven <strong>in</strong> staatlicher Verantwortung. Es gelang ferner, das durch die Auflösung<br />

der Länder 1952 massenhaft anfallende Archivgut zu bearbeiten. In Berl<strong>in</strong> und Potsdam wur<strong>den</strong> die<br />

Grundlagen zur Ausbildung von Archivaren <strong>für</strong> <strong>den</strong> höheren und gehobenen Dienst geschaffen. Seit<br />

1951 wur<strong>den</strong> Spezial<strong>in</strong>ventare zur Geschichte der Arbeiterbewegung erstellt.<br />

Bei der Bewältigung von Platz- und Personalproblemen bestand zunächst oft mehr Wohlwollen<br />

bei <strong>den</strong> sowjetischen Besatzungsbehör<strong>den</strong> als bei deutschen Stellen. So reagierte Otto Grotewohl auf<br />

e<strong>in</strong>en Bericht über die schlechte Personalausstattung der Archive mit der Frage, ob dort überhaupt so<br />

viele Mitarbeiter nötig seien oder ob man e<strong>in</strong>en Teil nicht besser <strong>in</strong> die Produktion überführen solle<br />

(44).<br />

Die DDR-Führung wurde sich aber immer mehr bewusst, dass die Archive auch Herrschaftswissen<br />

bargen. Ab 1958 begann die zweite Phase, <strong>in</strong> der versucht wurde, e<strong>in</strong> „sozialistisches“ Archivwesen<br />

aufzubauen. Aus <strong>den</strong> verschie<strong>den</strong>sten Grün<strong>den</strong> verließen viele der noch gesamtdeutsch <strong>den</strong>ken<strong>den</strong><br />

„bürgerlichen“ Archivare die DDR. Die verbliebenen wur<strong>den</strong> entlassen oder aus Leitungs-


328 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

funktionen herausgedrängt, um <strong>den</strong> E<strong>in</strong>fluss der SED zu stärken, wobei ausdrücklich die politische<br />

Qualifikation wichtiger als die fachliche war.<br />

Die ideologische Grundlage <strong>für</strong> die Umgestaltung bildete das Archivdekret von Len<strong>in</strong> aus dem<br />

Jahre 1918. Obwohl es lediglich praktischen Erwägungen entsprang, erlangte es bei <strong>den</strong> Funktionären<br />

und Politikern der DDR <strong>den</strong> Rang e<strong>in</strong>es Grundgesetzes. Das gesamte Archivgut der Nation, der<br />

„Staatliche Archivfonds der DDR“, sollte zusammengefasst wer<strong>den</strong> und e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>heitlichen Leitung<br />

unterstehen. Ausgenommen hiervon sollten eigentlich nur die Akten der Parteien und Massenorganisationen<br />

und privates Archivgut se<strong>in</strong>. Obwohl dies immer wieder als größter Vorteil des sozialistischen<br />

Archivwesens genannt wurde, kam es tatsächlich zu e<strong>in</strong>er Zersplitterung der Bestände. Viele<br />

M<strong>in</strong>isterien und Behör<strong>den</strong> bildeten mit höchster Genehmigung eigene Endarchive, über deren Bestände<br />

die Zentrale Verwaltung staatlicher Archive nicht oder nur unzureichend <strong>in</strong>formiert war.<br />

Nach 1961 wur<strong>den</strong> die Kontakte der Archivare mit dem westlichen Ausland beschränkt und<br />

streng kontrolliert. Der Zugang zu Archivalien wurde restriktiv gehandhabt. Das Sekretariat des Zentralkomitees<br />

der SED beschloss die Errichtung e<strong>in</strong>es Zentrums zur Erfassung der „Dokumente über<br />

Nazi- und Kriegsverbrecher <strong>in</strong> Westdeutschland“ (104), dessen vorrangige Aufgabe es war, dem M<strong>in</strong>isterium<br />

<strong>für</strong> Staatssicherheit politisch nutzbares Material gegen Politiker und Entscheidungsträger <strong>in</strong><br />

der Bundesrepublik an die Hand zu geben. Formal der Staatsarchivverwaltung unterstellt, hatte faktisch<br />

nur die Staatssicherheit hier die Kontrolle.<br />

Die erzwungene Öffnung der DDR nach Westen im Rahmen der Entspannungspolitik leitete die<br />

dritte Phase der Entwicklung e<strong>in</strong>, die 1969/70 e<strong>in</strong>setzte und mit <strong>den</strong> <strong>in</strong> der Sowjetunion beg<strong>in</strong>nen<strong>den</strong><br />

Veränderungen 1983 endete. Die neue Außenpolitik wurde von der Staatsführung im Innern als Bedrohung<br />

der bestehen<strong>den</strong> Verhältnisse angesehen. Die Geheimhaltung wurde immer mehr zum<br />

Selbstzweck.<br />

Die Vere<strong>in</strong>nahmung des staatlichen Archivwesens <strong>für</strong> fachfremde Zwecke gipfelte <strong>in</strong> der Ernennung<br />

e<strong>in</strong>es „Offiziers im besonderen E<strong>in</strong>satz“ des M<strong>in</strong>isteriums <strong>für</strong> Staatssicherheit zum Leiter der<br />

staatlichen Archivverwaltung. Kontrollen, der Zwang zu Rückfragen und Bürokratisierung lähmten<br />

zunehmend die Aufgabenerfüllung. Historische Quellen mussten nun daraufh<strong>in</strong> überprüft wer<strong>den</strong>, ob<br />

sie von westlichen Historikern „zur ideologischen Diversion“ (214) genutzt wer<strong>den</strong> konnten und so<br />

e<strong>in</strong>e Bedrohung der Sicherheit des Staates darstellten.<br />

Als logische Folge dieser Sichtweise wur<strong>den</strong> seit Anfang der siebziger Jahre die Bereiche Erschließung<br />

und Auswertung <strong>in</strong> <strong>den</strong> Archiven personell getrennt. Die Benutzerbetreuung sollte nur<br />

noch „politisch zuverlässigen“ (210) Mitarbeitern vorbehalten se<strong>in</strong>. Da Archivgut als sicherheitsrelevant<br />

galt, blieben auch die Archivmitarbeiter von Überwachungsmaßnahmen ihres dienstlichen<br />

und privaten Umfeldes nicht verschont.<br />

Ab 1983, <strong>in</strong> der letzten Phase des DDR-Archivwesens, ließen sich die Auswirkungen von Platzmangel,<br />

Mängel bei der Bestandserhaltung und Personalknappheit nicht länger verdrängen. Zwar<br />

wur<strong>den</strong> neue Bauten <strong>in</strong> Aussicht gestellt, die letzten Jahre der DDR bedeuteten jedoch Stagnation.<br />

Das Kulturabkommen mit der Bundesrepublik führte 1986 zu e<strong>in</strong>em erfolgreichen Austausch von<br />

Archivalien, die seit der Teilung im jeweils anderen Staat Deutschlands lagen. Aus der Bundesrepublik<br />

kamen Bestände, die ursprünglich aus Schwer<strong>in</strong>, Oranienbaum, Dres<strong>den</strong>, Greifswald und Lübben<br />

stammten, die DDR gab Bestände aus Lübeck, Hamburg, Bremen, Kiel und Ma<strong>in</strong>z zurück.<br />

1990 schließlich konnten die Archivare mutwillige Aktenvernichtungen zwar nur selten verh<strong>in</strong>dern,<br />

sie sicherten aber fachgerecht und zügig das noch Erhaltene. Zahlreiche Archivare fan<strong>den</strong> auch im<br />

wiedervere<strong>in</strong>igten Deutschland Verwendung.<br />

Trotz der ungünstigen Bed<strong>in</strong>gungen gelang es der Archivwissenschaft der DDR unter Berücksichtigung<br />

der <strong>in</strong> allen Lebensbereichen üblichen sozialistischen Rituale, darunter die Bezugnahme auf<br />

die Beschlüsse des jeweils jüngsten Parteitages der SED, erfolgreich und zielorientiert Grundprobleme<br />

DDR und ihre Vorgeschichte


329 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

der Bewertung und Erschließung zu diskutieren und <strong>den</strong> jeweiligen Erfordernissen <strong>in</strong> der Praxis gerecht<br />

zu wer<strong>den</strong>. E<strong>in</strong>e umfangreiche, auch <strong>in</strong> der Bundesrepublik Deutschland rezipierte Fachliteratur<br />

entstand. Höhepunkt war das Hochschullehrbuch „Theorie und Praxis des Archivwesens der DDR“,<br />

das 1981 fertiggestellt und 1984, nach Zuteilung e<strong>in</strong>es entsprechen<strong>den</strong> Papierkont<strong>in</strong>gents, gedruckt<br />

wurde.<br />

Schreyer gel<strong>in</strong>gt es, die Entwicklung des DDR-Archivwesens, <strong>in</strong> dem er selbst tätig war, lebendig<br />

und detailreich zu schildern. Er stützt sich dabei auf umfangreiches Quellenmaterial und e<strong>in</strong>schlägige<br />

Studien. Der gelegentlich aufsche<strong>in</strong>ende Sarkasmus <strong>in</strong> Bezug auf die systembed<strong>in</strong>gten Absurditäten<br />

steigert die Authentizität der Darstellung, <strong>den</strong>n es geht hier um e<strong>in</strong> Stück <strong>Zeitgeschichte</strong>, und die ist,<br />

nach der klassischen Def<strong>in</strong>ition von Hans Rothfels „die Epoche der Mitleben<strong>den</strong>“. Daher spricht<br />

nichts dagegen, eigene Erfahrungen e<strong>in</strong>zubr<strong>in</strong>gen, sofern sie immer als solche gekennzeichnet s<strong>in</strong>d.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

DDR und ihre Vorgeschichte


Annette Schuhmann (Hrsg.): Vernetzte Improvisationen. Gesellschaftliche Subsysteme <strong>in</strong><br />

Ostmitteleuropa und <strong>in</strong> der DDR (= Zeithistorische Studien; Bd. 42), Köln/Weimar/Wien:<br />

Böhlau 2008, 251 S., ISBN 978-3-412-20027-5, EUR 34,90<br />

Rezensiert von Georg Wagner-Kyora<br />

Technische Universität, Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 9<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/09/15135.html<br />

Netzwerke unterhalb und <strong>in</strong>nerhalb der politischen Hierarchien<br />

im europäischen Staatssozialismus zu untersuchen, war e<strong>in</strong>e<br />

überfällige Forschungsfrage, der sich die Autor<strong>in</strong>nen und<br />

Autoren des von der Potsdamer Nachwuchswissenschaftler<strong>in</strong><br />

Annette Schuhmann herausgegebenen Sammelbandes <strong>in</strong> gewohnter<br />

Sorgfalt angenommen haben. Solche „Substrukturen“<br />

politischer Herrschaftsteilung (Schuhmann) bewirkten Kooperation<br />

dort, wo die Staatsmacht e<strong>in</strong>mal Pause machte. Das<br />

war vor allem <strong>in</strong> diversen Branchen der Staatsplanökonomie<br />

erforderlich, fand allerd<strong>in</strong>gs vor allem auf der lokalen Ebene<br />

statt und reichte, als <strong>in</strong>terne Machtabsicherung, auch <strong>in</strong> höchste<br />

Elitenzirkel h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, sodass e<strong>in</strong>e multiperspektivische Herangehensweise<br />

angebracht ist.<br />

Diese wird <strong>in</strong> sechs empirischen und vier eher konzeptionellen<br />

Aufsätzen aufgefächert, wobei der größte Ertrag e<strong>in</strong>deutig<br />

aus <strong>den</strong> Fallstudien resultiert. E<strong>in</strong>e neue Methodik, wie<br />

etwas irreführend angekündigt, ist mit dieser Herangehensweise<br />

allerd<strong>in</strong>gs nicht verknüpft, handelt es sich doch um traditionelle<br />

Politikfeldanalysen aus dem Archivbestand oder der Literatur über politische Herrschaftsträger<br />

der formalen Hierarchien des Staatssozialismus. Fragen nach dem <strong>in</strong>tentionalen Deutungshorizont<br />

von Eliten wer<strong>den</strong> ausgeklammert. Sie haben diese auf das materiell Fassliche personaler<br />

Verb<strong>in</strong>dungsl<strong>in</strong>ien zwischen Herrschaftsträgern konzentrierte Version e<strong>in</strong>er politischen Kultur-<br />

geschichte noch nicht erreicht. Damit führt Schuhmann e<strong>in</strong>en konventionellen Ansatz <strong>in</strong> der neueren<br />

Totalitarismusforschung weiter, der, obzwar anschlussfähig an die neuere Gesellschaftsgeschichte<br />

westlicher Machthierarchien, die bereits mit dem Begriff des Habitus und der politischen Mentalität<br />

arbeitet, weitgehend im Duktus staatszentrierter Herrschaftsgeschichte verharrt. Das hat se<strong>in</strong>en Platz<br />

<strong>in</strong> der deutschen Geschichtswissenschaft und das ist auch gut so.<br />

So zeigt Peter Heumos die unüberblickbare Vielfalt von Lohnregelungen <strong>in</strong> der verstaatlichten<br />

Industriewirtschaft der Tschechoslowakei als e<strong>in</strong> Produkt dezentraler Netzwerkbeziehungen zwischen<br />

<strong>den</strong> Lohnbüros der Betriebe und <strong>den</strong> Gewerkschaften auf. Diese genehmigten sich <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

1950er Jahren gegenseitig Zulagen, ohne die Prager Zentrale e<strong>in</strong>zubeziehen. Dierk Hoffmanns Beitrag<br />

zum politischen Entscheidungsprozess über das Sozialversicherungssystem der DDR belegt die<br />

„Marg<strong>in</strong>alisierung der Länder“ durch e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Elitenzirkel bis 1949. Andreas Oberender be-


331 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

schreibt das persönliche Netzwerk Breschnews als e<strong>in</strong>en regionalen und generationsspezifischen<br />

Prov<strong>in</strong>zialismus radikaler Sorte, der noch ganz <strong>in</strong> <strong>den</strong> Traditionen e<strong>in</strong>es russischen Patronageverhaltens<br />

wurzelte. He<strong>in</strong>z Mestrup summiert die Doppelung von Herrschaftsnetzen <strong>in</strong> <strong>den</strong> Verwaltungsbeziehungen<br />

auf regionaler Ebene der DDR. Und Malgorzata Mazurek sowie Arpad von Klimo zeigen<br />

konflikthaltige Machtkonstellationen <strong>in</strong> Polen und Ungarn auf, welche Netzwerke <strong>in</strong> <strong>den</strong> Ruch<br />

der Dissi<strong>den</strong>z brachten.<br />

Es ist dieser <strong>in</strong>nereuropäische Vergleich auf der Grundlage systematischer Fragestellungen, welcher<br />

die Sammelbände aus Potsdam gelegentlich so wertvoll macht. Wenngleich der Ausschnitt eng<br />

gewählt ist, wird doch immer e<strong>in</strong> Stück weit europäische Unionsgeschichte im Stadium ihrer Vorvorläufer<br />

sichtbar. Gerade der besonders ertragreiche Aufsatz Mazureks erreicht diese Qualität und<br />

kann als Musterbeispiel e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>ternational <strong>in</strong>formierten und empirisch breit aufgestellten Querschnittsanalyse<br />

dienen. Das „idiom of cliqueshness“ wurde <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1980er Jahren <strong>in</strong> Polen zu e<strong>in</strong>em<br />

zentralen Fe<strong>in</strong>dbild aufgebaut, um dezentrale Herrschaft <strong>in</strong> <strong>den</strong> Kommunen oder woanders, <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

Staatsbetrieben, zu <strong>den</strong>unzieren und fallweise auch juristisch zu verfolgen. Sie war allerd<strong>in</strong>gs weniger<br />

stark verbreitet, als es <strong>in</strong>tern <strong>den</strong> Ansche<strong>in</strong> hatte, <strong>den</strong>n nur 20 Prozent aller Entscheidungen wur<strong>den</strong><br />

ohne E<strong>in</strong>fluss der Wojewodschafts- oder der zentralen Ebene gefällt. Mazurek verarbeitet e<strong>in</strong>e breite,<br />

theoretisch <strong>in</strong>formierte, aus dem angelsächsischen Sprachraum stammende Literatur, und sie versteht<br />

es außeror<strong>den</strong>tlich klug, diese mit der vorhan<strong>den</strong>en empirischen Forschung aus Polen über lokale<br />

Netzwerkbeziehungen zu verknüpfen. So kann sie zeigen, dass es dort e<strong>in</strong> ausgeprägtes symbiotisches<br />

Unterstützerverhalten gegenüber <strong>den</strong> immer Not lei<strong>den</strong><strong>den</strong> staatlichen Betrieben gegeben hat.<br />

Der lokale Partikularismus konnte sich auch immer dann hervortun, wenn er breiten Konsens über<br />

dr<strong>in</strong>gend erforderliche soziale Reparaturmaßnahmen herstellte. Hier wird auch der E<strong>in</strong>fluss der katholischen<br />

Kirche anzusiedeln se<strong>in</strong>, <strong>den</strong> Mazurek aus ihrer Analyse noch ausblendet.<br />

Diese systematische Potenzialanalyse von Politikfeldern auf <strong>den</strong> unterschiedlichen Hierarchieebenen<br />

des Staatssozialismus eröffnet e<strong>in</strong>e verheißungsvolle Perspektive auch auf die DDR-Geschichte. Denn<br />

noch immer ist diese zu wenig empirisch auf Basisphänomene ausgerichtet, die auf <strong>den</strong> tatsächlichen<br />

Herrschaftsbühnen zu beobachten waren. Für das Feld der lokalen Machtbeziehungen ist dem Rezensenten<br />

nur die Monografie von Philipp Spr<strong>in</strong>ger über Schwedt er<strong>in</strong>nerlich. Diese Studie ist e<strong>in</strong>e<br />

wohltuende, eigentlich: e<strong>in</strong>e bahnbrechende Ausnahme, weil dar<strong>in</strong> nämlich alles über lokale Netzwerke<br />

gesagt wor<strong>den</strong> ist. Ist Philipp Spr<strong>in</strong>ger bislang tatsächlich der E<strong>in</strong>zige gewesen, der die Kommunen<br />

<strong>in</strong> der DDR als selbstaktive Herrschaftsträger wahrgenommen hat? [1] Und warum schlagen<br />

sich solche empirischen Fallstudien <strong>in</strong> der Arbeit des Potsdamer <strong>Institut</strong>s bislang nicht nieder, ja<br />

wer<strong>den</strong> auch nicht angemessen dort wahrgenommen? Schuhmann je<strong>den</strong>falls sche<strong>in</strong>t sie nicht zu<br />

kennen, obgleich es doch dieser lokale Ansatz ist, der ihren Deutungshorizont wesentlich erweitern<br />

könnte. Und das gilt, noch erstaunlicher, auch <strong>für</strong> Peter Hübners Aufsatz über „Personale Netzwerke<br />

im lokalhistorischen Kontext“, der sich streng genommen dann auch gar nicht darauf, sondern vielmehr<br />

auf betriebliche Sozialpolitik im Rahmen der staatlichen Ökonomie und ihrer zentralen Herrschaftsträger<br />

bezieht.<br />

Selbstkritisch konzediert Christoph Boyer <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em luzi<strong>den</strong> Nachwort diesen Mangel im Überfluss<br />

an Monografien und Sammelbän<strong>den</strong> über die DDR. Der Überfluss steht schon lange <strong>in</strong> auffälligem<br />

Kontrast zu <strong>den</strong> überaus großen empirischen Lücken <strong>in</strong> der BRD-Geschichte. Gleichwohl ist<br />

diese, auch durch die neueren, sehr guten Gesamtdarstellungen viel stärker und angemessener konzeptualisiert<br />

wor<strong>den</strong> als die durch zahlreiche Vorurteilsschübe <strong>in</strong> politischer H<strong>in</strong>sicht überlastete<br />

und, manchmal hat man leider auch <strong>den</strong> E<strong>in</strong>druck, geradezu überforderte <strong>in</strong>stitutionalisierte DDR-<br />

Geschichte. Boyer je<strong>den</strong>falls empfiehlt <strong>für</strong> künftige Forschungen auf diesem Gebiet e<strong>in</strong>e doppelte<br />

Clusteranalyse. Man solle e<strong>in</strong>erseits die Verb<strong>in</strong>dungen <strong>in</strong>nerhalb von Netzwerkstrukturen empirisch<br />

offenlegen und diese andererseits temporal und <strong>in</strong> ihrer <strong>in</strong>stitutionellen Kont<strong>in</strong>uität historisieren. Erst<br />

DDR und ihre Vorgeschichte


332 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

dann entstehe e<strong>in</strong> kont<strong>in</strong>genter Zusammenhang von Netzwerkgeschichte, nämlich dasjenige, was<br />

Boyer als <strong>den</strong> „spezifischen Evolutionspfad“ lokaler Netzwerke i<strong>den</strong>tifizieren möchte. Dem ist nichts<br />

h<strong>in</strong>zuzufügen.<br />

Anmerkung:<br />

[1] Philipp Spr<strong>in</strong>ger: Verbaute Träume. Herrschaft, Stadtentwicklung und Lebensrealität <strong>in</strong> der sozialistischen<br />

Industriestadt Schwedt, Berl<strong>in</strong> 2006.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

DDR und ihre Vorgeschichte


Jan Philipp Spannuth: Rückerstattung Ost. Der Umgang der DDR mit dem<br />

„arisierten“ Eigentum der Ju<strong>den</strong> und die Rückerstattung im wiedervere<strong>in</strong>igten<br />

Deutschland, Essen: Klartext 2007, 255 S., ISBN 978-3-89861-656-0, EUR 27,90<br />

Rezensiert von Claudia Moisel<br />

Historisches Sem<strong>in</strong>ar, Ludwig-Maximilians-Universität, München<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/05/13680.html<br />

Die Frage nach der Rückerstattung „arisierter“ Vermögenswerte<br />

<strong>in</strong> der SBZ/DDR ist mit der Wiedervere<strong>in</strong>igung 1989/90<br />

erneut aktuell gewor<strong>den</strong>: Wie waren die sowjetischen Besatzungsbehör<strong>den</strong><br />

und später die Regierung der DDR mit dem<br />

von <strong>den</strong> Nationalsozialisten entzogenen Vermögen umgegangen?<br />

Waren die vormaligen jüdischen Besitzer erneut <strong>in</strong> ihre<br />

Rechte e<strong>in</strong>gesetzt wor<strong>den</strong>? Und wie hat die Bundesregierung<br />

auf die Reaktualisierung dieser Ansprüche nach 1989/90 reagiert?<br />

In se<strong>in</strong>er sorgfältig recherchierten Freiburger Dissertation<br />

ist Jan Philipp Spannuth diesen Fragen nachgegangen. Während<br />

die zeithistorische Forschung die westdeutsche Wiedergutmachung<br />

vielfältig thematisiert hat [1], verweist Spannuth<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er lesenswerten Überblicksdarstellung e<strong>in</strong>leitend auf<br />

<strong>den</strong> defizitären Forschungsstand zur „Rückerstattung Ost“. Die<br />

Annahme, dass vieles anders, genauer: schlechter gewesen sei<br />

als <strong>in</strong> <strong>den</strong> westlichen Besatzungszonen, stand ganz offensichtlich<br />

am Beg<strong>in</strong>n se<strong>in</strong>er Forschungen. Im Ergebnis haben die Recherchen <strong>in</strong> Bundes- und Landes-<br />

archiven, im Besonderen die Bestände der „Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen<br />

der DDR“ diesen Befund bestätigt: „Auch <strong>in</strong> der sowjetischen Besatzungszone fand e<strong>in</strong>e teilweise<br />

öffentlich geführte Diskussion um die Frage der Rückerstattung statt. [...] Zu e<strong>in</strong>er umfassen<strong>den</strong><br />

Rückerstattung ‚arisiertenʻ Eigentums an die jüdischen Vorbesitzer kam es <strong>in</strong> der SBZ und später der<br />

DDR jedoch nie“, stellt der Autor bereits auf der ersten Seite klar (7). Die geraubten Vermögenswerte<br />

seien im Besitz des Staates, vielfach sogar im Besitz privater Profiteure geblieben.<br />

Wie e<strong>in</strong> Staat, der sich explizit als Gegenentwurf zum nationalsozialistischen Unrechtsregime verstan<strong>den</strong><br />

wissen wollte, diese Entscheidung politisch und moralisch gerechtfertigt hat, ist folglich die<br />

zentrale Frage dieser Studie zur „Rückerstattung Ost“ <strong>in</strong> <strong>den</strong> Jahren 1945 bis 2000. Obwohl die sowjetischen<br />

Reparationsforderungen von Anfang an <strong>in</strong> Konkurrenz stan<strong>den</strong> zu <strong>den</strong> Restitutionsansprüchen<br />

der NS-Verfolgten, kann Spannuth schlüssig nachweisen, dass die Verantwortung <strong>für</strong> die restriktive<br />

Rückerstattungspraxis nicht die Besatzungsmacht alle<strong>in</strong>e trug. Dass diese <strong>in</strong> der unmittelbaren<br />

Nachkriegszeit <strong>in</strong> ihrem Machtbereich <strong>in</strong> Bezug auf die Rückerstattung kaum rechtliche Vorgaben<br />

erlassen hatte, gehört zu <strong>den</strong> überraschen<strong>den</strong> Ergebnissen dieser Studie. Die Position der Sowjetunion


334 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

muss nach Spannuths Studie zum<strong>in</strong>dest <strong>für</strong> die ersten Jahre nach dem Krieg als unentschie<strong>den</strong> bezeichnet<br />

wer<strong>den</strong>.<br />

Es sei vielmehr die Führung der Sozialistischen E<strong>in</strong>heitspartei Deutschlands (SED) gewesen, welche<br />

sich von Anfang an strikt allen Forderungen nach Restitution verweigert habe. Auf der Grundlage<br />

behördlicher Schriftwechsel und anhand konkreter Fallbeispiele führt Spannuth <strong>den</strong> Nachweis, dass<br />

Forderungen jüdischer Emigranten nach Rückgabe ihrer Häuser und Betriebe mit Verweis auf das<br />

Fehlen völkerrechtlicher Abkommen durchweg abschlägig und mithilfe festgelegter Textbauste<strong>in</strong>e<br />

beantwortet wur<strong>den</strong>. Lediglich <strong>den</strong> Forderungen von <strong>in</strong> der DDR leben<strong>den</strong> jüdischen Eigentümern,<br />

welche auf <strong>den</strong> Grundbuchämtern persönlich vorgesprochen hatten, sei vor 1950 vere<strong>in</strong>zelt stattgegeben<br />

wor<strong>den</strong>. In der Folge habe das Justizm<strong>in</strong>isterium mit e<strong>in</strong>er Rundverfügung klargestellt, dass die<br />

Regierung der DDR auch jene Vermögenswerte zu behalten ge<strong>den</strong>ke, die sich der NS-Staat <strong>in</strong> unrechtmäßiger<br />

Weise angeeignet hatte (96).<br />

Für Reichsvermögen aus jüdischer Hand erg<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> <strong>den</strong> folgen<strong>den</strong> Jahren ke<strong>in</strong>e Regelungen, die<br />

fehlen<strong>den</strong> Rückerstattungsgesetze mussten vielfach als Begründung <strong>für</strong> die Beibehaltung des Status<br />

quo herhalten. Die Kosten <strong>für</strong> <strong>den</strong> Aufbau des Sozialismus <strong>in</strong> der DDR, die umfassen<strong>den</strong> Reparationsleistungen<br />

an die Sowjetunion und e<strong>in</strong>e aktive Fürsorgepolitik <strong>für</strong> NS-Opfer mochten nach Auffassung<br />

der DDR-Führung, die an e<strong>in</strong>er Wiederherstellung privater Eigentumsverhältnisse nicht <strong>in</strong>teressiert<br />

se<strong>in</strong> konnte, diese Entscheidung rechtfertigen. Dass die Handlungsmaximen der damaligen DDR-<br />

Führung e<strong>in</strong>en berechtigten Eigens<strong>in</strong>n gehabt haben mögen, bestreitet Spannuth. Er kommt zu dem<br />

Ergebnis, dass die unterlassene Rückerstattung am Willen der von <strong>den</strong> NS-Enteignungen Betroffenen<br />

vollständig vorbeigegangen sei: „Diese wollten ke<strong>in</strong>e soziale Fürsorge, sondern sie wollten ihr Eigentum<br />

zurück.“ (236)<br />

Schwerer noch wiegt der Vorwurf des Antisemitismus, der Spannuth <strong>in</strong> <strong>den</strong> untersuchten Bestän<strong>den</strong><br />

entgegengetreten ist: „Die untersuchten Quellen machen deutlich, dass die SED deshalb nicht<br />

bereit war, <strong>den</strong> jüdischen Opfern des Nationalsozialismus ihr Eigentum zurückzuerstatten, weil sie <strong>in</strong><br />

ihnen primär die bürgerlichen Klassengegner, die Vertreter des Kapitalismus sah.“ (237) Spannuth<br />

kann aber auch aufzeigen, dass dieser Kurs nicht unwidersprochen blieb. Hier folgt er <strong>den</strong> Studien<br />

von Angelika Timm und Mario Kessler und verweist erneut auf das prom<strong>in</strong>ente Beispiel Paul Merkers,<br />

Mitglied des Politbüros und prom<strong>in</strong>enter Be<strong>für</strong>worter e<strong>in</strong>er Rückerstattungspolitik. Der Fall<br />

Merker habe gezeigt, wie gefährlich es bereits ab 1948 war, sich <strong>in</strong> der DDR offen <strong>für</strong> jüdische Belange<br />

e<strong>in</strong>zusetzen: Nach der Enthebung aus allen Ämtern im Jahr 1950 wurde Merker im Dezember<br />

1952 festgenommen und erst vier Jahre später aus dem Gefängnis entlassen.<br />

Nach der Wiedervere<strong>in</strong>igung ist die westdeutsche Restitutionsgesetzgebung auf die neuen Bundesländer<br />

übertragen wor<strong>den</strong>. Während Constant<strong>in</strong> Goschler die erfahrungsgeschichtliche Dimension<br />

des Problems bereits vor e<strong>in</strong>igen Jahren <strong>in</strong> <strong>den</strong> Blick genommen und aufgezeigt hat, dass die ostdeutsche<br />

Bevölkerung vielfach mit Unverständnis auf die Wiederbelebung früherer jüdischer Eigentumstitel<br />

reagiert hat [2], analysiert Spannuth die politischen Verhandlungen um die Rückerstattung<br />

im Rahmen des E<strong>in</strong>igungsvertrags. Erstmals unternimmt er darüber h<strong>in</strong>aus <strong>den</strong> Versuch e<strong>in</strong>er Zahlenbilanz.<br />

Er selbst räumt e<strong>in</strong>, dass dieser aufgrund der schwierigen Quellenlage vorläufig bleiben<br />

muss. Schätzungsweise 135.000 Anträge hätten aus <strong>den</strong> fünf ostdeutschen Bundesländern nach 1989<br />

vorgelegen, es habe sich folglich um e<strong>in</strong>en „quantitativ erheblichen Gegenstand“ gehandelt (239).<br />

Dass dieses späte Kapitel der „Rückerstattung Ost“ nach Ansicht des Autors weitgehend ohne<br />

Konflikte verlaufen ist, begründet Spannuth <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie mit dem <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em halben Jahrhundert angesammelten<br />

Erfahrungswissen der Behör<strong>den</strong> und Gerichte: „Inhalt und Ziel sowie die Mechanismen<br />

der Wiedergutmachung waren <strong>in</strong> der Bundesrepublik bekannt und erprobt und konnten auf die<br />

östlichen Bundesländer übertragen wer<strong>den</strong>. Zum zweiten fan<strong>den</strong> die Ämter und Gerichte e<strong>in</strong> bereits<br />

bestelltes Feld von Grundsatzentscheidungen vor.“ Es gehört zu <strong>den</strong> Stärken dieser Studie, <strong>in</strong> Fall-<br />

DDR und ihre Vorgeschichte


335 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

studien <strong>den</strong> Nachweis zu führen, dass diese Entscheidungen im E<strong>in</strong>zelfall bei <strong>den</strong> Betroffenen <strong>den</strong>noch<br />

zu Irritationen führen konnten. Und es muss späteren Forschungen vorbehalten bleiben, diesen<br />

Konflikten nachzuspüren, welche die divergieren<strong>den</strong> Narrative des westlichen, des östlichen und des<br />

ganzen Deutschland noch e<strong>in</strong>mal zentral zusammenführten.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Vgl. Constant<strong>in</strong> Goschler/Jürgen Lillteicher (Hrsg.): ‚Arisierungʻ und Restitution. Die Rückerstattung<br />

jüdischen Eigentums <strong>in</strong> Deutschland und Österreich nach 1945 und 1989, Gött<strong>in</strong>gen<br />

2002.<br />

[2] Vgl. Constant<strong>in</strong> Goschler: Zwei Wege der Wiedergutmachung? Der Umgang mit NS-Verfolgten<br />

<strong>in</strong> West- und Ostdeutschland im Vergleich, <strong>in</strong>: Nach der Verfolgung. Wiedergutmachung nationalsozialistischen<br />

Unrechts <strong>in</strong> Deutschland?, hrsg. von Hans Günter Hockerts/Christiane Kuller,<br />

Gött<strong>in</strong>gen 2003, 115-137.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

DDR und ihre Vorgeschichte


Rüdiger Ste<strong>in</strong>metz/Re<strong>in</strong>hold Viehoff (Hrsg.): Deutsches Fernsehen Ost. E<strong>in</strong>e Programmgeschichte<br />

des DDR-Fernsehens, Berl<strong>in</strong>: Verlag <strong>für</strong> Berl<strong>in</strong>-Bran<strong>den</strong>burg GmbH 2008, 608 S.,<br />

mit DVD, ISBN 978-3-86650-488-2, EUR 39,95<br />

Rezensiert von Nora Helmli<br />

Historisches Sem<strong>in</strong>ar, Universität Hamburg<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 10<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/10/16236.html<br />

Die Be<strong>den</strong>ken mancher Historiker, bewegte Bilder aus Film<br />

oder Fernsehen als Quelle zu nutzen, s<strong>in</strong>d h<strong>in</strong>länglich bekannt.<br />

Doch wie sich <strong>in</strong> der Geschichtswissenschaft <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

letzten Jahren e<strong>in</strong> verstärktes Interesse daran ausmachen lässt,<br />

so reifte auch <strong>in</strong> <strong>den</strong> Medienwissenschaften die Erkenntnis,<br />

dass das Bild nicht ohne se<strong>in</strong>e Geschichte zu erklären ist. Wie<br />

fruchtbar der Blick über Diszipl<strong>in</strong>grenzen h<strong>in</strong>weg ist, zeigte<br />

das an <strong>den</strong> Universitäten Halle, Leipzig, Berl<strong>in</strong> (Humboldt-<br />

Universität) und der Hochschule <strong>für</strong> Film und Fernsehen<br />

„Konrad Wolf“ angesiedelte DFG-Forschungsprojekt zur „Programmgeschichte<br />

des DDR-Fernsehens – komparativ“. Mit<br />

der nun vorliegen<strong>den</strong> Abschlusspublikation wird zudem e<strong>in</strong>e<br />

Lücke <strong>in</strong> der Aufarbeitung der Geschichte des DDR-Fernsehens<br />

von se<strong>in</strong>en Anfängen 1952 bis zur Abwicklung 1990 geschlossen.<br />

[1] Denn während zur Deutschen Film AG (DEFA) bereits<br />

verschie<strong>den</strong>e Monografien vorliegen [2], stan<strong>den</strong> entsprechende<br />

Untersuchungen zum Deutschen Fernsehfunk (DFF) bisher aus; <strong>in</strong>sbesondere fehlte e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>bettung des<br />

Programms <strong>in</strong> <strong>den</strong> zum Teil verworrenen und sich stetig verändern<strong>den</strong> <strong>in</strong>stitutionellen Rahmen des<br />

DFF, wobei das Staatliche Komitee <strong>für</strong> Rundfunk (ab 1968: <strong>für</strong> Fernsehen) e<strong>in</strong>e besondere Rolle spielte.<br />

Von der Frage geleitet, welche „Kommunikationsstrukturen, Organisations- und Entscheidungsprozesse<br />

[und] Hierarchien“ (30) sich herausbildeten, wird das Programm des DFF chronologisch<br />

vorgestellt. Dabei stützen sich die Autoren auf über 4000 ausgestrahlte Sendungen sowie verschie<strong>den</strong>e<br />

Aktenbestände. Gerade die Berücksichtigung partei- und fernseh<strong>in</strong>terner Dokumente, die <strong>für</strong><br />

medienwissenschaftliche Arbeiten nicht vorausgesetzt wer<strong>den</strong> kann, hat die Publikation wesentlich<br />

bereichert. Der Schwerpunkt des untersuchten audiovisuellen Materials lag auf „heiteren“ Sendeformen,<br />

also populärkulturellen Genres wie Unterhaltungsshows, Sportübertragungen, Familien-, K<strong>in</strong>der-<br />

und Krim<strong>in</strong>alsendungen. Die Auswahl erklärt sich zum e<strong>in</strong>en aus e<strong>in</strong>er bewussten Annäherung<br />

an die Sicht der Fernsehzuschauer, die diese Formate favorisierten. Zum anderen nehmen die Herausgeber<br />

damit direkten Bezug auf partei<strong>in</strong>terne Diskussionen, die Unterhaltung ab 1971 „als e<strong>in</strong>e<br />

wichtige Bed<strong>in</strong>gung und Form der Reproduktion der Arbeitskraft der Bevölkerung legitimierten.“<br />

(16 und 40f.) Hier ist freilich zu ergänzen, dass die Art und Weise der Fernsehunterhaltung bereits<br />

seit <strong>den</strong> frühen 1960er Jahren immer wieder im Staatlichen Rundfunkkomitee erörtert und deren<br />

Wert <strong>für</strong> Zuschauer und Programmgestaltung schon damals hervorgehoben wurde.


337 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Der analytische Rahmen des Projekts, der <strong>in</strong> der umfangreichen E<strong>in</strong>leitung dargelegt wird, unterscheidet<br />

drei Ebenen: Auf der ersten f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong>e Periodisierung der Programmgeschichte statt, die<br />

sich an allgeme<strong>in</strong>en Entwicklungsphasen von Fernsehsystemen orientiert. Das angewandte Schema<br />

könne völlig „unabhängig von spezifischen nationalen oder kulturellen Merkmalen“ beschrieben<br />

wer<strong>den</strong>. So begann auch das Fernsehen der DDR mit e<strong>in</strong>er „Experimentier- und Frühphase“ (1952–<br />

1955) und endete <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Phase von „Stagnation, Widersprüchen und Ambivalenzen“ (1989–1991).<br />

Dabei, so das Resümee des Forscherverbunds, stellte der DFF nur <strong>in</strong>sofern e<strong>in</strong>en Sonderfall dar, als<br />

er „das Fernsehen e<strong>in</strong>es autoritären Staates war“ (540); ansonsten sei die Geschichte des Fernsehprogramms<br />

nach „systemischem Muster“ verlaufen. Ob die hier angebotenen Zäsuren 1956, 1961,<br />

1970, 1989/90 sowie die postulierte Generalisierbarkeit der Entwicklung auch mit Blick auf andere,<br />

nicht untersuchte Sendeformate des DDR-Fernsehens so e<strong>in</strong>deutig s<strong>in</strong>d, bleibt allerd<strong>in</strong>gs zu h<strong>in</strong>terfragen.<br />

Auf der zweiten Ebene wird der DFF <strong>in</strong> Beziehung zur Diktatur- und Herrschaftsgeschichte<br />

der DDR gesetzt. Damit verknüpft war das Ziel, das Fernsehen nicht nur als „Instrument und Waffe<br />

im Klassenkampf“ (536) zu betrachten, sondern auch die Grenzen der Durchherrschung auszuloten.<br />

Drittens kommt auch diese DDR-Geschichte schwerlich ohne das andere Deutschland – im S<strong>in</strong>ne der<br />

von Christoph Kleßmann postulierten „asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte“ – aus. Der von<br />

der Forschergruppe entwickelte, sehr fruchtbare Ansatz des „kontrastiven Dialogs“ beschreibt dabei<br />

treffend die Rolle der Westmedien als „Gegenmodell gesellschaftlicher Kommunikation, mit dem<br />

sich das DDR-Fernsehen <strong>in</strong> allen Zeiten se<strong>in</strong>er Existenz ause<strong>in</strong>anderzusetzen hatte.“ (27)<br />

Die Struktur der e<strong>in</strong>zelnen Kapitel orientiert sich grob an <strong>den</strong> <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>leitung aufgeworfenen<br />

Forschungsperspektiven. So detailliert die <strong>in</strong>stitutionellen Veränderungen des DFF und das von ihm<br />

produzierte Unterhaltungsprogramm ausgebreitet wer<strong>den</strong>, so sehr bleibt die angekündigte Verzahnung<br />

von Medien-, Herrschafts- und Rezeptionsgeschichte unter Berücksichtigung aller Akteure h<strong>in</strong>ter<br />

<strong>den</strong> Erwartungen zurück. Man hätte gerne gewusst, ob sich h<strong>in</strong>ter der offensichtlichen Systemkonformität<br />

der Sendungen noch etwas anderes verbarg oder wo sich Nischen <strong>für</strong> Fernsehschaffende und<br />

Rezipienten auftaten. Doch wiegen solche Mängel angesichts des gelungenen Überblicks über die<br />

Programmgeschichte des DDR-Fernsehens wohl eher leicht, zumal auch auf e<strong>in</strong>e Reihe weiterer Arbeiten<br />

verwiesen wer<strong>den</strong> kann, die im Kontext des Projektes entstehen oder bereits erschienen s<strong>in</strong>d.<br />

Visuell wird der Band durch e<strong>in</strong>e Fülle von Standbildern unterstützt. Die auf e<strong>in</strong>er DVD beigelegten<br />

Sendeausschnitte geben e<strong>in</strong>en lebendigen E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> die Produktionen des DFF über <strong>den</strong> gesamten<br />

Zeitraum se<strong>in</strong>es Bestehens. Leider existieren ke<strong>in</strong>e Querverweise zwischen Text und DVD, die <strong>in</strong>teressierten<br />

Lesern die Möglichkeit bieten wür<strong>den</strong>, die angebotenen Analysen auch audiovisuell nachzuvollziehen.<br />

Generell sei jedoch auf <strong>den</strong> erheblichen Mehrwert derartiger Beigaben verwiesen, die<br />

die Filmanalyse von endlosen, kaum nachvollziehbaren Bildbeschreibungen entlasten.<br />

Den Bearbeitern und Autoren, die leider nicht <strong>den</strong> e<strong>in</strong>zelnen Beiträgen zugeordnet, sondern nahezu<br />

kollektivistisch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Liste aufgeführt wer<strong>den</strong>, ist es gelungen, e<strong>in</strong>en großen Schritt <strong>in</strong> der<br />

deutsch-deutschen Mediengeschichte zu machen: Sie haben durch e<strong>in</strong>e quellenfundierte Historisierung<br />

des Deutschen Fernsehfunks Anknüpfungspunkte <strong>für</strong> die Geschichtswissenschaft geliefert. Nun<br />

ist diese ihrerseits am Zug, die Quelle (Fernseh-)Film stärker <strong>in</strong> ihre Betrachtungen e<strong>in</strong>zubeziehen.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Vgl. Knut Hickethier: Geschichte des deutschen Fernsehens, Stuttgart 1998.<br />

[2] Vgl. vor allem Dagmar Schittly: Zwischen Regie und Regime. Die Filmpolitik der SED im Spiegel<br />

der DEFA-Produktionen, Berl<strong>in</strong> 2002.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

DDR und ihre Vorgeschichte


Matthias Uhl: Die Teilung Deutschlands. Niederlage, Ost-West-Spaltung und Wiederaufbau<br />

1945–1949, (= Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert; Bd. 11), Berl<strong>in</strong>: be.bra verlag 2009,<br />

208 S., ISBN 978-3-89809-411-5, EUR 19,90<br />

Rezensiert von Heike Amos<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 12<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/12/16215.html<br />

Obwohl mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Mai 1945<br />

noch nicht entschie<strong>den</strong> war, dass es zur Bildung zweier deutscher<br />

Staaten – der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen<br />

Demokratischen Republik – und deren Integration <strong>in</strong><br />

gegensätzliche Machtblöcke kommen würde, deutete sich bereits<br />

früh an, dass der Kalte Krieg und die folgende Teilung<br />

Europas und Deutschlands die wahrsche<strong>in</strong>lichste Lösung des<br />

Konflikts zwischen der UdSSR und <strong>den</strong> Westmächten wer<strong>den</strong><br />

würde. Damit entwickelte sich das <strong>in</strong> der Mitte Europas gelegene<br />

Deutschland nicht, wie ursprünglich erhofft und vorgesehen,<br />

zum Stabilisierungsfaktor zwischen <strong>den</strong> bei<strong>den</strong> Großmächten,<br />

sondern zum Objekt und Opfer ihrer Ause<strong>in</strong>andersetzungen.<br />

„Dass diese Konfrontation nicht plötzlich e<strong>in</strong>trat<br />

und dass zwischen 1945 und 1949 immer wieder Chancen <strong>für</strong><br />

e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Lösung der deutschen Frage bestan<strong>den</strong>“ (9 f.),<br />

zeigt der Autor <strong>in</strong> sieben Kapiteln.<br />

Anhand der Darstellung des unmittelbaren Kriegsendes, der<br />

akuten Nachkriegsprobleme wie Hunger, Wohnungsnot, Trümmerlandschaften,<br />

Umgang mit Kriegsverbrechern, NS-Opferentschädigung<br />

sowie dem Schicksal der Vertriebenen, Kriegsgefangenen, Repatriierten und Remigranten<br />

wer<strong>den</strong> ähnliche, aber auch erste unterschiedliche Entwicklungswege <strong>in</strong> Ost- und Westdeutschland<br />

aufgezeigt. In allgeme<strong>in</strong> verständlicher Weise wird die sowjetische der westlichen Besatzungsherrschaft<br />

gegenübergestellt. Entwicklungen <strong>in</strong> der Sowjetischen Besatzungszone wer<strong>den</strong> mit <strong>den</strong>en<br />

der westlichen Bizone (bzw. Trizone) verglichen. Der beg<strong>in</strong>nende Kalte Krieg wird an <strong>den</strong> Währungsreformen<br />

1948 und der Berl<strong>in</strong>-Blockade festgemacht. Die Studie schließt mit dem Vollzug der<br />

staatlichen Teilung Deutschlands durch die Konstituierung der Bundesrepublik und der DDR. An<br />

e<strong>in</strong>zelnen Eckpunkten – wie der Parteienbildung <strong>in</strong> <strong>den</strong> vier Zonen, dem Aufbau der Zentralverwaltungen<br />

im Osten und der Bizonen-Verwaltung im Westen, der Volkskongressbewegung mit dem<br />

Deutschen Volksrat sowie der Bildung und Arbeit des Parlamentarischen Rates – macht der Band<br />

auch deutlich, „dass unter dem E<strong>in</strong>fluss der jeweiligen Besatzungsmächte die Deutschen [...] <strong>in</strong> West<br />

und Ost [...] <strong>den</strong> Weg zur deutschen Zweistaatlichkeit teils sogar bereitwillig beschritten“ (10).<br />

Sehr gut gelungen s<strong>in</strong>d die vergleichen<strong>den</strong> Abschnitte über die unterschiedlichen, <strong>in</strong>sbesondere<br />

ökonomischen Ausgangsbed<strong>in</strong>gungen, Reparationen und Demontagen und über die Vorgehensweise<br />

<strong>in</strong> der Entnazifizierung und die Reeducation-Pläne der vier alliierten Besatzungsmächte. Ausgewogen


339 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

erörtert wird die „erste Schlacht des Kalten Krieges 1948“ (165) anhand der Währungsreformen, der<br />

Berl<strong>in</strong>-Blockade und der alliierten Luftbrücke.<br />

Dass der Historiker Matthias Uhl e<strong>in</strong> Spezialist <strong>für</strong> die historische Erforschung der sowjetischen<br />

Geheim- und Nachrichtendienste im Kalten Krieg ist, wird <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Kapitelabschnitten allzu deutlich,<br />

was der populären Überblicksdarstellung nicht zuträglich ist. Das Kapitel über die sowjetische<br />

Besatzungsherrschaft bzw. SBZ ist überfrachtet mit Fakten und Zahlen über <strong>den</strong> Aufbau des sowjetischen<br />

Sicherheitsapparates <strong>in</strong> <strong>den</strong> von der Roten Armee besetzten Gebieten. Der sowjetische Geheimdienst<br />

– der NKWD/NKGB-Apparat und die Militärabwehr Smersch – hatte die Aufgabe, nicht nur<br />

Kriegs- und Naziverbrecher, verbliebene faschistische Untergrundgruppen und politische Gegner der<br />

UdSSR zu verfolgen sondern auch Informationen über politische Vorgänge im besetzten Deutschland,<br />

beispielsweise die parteipolitische Situation <strong>in</strong> der SBZ zu beschaffen und e<strong>in</strong> Spionagenetz <strong>in</strong><br />

<strong>den</strong> westlichen Besatzungszonen zu <strong>in</strong>stallieren. Für <strong>den</strong> Zeithistoriker s<strong>in</strong>d diese und die detaillierten<br />

Ausführungen über die sowjetischen Spionageagenturen und Spionageoperationen <strong>in</strong> <strong>den</strong> westlichen<br />

Besatzungszonen <strong>in</strong>teressant, aber es fehlt jeder Vergleich mit <strong>den</strong> Spionageapparaten der<br />

Amerikaner, Briten und Franzosen im Zonen-Deutschland und im sektorengeteilten Berl<strong>in</strong>, die es<br />

doch auch gegeben hat.<br />

Die vorliegende Band wendet sich an e<strong>in</strong>en breiten, an der deutschen <strong>Zeitgeschichte</strong> allgeme<strong>in</strong> <strong>in</strong>teressierten<br />

Leserkreis. Er ist <strong>in</strong> weiten Teilen populär und allgeme<strong>in</strong> verständlich geschrieben und<br />

gibt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Auswahlbibliographie Literaturempfehlungen <strong>für</strong> jene, die sich mit e<strong>in</strong>zelnen Fragen<br />

und Themen der Ost-West-Spaltung Deutschlands und des beg<strong>in</strong>nen<strong>den</strong> Wiederaufbaus <strong>in</strong> <strong>den</strong> Jahren<br />

zwischen 1945 und 1949 vertieft und <strong>in</strong>tensiver beschäftigen wollen.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

DDR und ihre Vorgeschichte


Ulrich Wiegmann: Pädagogik und Staatssicherheit. Schule und Jugend <strong>in</strong> der Erziehungsideologie<br />

des DDR-Geheimdienstes, Berl<strong>in</strong>: Metropol 2007, 375 S., ISBN 978-3-938690-56-7,<br />

EUR 24,00<br />

Rezensiert von Henrik Bisp<strong>in</strong>ck<br />

Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V., Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 9<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/09/14894.html<br />

Das M<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> Staatssicherheit, das sämtliche Bereiche<br />

der DDR-Gesellschaft zu kontrollieren suchte, machte auch<br />

vor <strong>den</strong> Schulen nicht halt. S<strong>in</strong>d zu diesem Thema bisher vor<br />

allem Fallstudien zu f<strong>in</strong><strong>den</strong>, hat der Berl<strong>in</strong>er Erziehungswissenschaftler<br />

Ulrich Wiegmann nun e<strong>in</strong>en „ersten monografischen<br />

Entwurf“ <strong>für</strong> „e<strong>in</strong>e bildungsgeschichtliche Gesamtsicht<br />

auf die Vergangenheit des Geheimdienstes“ (11) vorgelegt.<br />

Dabei beschränkt er sich nicht darauf, <strong>den</strong> Zugriff des Staatssicherheitsdienstes<br />

auf die pädagogischen <strong>Institut</strong>ionen – im<br />

S<strong>in</strong>ne von Überwachung und Kontrolle – darzustellen, sondern<br />

analysiert auch dessen pädagogische Metho<strong>den</strong> und<br />

Zielsetzungen. Dass er dabei die Zeit bis zum Mauerbau fast<br />

vollständig ausklammert, da die „geheimdienstliche Praxis<br />

streng genommen nicht eher als seit <strong>den</strong> 1960er-Jahren bildungshistoriografisch<br />

<strong>in</strong>teressant“ (15) sei, vermag <strong>in</strong>des nicht<br />

zu überzeugen, zumal Wiegmann an anderer Stelle zu Recht<br />

darauf h<strong>in</strong>weist, dass „das Interesse des MfS vor allem am<br />

Schul- und Hochschulwesen bereits <strong>für</strong> das Gründungsjahr des<br />

Staatssicherheitsdienstes nachweisbar“ (149) ist.<br />

Die Untersuchung wertet <strong>in</strong> bemerkenswerter Breite H<strong>in</strong>terlassenschaften des M<strong>in</strong>isteriums <strong>für</strong><br />

Staatssicherheit aus. Dass sich anhand dieser Quellen „nicht alle bildungsgeschichtlichen Fragen<br />

h<strong>in</strong>reichend beantworten“ lassen und <strong>in</strong>sbesondere die „Perspektive der [...] betroffenen Subjekte“<br />

(11f.) ausgeblendet bleibt, räumt Wiegmann e<strong>in</strong>. Ihm geht es vorrangig darum, erste <strong>in</strong>haltlichsystematische<br />

Schneisen zu schlagen, weshalb er <strong>in</strong> der knappen E<strong>in</strong>leitung auch auf die Formulierung<br />

e<strong>in</strong>er Fragestellung oder e<strong>in</strong>er Forschungshypothese verzichtet. Schmerzlicher vermisst wird<br />

e<strong>in</strong>e Erläuterung der Gliederung der Arbeit, die sich mit Kapitelüberschriften wie „Aufgeklärte Jugenderziehung“<br />

„Konspirative Pädagogik“ und „Materialistische MfS-Pädagogik“ nur schwer erschließt.<br />

Im zweiten Kapitel skizziert Wiegmann die Genese der „historisch-materialistischen Erziehungsideologie“<br />

<strong>in</strong> der SBZ und der DDR und setzt sie <strong>in</strong> Beziehung zur Sicherheitsdoktr<strong>in</strong> des Staatssicherheitsdienstes,<br />

der im Laufe se<strong>in</strong>er Geschichte „e<strong>in</strong>e von der etablierten Pädagogik abweichende Erziehungstheorie<br />

und -praxis“ (20) entwickelt habe. Anschließend geht es um die Berichterstattung<br />

des Staatssicherheitsdienstes und des Leipziger Zentral<strong>in</strong>stituts <strong>für</strong> Jugendforschung über die Entwicklung<br />

des Verhaltens und der Situation Jugendlicher <strong>in</strong> der DDR.


341 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Kernstück der Arbeit ist das vierte Kapitel „Konspirative Pädagogik“. Hier beschreibt Wiegmann<br />

zunächst ausführlich die Metho<strong>den</strong> der Rekrutierung, der Werbung und Verpflichtung sowie der Erziehung<br />

und Ausbildung von jugendlichen IM. Er stützt sich dabei <strong>in</strong> der Hauptsache auf Abschlussarbeiten<br />

der Juristischen Hochschule des M<strong>in</strong>isteriums <strong>für</strong> Staatssicherheit <strong>in</strong> Potsdam. Diese Arbeiten,<br />

die ihrerseits auf Erfahrungen der MfS-Mitarbeiter basierten und konkrete Handlungsmöglichkeiten<br />

aufzeigten, ermöglichen e<strong>in</strong>en tiefen E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> die Praxis des Staatssicherheitsdienstes.<br />

Deutlich wer<strong>den</strong> dabei auch die spezifischen Probleme bei der Rekrutierung jugendlicher IM: Da<br />

diese naturgemäß „nur e<strong>in</strong>e begrenzte Zeit auf dem Gebiet der Jugend e<strong>in</strong>gesetzt“ (79) wer<strong>den</strong> konnten,<br />

wurde beispielsweise empfohlen, bereits zu 14- bis 15-Jährigen Kontakt aufzunehmen. Andererseits<br />

sollten die Kandidaten e<strong>in</strong>e gewisse geistige Reife mitbr<strong>in</strong>gen. Dies war nur e<strong>in</strong>er der zahlreichen<br />

Zielkonflikte und Paradoxien im Umgang mit jugendlichen IM, die auch <strong>den</strong> Stu<strong>den</strong>ten nicht<br />

verborgen blieben. So stellte e<strong>in</strong> Absolvent <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Abschlussarbeit fest, dass die „Forderung, dem<br />

MfS gegenüber ehrlich und zuverlässig zu se<strong>in</strong>“, <strong>für</strong> jugendliche IM <strong>in</strong> der Praxis bedeutete, dass<br />

„sie gegenüber ihrem Umgangskreis unehrlich se<strong>in</strong> müssen.“ (146) In jedem Fall hatte das geheimdienstliche<br />

Interesse Vorrang vor pädagogischen Erwägungen: „Rechtliche Belange oder e<strong>in</strong>e besondere<br />

Rücksicht auf die Verletzbarkeit jugendlicher Seelen“ spielten, so Wiegmann, bei der Anwerbung<br />

jugendlicher IM „kaum e<strong>in</strong>e Rolle.“ (106)<br />

So <strong>in</strong>teressant und aufschlussreich diese E<strong>in</strong>blicke s<strong>in</strong>d, ist deren Lektüre doch e<strong>in</strong> ermü<strong>den</strong>des<br />

Unterfangen. Denn Wiegmann paraphrasiert die Arbeiten sehr ausführlich, gibt häufig ganze Kriterienkataloge<br />

wörtlich wieder und zitiert auch von <strong>den</strong> Absolventen angeführte Banalitäten, wie etwa<br />

die Empfehlung, bei der Auswahl e<strong>in</strong>es Raums <strong>für</strong> die Kontaktaufnahme mit IM-Kandidaten auf<br />

„Sauberkeit [...], Vermeidung von Lärmbelästigungen und normale Belüftung“ (105) zu achten. Hier<br />

wäre e<strong>in</strong>e deutliche Kürzung wünschenswert gewesen.<br />

Die Ergebnisse der geheimdienstlichen Überwachung der Jugend und des Schulwesens s<strong>in</strong>d Gegenstand<br />

des zweiten Abschnitts. Wiegmann präsentiert sie anhand verschie<strong>den</strong>er Themenbereiche,<br />

darunter das Verhältnis der Jugendlichen zur Kirche und zur FDJ, die Reaktionen auf <strong>den</strong> 1978 e<strong>in</strong>geführten<br />

obligatorischen Wehrunterricht und „besondere Vorkommnisse“ wie Republikfluchten<br />

oder „antisozialistische Aktionen“. Auf der Grundlage von Lageberichten und Analysen vermitteln<br />

diese Passagen e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>druck von der Entwicklung der politischen Stimmung an <strong>den</strong> Schulen und<br />

unter <strong>den</strong> Jugendlichen aus Sicht des DDR-Geheimdienstes bis zum Vorabend der friedlichen Revolution.<br />

Jugendliche IM wur<strong>den</strong> <strong>in</strong>des nicht alle<strong>in</strong> zur Informationsgew<strong>in</strong>nung, sondern auch „operativ“<br />

e<strong>in</strong>gesetzt. Das heißt, sie sollten aktiv E<strong>in</strong>fluss auf bestimmte Personen oder Gruppen nehmen. Im<br />

letzten Abschnitt zeigt Wiegmann an zahlreichen konkreten Beispielen e<strong>in</strong>drücklich die perfi<strong>den</strong><br />

Metho<strong>den</strong> der Zersetzung. Die IM säten Misstrauen, schürten Eifersucht, manipulierten Diskussionen<br />

und erreichten damit nicht selten ihr Ziel: Das Herausbrechen E<strong>in</strong>zelner aus missliebigen Freundeskreisen,<br />

häufig aber auch die Zerstörung ganzer Gruppen und Netzwerke etwa im Bereich der kirchlichen<br />

Jugendarbeit.<br />

Doch auch hier wer<strong>den</strong> die Grenzen sichtbar – etwa bei der geheimdienstlichen „Bearbeitung“ der<br />

Sk<strong>in</strong>headszene <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1980er Jahren: Zwar gelang es dem Staatssicherheitsdienst mithilfe der zahlreichen<br />

<strong>in</strong> die Szene e<strong>in</strong>geschleusten IM Zusammentreffen zu verh<strong>in</strong>dern, e<strong>in</strong>zelne Personen aus der<br />

Szene zu isolieren und e<strong>in</strong>ige Gruppen aufzulösen. Das „Anschwellen[] der Sk<strong>in</strong>headbewegung zu<br />

e<strong>in</strong>er Massenersche<strong>in</strong>ung“ (335) ließ sich dadurch aber nicht verh<strong>in</strong>dern.<br />

Auf e<strong>in</strong>e resümierende Schlussbetrachtung verzichtet Wiegmann zugunsten e<strong>in</strong>es sehr knappen<br />

Ausblicks, <strong>in</strong> dem er vor allem Desiderate benennt. Die Offenheit, mit der der Verfasser bekennt, ke<strong>in</strong><br />

„geeignetes Fazit“ (352) <strong>für</strong> se<strong>in</strong> Thema gefun<strong>den</strong> zu haben, ist sympathisch, doch wäre e<strong>in</strong>e kurze<br />

Zusammenfassung der Ergebnisse hilfreich gewesen, zumal auch Zwischenresümees zu <strong>den</strong> e<strong>in</strong>zel-<br />

DDR und ihre Vorgeschichte


342 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

nen Kapiteln durchweg fehlen. So bleibt es bei der wenig überraschen<strong>den</strong> allgeme<strong>in</strong>en Feststellung,<br />

dass es dem MfS nicht gelang, „die zur negativen bis fe<strong>in</strong>dlichen Bevölkerungsm<strong>in</strong>derheit stigmatisierten<br />

Nonkonformen, Anders<strong>den</strong>ken<strong>den</strong> und Oppositionellen <strong>in</strong> der DDR auf subtile Weise vollkommen<br />

zu beherrschen und mittels Erziehung e<strong>in</strong>- oder zurückzugliedern <strong>in</strong> die Reihen und Nischen der<br />

schweigen<strong>den</strong> bis angepassten Mehrheit.“ (353)<br />

Das ist schade, <strong>den</strong>n Wiegmann hat <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em wichtigen Bereich der Erziehungsgeschichte der<br />

DDR Grundlagenforschung betrieben und dabei viel Interessantes zutage gefördert. Dem Leser erschließen<br />

sich diese Erkenntnisse aufgrund der eigenwilligen E<strong>in</strong>leitung und des fehlen<strong>den</strong> Schlusses,<br />

der schwer durchschaubaren Gliederung und der bisweilen sperrigen Sprache leider nur mühsam.<br />

Trotzdem wird dieses Buch auf absehbare Zeit Grundlage <strong>für</strong> jede weitere Beschäftigung mit diesem<br />

Themenkomplex bleiben.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

DDR und ihre Vorgeschichte


Daniel Cohn-Bendit/Rüdiger Dammann (Hrsg.): 1968. Die Revolte, Frankfurt a.M.: S. Fischer<br />

2007, 255 S., ISBN 978-3-10-010230-0, EUR 14,90<br />

Gerd Koenen/Andreas Veiel: 1968. Bildspur e<strong>in</strong>es Jahres, Köln: Fackelträger Verlag GmbH<br />

2008, 192 S., 200 abb., ISBN 978-3-7716-4359-1, EUR 29,95<br />

Wolfgang Kraushaar: Achtundsechzig. E<strong>in</strong>e Bilanz, Berl<strong>in</strong>/München: Propyläen 2008, 333 S.,<br />

ISBN 978-3-549-07334-6, EUR 19,90<br />

Re<strong>in</strong>hard Mohr: Der diskrete Charme der Rebellion. E<strong>in</strong> Leben mit <strong>den</strong> 68ern, Berl<strong>in</strong>: Wolf<br />

Jobst Siedler jr. 2008, 238 S., ISBN 978-3-937989-31-0, EUR 19,90<br />

Albrecht von Lucke: 68 oder neues Biedermeier. Der Kampf um die Deutungsmacht, Berl<strong>in</strong>:<br />

Wagenbach 2008, 91 S., ISBN 978-3-8031-2582-8, EUR 9,90<br />

Ingrid Gilcher-Holtey: 1968. E<strong>in</strong>e Zeitreise (= edition suhrkamp; 2535), Frankfurt/M.:<br />

Suhrkamp Verlag 2008, 236 S., ISBN 978-3-518-12535-9, EUR 10,00<br />

Norbert Frei: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München: dtv 2008, 286 S., ISBN 978-<br />

3-423-24653-8, EUR 15,00<br />

Stefan Wolle: Der Traum von der Revolte. Die DDR 1968, Berl<strong>in</strong>: Christoph L<strong>in</strong>ks Verlag<br />

2008, 256 S., ISBN 978-3-86153-469-3, EUR 19,90<br />

Rezensiert von Udo Wengst<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München–Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 1<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/01/14414.html<br />

„1968“, d.h. die Revolte der Stu<strong>den</strong>ten an <strong>den</strong> Hochschulen <strong>in</strong> zahlreichen – vor allem – westlichen<br />

Staaten, gehört zu <strong>den</strong> Ereignissen, die im historischen Gedächtnis der jeweiligen Gesellschaften tiefe<br />

Spuren h<strong>in</strong>terlassen haben. Wie bei anderen ähnlichen Zäsuren – z.B. das Ende des Zweiten Weltkrieges<br />

oder der Fall der Berl<strong>in</strong>er Mauer – führt dies dazu, dass im Abstand von 20, 30, 40 usw. Jahren<br />

das jeweilige Thema von <strong>den</strong> Medien erneut <strong>in</strong> die Öffentlichkeit gebracht wird und die Verlage bemüht<br />

s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>schlägige historische Werke auf <strong>den</strong> Markt zu werfen. Insbesondere die <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

ist daher mitunter <strong>in</strong> der Gefahr, zu e<strong>in</strong>er „Jubiläumswissenschaft“ zu wer<strong>den</strong>, an der sich Historiker<br />

deshalb gern beteiligen, weil sie damit auf e<strong>in</strong>e größere Resonanz als üblich <strong>in</strong> der Öffentlichkeit<br />

stoßen und höhere Verkaufszahlen <strong>für</strong> ihre Werke erzielen. „1968“ ist darüber h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong>sofern e<strong>in</strong><br />

Sonderfall, als e<strong>in</strong>ige Akteure der damaligen Zeit herausgehobene Positionen erlangt haben oder<br />

aber selbst zu Historikern gewor<strong>den</strong> s<strong>in</strong>d, die sich ausgiebig mit der eigenen Vergangenheit <strong>in</strong> ihren<br />

„wil<strong>den</strong> Jahren“ ause<strong>in</strong>andersetzen. Bei <strong>den</strong> im Folgen<strong>den</strong> zu besprechen<strong>den</strong> Büchern handelt es<br />

sich um e<strong>in</strong>e Auswahl von Werken, die verschie<strong>den</strong>en Typen von Geschichtsschreibung zuzuordnen<br />

s<strong>in</strong>d.


344 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Da ist zunächst die Er<strong>in</strong>nerungsliteratur, <strong>für</strong> die e<strong>in</strong> Sammelband<br />

steht, <strong>den</strong> Daniel Cohn-Bendit – damals e<strong>in</strong> führender<br />

„68er“ <strong>in</strong> Paris und heute Europa-Abgeordneter der Grünen<br />

– und Rüdiger Dammann herausgegeben haben. Die Beiträge<br />

zeichnen durchweg e<strong>in</strong> positives Bild von <strong>den</strong> „68ern“<br />

und ihrer Wirkung auf Politik und Gesellschaft. Wer nach<br />

Differenzierung sucht, wird <strong>in</strong> dem Band selten fündig. Es<br />

dom<strong>in</strong>ieren E<strong>in</strong>schätzungen, die allzu platt und e<strong>in</strong>seitig und<br />

wissenschaftlich längst überholt s<strong>in</strong>d (z.B. die Reduzierung<br />

der Ära A<strong>den</strong>auer auf Wiederbewaffnung und Restauration,<br />

Gabriele Gillen, 110; oder die These, dass die Ohrfeige, die<br />

Beate Klarsfeld Bundeskanzler Kies<strong>in</strong>ger versetzte, als „Beg<strong>in</strong>n<br />

e<strong>in</strong>er offenen Ause<strong>in</strong>andersetzung mit der Verleugnung<br />

der NS-Zeit“ zu bewerten sei, Wolfgang Schmidbauer, 165).<br />

Dagegen fällt der Beitrag von Gerd Koenen weitaus differenzierter<br />

aus, wenn er z.B. feststellt, dass der „Vorwurf der Re-<br />

stauration [...] nur sehr begrenzt die gesellschaftlichen Realitäten<br />

dieses Provisoriums e<strong>in</strong>er Republik“ traf (145) und außerdem die „Dritte-Welt-Politik“ der<br />

„68er“ deutlich kritisiert.<br />

Gerd Koenen, der von 1967 bis Ende der 1980er Jahre nach eigenen Angaben „das volle Programm<br />

des l<strong>in</strong>ksradikalen Aktivismus“ absolvierte (Klappentext) und heute als Geschichtsschreiber der<br />

bundesdeutschen und <strong>in</strong>ternationalen L<strong>in</strong>ken (u.a. Das rote Jahrzehnt. Unsere kle<strong>in</strong>e deutsche Kulturrevolution<br />

1967–1977) wirkt, hat auch die E<strong>in</strong>leitung zu e<strong>in</strong>em bee<strong>in</strong>drucken<strong>den</strong> Bildband „1968. Bildspur<br />

e<strong>in</strong>es Jahres“ geschrieben, die unter dem Titel „Me<strong>in</strong> 1968“ steht. Auch hier<strong>in</strong> ist das Bemühen<br />

um e<strong>in</strong>e differenzierende Darstellung unverkennbar, aber ebenso<br />

die Parte<strong>in</strong>ahme <strong>für</strong> die „68er“.<br />

Als Zeitzeuge, weniger als Akteur bezeichnet sich Wolfgang<br />

Kraushaar, der ab September 1968 an der Universität<br />

Frankfurt am Ma<strong>in</strong> studierte, <strong>den</strong> Trägern der stu<strong>den</strong>tischen<br />

Revolte zum<strong>in</strong>dest nahe stand und heute als Historiker mit<br />

dem Forschungsschwerpunkt „Protestbewegungen <strong>in</strong> der Bundesrepublik<br />

und <strong>in</strong> der DDR“ am Hamburger <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Sozialforschung<br />

arbeitet. Er hat unter der Überschrift „Achtundsechzig“<br />

e<strong>in</strong>e umfassende Darstellung vorgelegt, die die Entstehung,<br />

die Aktionen, Personen und Kampagnen sowie die<br />

Wirkungen der Revolte e<strong>in</strong>er analytischen Betrachtung unterzieht.<br />

Bei allem immer wieder zum Ausdruck gebrachten<br />

Verständnis und Wohlwollen <strong>für</strong> die „68er“ schlägt Kraushaar<br />

aber auch kritische Töne an. So verweist er z.B. darauf, dass<br />

„aktivistische Teile der 68er“ von der „Kulturrevolution“ <strong>in</strong><br />

Ch<strong>in</strong>a begeistert gewesen seien, die Kraushaar als „totalitäre<br />

und blutrünstige Kampagne“ bezeichnet (116f.). Ebenso stellt<br />

er nachdrücklich fest, dass die Ant<strong>in</strong>otstandskampagne der<br />

„68er“ nicht auf die Verbesserung der vorliegen<strong>den</strong> Entwürfe<br />

abzielte, sondern e<strong>in</strong>en Angriff auf <strong>den</strong> Verfassungsstaat selbst<br />

darstellte (174). Differenziert fällt auch das abschließende Urteil Kraushaars über <strong>den</strong> Erfolg der<br />

„68er“ aus. Er gesteht ihr – im Gegensatz zur mehrheitlich vertretenen Me<strong>in</strong>ung – zu, politische<br />

DDR und ihre Vorgeschichte


345 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Teilerfolge erzielt zu haben, wobei er allerd<strong>in</strong>gs mit letztlich nicht belegbaren Vermutungen operiert,<br />

was Ausdrücke wie „womöglich“, „vermutlich“ (287f.) belegen. Dagegen bewertet er die Bilanz der<br />

„68er“ <strong>in</strong> soziokultureller H<strong>in</strong>sicht negativer, da sie nicht nur <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en „starken Reformimpuls“<br />

stün<strong>den</strong>, „sondern zugleich auch <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en fundamentalen Angriff auf die Gesellschaft als e<strong>in</strong>en Traditionszusammenhang<br />

von I<strong>den</strong>titätsmustern, Werten und<br />

Mentalitäten“ (288).<br />

Mit Re<strong>in</strong>hard Mohr und Albrecht von Lucke ist auf zwei<br />

Autoren e<strong>in</strong>zugehen, die nicht mehr zur „68er“-Generation<br />

gehören und als Journalisten arbeiten. Ihre bei<strong>den</strong> Werke<br />

„Der diskrete Charme der Rebellion“ und „68 oder neues<br />

Biedermeier“ lassen sich aber trotz aller Differenzierungsversuche<br />

als Sympathiebezeugungen <strong>für</strong> die „68er“ e<strong>in</strong>schätzen.<br />

Beide Bücher s<strong>in</strong>d Sachbücher eher feuilletonistischer Machart,<br />

wobei Mohr sich im Wesentlichen auf die Ereignisse Ende<br />

der 1960er Jahre konzentriert, während Albrecht von Lucke<br />

e<strong>in</strong>en Essay über die Jahre von 1967 bis 2007/2008 geschrieben<br />

hat, <strong>in</strong> dem er sich mit dem „Kampf um die Deutungsmacht“<br />

ause<strong>in</strong>andersetzt. Sowohl Mohr als auch von Lucke<br />

s<strong>in</strong>d von der herausragen<strong>den</strong> Bedeutung von „1968“ überzeugt.<br />

So sagt der erste, „dass die Revolte zwischen 1967 und 1969<br />

tatsächlich e<strong>in</strong>e folgenreiche Zäsur der deutschen Nachkriegsgeschichte<br />

war, nur vergleichbar mit Mauerfall und Wiedervere<strong>in</strong>igung<br />

1989/90“ (15), und der zweite hält „1968“ <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e<br />

„Zäsur, die <strong>in</strong> ihren traumatischen Folgen bis heute nachwirkt“<br />

(7). Mohr führt die „Liberalisierung und Modernisierung<br />

der Gesellschaft“ der Bundesrepublik seit <strong>den</strong> 1960er Jahren auf das Wirken der „68er“ zurück<br />

(238) und von Lucke stellt ohne E<strong>in</strong>schränkung fest, dass „1968“ <strong>in</strong> allen Bereichen und weit über<br />

das l<strong>in</strong>ke Spektrum h<strong>in</strong>aus <strong>für</strong> <strong>den</strong> „Beg<strong>in</strong>n gesellschaftlicher Emanzipation und politischer Partizipation“<br />

stand (78).<br />

Zum Abschluss s<strong>in</strong>d die Werke von Historikern vorzustellen, die selbst nicht zur 68er-Generation<br />

gehören und sich – von Zeitzeugenschaft im eigentlichen S<strong>in</strong>n unbee<strong>in</strong>flusst – als Wissenschaftler<br />

mit dem Thema ause<strong>in</strong>andersetzen. An erster Stelle ist dies Ingrid Gilcher-Holtey, Zeithistoriker<strong>in</strong><br />

an der Universität Bielefeld, die schon mehrere Werke über „68“ publiziert hat. An zweiter Stelle ist<br />

Norbert Frei zu nennen, Zeithistoriker an der Universität Jena und bisher nicht durch Veröffentlichungen<br />

über die „68er“ ausgewiesen. Schließlich soll noch auf e<strong>in</strong> Buch von Stefan Wolle e<strong>in</strong>gegangen<br />

wer<strong>den</strong>, Mitarbeiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der FU Berl<strong>in</strong> und Spezialist <strong>für</strong><br />

die DDR-Geschichte. Dementsprechend hat er sich auch alle<strong>in</strong> mit der DDR 1968 beschäftigt. Im<br />

Unterschied zu Wolle versuchen Ingrid Gilcher-Holtey und Norbert Frei das Thema <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er globalen<br />

Dimension zu erfassen und dies auf begrenztem Raum abzuhandeln. In bei<strong>den</strong> Fällen handelt es sich<br />

nicht um orig<strong>in</strong>äre Forschungsbeiträge, sondern um Bilanzierungen auf der Basis noch ungenügender<br />

Forschungsergebnisse, wobei beide Autoren ihre Werke gänzlich unterschiedlich angelegt haben.<br />

Ingrid Gilcher-Holtey, die wie die meisten der bisher genannten Autoren davon überzeugt ist, dass<br />

„1968 e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>schnitt [...] <strong>in</strong> der <strong>Zeitgeschichte</strong> nach 1945“ markiert (8), unternimmt <strong>in</strong> ihrem<br />

Werk e<strong>in</strong>e „Zeitreise“ durch das Jahr 1968. Sie schildert e<strong>in</strong>en Ablauf von Szenen, porträtiert die<br />

jeweiligen Akteure und bezieht, da sie „1968“ mit Recht als „globales Phänomen“ versteht, neben<br />

der Bundesrepublik nicht nur die westlichen Industriestaaten, sondern auch die ch<strong>in</strong>esische „Kulturrevolution“<br />

und <strong>den</strong> „Prager Frühl<strong>in</strong>g“ <strong>in</strong> ihre Darstellung e<strong>in</strong>. Auf diese Weise gel<strong>in</strong>gt es ihr <strong>in</strong> der<br />

DDR und ihre Vorgeschichte


346 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Tat auf bee<strong>in</strong>druckende Weise, „1968“ <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en weltweiten Zusammenhängen zu veranschaulichen<br />

und die Revolte als Signum dieses Jahres an vielen Stellen <strong>in</strong> der Welt deutlich zu machen und dabei<br />

auch die über die jeweiligen Grenzen h<strong>in</strong>ausgehende Zusammenarbeit<br />

wichtiger Akteure <strong>in</strong> <strong>den</strong> Blick zu nehmen. Dabei<br />

kommt die Analyse wichtiger Zusammenhänge nicht zu kurz<br />

und ebenso gel<strong>in</strong>gt es ihr, wichtige Unterschiede herauszuarbeiten<br />

(z.B. die Differenzen im Denken der Stu<strong>den</strong>tenopposition<br />

<strong>in</strong> Ost und West, 120f.). Ingrid Gilcher-Holtey hält mit<br />

ihrer (vielleicht) zu positiven Bewertung der „68er“ nicht h<strong>in</strong>ter<br />

dem Berg (202f.), zeigt aber e<strong>in</strong>e bemerkenswerte Zurückhaltung,<br />

wenn es darum geht, deren E<strong>in</strong>fluss auf die<br />

„Fundamental-Liberalisierung und Demokratisierung der Gesellschaft“<br />

der Bundesrepublik seit <strong>den</strong> 1960er Jahren – die<br />

sie unterstellt – zu bestimmen. Sie hält es nämlich nicht <strong>für</strong><br />

möglich, <strong>den</strong> eigenständigen Beitrag „sozialer Bewegungen<br />

auf politische, soziale und kulturelle Entwicklungen“ zu isolieren<br />

(206).<br />

Wie Ingrid Gilcher-Holtey will auch Norbert Frei <strong>den</strong> „globalen<br />

Protest“ behandeln. Dabei geht er allerd<strong>in</strong>gs völlig anders<br />

und sehr konventionell vor. Ausgehend von <strong>den</strong> Ereignissen<br />

<strong>in</strong> Paris im Mai 1968 (22 Seiten), schildert er auf doppelt<br />

so vielen Seiten <strong>den</strong> Protest <strong>in</strong> <strong>den</strong> USA („Am Anfang war<br />

Amerika“), um dann auf 75 Seiten noch deutlich ausführlicher<br />

auf die Bundesrepublik Deutschland e<strong>in</strong>zugehen („E<strong>in</strong><br />

deutscher Sonderweg?“). Hierauf folgen Abrisse <strong>in</strong> der Länge<br />

von sechs bis zehn Seiten der jeweiligen „Proteste“ <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

Ländern des Westens (Japan, Italien, Niederlande und Großbritannien)<br />

und der „Bewegung im Osten“ (Tschechoslowakei,<br />

Polen und die DDR). Die Dom<strong>in</strong>anz Deutschlands f<strong>in</strong>det<br />

sich auch im Epilog wieder, <strong>in</strong> dem Norbert Frei <strong>den</strong> Schwerpunkt<br />

auf die „bundesdeutsche Bilanz“ legt. Überzeugend ist<br />

diese Gliederung beileibe nicht, da sie die bundesrepublikanische<br />

Entwicklung allzu sehr hervorhebt und die globalen Zusammenhänge<br />

weniger <strong>in</strong> <strong>den</strong> Blick zu rücken vermag als<br />

Ingrid Gilcher-Holtey. Diese Konzentration auf die Bundesrepublik<br />

ist wohl <strong>den</strong> sonstigen Forschungs<strong>in</strong>teressen Norbert<br />

Freis geschuldet, die sich auf die bundesdeutsche „Vergangenheitspolitik“<br />

konzentrieren. Wohl nicht zuletzt darauf ist<br />

zurückzuführen, dass er bestrebt ist, auch „1968“ <strong>in</strong> der Bundesrepublik<br />

vorrangig <strong>in</strong> diesen Zusammenhang zu stellen.<br />

Stefan Wolle wiederum schreibt lediglich über <strong>den</strong> „Traum<br />

von der Revolte“, da es bekanntlich <strong>in</strong> der DDR ke<strong>in</strong>e Revolte<br />

gegeben hat. Allerd<strong>in</strong>gs kann er aufgrund der Auswertung<br />

von Stasiberichten die Angst der Machthaber <strong>in</strong> der DDR vor <strong>den</strong> Auswirkungen der Revolte im<br />

Westen und sodann des „Prager Frühl<strong>in</strong>gs“ auf die Bevölkerung der DDR ebenso nachweisen wie<br />

die Tatsache, dass es kulturelle E<strong>in</strong>flüsse der westlichen Protestbewegung auf die DDR gab und vor<br />

allem die Vorgänge <strong>in</strong> der Tschechoslowakei e<strong>in</strong>en hohen Stellenwert <strong>in</strong> der Wahrnehmung der<br />

DDR und ihre Vorgeschichte


347 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

DDR-Bevölkerung e<strong>in</strong>nahmen. Infolge der Niederschlagung des „Prager Frühl<strong>in</strong>gs“ kam es auch zu<br />

Protesten <strong>in</strong> der DDR. Wolle vertritt die These, dass die SED 1968 die Unterstützung gerade der jungen<br />

Generation endgültig verloren habe und von hier aus<br />

e<strong>in</strong> gerader Weg zur Revolution von 1989 führe. Er begründet<br />

diese These vor allem damit, dass die Demonstrationen<br />

<strong>in</strong> der DDR 1989 von der Generation der 40-Jährigen<br />

angeführt wor<strong>den</strong> seien, die er als die ehemaligen „68er“ <strong>in</strong><br />

der DDR bezeichnet.<br />

Nach dieser Kurzvorstellung der hier zu rezensieren<strong>den</strong><br />

Bücher soll abschließend auf drei Problemkreise e<strong>in</strong>gegangen<br />

wer<strong>den</strong>, die im Zusammenhang mit „1968“ von besonderer<br />

Bedeutung ersche<strong>in</strong>en. Dabei geht es um die Fragen nach<br />

1. <strong>den</strong> Auslösern <strong>für</strong> die fast weltweite Revolte der Stu<strong>den</strong>ten,<br />

2. e<strong>in</strong>em „deutschen Sonderweg“ auch <strong>in</strong> der „68er-Revolte“<br />

3. <strong>den</strong> Wirkungen von „1968“.<br />

1. Fast alle der hier erwähnten Autoren verweisen auf<br />

die zentrale Rolle des Vietnamkriegs, des ersten „Fernseh-<br />

Kriegs“, wie Daniel Cohn-Bendit schreibt (Cohn-Bendit,<br />

15). Kraushaar sieht im Vietnamkrieg e<strong>in</strong>en „Katalysator<br />

<strong>für</strong> die Radikalisierung der Protestbewegung“ (Kraushaar,<br />

104) und auch Norbert Frei bewertet <strong>den</strong> Vietnamkrieg als<br />

das Thema, aus dem die „Protestbewegung“ grenzübergreifend<br />

„ihre Energie bezog“ (50). Ähnlich fällt die Bewertung<br />

von Ingrid Gilcher-Holtey aus, die <strong>den</strong> „Protest gegen <strong>den</strong> Vietnamkrieg“ überall als e<strong>in</strong>en<br />

„zentralen Mobilisierungsfaktor“ der Protestbewegung ausmacht (8).<br />

Mit Recht verweist sie aber auch darauf, welche Bedeutung <strong>in</strong> Frankreich und Italien – aber auch<br />

<strong>in</strong> der Bundesrepublik – die „beispiellose Expansion des tertiären Bildungssektors“ gehabt hat, „die<br />

e<strong>in</strong>e Strukturkrise an <strong>den</strong> Universitäten ausgelöst“ habe (100). Auf die Bedeutung der Universitäten<br />

verweist auch Wolfgang Kraushaar, betont dabei aber zu Recht, dass diese bald nur als Schauplatz<br />

der Ause<strong>in</strong>andersetzungen <strong>in</strong>teressant waren, da es dem Kern der „68er“ nach kurzer Zeit nicht mehr<br />

um Reformen zu tun war, sondern sie <strong>in</strong> <strong>den</strong> Hochschulen nur noch „Bastionen [....] <strong>für</strong> künftige<br />

Klassenkämpfe“ sahen (Kraushaar, 572).<br />

Konstitutiv <strong>für</strong> die Revolte Ende der 1960er Jahre war schließlich e<strong>in</strong> Generationenkonflikt. Auf die<br />

Bundesrepublik bezogen hat Klaus Hartung erstmals 1978 von e<strong>in</strong>er „68er-Generation“ gesprochen<br />

und damit <strong>den</strong> Revoltieren<strong>den</strong> <strong>in</strong> der Bundesrepublik erst ihren heute so geläufigen Namen gegeben<br />

(von Lucke, 28f.). Hiermit richtet sich der Blick auf die Bundesrepublik und die Frage nach der Bedeutung<br />

der NS-Vergangenheit <strong>für</strong> die „68er-Bewegung“.<br />

2. Es ist erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit die meisten Autoren die These e<strong>in</strong>er „unbewältigten<br />

Vergangenheit“ <strong>in</strong> der Bundesrepublik bis weit <strong>in</strong> die 1960er Jahre h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> vertreten und<br />

unterstellen, dass die angeblichen Versäumnisse der Väter <strong>den</strong> Generationenkonflikt ausgelöst haben.<br />

So ist <strong>für</strong> Wolfgang Schmidbauer das „vergessene ‚Er<strong>in</strong>nernʻ [....] e<strong>in</strong> wichtiger Angriffspunkt der<br />

Protestbewegung“ (Cohn-Bendit, 165), und Bahman Nirumand stellt ohne jede E<strong>in</strong>schränkung fest:<br />

„E<strong>in</strong> Abrechnen mit der Vergangenheit gab es nicht“ (Cohn-Bendit, 228). Albrecht von Lucke sieht<br />

es als Verdienst der „68er“ an, „die Verdrängung der Vergangenheit [...] öffentlich gemacht“ zu haben<br />

(15), und Re<strong>in</strong>hard Mohr sieht <strong>in</strong> „1968“ <strong>den</strong> Versuch, „das fortgesetzte Trauma jener ‚unbewältigten<br />

Vergangenheitʻ des nationalsozialistischen Terrors [...] aus eigener Kraft, gleichsam freudianisch, zu<br />

überw<strong>in</strong><strong>den</strong>“ (31). In das gleiche Horn stößt auch Wolfgang Kraushaar, der <strong>in</strong> „der nationalsozialis-<br />

DDR und ihre Vorgeschichte


348 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

tischen Vergangenheit und der Ju<strong>den</strong>vernichtung als ihrem Tiefstpunkt [...] e<strong>in</strong>en historischen Resonanzbo<strong>den</strong>“<br />

<strong>für</strong> die „68er-Bewegung“ ausmacht, da er unterstellt, dass erst <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1960er Jahren „e<strong>in</strong>e<br />

ernst zu nehmende Ause<strong>in</strong>andersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit“ begonnen<br />

habe (72). Auch Norbert Frei wiederholt se<strong>in</strong>e altbekannte These von der „unbewältigten Vergangenheit“,<br />

die <strong>in</strong> <strong>den</strong> „politisch-moralischen [...] Skandalen der nahezu ungebrochenen respektive fast<br />

vollständig wiederhergestellten Kont<strong>in</strong>uität der Funktionseliten vom ‚Dritten Reichʻ zur Bundesrepublik“<br />

zum Ausdruck gekommen sei und der hieraus e<strong>in</strong>e „vergangenheitspolitische [...] Auf-<br />

ladung des Konflikts“ zwischen <strong>den</strong> Generationen <strong>in</strong> der Bundesrepublik ableitet (78).<br />

Es gibt e<strong>in</strong>e Fülle zeitgeschichtlicher Untersuchungen, die belegen, wie wenig diese Urteile der<br />

Kritik standhalten. Zudem lässt sich nachweisen, wie ger<strong>in</strong>g das konkrete historische Interesse der<br />

„68er“ am Nationalsozialismus und se<strong>in</strong>en Opfern war. Auch Norbert Frei muss konzedieren, dass<br />

<strong>den</strong> „68ern“ der „historische Nationalsozialismus“ zunehmend aus dem Blickfeld geriet – sofern er<br />

sich überhaupt jemals dar<strong>in</strong> befun<strong>den</strong> hat – und sie durch die „Universalisierung des Faschismusvorwurfs<br />

[...] ten<strong>den</strong>ziell zu e<strong>in</strong>er Verharmlosung des ‚Dritten Reichsʻ“ beitrugen (222). E<strong>in</strong>e ähnliche<br />

Formulierung f<strong>in</strong>det sich auch bei Wolfgang Kraushaar (74f.) Das führt aber weder bei ihm noch bei<br />

Frei dazu, die nur sehr bed<strong>in</strong>gt haltbaren Positionen über <strong>den</strong> Stellenwert der NS-Vergangenheit und<br />

ihre spezifische Aufarbeitung <strong>in</strong> der Bundesrepublik <strong>für</strong> die „68er-Bewegung“ zu über<strong>den</strong>ken.<br />

3. Sehr viel differenzierter fallen die Bewertungen Norbert Freis aus, wenn er sich über die Wirkungen<br />

von „1968“ äußert. So gesteht er <strong>den</strong> Revoltieren<strong>den</strong> zu, „das Lebensgefühl e<strong>in</strong>er Generation<br />

verändert“ zu haben, um sogleich aber e<strong>in</strong>schränkend h<strong>in</strong>zuzufügen, dass „die Protestgeneration“<br />

zum Teil „durch Tore rannte, die andere längst vor ihr geöffnet hatten“ (131). An anderer Stelle betont<br />

er, dass die Revolte „im Zeichen der Revolution [...] zum Fortschritt der Reformen“ beitrug<br />

(138). Dabei versäumt er aber, die Frage aufzuwerfen, ob nicht die „68er“ <strong>den</strong> Reformprozess auch<br />

beh<strong>in</strong>dert haben könnten, da sie „Gegenreformern“ <strong>in</strong> die Hände spielten. Mit Recht kritisiert Frei<br />

bei der Protestbewegung bei all ihrem Gerede von Emanzipation, Partizipation und Transparenz ihre<br />

mangelnde „Liebe zum Liberalismus“ (216f.). Außerdem besaßen die „68er“ – wie er ebenfalls richtig<br />

konstatiert – „ausgesprochen unterkomplexe Vorstellungen von der Funktionsweise moderner<br />

Gesellschaften und Volkswirtschaften“ (218) – auch aus diesem Grund waren ihre Auffassungen von<br />

„Demokratisierung“ äußerst problematisch.<br />

Gleichwohl dom<strong>in</strong>ieren bis heute positive E<strong>in</strong>schätzungen über die „68er“ und ihre <strong>in</strong>haltlichen<br />

Vorstellungen. Dies ist sicherlich nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass zahlreiche Träger der<br />

Revolte e<strong>in</strong>en erfolgreichen „Marsch durch die <strong>Institut</strong>ionen“ angetreten haben und bis heute e<strong>in</strong>e<br />

weitgehende Deutungshoheit über die eigene Geschichte verteidigen. So schätzen das auch Norbert<br />

Frei (210f.) und Albrecht von Lucke e<strong>in</strong>, der <strong>in</strong>sbesondere <strong>für</strong> die Jahre der rot-grünen Bundesregierung<br />

unter Gerhard Schröder e<strong>in</strong>e „kulturelle Hegemonie“ der „68er“ als gegeben sieht (43). Aber<br />

allmählich treten die ehemaligen Revoltierer <strong>in</strong> <strong>den</strong> Ruhestand und verlieren ihren E<strong>in</strong>fluss. Die geschichtswissenschaftliche<br />

Forschung wird heute vorherrschende Deutungsmuster h<strong>in</strong>terfragen und<br />

korrigieren. Der Streit darüber, ob „1968“ als Beg<strong>in</strong>n des politisch-kulturellen Niedergangs, als das<br />

Jahr des e<strong>in</strong>setzen<strong>den</strong> Werteverfalls oder als Aufbruch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e wirkliche Demokratie und e<strong>in</strong>e moderne<br />

Gesellschaft gedeutet wer<strong>den</strong> muss, wird an Schärfe verlieren. Die Geschichtsschreibung wird<br />

die Grautöne herausarbeiten und „1968“ <strong>in</strong> vielerlei H<strong>in</strong>sicht relativieren. „1968“ – das zeigen bereits<br />

e<strong>in</strong>e ganze Reihe e<strong>in</strong>schlägiger Forschungsarbeiten – hatte bereits lange vorher begonnen und die<br />

Wirkungen der <strong>in</strong> diesen Jahren e<strong>in</strong>setzen<strong>den</strong> Reformprozesse waren durchaus ambivalent. 50 Jahre<br />

nach „1968“ wird die öffentliche Diskussion über diesen Komplex auf e<strong>in</strong>er anderen Grundlage mit<br />

anderen Argumenten geführt wer<strong>den</strong>.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

DDR und ihre Vorgeschichte


Stefan Zahlmann: Autobiographische Verarbeitungen gesellschaftlichen Scheiterns. Die Eliten<br />

der amerikanischen Südstaaten nach 1865 und der DDR nach 1989, Köln/Weimar/Wien:<br />

Böhlau 2009, 347 S., ISBN 978-3-412-20288-0, EUR 42,90<br />

Rezensiert von Arnd Bauerkämper<br />

Berl<strong>in</strong>er Kolleg <strong>für</strong> Vergleichende Geschichte Europas<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 9<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/09/15914.html<br />

Die Auswirkungen politischer Umbrüche auf Lebensverläufe<br />

und Lebensentwürfe s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> Grundproblem kultur-, sozial-<br />

und geschichtswissenschaftlicher Forschung. Das Scheitern<br />

der amerikanischen Südstaaten (Confederate States of America,<br />

CSA), mit der Sezession von der Union ihre politische und<br />

ökonomische Selbständigkeit zu sichern, im Bürgerkrieg<br />

(1861–1865) und der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik<br />

(nach Artikel 23 des Grundgesetzes) konfrontierten die jeweiligen<br />

Eliten mit der Herausforderung, die entsprechen<strong>den</strong><br />

Transformationen zu bewältigen. Sowohl <strong>in</strong> <strong>den</strong> Vere<strong>in</strong>igten<br />

Staaten nach 1865 als auch <strong>in</strong> Deutschland nach der Wiedervere<strong>in</strong>igung<br />

1990 setzten sich die Führungsgruppen auch autobiografisch<br />

mit dem Scheitern ihrer biografischen Projekte<br />

ause<strong>in</strong>ander. Dem Vergleich dieser Prozesse ist das Buch gewidmet,<br />

mit dem Stefan Zahlmann e<strong>in</strong>e überarbeitete Fassung<br />

se<strong>in</strong>er Habilitationsschrift vorgelegt hat.<br />

Der Autor, der bereits mit Studien zum (auto-)biografischen<br />

Umgang mit Umbrüchen hervorgetreten ist, vergleicht die autobiografischen<br />

Er<strong>in</strong>nerungen der Führungskräfte aus <strong>den</strong> Südstaaten und aus Ostdeutschland und unterscheidet<br />

dabei zwischen <strong>den</strong> „alten Eliten“, die <strong>in</strong> <strong>den</strong> CSA und <strong>in</strong> der DDR maßgeblich und regelmäßig<br />

an Entscheidungen mitgewirkt hatten, <strong>den</strong> „Gegeneliten“, <strong>den</strong>en diese Beteiligung verwehrt<br />

wor<strong>den</strong> war, und <strong>den</strong> „neuen Eliten“, die aus <strong>den</strong> CSA und der DDR stammten und im vere<strong>in</strong>igten<br />

Amerika und Deutschland verantwortliche Positionen mit gesamtgesellschaftlichem E<strong>in</strong>fluss übernahmen.<br />

Diese Anlage der Untersuchung vermag e<strong>in</strong>erseits die Genese und <strong>den</strong> Wandel autobiografischer<br />

Er<strong>in</strong>nerungskulturen komparativ nachzuzeichnen und zu erklären. Dabei weisen nicht nur die Konstellationen<br />

deutliche Ähnlichkeiten auf, sondern auch die Themen der mit dem Scheitern verbun<strong>den</strong>en<br />

Reflexionen, so die Sklaverei und der „Sozialismus“ als offizielle Selbstzuschreibungen <strong>in</strong> <strong>den</strong> CSA<br />

bzw. <strong>in</strong> der DDR und die Darstellung des Nor<strong>den</strong>s bzw. Westens <strong>in</strong> <strong>den</strong> bei<strong>den</strong> Räumen.<br />

Andererseits ist der Vergleich nicht nur asynchron, sondern auch ansonsten überaus komplex. Die<br />

Südstaaten hatten sich zwar bereits vor dem Bürgerkrieg besonders h<strong>in</strong>sichtlich ihrer sozioökonomischen<br />

Struktur deutlich vom Nor<strong>den</strong> der USA unterschie<strong>den</strong> und <strong>in</strong> der Ause<strong>in</strong>andersetzung mit der<br />

Gesetzgebung der Bundesregierung auf der e<strong>in</strong>zelstaatlichen Souveränität bestan<strong>den</strong>. Sie hatten sich


350 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

aber erst 1860/61 von <strong>den</strong> USA getrennt. Schon vier Jahre später konnten die siegreichen Nordstaaten<br />

diese Sezession zurücknehmen. Demgegenüber bestand die DDR vier Jahrzehnte. Zudem konnte<br />

Zahlmann <strong>für</strong> die DDR nur die Jahre von 1990 bis 2004 berücksichtigten, während der untersuchte<br />

Zeitraum <strong>für</strong> die CSA mit 56 Jahren (1866–1922) sehr viel umfassender ist. Wenn man berücksichtigt,<br />

dass – wie der Autor selbst betont – <strong>in</strong> <strong>den</strong> USA die tiefen Gegensätze und markanten Unterschiede<br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong> autobiografischen Er<strong>in</strong>nerungskulturen erst im frühen 20. Jahrhundert zugunsten e<strong>in</strong>es<br />

Konsenses zurückgetreten s<strong>in</strong>d, ist dieser Umstand bei e<strong>in</strong>er vergleichen<strong>den</strong> Betrachtung umfassend<br />

<strong>in</strong> Rechnung zu stellen. Diese Probleme des Vergleichs wer<strong>den</strong> <strong>in</strong> dem Buch, <strong>in</strong> dem die historische<br />

E<strong>in</strong>ordnung <strong>in</strong>sgesamt unterbelichtet bleibt, nicht h<strong>in</strong>reichend berücksichtigt, sodass die Befunde mit<br />

erheblichen Vorbehalten zu <strong>in</strong>terpretieren s<strong>in</strong>d.<br />

Dennoch gel<strong>in</strong>gen Zahlmann <strong>in</strong>struktive E<strong>in</strong>sichten. So löste der staatliche Zusammenbruch <strong>in</strong><br />

<strong>den</strong> Vere<strong>in</strong>igten Staaten und <strong>in</strong> der DDR Er<strong>in</strong>nerungskonflikte aus, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en sich die alten Eliten<br />

verteidigten, aber auch die neuen Eliten nach Repräsentativität und Verb<strong>in</strong>dlichkeit ihrer spezifischen<br />

autobiografischen Reflexionen strebten. Damit sollte jeweils die Er<strong>in</strong>nerungskultur der Vere<strong>in</strong>igungsgesellschaft<br />

geprägt wer<strong>den</strong>. Die autobiografischen Texte bewirkten deshalb gleichermaßen<br />

e<strong>in</strong>e „E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung der <strong>in</strong>dividuellen Biographie <strong>in</strong> das Schicksal e<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>schaft und zugleich die<br />

Historisierung der eigenen Er<strong>in</strong>nerung als Teil e<strong>in</strong>er national erlebten geschichtlichen Entwicklung.“<br />

[67])<br />

Auch darüber h<strong>in</strong>aus treten frappierende Ähnlichkeiten der autobiografischen Er<strong>in</strong>nerungen hervor.<br />

So war aus der Sicht der alten Eliten mit <strong>den</strong> CSA bzw. der DDR zwar der Staat, <strong>in</strong> dem sie Leitungsfunktionen<br />

übernommen hatten, gescheitert, ke<strong>in</strong>esfalls aber ihrem biografischen Anliegen<br />

nachhaltig der Bo<strong>den</strong> entzogen wor<strong>den</strong>. Vielmehr hofften die alten Eliten auf e<strong>in</strong> günstiges Urteil<br />

künftiger Generationen. Individuelles oder kollektives Scheitern war <strong>in</strong> <strong>den</strong> autobiografischen Rückblicken<br />

nicht vorgesehen. Es bleibt aber zu prüfen, ob und <strong>in</strong>wiefern Erkenntnisse der psychologischen<br />

Forschung über Traumata und Verdrängung zur Interpretation dieser Befunde beizutragen<br />

vermögen.<br />

Wie Zahlmann aber überzeugend erläutert, ban<strong>den</strong> auch die Gegeneliten ihren Kampf um die<br />

„Sache“ an ihre <strong>in</strong>dividuelle Biografie. Allerd<strong>in</strong>gs verteidigten sie nicht jeweils e<strong>in</strong>en separaten<br />

Staat, sondern universale Normen und Werte wie Gerechtigkeit. Diese Autoren kritisierten deshalb<br />

die Führungen der untergegangenen CSA bzw. DDR. Alte Eliten, die auch <strong>in</strong> der vere<strong>in</strong>igten Gesellschaft<br />

Führungspositionen e<strong>in</strong>nahmen, und Vertreter der neuen Eliten beklagten die Distanzierung<br />

der alten Eliten von der jeweiligen Bevölkerung und die von ihnen betriebene Spaltung der Nation.<br />

Damit wandten sie sich gegen e<strong>in</strong>e enge Interessenpolitik, ohne aber die „Sache“ des „Sozialismus“<br />

oder der e<strong>in</strong>zelstaatlichen Souveränität gegenüber der deutschen oder amerikanischen Bundesregierung<br />

aufzugeben.<br />

Die auffallen<strong>den</strong> Ähnlichkeiten der autobiografischen Er<strong>in</strong>nerungskulturen <strong>in</strong> <strong>den</strong> Südstaaten<br />

nach 1865 und <strong>in</strong> Ostdeutschland im Anschluss an die Wiedervere<strong>in</strong>igung erklärt der Verfasser unmittelbar<br />

nachvollziehbar mit der „Gleichartigkeit der Praktiken, e<strong>in</strong> solches Ereignis kulturell zu<br />

verarbeiten: Die enge Beziehung zwischen Er<strong>in</strong>nerungsmedium, er<strong>in</strong>nern<strong>den</strong> Personen und er<strong>in</strong>nertem<br />

Ereignis lassen e<strong>in</strong> spezifisches Verhältnis erkennen, das zwischen e<strong>in</strong>em kulturellen Gedächtnis<br />

und der historischen Situation der westlichen Moderne besteht, <strong>in</strong> der es realisiert wird.“ (291) In<br />

<strong>den</strong> skizzierten drei Typen von Texten waren autobiografische Form, der Stellenwert des Scheiterns<br />

und die Bewertung der vere<strong>in</strong>igten Gesellschaften eng mite<strong>in</strong>ander verschränkt.<br />

Dabei vollzog sich <strong>in</strong> <strong>den</strong> Südstaaten und <strong>in</strong> Ostdeutschland nach 1865 bzw. 1990 zunächst e<strong>in</strong>e<br />

„Versachlichung“, mit der die alten Eliten und Gegeneliten die Bedeutung ihres Scheiterns zu relativieren<br />

bestrebt waren, bevor diese Führungsgruppen <strong>den</strong> Zerfall der Staaten, mit <strong>den</strong>en sie sich i<strong>den</strong>tifiziert<br />

hatten, biografisch zugunsten der Gründung der CSA bzw. der DDR verdrängten. In e<strong>in</strong>em<br />

DDR und ihre Vorgeschichte


351 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

weiteren Stadium neutralisierten die Vertreter der neuen Eliten das Scheitern ihrer Reform- und Erneuerungsprojekte<br />

im Rahmen der Zweistaatlichkeit, <strong>in</strong>dem sie auf die Vorzüge der Vere<strong>in</strong>igungsgesellschaften<br />

verwiesen. Wie angedeutet, ist aber auch der Phasenvergleich schwierig, da sich<br />

die Abfolge autobiografischer „Versachlichung“, „Biographisierung“ und „Neutralisierung“ (292)<br />

des Scheiterns z.T. auf unterschiedliche Führungsgruppen bezieht.<br />

Stefan Zahlmanns Monografie zeigt exemplarisch, dass auch die komparative Untersuchung sehr<br />

unterschiedlicher Gesellschaften und Kulturen <strong>in</strong>struktive, neue Befunde erbr<strong>in</strong>gen, weiterführende<br />

E<strong>in</strong>sichten vermitteln und damit der Forschung erhebliche Impulse vermitteln kann. Allerd<strong>in</strong>gs treten<br />

<strong>in</strong> dem Buch dabei die spezifischen Kontexte <strong>in</strong>sgesamt zu sehr <strong>in</strong> <strong>den</strong> H<strong>in</strong>tergrund. Überdies<br />

verdienen Transfers gerade <strong>in</strong> asynchron vergleichen<strong>den</strong> Studien besondere Aufmerksamkeit, <strong>den</strong>n<br />

die später leben<strong>den</strong> Akteure hatten die Möglichkeit, vorangegangene Prozesse wahrzunehmen, aufzugreifen<br />

oder aus ihnen zu lernen. Auch wenn die ostdeutschen Eliten die autobiografischen Er<strong>in</strong>nerungen<br />

der Führungsgruppen <strong>in</strong> <strong>den</strong> Südstaaten der USA offenbar von 1990 bis 2004 nicht systematisch<br />

studiert und direkt aufgenommen oder explizit zurückgewiesen haben, bleibt die Verflechtungsgeschichte<br />

autobiografischer Verarbeitungen gesellschaftlichen Scheiterns e<strong>in</strong> Forschungsdesiderat.<br />

Insgesamt hat Stefan Zahlmanns Buch die kultur-, geschichts- und literaturwissenschaftliche<br />

Forschung zum Umgang mit e<strong>in</strong>schnei<strong>den</strong><strong>den</strong> politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen durch<br />

wichtige Erkenntnisse und kräftige Impulse bereichert.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

DDR und ihre Vorgeschichte


Westliche Demokratien, Südeuropa<br />

und <strong>in</strong>ternationale Organisationen<br />

Pier Paolo Battistelli/Andrea Mol<strong>in</strong>ari: Le forze armate della Rsi. Uom<strong>in</strong>i e imprese dell’ultimo<br />

esercito di Mussol<strong>in</strong>i, Bresso: Hobby & Work 2007, 221 S., ISBN 978-88-7851-568-0, EUR 15,00<br />

Rezensiert von Amedeo Osti Guerrazzi<br />

Rom<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 4<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/04/16019.html<br />

Der Verlag Hobby & Work hat <strong>in</strong> <strong>den</strong> letzten Jahren e<strong>in</strong>e<br />

ganze Reihe von Büchern über <strong>den</strong> Zweiten Weltkrieg herausgebracht.<br />

Die entsprechende Reihe richtet sich eigentlich an<br />

e<strong>in</strong> breites Publikum, doch sie umfasst auch gediegene zusammenfassende<br />

Analysen zu ausgewählten Aspekten der italienischen<br />

Militärgeschichte, die sich auf der Höhe der Forschung<br />

bewegen. E<strong>in</strong>en solchen Band haben auch Pier Paolo<br />

Battistelli und Andrea Mol<strong>in</strong>ari vorgelegt, zwei der besten<br />

jüngeren Militärhistoriker Italiens. Bis zur Veröffentlichung<br />

ihres Buches musste man auf das se<strong>in</strong>erzeit vorzügliche Werk<br />

von Giampaolo Pansa zurückgreifen, wollte man sich e<strong>in</strong> Bild<br />

von <strong>den</strong> Streitkräften der Republik von Salò machen. Diese<br />

schon 1969 erschienene Studie stützte sich vor allem auf<br />

Dokumente der Guardia Nazionale Repubblicana (GNR),<br />

der Nachfolgeorganisation der nach dem Sturz Mussol<strong>in</strong>is am<br />

25. Juli 1943 aufgelösten faschistischen Miliz MVSN, und<br />

muss heute als ebenso veraltet wie überholt gelten. Darüber<br />

h<strong>in</strong>aus gab es noch die drei Bände von Ricciotti Lazzero aus <strong>den</strong> siebziger Jahren über die berüchtigte<br />

Decima Flottiglia MAS, die GNR und die italienischen E<strong>in</strong>heiten der Waffen-SS, die man aber schon<br />

aufgrund ihrer Anlage und ihrer Quellenbasis als obsolet ansehen muss. E<strong>in</strong>en gewissen Bekanntheitsgrad<br />

erlangte auch das Buch Gli ultimi <strong>in</strong> grigioverde des Neofaschisten Giorgio Pisanò, das<br />

zwar <strong>für</strong> die Forschung ohne Belang, aber aufgrund se<strong>in</strong>es bemerkenswerten Abbildungsteils bei<br />

Freun<strong>den</strong> der Militaria noch heute sehr beliebt ist.<br />

Wie man schon dieser kurzen Skizze entnehmen kann, ist es alle<strong>in</strong> aufgrund der Vielzahl mehr<br />

oder weniger autonomer bewaffneter Formationen schwierig, die Geschichte der Streitkräfte der Republik<br />

von Salò zu rekonstruieren. Diese unübersichtliche Situation g<strong>in</strong>g vor allem auf die Ereignisse<br />

nach dem 8. September 1943 zurück, als die Wehrmacht Italien besetzte und sich die königlichen<br />

Streitkräfte <strong>in</strong> alle Himmelsrichtungen zerstreuten. Entsprechend groß waren die Schwierigkeiten,


353 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

auf die Mussol<strong>in</strong>is letzte Getreue stießen, als sie 1943/44 daran g<strong>in</strong>gen, <strong>in</strong> Nord- und Mittelitalien<br />

neue staatliche Strukturen, e<strong>in</strong>e funktionierende Verwaltung und e<strong>in</strong> kampfstarkes Heer aufzubauen.<br />

Die Autoren des vorliegen<strong>den</strong> Buches zeichnen diese Bemühungen ebenso nüchtern wie präzise<br />

nach, beschränken sich dabei jedoch auf die re<strong>in</strong>e Militärgeschichte. Battistelli und Mol<strong>in</strong>ari nehmen<br />

daher <strong>in</strong>sbesondere die Aufstellung und <strong>den</strong> E<strong>in</strong>satz der vier regulären Divisionen des Heeres von<br />

Salò <strong>in</strong> <strong>den</strong> Blick, die auf deutschen Truppenübungsplätzen ausgebildet wor<strong>den</strong> waren und anschließend<br />

<strong>in</strong> Italien sowohl gegen Partisanen als auch an der sogenannten Gotenl<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong>gesetzt wur<strong>den</strong>.<br />

Erstmals wird hier die Geschichte der Gebirgsdivision „Monte Rosa“ geschrieben, die im Dezember<br />

1944 am Senio gegen die Amerikaner kämpfte. Das Buch liefert weiterh<strong>in</strong> Informationen über die<br />

Mar<strong>in</strong>e und die Luftwaffe von Salò, wobei auch die nicht gerade e<strong>in</strong>fachen Beziehungen zwischen<br />

<strong>den</strong> Streitkräften Mussol<strong>in</strong>is und <strong>den</strong> deutschen Verbündeten thematisiert wer<strong>den</strong>. Was die GNR angeht,<br />

so konzentrieren sich die Autoren auf deren Operationen zur Partisanenbekämpfung und liefern<br />

wichtige H<strong>in</strong>weise zu <strong>den</strong> daran beteiligten Verbän<strong>den</strong>. Diese Angaben s<strong>in</strong>d ebenso hilfreich wie die<br />

biografischen Skizzen führender Militärs von Salò, darunter Generalstabschef Gastone Gambara, der<br />

Kommandeur der Decima Flottiglia MAS, Junio Valerio Borghese, und der Führer der Schwarzen<br />

Briga<strong>den</strong>, Alessandro Pavol<strong>in</strong>i.<br />

Wer sich künftig rasch über die Streitkräfte der Republik von Salò <strong>in</strong>formieren möchte, wird an<br />

diesem Werk kaum vorbeikommen, das ganz ohne politisch-polemische Töne auskommt, die <strong>in</strong> Italien<br />

bei diesem Thema sonst gerne angeschlagen wer<strong>den</strong>. Kritisch ist lediglich anzumerken – und dies<br />

liegt <strong>in</strong> der Verantwortung des Verlags –, dass das Buch weder über Fußnoten noch über e<strong>in</strong> Quellen-<br />

und Literaturverzeichnis verfügt. Insbesondere die Fachkollegen, die Battistellis und Mol<strong>in</strong>aris Studien<br />

vertiefen möchten, wer<strong>den</strong> das Fehlen e<strong>in</strong>es wissenschaftlichen Apparats bedauern.<br />

Aus dem Italienischen übersetzt von Thomas Schlemmer.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Westliche Demokratien, Südeuropa und <strong>in</strong>ternationale Organisationen


Giovanna D’Amico: Quando l’eccezione diventa norma. La re<strong>in</strong>tegrazione degli ebrei<br />

nell’Italia postfascista, Tor<strong>in</strong>o: Bollati Bor<strong>in</strong>ghieri 2005, 392 S., ISBN 978-88-339-164-39,<br />

EUR 39,00<br />

Rezensiert von Tullia Catalan<br />

Triest<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 2<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/02/11916.html<br />

Giovanna D’Amico befasst sich <strong>in</strong> der überarbeiteten Fassung<br />

ihrer Dissertation mit der heiklen Frage der Re<strong>in</strong>tegration der<br />

Ju<strong>den</strong> <strong>in</strong> Italien nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei nimmt<br />

sie <strong>in</strong>sbesondere die entschei<strong>den</strong><strong>den</strong> Jahre zwischen 1944 und<br />

1950 <strong>in</strong> <strong>den</strong> Blick, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en sich die neu entstan<strong>den</strong>en politischen<br />

Kräfte <strong>in</strong> nicht selten widersprüchlicher Weise über<br />

ihren Kurs <strong>in</strong> dieser Frage klar zu wer<strong>den</strong> versuchten. Der Titel<br />

des Buches macht nicht das ganze Spektrum der von der Autor<strong>in</strong><br />

angesprochenen Themen deutlich, <strong>den</strong>n Gegenstand der<br />

Analyse s<strong>in</strong>d nicht nur die italienischen Ju<strong>den</strong>, sondern auch<br />

die politisch Verfolgten. Diese Entscheidung erweist sich vor<br />

allem deshalb als gerechtfertigt, weil sich öffentliche Debatte<br />

und Gesetzgebung zur Wiedere<strong>in</strong>gliederung der Ju<strong>den</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

weiteren Kontext vollzogen – e<strong>in</strong> Kontext, der vor allem politisch<br />

Verfolgte und Heimkehrer betraf. Hier lassen sich – trotz<br />

spezifischer Unterschiede <strong>für</strong> jede Opfergruppe – auffällige<br />

Parallelen erkennen. Tatsächlich wer<strong>den</strong> <strong>in</strong> der Studie die<br />

Schwierigkeiten der Regierung hervorgehoben, e<strong>in</strong>e schlüssige<br />

Kategorisierung der Verfolgung zu erstellen. Damit verbun<strong>den</strong> – und dies zeigt sich ebenfalls deutlich<br />

– waren freilich langatmige Verwaltungsprozeduren zum Nachteil der Betroffenen, die sich aus<br />

der Überlagerung der Ansprüche ergaben.<br />

Die Frage, wie sich die Wiedere<strong>in</strong>gliederung der Ju<strong>den</strong> <strong>in</strong> die Republik Italien vollzog, ist bisher<br />

von der italienischen Geschichtswissenschaft nicht beantwortet wor<strong>den</strong>, da man sich – anders als <strong>in</strong><br />

anderen Teilen Europas – vor allem mit <strong>den</strong> faschistischen Rassengesetzen von 1938 und ihren Folgen<br />

<strong>für</strong> die jüdische Bevölkerung des Königreichs befasst hat. Erst e<strong>in</strong>e neue Generation von Historiker<strong>in</strong>nen<br />

und Historikern hat sich lange vernachlässigter Themen angenommen, sodass <strong>in</strong> <strong>den</strong> letzten<br />

Jahren auch e<strong>in</strong>ige Arbeiten zur Geschichte der Nachkriegszeit erschienen s<strong>in</strong>d, die sich mit der<br />

Re<strong>in</strong>tegration der jüdischen Bürger <strong>in</strong> die Gesellschaft der jungen Republik Italien befassen. Die Arbeiten<br />

von Guri Schwarz und Ilaria Pavan [1] konzentrieren sich etwa auf die schwierige Rekonstruktion<br />

e<strong>in</strong>er jüdischen I<strong>den</strong>tität nach der Shoa sowie auf die wirtschaftlichen und adm<strong>in</strong>istrativen<br />

Probleme, mit <strong>den</strong>en e<strong>in</strong> großer Teil der italienischen Ju<strong>den</strong> zu kämpfen hatte, als sie nach dem<br />

Krieg wieder <strong>in</strong> <strong>den</strong> Besitz ihres vom faschistischen Regime enteigneten Hab und Guts zu gelangen<br />

suchten.


355 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Die hier besprochene Studie ist das Ergebnis langen und gründlichen Quellenstudiums <strong>in</strong> zahlreichen<br />

staatlichen und nicht staatlichen Archiven Italiens (Archiv der Abgeordnetenkammer, zentrales<br />

Staatsarchiv, historisches Archiv der Union jüdischer Geme<strong>in</strong><strong>den</strong> Italiens, jüdisches zeithistorisches<br />

Dokumentationszentrum u.a.). E<strong>in</strong>en Schwerpunkt der Analyse bil<strong>den</strong> dabei die legislativen Maßnahmen<br />

zur Wiedere<strong>in</strong>gliederung der Ju<strong>den</strong>; die Arbeitswelt und die Rückerstattungsfrage s<strong>in</strong>d hierbei<br />

von besonderer Bedeutung. Die Autor<strong>in</strong> macht vor allem darauf aufmerksam, wie sehr sich die<br />

Interessen verschie<strong>den</strong>er Gruppierungen überschnitten und ermöglicht es dem Leser so, die Grundprobleme<br />

der Wiederannäherung zwischen <strong>den</strong> Ju<strong>den</strong> und der italienischen Gesellschaft <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

schwierigen Nachkriegsjahren zu erfassen. Im Übrigen war es <strong>für</strong> die überleben<strong>den</strong> Ju<strong>den</strong> e<strong>in</strong> wichtiger<br />

Schritt <strong>in</strong> die ersehnte Normalität, <strong>den</strong> Arbeitsplatz wiederzuerhalten, <strong>den</strong> sie aufgrund der faschistischen<br />

Rassenpolitik verloren hatten, oder zu sehen, dass die Rentenversicherungsbeiträge nachgezahlt<br />

und entzogene Vermögenswerte zurückerstattet wur<strong>den</strong>. Dieser Weg <strong>in</strong> die Normalität war freilich<br />

alles andere als e<strong>in</strong>fach, zumal sich sowohl die Wiedere<strong>in</strong>stellung als auch die Rückerstattung oftmals<br />

über Jahre h<strong>in</strong>ziehen konnten; dabei waren die Verfahren im privaten Sektor nicht selten komplizierter<br />

und langwieriger als im öffentlichen.<br />

Was die Rekonstruktion der Debatte <strong>in</strong> Parteien und Gewerkschaften angeht, betont Giovanna<br />

D’Amico, wie unterschiedlich die Verfolgungsmaßnahmen vor und nach dem Sturz Mussol<strong>in</strong>is am<br />

25. Juni 1943 bewertet wur<strong>den</strong>. Erhellend ist auch die Tatsache, dass die Alliierten, wo es ihnen<br />

möglich war, darauf drängten, die Rechte der jüdischen Bevölkerung wiederherzustellen und sie<br />

möglichst rasch <strong>in</strong> die Arbeitsgesellschaft zu <strong>in</strong>tegrieren. Aus der Studie wird zudem die spannungsgela<strong>den</strong>e<br />

Beziehung zwischen der Republik und der Er<strong>in</strong>nerung an die Verfolgung der Ju<strong>den</strong> <strong>in</strong> Italien<br />

deutlich [2], die oft verdrängt oder bagatellisiert wurde, um e<strong>in</strong>en möglichst dicken Strich zwischen<br />

der demokratischen Gegenwart und der faschistischen Vergangenheit zu ziehen. Die Seiten des<br />

Buches, die sich mit der politischen Säuberung und ihren Rückwirkungen auf die Re<strong>in</strong>tegration der<br />

Ju<strong>den</strong> befassen, s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> wichtiger Bauste<strong>in</strong>, um die Komplexität dieser Phase italienischer Geschichte<br />

zu verstehen. Ähnlich bedeutsam s<strong>in</strong>d die Ausführungen der Autor<strong>in</strong> zum Verhalten der italienischen<br />

L<strong>in</strong>ken gegenüber der jüdischen Welt – e<strong>in</strong> Thema, das die Forschung künftig verstärkt aufgreifen<br />

sollte und dem sich Giovanna D’Amico hauptsächlich über die Auswertung von Parlamentsdrucksachen<br />

nähert.<br />

Die Studie gliedert sich <strong>in</strong> zwei Teile, von <strong>den</strong>en sich der erste mit der Erblast des faschistischen<br />

Königreichs und der zweite mit der Erblast der Republik von Salò ause<strong>in</strong>andersetzt. Alles <strong>in</strong> allem<br />

umfasst das Buch zehn Kapitel, die <strong>in</strong>sbesondere <strong>den</strong> Gesetzen gewidmet s<strong>in</strong>d, die Ju<strong>den</strong>, aber auch<br />

politisch Verfolgte oder Heimkehrer betrafen und ihre Re<strong>in</strong>tegration regeln sollten. Darüber h<strong>in</strong>aus<br />

schenkt die Autoren der Rückerstattung entzogenen Vermögens und <strong>den</strong> speziellen Maßnahmen zur<br />

beruflichen Wiedere<strong>in</strong>gliederung von Ju<strong>den</strong> und politisch Verfolgten ihre Aufmerksamkeit. Dabei<br />

untersucht sie die Situation an Schulen und Hochschulen oder auch im Heer, wobei sie immer wieder<br />

die Schwierigkeiten hervorhebt, mit <strong>den</strong>en Ju<strong>den</strong> und politisch Verfolgte bei ihrer Re<strong>in</strong>tegration<br />

zu kämpfen hatten.<br />

Giovanna D’Amico unterstreicht, dass es mit Blick auf e<strong>in</strong>e politische Säuberung, die sich rasch<br />

als oberflächlich erwies, nicht nur um die Notwendigkeit g<strong>in</strong>g, <strong>den</strong>en ihre Arbeitsplätze zurückzugeben,<br />

die ke<strong>in</strong>e andere Möglichkeit hatten, ihren Lebensunterhalt <strong>in</strong> Würde zu bestreiten, sondern<br />

auch um die schwierigen Probleme, die mit der Rekonstruktion unterbrochener Karrieren und der<br />

Rückerstattung entzogenen Vermögens zusammenh<strong>in</strong>gen. Die aufmerksame und sorgfältige Rekonstruktion<br />

der Gesetzgebung erfordert vom Leser wegen der Komplexität der Materie und der spezifischen<br />

Sprache e<strong>in</strong>ige Anstrengung. Doch gerade wegen dieser Passagen ist Giovanna D’Amicos<br />

Buch <strong>für</strong> je<strong>den</strong> unverzichtbar, der sich künftig mit der Integration der Ju<strong>den</strong> <strong>in</strong> die italienische Nachkriegsgesellschaft<br />

befassen wird.<br />

Westliche Demokratien, Südeuropa und <strong>in</strong>ternationale Organisationen


356 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Anmerkungen:<br />

[1] Vgl. Ilaria Pavan/Guri Schwarz (a cura di): Gli ebrei <strong>in</strong> Italia tra persecuzione fascista e re<strong>in</strong>tegrazione<br />

postbellica, Florenz 2001; Guri Schwarz: Ritrovare se stessi. Gli ebrei nell’Italia<br />

postfascista, Rom/Bari 2004; Ilaria Pavan: Tra <strong>in</strong>differenza e oblio. Le conseguenze economiche<br />

delle leggi razziali <strong>in</strong> Italia 1938–1970, Florenz 2004.<br />

[2] Vgl. Michele Sarfatti: Gli Ebrei nell’Italia fascista. Vicende, i<strong>den</strong>tità, persecuzione, Tur<strong>in</strong> 2000;<br />

<strong>in</strong> deutscher Sprache: Gudrun Jäger/Liana Novelli-Glaab (Hrsg.): Ju<strong>den</strong>tum und Antisemitismus<br />

im modernen Italien, Berl<strong>in</strong> 2007.<br />

Aus dem Italienischen übersetzt von Thomas Schlemmer.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Westliche Demokratien, Südeuropa und <strong>in</strong>ternationale Organisationen


Gianluca Falanga: Mussol<strong>in</strong>is Vorposten <strong>in</strong> Hitlers Reich. Italiens Politik <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> 1933–1945,<br />

Berl<strong>in</strong>: L<strong>in</strong>ks 2008, ISBN 978-3-86153-493-8, 334 S., EUR 29,90<br />

Rezensiert von Patrick Bernhard<br />

Deutsches Historisches <strong>Institut</strong>, Rom<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 7/8<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/07/15336.html<br />

Es mag erstaunlich kl<strong>in</strong>gen, aber auch nach über 60 Jahren <strong>in</strong>tensiver<br />

Forschung zu Faschismus und Nationalsozialismus<br />

steht e<strong>in</strong>e Gesamtgeschichte der „Achse“ Berl<strong>in</strong> – Rom noch<br />

immer aus. [1] Diese Lücke versucht nun Gianluca Falanga,<br />

e<strong>in</strong> <strong>in</strong> Deutschland lebender junger Publizist, zu schließen. Er<br />

nähert sich dem Thema aus der Perspektive der italienischen<br />

Botschaft <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> an – Mussol<strong>in</strong>is „Vorposten“ <strong>in</strong> Deutschland,<br />

wie der Autor formuliert. Er möchte auf diese Weise<br />

h<strong>in</strong>ter die Kulissen der unheilvollen Allianz blicken und deren<br />

Dynamik, aber auch deren <strong>in</strong>nere Konflikte besser verstehen.<br />

Dazu stützt sich Falanga primär auf die e<strong>in</strong>schlägigen Aktenpublikationen<br />

der Außenm<strong>in</strong>isterien <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> und Rom sowie<br />

auf die reichhaltige Memoirenliteratur des beteiligten diplomatischen<br />

Personals aus <strong>den</strong> Jahren nach 1945.<br />

Um es vorab zu sagen: Die Studie h<strong>in</strong>terlässt e<strong>in</strong>en zwiespältigen<br />

E<strong>in</strong>druck. Das liegt erstens an der schmalen und nicht<br />

immer unproblematischen Materialgrundlage der Arbeit: Nicht<br />

publizierte Quellen wur<strong>den</strong> so gut wie gar nicht herangezogen,<br />

zudem s<strong>in</strong>d die Memoiren und Tagebücher der italienischen Botschaftsangehörigen, die Falanga<br />

zu Rate zieht, allesamt nach 1945 erschienen. Falanga hat sich hier nicht e<strong>in</strong>mal die Frage gestellt,<br />

<strong>in</strong>wieweit sich die Er<strong>in</strong>nerung der Akteure <strong>in</strong> der Rückschau überformte; immerh<strong>in</strong> galt es ja e<strong>in</strong>e<br />

beschönigende Erklärung da<strong>für</strong> zu f<strong>in</strong><strong>den</strong>, dass man e<strong>in</strong>er Diktatur zugearbeitet hatte. Diese Egodokumente<br />

sagen deshalb möglicherweise mehr über die Rechtfertigungsstrategien belasteter konservativer<br />

Eliten <strong>in</strong> der jungen italienischen Demokratie aus als über deren Agieren im Faschismus.<br />

Das leitet über auf <strong>den</strong> zweiten problematischen Punkt: Den Ansatz der Arbeit. Bereits Jens Petersen<br />

hatte größte Be<strong>den</strong>ken, se<strong>in</strong>e Studie zur Genesis der „Achse“ Berl<strong>in</strong> – Rom als klassische Diplomatiegeschichte<br />

zu schreiben. Handelte es sich mit Nationalsozialismus und Faschismus doch um zwei<br />

revolutionäre Bewegungen, die gerade die traditionelle Bürokratie zu überw<strong>in</strong><strong>den</strong> suchten – nicht<br />

zuletzt durch <strong>den</strong> Aufbau konkurrierender Parteistellen. Entsprechend bildete sich auch e<strong>in</strong>e Paralleldiplomatie<br />

aus. Wie Falanga selbst e<strong>in</strong>räumt, waren die Botschaften <strong>in</strong> Rom und Berl<strong>in</strong> bald bei wichtigen<br />

Themen nur mehr Zaungäste, die lediglich zur Organisation von Besuchsreisen von Staats- und<br />

Parteigrößen h<strong>in</strong>zugezogen wur<strong>den</strong>. Vom italienischen Überfall auf Albanien erfuhren die Botschaftsangehörigen<br />

<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> beispielsweise aus dem Radio.


358 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Auch bei Falanga sche<strong>in</strong>t zum<strong>in</strong>dest ansatzweise immer wieder auf, dass es sich bei der „Achse“<br />

um weitaus mehr handelte als e<strong>in</strong> herkömmliches Bündnis. In <strong>den</strong> zehn Jahren zwischen der „Machtergreifung“<br />

Hitlers und dem Sturz Mussol<strong>in</strong>is entwickelte sich vielmehr auf allen Ebenen – sei es<br />

Wirtschaft, Militär oder Staat – e<strong>in</strong> dichtes Netz von bilateralen Kontakten zwischen <strong>den</strong> bei<strong>den</strong><br />

Diktaturen. Falanga verweist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang etwa kurz auf die Zusammenarbeit zwischen<br />

<strong>den</strong> bei<strong>den</strong> politischen Polizeien sowie auf die Beziehungen zwischen der NSDAP und der Faschistischen<br />

Partei. All das lässt es sehr fraglich ersche<strong>in</strong>en, ob man über die diplomatischen Beziehungen<br />

im engeren S<strong>in</strong>ne wirklich zu vertieften E<strong>in</strong>sichten <strong>in</strong> <strong>den</strong> Charakter des faschistischen Achsenbündnisses<br />

gelangen kann.<br />

Gravierender noch s<strong>in</strong>d drittens die vielen Inkonsistenzen <strong>in</strong> der Argumentation Falangas. Der<br />

Autor beruft sich nämlich <strong>in</strong> der Darstellung auf zwei völlig konträre historiografische Deutungen<br />

des Faschismus. Zum e<strong>in</strong>en betont er unter Berufung auf Renzo De Felice, <strong>den</strong> man wohl als revisionistischen<br />

Historiker bezeichnen muss, wie unterschiedlich die bei<strong>den</strong> faschistischen Diktaturen angeblich<br />

gewesen seien. E<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Weltanschauung habe es nicht gegeben, so Falanga ganz<br />

explizit, der sich damit <strong>in</strong> das Fahrwasser des umstrittenen Mussol<strong>in</strong>ibiografen begibt (10). Nach<br />

Falangas festem Da<strong>für</strong>halten habe sich das faschistische Achsenbündnis im Gegenteil durch divergierende<br />

Interessen und machtpolitische Rivalitäten ausgezeichnet und sei daran letztlich auch gescheitert.<br />

Auf der anderen Seite weist Falanga jedoch – gestützt auf neueste, De Felice massiv widersprechende<br />

Forschungsliteratur [2] – auf weitreichende gegenseitige E<strong>in</strong>flussnahmen, enge Kooperationen<br />

und wachsende Aff<strong>in</strong>itäten <strong>in</strong> der faschistischen Allianz h<strong>in</strong>; hier liegen dann auch die Stärken des<br />

Buches. So macht der Autor etwa deutlich, wie sehr das bereits seit 1922 herrschende faschistische<br />

Regime nach der Machtergreifung Hitlers auf die noch junge deutsche Diktatur ausstrahlte: In zentralen<br />

Bereichen des nationalsozialistischen Herrschaftssystems kam es zu Lern- und Adaptionsprozessen.<br />

Falanga macht nicht nur darauf aufmerksam, dass die NS-Freizeitorganisation „Kraft durch<br />

Freude“ e<strong>in</strong>e be<strong>in</strong>ahe detailgetreue Kopie des faschistischen Dopolavoro darstellte. E<strong>in</strong>iges spricht<br />

zudem da<strong>für</strong>, dass sich auch die HJ von der faschistischen Jugendorganisation Balilla <strong>in</strong>spirieren<br />

ließ. Selbst <strong>in</strong> der Frage von Gewalt und Repression nahm sich das ‚Dritte Reichʻ allem Ansche<strong>in</strong><br />

nach am Faschismus e<strong>in</strong> Beispiel. Falanga kann hier gleich mit e<strong>in</strong>er ganzen Reihe e<strong>in</strong>deutiger<br />

Äußerungen Hitlers und se<strong>in</strong>es engsten Führungskreises aufwarten. Besonders aufschlussreich ist e<strong>in</strong><br />

Gespräch, das der neue Reichskanzler mit Botschafter Vittorio Cerrutti am 5. Februar 1933 führte.<br />

Gegenüber se<strong>in</strong>em italienischen Gesprächspartner zeigte sich Hitler voller Bewunderung da<strong>für</strong>, wie<br />

sehr es Italien seit der Machtergreifung Mussol<strong>in</strong>is verstan<strong>den</strong> habe, sich gegen <strong>den</strong> „Marxismus zu<br />

verteidigen“. Er werde <strong>in</strong> kurzer Zeit ebenfalls unter Beweis stellen, wie man mit dem Fe<strong>in</strong>d umzugehen<br />

habe. Das war nur zwei Wochen vor dem Reichstagsbrand, der Hitler dann als Vorwand diente,<br />

se<strong>in</strong>e Drohungen gegenüber der KPD und SPD wahr zu machen. Hier zeigt sich überaus e<strong>in</strong>drucksvoll,<br />

welch außeror<strong>den</strong>tliche Referenzpunkte der Faschismus und <strong>in</strong>sbesondere Mussol<strong>in</strong>i <strong>für</strong> Hitler<br />

darstellten.<br />

Wie das jedoch zusammengehen soll mit e<strong>in</strong>er „wachsen<strong>den</strong> Entfremdung“ der bei<strong>den</strong> Regime,<br />

die der Autor bereits <strong>für</strong> das Jahr 1933 attestiert, bleibt völlig unklar (41). Es s<strong>in</strong>d grundlegende Widersprüche<br />

dieser Art, die wohl verh<strong>in</strong>dern wer<strong>den</strong>, dass das Buch zu e<strong>in</strong>em Referenzpunkt der Forschung<br />

wer<strong>den</strong> wird, auch wenn der Autor <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Punkten zu <strong>in</strong>teressanten neuen E<strong>in</strong>sichten<br />

gelangt.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Bislang liegen lediglich die Studie von Jens Petersen zur Entstehung des faschistischen Achsenbündnisses<br />

sowie die entsprechen<strong>den</strong> Arbeiten von Lutz Kl<strong>in</strong>khammer und Frederick Deak<strong>in</strong><br />

Westliche Demokratien, Südeuropa und <strong>in</strong>ternationale Organisationen


359 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

vor, die aber erst <strong>in</strong> der Endphase des Bündnisses e<strong>in</strong>setzen. MacGregor Knox konzentriert sich,<br />

anders als es die Titel se<strong>in</strong>er Arbeiten erwarten lassen, stark auf die militärischen Aspekte der<br />

Allianz. Vgl. Jens Petersen: Hitler – Mussol<strong>in</strong>i. Die Entstehung der Achse Berl<strong>in</strong> – Rom 1933–<br />

1936, Tüb<strong>in</strong>gen 1973; Frederick W. Deak<strong>in</strong>: Die brutale Freundschaft. Hitler, Mussol<strong>in</strong>i und der<br />

Untergang des italienischen Faschismus, Zürich 1962; MacGregor Knox: Common Dest<strong>in</strong>y.<br />

Dictatorship, Foreign Policy, and War <strong>in</strong> Fascist Italy and Nazi Germany, Cambridge 2000; ders.:<br />

To the Threshold of Power, 1922/33: Orig<strong>in</strong>s and Dynamics of the Fascist and National Socialist<br />

Dictatorships, Bd. 1, Cambridge 2007.<br />

[2] Vgl. etwa Thomas Schlemmer (Hrsg.): Die Italiener an der Ostfront 1942/43. Dokumente zu Mussol<strong>in</strong>is<br />

Krieg gegen die Sowjetunion, München 2005.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Westliche Demokratien, Südeuropa und <strong>in</strong>ternationale Organisationen


Anto<strong>in</strong>e Fleury: Documents Diplomatiques Suisses – Diplomatische Dokumente der Schweiz –<br />

Documenti Diplomatici Svizzeri. Band 22: 1. Juli 1961 – 31. Dezember 1963, Zürich: Chronos<br />

Verlag 2009, 500 S., ISBN 978-3-0340-0966-9, EUR 50,00<br />

Rezensiert von Philip Ros<strong>in</strong><br />

Bonn<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 11<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/11/17097.html<br />

Bei der Editionsreihe Diplomatische Dokumente der Schweiz<br />

handelt es sich um die wichtigste und umfangreichste Quellensammlung<br />

zur Außenpolitik der Eidgenossenschaft im 19. und<br />

20. Jahrhundert. Zwischen 1979 und 1996 erschien zunächst<br />

e<strong>in</strong>e fünfzehnbändige Sammlung <strong>für</strong> <strong>den</strong> Zeitraum 1848 bis<br />

1945. Seit 1997 wird nun e<strong>in</strong>e neue Reihe <strong>für</strong> die Jahre seit<br />

1945 publiziert. Es soll hierbei „ke<strong>in</strong>e lückenlose Dokumentation<br />

außenpolitischer Ereignisse aus schweizerischer Sicht“<br />

erfolgen, sondern das Ziel der Editionsreihe besteht dar<strong>in</strong>,<br />

„die Grundzüge, die Leitl<strong>in</strong>ien und fundamentalen Gegebenheiten<br />

der <strong>in</strong>ternationalen Beziehungen der Schweiz“ zu verdeutlichen<br />

(Vorwort, XII).<br />

Als neutraler Kle<strong>in</strong>staat <strong>in</strong> der Mitte Europas reflektiert die<br />

Außenpolitik der Schweiz <strong>in</strong> der Regel <strong>den</strong> jeweiligen Zustand<br />

der Staatenwelt. Zu Beg<strong>in</strong>n der sechziger Jahre sahen sich die<br />

Diplomaten des Eidgenössischen Politischen Departements<br />

(EPD) mit e<strong>in</strong>er Vielzahl von Herauforderungen konfrontiert.<br />

Der Kalte Krieg befand sich e<strong>in</strong>er Phase der Konfrontation.<br />

Nachdem die Berl<strong>in</strong>-Krise mit der Errichtung der Berl<strong>in</strong>er Mauer ihren Höhepunkt erreicht hatte,<br />

diskutierten die Mitglieder der Schweizer Regierung am 15. September 1961 über die Kriegsgefahr<br />

<strong>in</strong> Europa und erörterten die <strong>in</strong> <strong>den</strong> Jahren 1914 und 1939 getroffenen Notfallmaßnahmen. Als neue<br />

Komponente stand nun allerd<strong>in</strong>gs das Schreckensszenario e<strong>in</strong>er nuklearen Konfrontation im Mittelpunkt<br />

der Überlegungen. Anläßlich der jährlichen Berner Botschafterkonferenz berichtete der Schweizer<br />

Vertreter <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton, August Rudolf L<strong>in</strong>dt, im Januar 1962, dass nach Ansicht der amerikanischen<br />

Regierung die Aussage des Generals von Clausewitz, wonach der Krieg die Fortsetzung der<br />

Diplomatie mit anderen Mitteln sei, im Atomzeitalter ihre Gültigkeit verloren habe. Die Relevanz<br />

dieser E<strong>in</strong>schätzung zeigte sich wenige Monate später <strong>in</strong> der Kuba-Krise. Die Schweiz vertrat seit<br />

Beg<strong>in</strong>n des Jahres 1961 die Interessen der USA auf der Karibik-Insel und verfügte über gute Gesprächskontakte<br />

zu bei<strong>den</strong> Seiten. Aber auch auf dem europäischen Kont<strong>in</strong>ent waren die „Guten<br />

Dienste“ der Schweiz gefragt. So vermittelte die Eidgenossenschaft unter Leitung des Diplomaten<br />

Olivier Long bei <strong>den</strong> Gesprächen zur Beendigung des Krieges <strong>in</strong> Algerien, dessen Unabhängigkeit<br />

Frankreich im Vertrag von Evian am 18. März 1962 anerkannte. Im Gespräch mit dem schweizerischen<br />

Außenm<strong>in</strong>ister Friedrich Traugott Wahlen brachte der französische Präsi<strong>den</strong>t Charles de Gaulle<br />

se<strong>in</strong>e Haltung auf <strong>den</strong> Punkt: „Frankreich braucht Algerien nicht.“ (60)


361 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

In der europäischen Politik verfolgte Großbritannien – das wichtigste Mitglied der European Free<br />

Trade Association (EFTA) – das Ziel e<strong>in</strong>es Beitritts zur Europäischen Wirtschafts-Geme<strong>in</strong>schaft.<br />

Auch die Schweiz überdachte nun ihr Verhältnis zur EWG und strebte – ebenso wie Österreich und<br />

Schwe<strong>den</strong> – e<strong>in</strong>e Form der Assoziierung an. In e<strong>in</strong>em Brief an Bundeswirtschaftsm<strong>in</strong>ister Ludwig<br />

Erhard <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Funktion als Vorsitzender des EWG-M<strong>in</strong>isterrats vom 15. Dezember 1961 erklärte<br />

Bundesrat Wahlen das Interesse se<strong>in</strong>es Landes an e<strong>in</strong>er Annäherung an die EWG und ersuchte um<br />

die Aufnahme von Verhandlungen. In e<strong>in</strong>er Rede vor dem EWG-M<strong>in</strong>isterrat im September 1962 <strong>in</strong><br />

Brüssel betonte Wahlen zudem das Ziel e<strong>in</strong>es geme<strong>in</strong>samen Europäischen Wirtschaftsraums. Die berühmte<br />

Pressekonferenz de Gaulles vom 14. Januar 1963, <strong>in</strong> der der General <strong>den</strong> Beitritt Großbritanniens<br />

zur EWG ablehnte, wirkte sich <strong>in</strong>direkt auch auf die Assoziationsbestrebungen der Schweiz<br />

aus. Im Juli 1961 hatten sich die EFTA-Mitgliedsstaaten auf e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames Vorgehen gegenüber<br />

der EWG gee<strong>in</strong>igt. Ohne die Vorreiterrolle Londons erschien der Schweiz e<strong>in</strong>e Annäherung an die<br />

europäischen <strong>Institut</strong>ionen wenig attraktiv. In der Folge wurde das Assoziationsgesuch gegenüber<br />

der EWG zwar offiziell aufrechterhalten, doch gleichzeitig fand e<strong>in</strong>e Rückorientierung auf die EFTA<br />

statt. Wie die Eidgenossenschaft erkennen musste, konnte sie im Gegenzug <strong>für</strong> ihre „Guten Dienste“<br />

nicht mit e<strong>in</strong>em Entgegenkommen <strong>in</strong> Sachfragen rechnen. Zu e<strong>in</strong>em erfolgreichen Abschluß gebracht<br />

wur<strong>den</strong> h<strong>in</strong>gegen die Verhandlungen über e<strong>in</strong>en Beitritt der Schweiz zum Europarat.<br />

Im Bereich der bilateralen Beziehungen bereitete das Verhältnis zu Spanien Probleme. Während<br />

der Botschafter <strong>in</strong> Madrid <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Bericht vom Oktober 1961 e<strong>in</strong>erseits die Rolle Spaniens im<br />

Kampf gegen <strong>den</strong> Kommunismus hervorhob, verweigerte die Schweiz dem Franco-Regime andererseits<br />

die Akkreditierung e<strong>in</strong>es Polizeiattachés an der spanischen Botschaft <strong>in</strong> Bern, dessen Aufgabe<br />

<strong>in</strong> der Überwachung spanischer Oppositioneller bestan<strong>den</strong> hätte. Die Schweiz mit ihrer republikanischen<br />

Tradition war <strong>in</strong> diesem Punkt besonders sensibel – schon zu Bismarcks Zeiten hatte die Aufnahme<br />

politischer Flüchtl<strong>in</strong>ge zu Konflikten mit dem europäischen Ausland geführt. In e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>ternen<br />

Notiz des EPD vom August 1962 wurde betont, „dass <strong>in</strong> Spanien e<strong>in</strong> politisches System herrscht,<br />

welches unserer Auffassung über demokratische Freiheiten nicht entspricht“ (213). Gegenüber der<br />

Regierung <strong>in</strong> Madrid wurde geltend gemacht, dass die Schweiz Überwachungsaktivitäten ausländischer<br />

Mächte auf ihrem Staatsgebiet nicht zustimmen könne, woraufh<strong>in</strong> Spanien das Akkreditierungsgesuch<br />

schließlich zurückzog.<br />

Weitere Dokumente behandeln <strong>den</strong> Prozess der Dekolonialisierung und die Anfänge der Entwicklungszusammenarbeit,<br />

das Verhältnis zur UNO, Aspekte der Außenwirtschafts- und F<strong>in</strong>anzbeziehungen<br />

sowie als neues Themenfeld die Migrationspolitik. Mit dem Ersche<strong>in</strong>en von Band 22 endet<br />

die langjährige Tätigkeit von Anto<strong>in</strong>e Fleury (Genf) als Leiter der Forschungsgruppe, <strong>für</strong> die zukünftig<br />

Sacha Zala (Bern) verantwortlich se<strong>in</strong> wird. Erweitert wird die neue Reihe durch die Internetdatenbank<br />

DoDiS (www.dodis.ch). Bei <strong>den</strong> Dokumenten der Druckfassung wird dabei auf weiterführende<br />

Quellen im Onl<strong>in</strong>ebestand verwiesen. Die editorischen Anmerkungen s<strong>in</strong>d im H<strong>in</strong>blick auf zusätzliche<br />

<strong>in</strong>haltliche Informationen vergleichsweise kurz gehalten, be<strong>in</strong>halten <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit dem Registerteil<br />

aber die <strong>für</strong> <strong>den</strong> Benutzer notwendigen H<strong>in</strong>weise auf Personen, Daten und Quellenbestände.<br />

Insgesamt bieten die Diplomatischen Dokumente der Schweiz (1.7.1961–31.12.1963) e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>teressanten<br />

E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> die vielfältigen Aktivitäten e<strong>in</strong>es neutralen Kle<strong>in</strong>staats <strong>in</strong> <strong>den</strong> <strong>in</strong>ternationalen<br />

Beziehungen im Zeitalter des Kalten Krieges und könnten dazu beitragen, das bei deutschen Forschern<br />

und Stu<strong>den</strong>ten vergleichsweise ger<strong>in</strong>ge Interesse an der politischen Geschichte unseres Nachbarlandes<br />

zu erhöhen.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Westliche Demokratien, Südeuropa und <strong>in</strong>ternationale Organisationen


Stefania Galassi: Pressepolitik im Faschismus. Das Verhältnis von Herrschaft und Presseordnung<br />

<strong>in</strong> Italien zwischen 1922 und 1940 (= Beiträge zur Kommunikationsgeschichte;<br />

Bd. 19), Stuttgart: Franz Ste<strong>in</strong>er Verlag 2008, 562 S., ISBN 978-3-515-08066-8, EUR 76,00<br />

Rezensiert von Malte König<br />

Universität des Saarlandes, Saarbrücken<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 4<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/04/15407.html<br />

Er sehe <strong>den</strong> faschistischen Journalismus als e<strong>in</strong> Orchester an,<br />

verkündete Mussol<strong>in</strong>i 1928 vor e<strong>in</strong>er Versammlung von Zeitungsdirektoren:<br />

„Das ‚Aʻ ist <strong>für</strong> alle gleich. Und dieses ‚Aʻ<br />

wird nicht von <strong>den</strong> Presseämtern der Regierung <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er<br />

Anregung oder e<strong>in</strong>es Ratschlages vorgegeben [...]. Es ist e<strong>in</strong><br />

‚Aʻ, das sich der faschistische Journalist selbst gibt. Er weiß,<br />

wie er dem Regime zu dienen hat.“ (345) Nach e<strong>in</strong>er Phase<br />

des Zwangs, der Säuberung und der Integration forderte Mussol<strong>in</strong>i<br />

e<strong>in</strong>en aktiven Beitrag der Presse. Der Diktator wünschte<br />

sich e<strong>in</strong>e bunte Presselandschaft, jede Zeitung dürfe e<strong>in</strong> eigenes<br />

Instrument darstellen und dem eigenen Temperament und<br />

Charakter folgen – doch habe dies <strong>in</strong> festem Glauben an <strong>den</strong><br />

Faschismus zu geschehen.<br />

Der Faschisierung der italienischen Presse widmet sich<br />

Stefania Galassi <strong>in</strong> ihrer Dissertation, die im W<strong>in</strong>ter 2005/06<br />

an der Freien Universität Berl<strong>in</strong> e<strong>in</strong>gereicht wurde. In <strong>den</strong><br />

Hauptl<strong>in</strong>ien basiert die Studie auf dem Forschungsstand des<br />

Jahres 2005, <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelaspekten wurde Literatur bis 2007 e<strong>in</strong>gearbeitet. Grundlegend waren zum<br />

Zeitpunkt der Abgabe die Gesamtdarstellungen von Philip Cannistraro und Paolo Murialdi [1], <strong>den</strong>en<br />

es aber nicht gelungen war, die Forschungslücke zufrie<strong>den</strong>stellend zu schließen. Fast zeitgleich zu<br />

Galassi erstellte aber auch Mauro Forno e<strong>in</strong>e Geschichte der faschistischen Pressepolitik [2] – und<br />

Galassi scheut sich nicht, diese zu loben. Dabei muss der Autor<strong>in</strong> recht unwohl gewesen se<strong>in</strong>, als sie<br />

von dem Werk erfuhr, das e<strong>in</strong>e recht ähnliche Zielsetzung verfolgt: Beide Bücher konzentrieren sich<br />

auf die Organisation und die Umstrukturierung der italienischen Presselandschaft. Doch Galassi<br />

braucht sich nicht zu verstecken. Unter Verwendung von Parlamentsakten, Gesetzestexten, Zeitungs-<br />

artikeln, Presseanweisungen, Memoiren und Korrespon<strong>den</strong>zen legt die Autor<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e wohlfundierte,<br />

gut durchdachte Studie vor, die zudem auf nicht geahnte Weise von ihren Deutschkenntnissen profitiert.<br />

So förderte z.B. die Durchsicht der Zeitschriften „Zeitungswissenschaft“ und „Zeitungsverlag“<br />

aussagekräftiges Material zutage, gerade <strong>in</strong> <strong>den</strong> Jahrgängen vor 1933.<br />

Galassi unterscheidet <strong>in</strong> ihrem Untersuchungszeitraum vier Handlungsebenen der Regierung: Die<br />

Niederschlagung der oppositionellen Presse, die E<strong>in</strong>gliederung der Journalisten <strong>in</strong> das faschistische<br />

Staatsgefüge, die Ausbildungspolitik und die Maßnahmen zur Lenkung der Zeitungs<strong>in</strong>halte. Ausgangspunkt<br />

<strong>für</strong> <strong>den</strong> ersten Schlag gegen die Pressefreiheit war die Matteotti-Krise im Jahr 1924.


363 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Nach der Ermordung des Sozialisten Giacomo Matteotti hatte die demokratische Presse an Bedeutung<br />

gewonnen, zumal die politische Opposition nur unbeholfen protestierte. Die Regierung manipulierte<br />

daraufh<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Pressedekret, sodass Zeitungen fortan ohne richterliche Erlaubnis beschlagnahmt wer<strong>den</strong><br />

konnten (129). Im folgen<strong>den</strong> Jahr wurde der Presseverband Federazione Nazionale della Stampa<br />

Italiana (FNSI) von <strong>den</strong> Faschisten unterwandert; fast alle Vorstände auf lokaler Ebene wur<strong>den</strong> ausgetauscht.<br />

Gleichzeitig nutzte das Regime se<strong>in</strong>en f<strong>in</strong>anziellen E<strong>in</strong>fluss und drang <strong>in</strong> die Geschäftsverhältnisse<br />

der Zeitungen e<strong>in</strong>. Da nahezu alle Blätter Subventionen erhielten, konnte die Regierung großen<br />

Druck ausüben: Besitzer wur<strong>den</strong> enteignet, Direktoren abgelöst. 1926 boten drei Attentate auf Mussol<strong>in</strong>i<br />

schließlich <strong>den</strong> Anlass, die Me<strong>in</strong>ungsfreiheit ganz aufzuheben und die antifaschistische Presse<br />

zu verbieten.<br />

Parallel dazu war das faschistische Pressesyndikat S<strong>in</strong>dacato Nazionale Fascista dei Giornalisti<br />

(SNFG) zu e<strong>in</strong>er Konkurrenz zum FNSI aufgebaut wor<strong>den</strong>, mit dem es 1926 fusionierte. Das Syndikat<br />

verfolgte e<strong>in</strong>e Politik von Zuckerbrot und Peitsche: E<strong>in</strong>erseits nahm es die Journalisten <strong>in</strong> die politische<br />

Pflicht und trieb <strong>den</strong> Säuberungsprozess <strong>in</strong> <strong>den</strong> Redaktionen voran, andererseits schuf es e<strong>in</strong>e<br />

Sozial<strong>für</strong>sorge und stärkte das Klassenbewusstse<strong>in</strong> des Berufsstands. Ende der zwanziger Jahre waren<br />

zwei Etappenziele auf dem Weg der Faschisierung erreicht: Die Elim<strong>in</strong>ierung der gegnerischen Presse<br />

und die E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung der Journalisten <strong>in</strong> die neue Staatsstruktur. Alle<strong>in</strong> die Begeisterung – e<strong>in</strong>e „faschistische<br />

Seele“ – fehlte; kennzeichnend <strong>für</strong> die neue Zeitungskultur war vielmehr ihre schleichende<br />

„Entpolitisierung.“ (335f.)<br />

Damit konnte das Regime nicht zufrie<strong>den</strong> se<strong>in</strong>. Auf Anregung von Ermanno Amicucci wurde 1929<br />

e<strong>in</strong>e Berufsschule <strong>für</strong> Journalisten gegründet. E<strong>in</strong> Heer regimetreuer Journalisten sollte herangezogen<br />

wer<strong>den</strong>. Die Anforderungen waren hoch; nur knapp 27 Prozent des ersten Jahrgangs schafften die<br />

Abschlussprüfung. Doch letztlich agierte die Schule der Parteiführung offenbar zu unabhängig. Ganz<br />

im S<strong>in</strong>ne Giuseppe Bottais wur<strong>den</strong> die Stu<strong>den</strong>ten zwar faschistisch erzogen, aber gleichzeitig im kritischen<br />

Blick geschult. Bereits 1933 war das Projekt gescheitert; die Schule musste schließen.<br />

Kern des späteren Apparats zur Kontrolle und Lenkung der Zeitungen war das Presseamt des Regierungschefs,<br />

das 1923 e<strong>in</strong>gerichtet wurde und ab 1926 an Bedeutung gewann. Unter Galeazzo Ciano<br />

wurde dieses Amt umstrukturiert und ab 1934 zu e<strong>in</strong>em Zentrum der Kultur- und Propagandapolitik<br />

ausgebaut. Mit der Bedeutungszunahme der Presseanweisungen geriet das Ziel des mündigen faschistischen<br />

Journalisten endgültig <strong>in</strong> <strong>den</strong> H<strong>in</strong>tergrund. Letztlich schaffte es das Regime lediglich, die Presseleute<br />

auf e<strong>in</strong>er bürokratischen, juristischen Ebene zu vere<strong>in</strong>nahmen. Schon während des Abess<strong>in</strong>ienkriegs<br />

stellte sich zudem heraus, dass auch die Diszipl<strong>in</strong>ierung der Presse nur unzureichend gelang.<br />

Immer wieder kam es zur Veröffentlichung von Militärgeheimnissen – e<strong>in</strong> Problem, das sich im<br />

Laufe des Zweiten Weltkriegs zu e<strong>in</strong>em Streitpunkt zwischen <strong>den</strong> Achsenpartnern entwickeln sollte. [3]<br />

In der Schlussanalyse kommt Galassi zu dem Ergebnis, dass e<strong>in</strong>e programmatische Pressepolitik<br />

nicht existierte; die Maßnahmen der Anfangsjahre erweckten vielmehr <strong>den</strong> E<strong>in</strong>druck e<strong>in</strong>es „<strong>in</strong>nenpolitischen<br />

Krisenmanagements.“ (494) Totalitarismus sei nicht die „Triebfeder“ der faschistischen<br />

Pressepolitik gewesen, die totalitären Bestrebungen hätten sich eher umgekehrt aus <strong>den</strong> politischen<br />

Ad-hoc-Entscheidungen entwickelt (509). Für die Zeit nach 1933 könne man h<strong>in</strong>gegen von e<strong>in</strong>em „gescheiterten<br />

Totalitarismus“ sprechen. Das gesamte Pressegefüge sei auf Kontrolle und Unterdrückung<br />

ausgerichtet wor<strong>den</strong>, aber der Apparat habe nie die angestrebte Effizienz erreicht.<br />

Knapp fallen die Kommentare zur katholischen Presse aus – und das, obwohl die Presseorgane des<br />

Vatikans wie Fremdkörper <strong>in</strong> die italienische Medienlandschaft ragten. Während sich Zeitungen wie<br />

der „Corriere della Sera“ immer schlechter verkauften, stieg die Auflage des „Osservatore Romano“<br />

steil an. Nun kann man e<strong>in</strong>wen<strong>den</strong>, dass die Kirche ihre Freiräume nicht übermäßig nutzte. Doch alle<strong>in</strong><br />

die Existenz ihrer Zeitungen reichte vermutlich aus, um die Diszipl<strong>in</strong> der anderen Blätter zu untergraben.<br />

Den guten E<strong>in</strong>druck, <strong>den</strong> die Studie h<strong>in</strong>terlässt, schmälert dieser E<strong>in</strong>wand aber nicht. Galassi<br />

Westliche Demokratien, Südeuropa und <strong>in</strong>ternationale Organisationen


364 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

bietet e<strong>in</strong>en detailreichen Überblick über die faschistische Pressepolitik und sie versteht es, die Ereignisse,<br />

Maßnahmen und Resultate <strong>in</strong> überzeugender Weise zu analysieren.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Philip V. Cannistraro: La fabbrica del consenso. Fascismo e mass media, Rom/Bari 1975; Paolo<br />

Murialdi: La stampa del regime fascista, Rom/Bari 1986.<br />

[2] Mauro Forno: La stampa del Ventennio. Strutture e trasformazioni nello stato totalitario, Soveria<br />

Mannelli 2005.<br />

[3] Malte König: Kooperation als Machtkampf. Das faschistische Achsenbündnis Berl<strong>in</strong>-Rom im<br />

Krieg 1940/41, Köln 2007, 149-176.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Westliche Demokratien, Südeuropa und <strong>in</strong>ternationale Organisationen


Daniele Ganser: Nato-Geheimarmeen <strong>in</strong> Europa. Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung.<br />

Mit e<strong>in</strong>em Vorwort von Georg Kreis. Aus dem Englischen übersetzt von Carsten<br />

Roth, 2. Aufl., Zürich: Orell Füssli Verlag 2008, 445 S., ISBN 978-3-280-06106-0, EUR 29,80<br />

Rezensiert von Tobias Hof<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 4<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/04/14558.html<br />

Unmittelbar nach dem E<strong>in</strong>marsch irakischer Truppen <strong>in</strong> Kuwait<br />

sorgte der italienische M<strong>in</strong>isterpräsi<strong>den</strong>t Giulio Andreotti am<br />

3. August 1990 <strong>für</strong> Schlagzeilen ganz anderer Art: Vor italienischen<br />

Senatoren enthüllte er die Existenz illegaler NATO-<br />

Geheimarmeen, die seit Beg<strong>in</strong>n des Kalten Krieges über ganz<br />

Europa verteilt gewesen seien. Se<strong>in</strong>e Aussagen lösten e<strong>in</strong>e<br />

Law<strong>in</strong>e der Empörung aus, die vor <strong>den</strong> italienischen Grenzen<br />

nicht Halt machte: Sukzessive sahen sich andere europäische<br />

Staats- und Regierungschefs gezwungen, zähneknirschend die<br />

Existenz derartiger E<strong>in</strong>heiten e<strong>in</strong>zugestehen. In Italien, der<br />

Schweiz und Belgien befassten sich anschließend parlamentarische<br />

Untersuchungskommissionen mit dieser Thematik. Nur<br />

die Verantwortlichen der NATO, des MI6 und der CIA hüllten<br />

und hüllen sich weiterh<strong>in</strong> <strong>in</strong> Schweigen.<br />

Der Schweizer Historiker Daniele Ganser legte im Jahr 2005<br />

<strong>in</strong> englischer Sprache erstmals e<strong>in</strong>e wissenschaftliche Studie<br />

über die Geheimarmeen der NATO vor, deren Ergebnisse auf<br />

se<strong>in</strong>er Dissertation beruhten. Mittlerweile wurde die Arbeit <strong>in</strong> neun Sprachen übersetzt und erschien<br />

im Jahr 2008 auch auf Deutsch. Ganser schildert detailliert die strategischen Konzepte, <strong>den</strong> Aufbau<br />

und die Struktur der „Stay-beh<strong>in</strong>d-Armeen“. Die Initiative <strong>für</strong> die Aufstellung der Untergrunde<strong>in</strong>heiten<br />

sei maßgeblich vom britischen und amerikanischen Geheimdienst ausgegangen und zu e<strong>in</strong>em<br />

späteren Zeitpunkt von NATO-Komitees koord<strong>in</strong>iert wor<strong>den</strong>. Ihre Aufgabe sei es gewesen, im Falle<br />

e<strong>in</strong>er sowjetischen Invasion <strong>den</strong> Widerstand <strong>in</strong> <strong>den</strong> besetzten Gebieten zu organisieren sowie Guerilla-<br />

und Sabotageaktionen durchzuführen. Bei der Rekrutierung des Personals seien die Planer <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton<br />

und London nicht gerade mit großen moralischen Be<strong>den</strong>ken vorgegangen: Es galt, <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie<br />

überzeugte Antikommunisten anzuwerben, wobei es ke<strong>in</strong>e Rolle spielte, ob es sich dabei um ehemalige<br />

Nationalsozialisten oder Faschisten handelte. Die Parlamente <strong>in</strong> <strong>den</strong> betroffenen Ländern seien von<br />

diesen Vorgängen nicht <strong>in</strong> Kenntnis gesetzt wor<strong>den</strong>.<br />

Die Invasion aus dem Osten blieb jedoch aus. Deswegen seien verstärkt die L<strong>in</strong>ksparteien – <strong>in</strong>sbesondere<br />

die kommunistischen Parteien – <strong>in</strong> Westeuropa <strong>in</strong> das Visier der „Stay-beh<strong>in</strong>d-E<strong>in</strong>heiten“<br />

gerückt. Die Untergrundarmeen, wie die italienische Gruppe „Gladio“, wollten e<strong>in</strong>e mögliche Machtübernahme<br />

der L<strong>in</strong>ken mit allen Mitteln verh<strong>in</strong>dern. Dabei schienen ihnen alle er<strong>den</strong>klichen Mittel


366 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Recht: Nach Gansers Me<strong>in</strong>ung unterstützten und förderten sie gezielt Terroraktionen wie <strong>den</strong> Anschlag<br />

auf der Piazza Fontana <strong>in</strong> Mailand 1969. Diese Attentate sollten <strong>den</strong> L<strong>in</strong>ken angelastet wer<strong>den</strong>, um<br />

sie <strong>in</strong> <strong>den</strong> Augen der Öffentlichkeit zu diskreditieren.<br />

Die lebendig und gut lesbar geschriebene Studie Gansers ist auf <strong>den</strong> ersten Blick überzeugend.<br />

Se<strong>in</strong> größtes Verdienst ist es, die verfügbaren Informationen über die „Stay-beh<strong>in</strong>d-E<strong>in</strong>heiten“ der<br />

NATO akribisch zusammengetragen und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er vorrangig deskriptiven Überblicksdarstellung <strong>für</strong><br />

e<strong>in</strong> breiteres Publikum aufbereitet zu haben. Hilfreich ist auch die Chronologie am Ende des Buches.<br />

Auf <strong>den</strong> zweiten Blick offenbart die Darstellung Gansers jedoch e<strong>in</strong>ige Schwächen, die <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie<br />

mit der Thematik und der damit verbun<strong>den</strong>en äußerst schwierigen Quellenlage zusammenhängen.<br />

Zwar weist der Autor immer wieder daraufh<strong>in</strong>, dass weder die USA, noch Großbritannien oder die<br />

NATO E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> relevante Aktenbestände gewährten. Jedoch h<strong>in</strong>dert ihn dies nicht, über die mögliche<br />

Involvierung der „Stay-beh<strong>in</strong>d-Armeen“ <strong>in</strong> terroristische Anschläge spekulative Thesen aufzustellen.<br />

Dabei stützte er sich ausschließlich auf Presseartikel, Zeitzeugenaussagen sowie Berichte<br />

parlamentarischer Untersuchungskommissionen, die jedoch gerade im Fall Italien kritisch zu bewerten<br />

s<strong>in</strong>d. Denn anders als Ganser dies suggeriert, konnte sich die Kommission <strong>in</strong> Italien aufgrund von<br />

Me<strong>in</strong>ungsverschie<strong>den</strong>heiten auf ke<strong>in</strong>en geme<strong>in</strong>samen Abschlussbericht e<strong>in</strong>igen. E<strong>in</strong>e kritische Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

mit <strong>den</strong> Quellen und e<strong>in</strong>e theoretisch-methodische H<strong>in</strong>führung an die Problematik<br />

der Geheimdienstgeschichtsschreibung wären wünschenswert gewesen. In diesem Zusammenhang<br />

ist ferner zu bedauern, dass die Arbeit Gansers ke<strong>in</strong> umfassendes Quellen- und Literaturverzeichnis<br />

aufweist.<br />

Ferner schleichen sich immer wieder Ungereimtheiten <strong>in</strong> die Darstellung e<strong>in</strong>, die zwar die These<br />

Gansers stützen, aber <strong>den</strong> historischen Gegebenheiten nicht immer entsprechen. Im Jahr 1972 waren<br />

die Brigate Rosse noch nicht die terroristische Organisation, die durch „kaltblütige Attentate“ (24) <strong>in</strong><br />

Italien ge<strong>für</strong>chtet war, wie dies Ganser suggeriert. Vielmehr war die Gruppe zu diesem Zeitpunkt<br />

nahezu unbekannt und hatte lediglich e<strong>in</strong>en Manager von Sit-Siemens <strong>für</strong> zwanzig M<strong>in</strong>uten entführt.<br />

Be<strong>in</strong>ahe ärgerlich ist die Schilderung der Entführung Aldo Moros: Ohne die Kontroversen über diesen<br />

wiederzugeben, rezipiert Ganser ausschließlich die Verschwörungstheorien. Gerade italienische<br />

Historiker wie Vladimiro Satta, Agost<strong>in</strong>o Giovagnoli oder Giovanni Sabbatucci haben jedoch <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

letzten Jahren überzeugend gegen diese Theorien Stellung bezogen. [1]<br />

Letztlich bleibt sogar fraglich, ob die länderspezifische Gliederung die optimale Wahl war, da sie<br />

Ganser selbst nicht strikt durchhält. Dadurch geht nicht nur der rote Fa<strong>den</strong> verloren, sondern es stellen<br />

sich auch immer wieder Redundanzen e<strong>in</strong>. Ferner mangelt es h<strong>in</strong> und wieder an e<strong>in</strong>er historischen<br />

Kontextualisierung: So unterstellt Ganser zum Beispiel e<strong>in</strong>e Kont<strong>in</strong>uität zwischen der Aufstellung<br />

von „Gladio“ <strong>in</strong> Italien, <strong>den</strong> rechtsterroristischen Bombenattentaten zwischen 1969 und 1974 sowie<br />

dem Anschlag <strong>in</strong> Bologna 1980. Dabei setzt er sich weder mit dem 1974 <strong>in</strong>itiierten Wandel <strong>in</strong> der<br />

italienischen Geheimdienstpolitik, noch mit der Tatsache ause<strong>in</strong>ander, dass spätestens seit <strong>den</strong> Stimmengew<strong>in</strong>nen<br />

der Kommunisten bei <strong>den</strong> Parlamentswahlen 1972 das Scheitern der „Strategie der<br />

Spannung“ offensichtlich war.<br />

Die Enthüllungen über illegale und jeglicher parlamentarischer Kontrolle entzogene Geheimarmeen<br />

<strong>in</strong> rechtsstaatlichen Demokratien schockierten nach dem Ende des Kalten Krieges zu Recht die Öffentlichkeit.<br />

Dass sie existierten und der strategischen Logik des Kalten Krieges entsprachen, ist nach<br />

Gansers Studie nicht mehr anzuzweifeln. Ob sie <strong>in</strong> dem Maße auch „Quelle des Terrors“ waren, wie<br />

Ganser behauptet, muss jedoch <strong>in</strong> Frage gestellt wer<strong>den</strong>. Es bleibt zukünftigen Forschungsarbeiten<br />

überlassen, diese Problematik weiter zu untersuchen und <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelstudien zu vertiefen.<br />

Westliche Demokratien, Südeuropa und <strong>in</strong>ternationale Organisationen


367 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Anmerkung:<br />

[1] Agost<strong>in</strong>o Giovagnoli: Il caso Moro. Una tragedia italiana, Bologna 2005; Giovanni Sabbatucci:<br />

I misteri del caso Moro, <strong>in</strong>: Miti e storia dell’Italia unita, hrsg. von Giovanni Belardelli u.a., Bologna<br />

1999, 217-221; Vladimiro Satta: Odissea nel caso Moro. Viaggio controcorrente attraverso<br />

la documentazione della Commissione Stragi, Rom 2003; Vladimiro Satta: Il caso Moro e i suoi<br />

falsi misteri, Saverio Mannelli 2006.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Westliche Demokratien, Südeuropa und <strong>in</strong>ternationale Organisationen


Malte König: Kooperation als Machtkampf. Das faschistische Achsenbündnis Berl<strong>in</strong>–<br />

Rom im Krieg 1940/41 (= Italien <strong>in</strong> der Moderne; Bd. 14), Köln: SH-Verlag 2007, 368 S.,<br />

ISBN 978-3-89498-175-4, EUR 34,80<br />

Rezensiert von MacGregor Knox<br />

London School of Economics and Political Science<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/05/13630.html<br />

This former doctoral thesis rests on extensive research <strong>in</strong><br />

German archives and on archival sound<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> Italy, Brita<strong>in</strong>,<br />

and the United States. At its best it provides a multidimensional<br />

analysis of some aspects of the Axis alliance <strong>in</strong><br />

1941/41, and of the mutual perceptions of the elites and peoples<br />

on both sides of the Alps. But difficulties <strong>in</strong> questionfram<strong>in</strong>g,<br />

perspective, source base, and topical and chronological<br />

coverage also suggest that it represents a noteworthy<br />

missed opportunity.<br />

In his <strong>in</strong>troduction König proclaims as his chief purpose<br />

the fill<strong>in</strong>g of a perceived gap <strong>in</strong> the literature, and proposes to<br />

fill it by analyz<strong>in</strong>g the extent to which Mussol<strong>in</strong>i’s débâcle <strong>in</strong><br />

Greece altered the <strong>in</strong>ternal dynamics of the alliance and the<br />

relationship between the two dictatorships (13-14). He structures<br />

the book <strong>in</strong>to seven topical chapters cover<strong>in</strong>g Italo-<br />

German cooperation and conflict <strong>in</strong> key areas: the military<br />

alliance; armaments production and economic relations; press<br />

and radio; Balkan occupation policy; the former South Tyrol<br />

and Italy’s surreptitious efforts to fortify its German frontiers; Italians <strong>in</strong> Germany (as workers) and<br />

Germans <strong>in</strong> Italy (as soldiers); and the attitudes on both sides of the Alps toward the alliance, as revealed<br />

<strong>in</strong> the flood of rumors and recrim<strong>in</strong>ations that accompanied Italy’s military failures and Germany’s<br />

Balkan and Mediterranean successes.<br />

The overrid<strong>in</strong>g difficulty with this approach is that a cross-section or snapshot conf<strong>in</strong>ed to 1940–<br />

41 cannot do justice to longer-term issues and causal forces central to the alliance. Worse still, what<br />

others have or have not written about the narrow chronological band König has chosen to explore<br />

appears to constitute the author’s primary frame of reference. No effort to tie the analysis to a broader<br />

understand<strong>in</strong>g of the historical trajectories of the two nations and regimes is perceptible. Perhaps<br />

<strong>in</strong> consequence the necessary effort to expla<strong>in</strong> <strong>in</strong> an orig<strong>in</strong>al way why th<strong>in</strong>gs happened as they did<br />

and not otherwise is largely lack<strong>in</strong>g. Understand<strong>in</strong>g the work<strong>in</strong>gs of the alliance – even <strong>in</strong> 1940/41 –<br />

requires <strong>in</strong>cisive treatment, however brief, both of its orig<strong>in</strong>s and of what the dictators, their pr<strong>in</strong>cipal<br />

subord<strong>in</strong>ates, and their key <strong>in</strong>stitutions saw <strong>in</strong> it, and sought from it.<br />

In the absence of a structured explanation of the prehistory of the Axis alliance and of the objectives<br />

that each dictator pursued through it, central issues appear seem<strong>in</strong>gly at random. Not until page


369 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

201 does the reader learn that the Germans had promised <strong>in</strong> spr<strong>in</strong>g 1939 to respect Fascist Italy’s<br />

Mediterranean-Balkan “spazio vitale” – an undertak<strong>in</strong>g clearly consigned by 1941 to the Wilhelmstrasse’s<br />

extensive collection of broken agreements. A broader frame of reference might have also<br />

helped to analyze phenomena such as Hitler’s dogged <strong>in</strong>sistence – despite the pressures of other<br />

fronts, the perceived strategic, operational, and tactical <strong>in</strong>competence of the Italians, and the skepticism<br />

of many of his pr<strong>in</strong>cipal subord<strong>in</strong>ates – on shor<strong>in</strong>g up Fascist Italy’s war effort. That <strong>in</strong>sistence<br />

only comes <strong>in</strong>to focus briefly <strong>in</strong> König’s conclusion (331-332). But Hitler had sought an Italian alliance<br />

from the beg<strong>in</strong>n<strong>in</strong>g of his career, and its achievement <strong>in</strong> 1936 to 1939 tied German power and<br />

prestige to Fascist Italy’s fate. Hence the Führer’s notable concern, amply on display <strong>in</strong> 1943, over<br />

the potential damage that Italian collapse might <strong>in</strong>flict upon his own charisma, domestic prestige,<br />

and control over the German armed forces. The sources of Hitler’s well-founded mistrust of the Italian<br />

monarchy and of key Mussol<strong>in</strong>i subord<strong>in</strong>ates such as the foreign m<strong>in</strong>ister and heir-apparent,<br />

Count Galeazzo Ciano, also rema<strong>in</strong> mysterious; König seems unaware of German <strong>in</strong>terception of<br />

Ciano’s w<strong>in</strong>ter 1939 to 1940 <strong>in</strong>discretions to the Belgians and Dutch about Germany’s impend<strong>in</strong>g<br />

western offensive. On the Italian side, König appears to ascribe Mussol<strong>in</strong>i’s option for war alongside<br />

Germany <strong>in</strong> 1939 to 1940 largely to the economic pressures of the moment (93-96, 328) – a stance<br />

that even a Marxist might condemn as “economism” <strong>in</strong> view of Mussol<strong>in</strong>i’s relentless quest s<strong>in</strong>ce<br />

1919 for a great ally similarly committed to overthrow<strong>in</strong>g the post-1918 world order.<br />

The author’s source base is also far too narrow for accuracy. König uses only six rolls out of over<br />

five hundred conta<strong>in</strong>ed <strong>in</strong> the easily accessible and vitally important U.S. National Archives microfilm<br />

collection of Italian army and high command documents captured <strong>in</strong> 1943 to 1945. He does not<br />

refer, <strong>in</strong> his discussion of Italy’s military-economic embarrassment <strong>in</strong> w<strong>in</strong>ter 1939 to 1940, to the<br />

rich British foreign office and cab<strong>in</strong>et documents, which might have thrown Mussol<strong>in</strong>i’s obduracy <strong>in</strong><br />

cl<strong>in</strong>g<strong>in</strong>g to the Axis <strong>in</strong>to sharper relief. König’s command of the Italian secondary literature is also<br />

sketchy. On the basis of contemporary German sources (124-125) he credits the Italians with nefarious<br />

schemes to pirate German tank designs; <strong>in</strong> actuality the German high command appears to have<br />

offered the Panzerkampfwagen III design freely and seems to have wanted to see German tanks produced<br />

<strong>in</strong> Italy – but Italian <strong>in</strong>dustry was perversely wedded to its own combat-<strong>in</strong>effective but more<br />

lucrative mach<strong>in</strong>es. [1] König also fails to def<strong>in</strong>e clearly the prece<strong>den</strong>ts and f<strong>in</strong>al objectives on both<br />

sides <strong>in</strong> the uneasy jo<strong>in</strong>t occupation of the Balkans. As a result, his discussion of occupation policy<br />

lacks perspective and direction.<br />

The military core of the Axis alliance comes up shortest <strong>in</strong> König’s analysis. He focuses on the<br />

high commands, but without break<strong>in</strong>g new conceptual or substantive ground, or explor<strong>in</strong>g the tactical<br />

and operational levels at which Italian performance and German condescension expla<strong>in</strong> so much<br />

about the alliance’s nature and fate. Insofar as König’s chapter on military cooperation has a purpose,<br />

it is to test the extent to which Italy preserved some small degree of freedom of movement<br />

with<strong>in</strong> the alliance after its <strong>in</strong>itial Balkan, Mediterranean, and North African disasters, and its subsequent<br />

desperate pleas for immediate military and economic aid from Berl<strong>in</strong>. König claims that Italy<br />

after December 1940 to January 1941 was not a “satellite”. But from that po<strong>in</strong>t onward only Hitler’s<br />

<strong>in</strong>sistence on sav<strong>in</strong>g the Duce’s prestige imperfectly masked German dom<strong>in</strong>ation of all essential<br />

strategic and operational decisions, and Italy’s total military-economic depen<strong>den</strong>ce on the Reich.<br />

Any residual power with<strong>in</strong> the alliance that Italy possessed depended on an <strong>in</strong>creas<strong>in</strong>gly overt threat<br />

to collapse. That threat, characteristic of client states and often notably effective, was hardly evi<strong>den</strong>ce<br />

of Italian freedom. Inexplicably, the author also mentions only <strong>in</strong> pass<strong>in</strong>g, <strong>in</strong> connection with<br />

public op<strong>in</strong>ion, the one genu<strong>in</strong>ely significant Italian strategic <strong>in</strong>itiative from 1941 onward, Mussol<strong>in</strong>i’s<br />

harebra<strong>in</strong>ed <strong>in</strong>sistence, to Berl<strong>in</strong>’s <strong>in</strong>itial embarrassment, on jo<strong>in</strong><strong>in</strong>g Germany’s war of annihilation<br />

aga<strong>in</strong>st Soviet Russia. König is <strong>in</strong>deed correct <strong>in</strong> suggest<strong>in</strong>g that the history of the Axis alli-<br />

Westliche Demokratien, Südeuropa und <strong>in</strong>ternationale Organisationen


370 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

ance is worthy of further <strong>in</strong>vestigation. But this work lacks the necessary breadth, depth, and conceptual<br />

imag<strong>in</strong>ation.<br />

Note:<br />

[1] Lucio Ceva/Andrea Curami: La meccanizzazione dell’esercito italiano dalle orig<strong>in</strong>i al 1943,<br />

Rome 1989, vol. 1, 363-76 – a sem<strong>in</strong>al work König does not cite.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Westliche Demokratien, Südeuropa und <strong>in</strong>ternationale Organisationen


Jürgen Mittag: Kle<strong>in</strong>e Geschichte der Europäischen Union. Von der Europaidee bis zur<br />

Gegenwart, Münster: Aschendorff 2008, 344 S., ISBN 978-3-402-00234-6, EUR 16,80<br />

Rezensiert von Veronika Heyde<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 6<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/06/15367.html<br />

Im letzten Kapitel se<strong>in</strong>es Buches verweist Jürgen Mittag auf<br />

die kaum mehr überschaubare Flut an wissenschaftlichen<br />

Neuersche<strong>in</strong>ungen, die aufzeige, wie sehr das Thema europäische<br />

E<strong>in</strong>igung die zeithistorische Forschung beschäftige (319).<br />

In der Tat erfreut sich die „Erfolgsgeschichte“ der europäischen<br />

Integration, deren Erforschung bereits <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1970er Jahren<br />

angestoßen wurde, wachsender Beliebtheit. Daher drängt sich<br />

die Frage auf, was <strong>den</strong>n unter der Überschrift „Kle<strong>in</strong>e Geschichte<br />

der Europäischen Union“ noch Neues zu Papier gebracht<br />

wer<strong>den</strong> kann, zumal der Untertitel „Von der Europaidee<br />

bis zur Gegenwart“ die Vermutung verstärkt, dass es sich<br />

bei dem hier besprochenen Buch um e<strong>in</strong>e Wiedererzählung<br />

bekannter Fakten handelt.<br />

Doch Jürgen Mittag überrascht <strong>den</strong> Leser, <strong>den</strong>n er hat es<br />

geschafft, e<strong>in</strong>e zwar <strong>in</strong>haltlich nicht neue, aber lesenswerte<br />

und anregende Geschichte der europäischen E<strong>in</strong>igung vorzulegen.<br />

Auf 330 Seiten schildert er anschaulich die Entstehung<br />

der Europäischen Union und bietet e<strong>in</strong>en Überblick über die<br />

verschie<strong>den</strong>en Interpretationsansätze der Forschung sowie die historiografische und politikwissenschaftliche<br />

Literatur. Die e<strong>in</strong>zelnen Kapitel wer<strong>den</strong> von e<strong>in</strong>er kurzen Zusammenfassung e<strong>in</strong>geleitet,<br />

be<strong>in</strong>halten nützliche Karten und kompakte Tabellen und mün<strong>den</strong> jeweils <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e sorgsam erstellte<br />

Auswahlbibliografie als Handreichung <strong>für</strong> <strong>den</strong> <strong>in</strong>teressierten Leser. Somit wird das Buch se<strong>in</strong>em Ziel<br />

gerecht, „Studieren<strong>den</strong> im Grundstudium, Schülern und Lehrern e<strong>in</strong>en Zugang zu <strong>den</strong> wichtigsten<br />

Etappen des europäischen E<strong>in</strong>igungsprozesses zu eröffnen.“ (8) Es geht sogar e<strong>in</strong> wenig darüber<br />

h<strong>in</strong>aus, <strong>den</strong>n die e<strong>in</strong>zelnen Etappen wer<strong>den</strong> nicht schulbuchartig aufgezählt, sondern problematisiert<br />

und sowohl mit ihrer Vorgeschichte als auch mit der weiteren Entwicklung <strong>in</strong> Beziehung gesetzt.<br />

Mittag def<strong>in</strong>iert die Geschichte der Europäischen Union als unvollendeten Prozess und geht bei<br />

der Schilderung ihrer Entstehungsgeschichte sowohl chronologisch als auch thematisch vor. Nach<br />

der e<strong>in</strong>leiten<strong>den</strong> Darstellung der Entwicklung des Europagedankens bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs<br />

wird der Weg zum Schuman-Plan und zu <strong>den</strong> Römischen Verträgen beschrieben. Dabei erläutert<br />

der Autor auch e<strong>in</strong>ige Teilaspekte, die <strong>in</strong> re<strong>in</strong>en Überblicksdarstellungen normalerweise ke<strong>in</strong>en<br />

Platz f<strong>in</strong><strong>den</strong>. So beschränkt sich Mittag zum Beispiel nicht darauf, die allseits bekannte Geschichte<br />

des Schuman-Plans zu rekapitulieren. Er stellt vielmehr auch die Vorläufer dieses Plans vor und zitiert<br />

die bereits 1948 vom nordrhe<strong>in</strong>-westfälischen M<strong>in</strong>isterpräsi<strong>den</strong>ten Karl Arnold geäußerten Überlegun-


372 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

gen zu e<strong>in</strong>em „genossenschaftlichen Zweckverband“ (76), die <strong>in</strong> der Tat nicht ohne E<strong>in</strong>fluss auf<br />

Robert Schuman und Jean Monnet blieben. Bei der weiteren Unterteilung der Kapitel fällt auf, dass<br />

Mittag nicht wie oft üblich <strong>den</strong> Haager Gipfel und <strong>den</strong> Beg<strong>in</strong>n der Europäischen Politischen Zusammenarbeit<br />

1969 oder die erste Norderweiterung 1973 als Zäsur wählt, sondern das Jahr 1974 mit<br />

der Konstituierung des Europäischen Rats, „der die europäische E<strong>in</strong>igung <strong>in</strong> <strong>den</strong> folgen<strong>den</strong> Jahrzehnten<br />

wie ke<strong>in</strong>e andere geprägt hat.“ (160) Zur Veranschaulichung der Funktionsweise dieser <strong>Institut</strong>ion<br />

lässt Mittag auch Akteure zu Wort kommen, die sonst eher selten erwähnt wer<strong>den</strong>, aber<br />

durchaus e<strong>in</strong>e wichtige Rolle spielten. So wird zum Beispiel der ranghohe Kommissionsbeamte<br />

Marcell von Donat zitiert, dessen po<strong>in</strong>tierte Beschreibung der Entwicklung der europäischen Gipfeltreffen<br />

meist nur e<strong>in</strong>em spezialisierten Fachpublikum bekannt ist.<br />

Was die Phase der sogenannten Eurosklerose betrifft, so betont Mittag, die unterstützende Kraft<br />

der europäischen Öffentlichkeit habe gefehlt, um dem E<strong>in</strong>igungsprozess neue Impulse zu geben. Zugleich<br />

weist er allerd<strong>in</strong>gs darauf h<strong>in</strong>, dass <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1970er und 1980er Jahren, die aufgrund des mangeln<strong>den</strong><br />

Enthusiasmus der Bürger als „dark ages“ verschrien s<strong>in</strong>d, die Vertiefung der Geme<strong>in</strong>schaft<br />

trotzdem voran getrieben wurde. Als letzte Etappe auf dem Weg zur Europäischen Union def<strong>in</strong>iert<br />

Mittag die Zeit vom Ende des Ost-West-Konflikts bis zum Vertrag von Nizza. Abschließend diskutiert<br />

er die Probleme der auf 27 Mitglieder erweiterten Geme<strong>in</strong>schaft, geht auf juristische Fe<strong>in</strong>heiten der<br />

europäischen Rechtsprechung e<strong>in</strong> und wirft die Frage nach der Zukunft auf.<br />

Diese Frage ist umso wichtiger, als sich die Europäische Union seit dem irischen Ne<strong>in</strong> zum Vertrag<br />

von Lissabon <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Krise bef<strong>in</strong>det, deren Ausgang noch ungewiss ist. Europa fehlt es an Orientierung<br />

und an e<strong>in</strong>er Idee, mit der sich die Bürger aller Mitgliedsstaaten i<strong>den</strong>tifizieren könnten. Noch<br />

immer ist die nationalstaatliche Logik nicht durchbrochen, und es ist fraglich, wie das neue, große<br />

Europa zusammengehalten wer<strong>den</strong> kann. Mittag versäumt es nicht, auf die Probleme der Geme<strong>in</strong>schaft<br />

im 21. Jahrhundert h<strong>in</strong>zuweisen und anzudeuten, dass die seit 1969 bestehen<strong>den</strong> Maximen<br />

„Vertiefung, Erweiterung, Vollendung“ ihre Schuldigkeit getan hätten. Um <strong>den</strong> Elan der Integration<br />

aufrechtzuerhalten, sei eher Differenzierung und Flexibilität das Gebot der Stunde. Doch dieser Gedanke<br />

wird nicht näher ausgeführt, sodass die Frage offen bleibt, wie die Union umgestaltet wer<strong>den</strong><br />

könnte. Denn um die Europäer zu mobilisieren und nicht <strong>in</strong> der momentanen zweiten Eurosklerose<br />

zu verharren, muss das „Modell Europa“ vielleicht neu gedacht wer<strong>den</strong>.<br />

Da<strong>für</strong> ist es <strong>in</strong> jedem Fall wichtig, die Vorgeschichte zu kennen, und wer sich darüber <strong>in</strong>formieren<br />

will, ist bei Jürgen Mittag gut aufgehoben. Se<strong>in</strong>e „Kle<strong>in</strong>e Geschichte der Europäischen Union“ ist<br />

e<strong>in</strong> gelungenes Werk über die von Hoffnungen, Krisen und Erfolgen geprägte Entstehung der Europäischen<br />

Union.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Westliche Demokratien, Südeuropa und <strong>in</strong>ternationale Organisationen


Giovanni Moro: Anni Settanta, Tor<strong>in</strong>o: Giulio E<strong>in</strong>audi Editore 2008, 152 S.,<br />

ISBN 978-88-06-18208-3, EUR 9,00<br />

Rezensiert von Fiammetta Balestracci<br />

Istituto storico italo-germanico, Trient<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 2<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/02/15116.html<br />

Anders als es der Titel erwarten lässt, bietet das Buch von<br />

Giovanni Moro ke<strong>in</strong>e Bilanz der siebziger Jahre. Der Autor<br />

versucht dagegen mit Erfolg, dem Leser e<strong>in</strong>en Schlüssel zum<br />

Verständnis dieser Dekade <strong>in</strong> die Hand zu geben und diese<br />

zugleich <strong>in</strong> der italienischen <strong>Zeitgeschichte</strong> zu verorten. Moro<br />

konstatiert beim Umgang mit <strong>den</strong> siebziger Jahren e<strong>in</strong> Paradox,<br />

dem man bis heute nicht entgehen konnte. Weil sich das<br />

Erbe dieses Dezenniums als bis <strong>in</strong> die Gegenwart prägend erwiesen<br />

hat, ist es schwierig, sich unbee<strong>in</strong>flusst von eben diesem<br />

Erbe und ohne emotionale Regungen damit ause<strong>in</strong>anderzusetzen.<br />

Die siebziger Jahre unterliegen noch immer e<strong>in</strong>em<br />

Phänomen, das Moro als „Pathologie der Er<strong>in</strong>nerung“ bezeichnet<br />

– geprägt von Schweigen, Scham oder Wehmut –, sodass<br />

zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong> Teil der Intellektuellen diesem Thema ausweicht,<br />

anstatt echtes Interesse da<strong>für</strong> zu entwickeln. In der Tat gibt es<br />

nicht eben viele Studien, die unser Wissen über dieses Jahrzehnt<br />

auf e<strong>in</strong>er sicheren methodologisch-heuristischen Basis<br />

erweitert haben, die es erlaubt, von <strong>den</strong> <strong>in</strong>tellektuellen Parametern<br />

des Untersuchungszeitraums zu abstrahieren. Darunter<br />

bef<strong>in</strong><strong>den</strong> sich mit Marica Tolomellis Terrorismo e società und<br />

Marco Grispignis 1977zwei Bücher, die <strong>in</strong> diesem Zusammenhang<br />

besondere Erwähnung verdienen.<br />

Moro geht von ungelösten Problemen der Gegenwart aus und stellt fest, dass es ke<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong><br />

akzeptierte Er<strong>in</strong>nerung an e<strong>in</strong>e Phase italienischer Geschichte gibt, die durch charakteristische Entwicklungen<br />

gekennzeichnet war: Zum e<strong>in</strong>en durch terroristische Gewalt, vom Attentat auf der Piazza<br />

Fontana am 12. Dezember 1969 bis zum Anschlag auf <strong>den</strong> Bahnhof von Bologna am 2. August<br />

1980; zum zweiten durch <strong>den</strong> Verschleiß der Mitte-L<strong>in</strong>ks-Regierungen und das Ende des Frühl<strong>in</strong>gs<br />

des Partito Comunista Italiano (PCI), dem die konfliktreiche Kooperation mit der Democrazia Cristiana<br />

(DC) auf Dauer mehr schadete als nützte. Zum dritten durch massive Arbeitskämpfe, die mit<br />

e<strong>in</strong>er schweren Niederlage der Gewerkschaften und gleichsam dem Verschw<strong>in</strong><strong>den</strong> der Arbeiterklasse<br />

endeten, und schließlich durch Schlüsselereignisse der <strong>in</strong>ternationalen Politik wie <strong>den</strong> Wahlsieg e<strong>in</strong>es<br />

L<strong>in</strong>ksbündnisses <strong>in</strong> Chile und der islamischen Revolution im Iran, die als Ausgangspunkt <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e<br />

neue Phase religiöser Konflikte gelten kann.


374 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Jedes der genannten Ereignisse, verstan<strong>den</strong> als symbolischer Er<strong>in</strong>nerungsort, wäre geeignet, aus<br />

diesem Jahrzehnt e<strong>in</strong>e abgeschlossene Epoche mit e<strong>in</strong>er spezifischen Signatur zu machen. Mit Blick<br />

auf die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat man mit e<strong>in</strong>igem Recht von <strong>den</strong> „langen<br />

70er Jahren“ gesprochen und darauf h<strong>in</strong>gewiesen, dass sich zwischen 1969 und 1982 die politische<br />

Hegemonie der Sozialdemokratie verbraucht habe. [1] In Italien war diese Phase durch die Zusammenarbeit<br />

von DC und PCI geprägt, die zu e<strong>in</strong>er Schwächung der oppositionellen Kräfte im politischen<br />

System des Landes führte. Dadurch entstand e<strong>in</strong>e Art Vakuum, das demokratischen Basisorganisationen<br />

außerhalb der etablierten Strukturen zugutekam, aber auch dem Terrorismus Vorschub leistete.<br />

Für Moro gibt es e<strong>in</strong>e Reihe von Schlüsselbegriffen zum Verständnis der siebziger Jahre: Reform,<br />

Partizipation, Subjekt, Freiheit, Kommunikation, Überzeugung, Gewalt und Krise. Die italienischen<br />

Historiker haben <strong>in</strong>sbesondere auf das Leitmotiv Krise gesetzt, um die spezifische Signatur dieser<br />

Dekade herauszuarbeiten [2], und s<strong>in</strong>d damit e<strong>in</strong>ig mit ihren deutschen Kollegen, die Krise und<br />

Strukturwandel <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Atemzug nennen, wenn sie von <strong>den</strong> siebziger Jahren sprechen. Dabei hat<br />

Konrad Jarausch aber auch die „Ko<strong>in</strong>zi<strong>den</strong>z von Krisenrhetorik und Aufbruchsstimmung“ hervorgehoben<br />

[3], die sich mit Giovanni Moro auch <strong>in</strong> der widersprüchlichen Dynamik des Verschw<strong>in</strong><strong>den</strong>s<br />

zahlreicher Traditionen und des Durchbruchs neuer Lebensstile erkennen lässt. Neue Formen<br />

politischer Partizipation waren <strong>in</strong> <strong>den</strong> siebziger Jahren ebenso zu erkennen wie größere Spielräume<br />

etwa <strong>für</strong> Frauen und junge Menschen, ihr eigenes Leben zu leben, oder e<strong>in</strong>e Beschleunigung der<br />

Kommunikation. Vor allem aber, so Moro, bemühten sich die Reformkräfte <strong>in</strong> der Zivilgesellschaft<br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong> siebziger Jahren darum, die Blocka<strong>den</strong> der italienischen Demokratie aufzubrechen, <strong>in</strong> der e<strong>in</strong><br />

Wechsel unmöglich schien. Die Tatsache, dass sich diese Hoffnung nicht erfüllte und e<strong>in</strong>e echte<br />

Veränderung erst mit großer Verzögerung nach 1989 e<strong>in</strong>setzte, forderte nach Me<strong>in</strong>ung des Autors<br />

„e<strong>in</strong>en ausnehmend hohen Preis <strong>in</strong> der Form ausgebliebener Modernisierung, e<strong>in</strong>er tiefen Vertrauenskrise<br />

zwischen Bürgern und politischer Führung sowie e<strong>in</strong>er Erstarrung der Eliten und ihrer Kultur“.<br />

Im Übrigen konzentriert sich Moros Analyse auf die verbreiteten <strong>in</strong>tellektuellen Deutungen der<br />

siebziger Jahre, wobei er offensichtlich die Absicht verfolgt, die <strong>in</strong>teressierten Gelehrten e<strong>in</strong>zula<strong>den</strong>,<br />

sich e<strong>in</strong> <strong>für</strong> alle Mal bestimmter Scheuklappen zu entledigen. Unter <strong>den</strong> „Gespenstern“, die noch<br />

immer im öffentlichen Leben der Nation herumgeistern und der Forschung Grenzen setzen, ist etwa<br />

jenes von Aldo Moro. Der 1978 entführte und ermordete Vater des Autors ist e<strong>in</strong>erseits immer wieder<br />

Gegenstand verschwörungstheoretischer Literatur, die verborgene Intrigen aus dem Staatsapparat zu<br />

enthüllen sucht und die Ermordung des Politikers als Versuch ersche<strong>in</strong>en lässt, die Stabilität Italiens<br />

zu untergraben. Andererseits gibt es aber auch „revisionistische“ Stimmen, die genau entgegengesetzt<br />

argumentieren und jede Spur e<strong>in</strong>es Mysteriums <strong>in</strong> der Geschichte jener Jahre leugnen. Die Schwierigkeit,<br />

diese e<strong>in</strong>gefahrenen Interpretationsmuster abzulegen, hängt mit dem Problem zusammen, das<br />

ideologisch aufgeheizte Klima des Kalten Krieges h<strong>in</strong>ter sich zu lassen, das <strong>in</strong> Italien vor allem <strong>in</strong><br />

der Debatte um die siebziger Jahre noch immer se<strong>in</strong>e Wirkung tut. Damit wird aber e<strong>in</strong>e Dynamik<br />

befördert, die vor allem auf Glaubenssätze achtet und weniger Wert auf die nüchterne Analyse von<br />

Ereignissen, Strukturen und Prozessen legt. So erklärt sich auch die große Aufmerksamkeit <strong>für</strong> das<br />

facettenreiche, im Gegensatz zur katholischen Welt stehende kommunistische Milieu und die Vernachlässigung<br />

anderer Trends wie der beg<strong>in</strong>nen<strong>den</strong> Renaissance des (Neo-)Liberalismus, deren Folgen<br />

<strong>für</strong> Wirtschaft und Gesellschaft bis heute zu spüren s<strong>in</strong>d.<br />

Nicht wenige historische Studien s<strong>in</strong>d von e<strong>in</strong>er Sichtweise geprägt, die auf der Dynamik von Gegensätzen<br />

beruht. Bis heute hat die italienische Öffentlichkeit beispielsweise die Opfer des Terrorismus<br />

weitgehend sich selbst überlassen – wie man es <strong>in</strong> der Nachkriegszeit lange mit <strong>den</strong> Opfern der Deportationen<br />

und des Bürgerkriegs gemacht hat –, weil man aus Furcht vor e<strong>in</strong>er ernsthaften Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

mit der Vergangenheit <strong>den</strong> Beweggrün<strong>den</strong> der oft rehabilitierten und sogar mit Beifall bedachten<br />

Täter <strong>den</strong> Vorzug gegeben hat. Diese Tatsache, so Moro, erklärt auch, warum der Terrorismus<br />

Westliche Demokratien, Südeuropa und <strong>in</strong>ternationale Organisationen


375 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Italien immer wieder heimsucht. Auch sollte man nicht damit fortfahren, „1968“ als Wiege allen<br />

Übels <strong>für</strong> das kommende Jahrzehnt zu betrachten, sondern hier vielmehr „<strong>den</strong> Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er großen<br />

Bewegung zur Demokratisierung des täglichen Lebens (öffentlich wie privat)“ zu sehen, „die es dem<br />

Land <strong>in</strong> <strong>den</strong> siebziger Jahren ermöglicht hat, die Befreiung von überholten Strukturen, autoritären<br />

Verhaltensweisen, kulturellem Prov<strong>in</strong>zialismus etc. e<strong>in</strong>zuleiten“. Man müsse, betont Moro abschließend,<br />

heute neu über die siebziger Jahre nach<strong>den</strong>ken und Er<strong>in</strong>nerungen durch die Aufarbeitung der<br />

Vergangenheit ersetzen, um e<strong>in</strong>er Dekade gerecht zu wer<strong>den</strong>, die als wichtige Übergangsphase oder<br />

– um mit Jarausch zu sprechen – als direkte Vorgeschichte unserer Gegenwart verstan<strong>den</strong> wer<strong>den</strong><br />

kann.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Vgl. Konrad H. Jarausch: Krise oder Aufbruch? Historische Annäherungen an die 1970er-Jahre,<br />

<strong>in</strong>: Zeithistorische Forschungen 3 (2006), 334-341; und ders.: Verkannter Strukturwandel. Die<br />

siebziger Jahre als Vorgeschichte der Probleme der Gegenwart, <strong>in</strong>: ders. (Hrsg.): Ende der Zuversicht?<br />

Die siebziger Jahre als Geschichte, Gött<strong>in</strong>gen 2008, 9-26.<br />

[2] Vgl. Luca Baldissara (a cura di): Le radici della crisi. L’Italia tra gli anni Sessanta e Settanta,<br />

Rom 2001; und ders. (a cura di): Tempi di conflitti, tempi di crisi. Contesti e pratiche del conflitto<br />

sociale a Reggio Emilia nel lunghi anni settanta, Neapel 2008.<br />

[2] Jarausch: Verkannter Strukturwandel, 15.<br />

Aus dem Italienischen übersetzt von Thomas Schlemmer.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Westliche Demokratien, Südeuropa und <strong>in</strong>ternationale Organisationen


Ilaria Pavan: Il podestà ebreo. La storia di Renzo Ravenna tra fascismo e leggi razziali,<br />

Bari/Roma: Editori Laterza 2006, 305 S., ISBN 978-88-420-7899-9, EUR 18,00<br />

Rezensiert von Hans Woller<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 6<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/06/16234.html<br />

Die Geschichte von Renzo Ravenna ist ohne Beispiel. Er war<br />

der erste und e<strong>in</strong>zige Jude, der nach dem sogenannten Marsch<br />

auf Rom im Oktober 1922 zum Bürgermeister ernannt wurde;<br />

von 1926 bis 1938 hielt er sich <strong>in</strong> diesem herausgehobenen<br />

Amt – und zwar <strong>in</strong> Ferrara, e<strong>in</strong>er frühen Hochburg des Faschismus,<br />

<strong>in</strong> der bis weit <strong>in</strong> die dreißiger Jahre h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> die eigentliche<br />

Nummer Zwei des Regimes und Mussol<strong>in</strong>is wichtigster Gegenspieler,<br />

Italo Balbo, fast une<strong>in</strong>geschränkt herrschte.<br />

E<strong>in</strong> speziell gelagerter Sonderfall ohne größeren Erklärungswert<br />

<strong>für</strong> die Geschichte des Faschismus und der Ju<strong>den</strong><br />

<strong>in</strong> Italien? Im Gegenteil: Ilaria Pavan, e<strong>in</strong>e junge, <strong>in</strong> Pisa lehrende<br />

Historiker<strong>in</strong>, versteht es nämlich, die e<strong>in</strong>fühlsam geschilderte<br />

Biografie e<strong>in</strong>es jüdischen Bürgermeisters mit e<strong>in</strong>er Skizze<br />

der Geschichte Ferraras im Faschismus, mit e<strong>in</strong>er Analyse der<br />

dortigen jüdischen Geme<strong>in</strong>de und mit der Darstellung e<strong>in</strong>er<br />

alten, weitverzweigten Familie zu verknüpfen, die nach 1943<br />

ause<strong>in</strong>andergerissen und <strong>in</strong> <strong>den</strong> deutschen Vernichtungslagern<br />

fast ganz ausgelöscht wurde. Wer darüber etwas wissen will,<br />

der greife zu Giorgio Bassanis „Die Gärten der F<strong>in</strong>zi-Cont<strong>in</strong>i“<br />

und „Ferrareser Geschichten“ – oder eben zu Ilaria Pavans „Der jüdische Bürgermeister“, der <strong>in</strong><br />

Bassanis großer Dichtung übrigens ebenso vorkommt wie andere von Pavan behandelte Ferraresen<br />

aus Ravennas Umfeld, die damals – so oder so – von sich re<strong>den</strong> machten.<br />

Renzo Ravenna stammte aus e<strong>in</strong>er begüterten, weitgehend assimilierten jüdischen Familie, die<br />

sich <strong>in</strong> ihrem Stolz auf das italienische Vaterland und ihre Heimatstadt Ferrara kaum übertreffen ließ.<br />

Wie viele se<strong>in</strong>er Altersgenossen aus <strong>den</strong> jüdischen Geme<strong>in</strong><strong>den</strong> packte auch ihn 1914/15 das nationalistische<br />

Fieber: Er be<strong>für</strong>wortete <strong>den</strong> Kriegse<strong>in</strong>tritt Italiens, wurde e<strong>in</strong>gezogen und kehrte erst 1919<br />

hochdekoriert aus dem Krieg zurück, um das Jurastudium abzuschließen und <strong>in</strong> Ferrara als Rechtsanwalt<br />

und Kommunalpolitiker zu arbeiten. Bestimmend wurde hier se<strong>in</strong>e lebenslange Freundschaft<br />

mit Italo Balbo, dem faschistischen „Kur<strong>für</strong>sten“ von Ferrara, der Ravenna unter se<strong>in</strong>e Fittiche nahm<br />

und nach Kräften protegierte. Dabei war der Jude aus gutem Hause ke<strong>in</strong> Faschist der ersten Stunde<br />

und schon gar ke<strong>in</strong> schlagkräftiger Squadrist. Balbo schätzte und brauchte <strong>den</strong> besonnenen Juristen,<br />

der etwas von Verwaltung und Geld verstand und – wichtiger noch – allgeme<strong>in</strong> großes Ansehen genoss,<br />

während er selbst lange mit Imageproblemen als hemdsärmeliger Haudrauf zu kämpfen hatte.


377 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Ravenna gab der Lokal- und Regionalherrschaft von Balbo e<strong>in</strong> seriöses Gesicht und stieg deshalb<br />

immer weiter auf: Er wurde zum Stadtrat, dann zum Chef der städtischen Organisation des Partito<br />

Fascista und schließlich 1926 <strong>in</strong> das Amt des Bürgermeisters berufen, <strong>in</strong> dem er fast ganz aufg<strong>in</strong>g<br />

und offenkundig Beachtliches leistete. In se<strong>in</strong>e Amtszeit fiel e<strong>in</strong>e kulturelle Renaissance Ferraras;<br />

vor allem aber tat er viel, um die Infrastruktur zu stärken und die Industrialisierung der Stadt zu forcieren.<br />

In e<strong>in</strong>em Nachruf aus dem Jahr 1961 hieß es sogar, Ravenna habe das „moderne Ferrara konzipiert.“<br />

Ke<strong>in</strong> Wunder also, dass der jüdische Bürgermeister breite Zustimmung genoss; selbst der Bischof<br />

zählte zu se<strong>in</strong>en engen Freun<strong>den</strong>. 1934/35 begann das Klima aber umzuschlagen – nicht nur <strong>in</strong> Ferrara<br />

übrigens, sondern <strong>in</strong> ganz Italien, wo nun gezielt Ju<strong>den</strong> aus führen<strong>den</strong> Positionen <strong>in</strong> Staat und<br />

Gesellschaft entfernt wur<strong>den</strong>. Der Druck g<strong>in</strong>g vom Innenm<strong>in</strong>isterium <strong>in</strong> Rom aus, das da<strong>für</strong> freilich<br />

zahlreiche Rezeptoren vor Ort fand, die <strong>den</strong> Druck von oben verstärkten und ihm e<strong>in</strong>e Art plebiszitärer<br />

Legitimation verschafften. Ravenna konnte sich offenkundig nur dank Balbos Schützenhilfe halten,<br />

hatte von nun an aber gegen zahlreiche offene und verdeckte Anfe<strong>in</strong>dungen zu kämpfen.<br />

Im Frühjahr 1938 – die Kampagne gegen die Ju<strong>den</strong> steuerte auf ihren Höhepunkt zu – griff das<br />

Innenm<strong>in</strong>isterium Ravenna erneut an. Es verlangte se<strong>in</strong>e Absetzung, wobei als e<strong>in</strong>zige Begründung<br />

die jüdische Abstammung Ravennas genannt wurde, und setzte sich damit auch gegen <strong>den</strong> Willen<br />

Balbos durch; im März 1938 schied Ravenna vorgeblich aus gesundheitlichen Grün<strong>den</strong> aus dem Amt.<br />

Der Erlass der Rassengesetze im Herbst 1938 hatte e<strong>in</strong>schnei<strong>den</strong>de Folgen <strong>für</strong> die jüdischen Geme<strong>in</strong><strong>den</strong><br />

Italiens. Auch <strong>in</strong> Ferrara, wo man damals noch 700 bis 800 Ju<strong>den</strong> zählte, sahen sich die<br />

Glaubensbrüder und- schwestern Ravennas zahlreichen Schikanen ausgesetzt; unter anderem mussten<br />

77 jüdische Schüler und zehn Lehrer und Professoren die öffentlichen Schulen verlassen. Betroffen<br />

waren auch die K<strong>in</strong>der Ravennas, der nun auch noch aus der faschistischen Miliz ausgeschlossen,<br />

aus dem fe<strong>in</strong>en Bürgerclub verdrängt und aus <strong>den</strong> Streitkräften entlassen wurde. Er konnte aber weiter<br />

als Rechtsanwalt arbeiten und es gelang ihm auch, se<strong>in</strong> altes Netzwerk aus Freun<strong>den</strong> und Bekannten<br />

aufrechtzuerhalten, zu dem auch viele bekennende Katholiken und überzeugte Faschisten<br />

gehörten. Bemerkenswert war vor allem das Verhalten von Italo Balbo, der sich nicht scheute, mit<br />

Ravenna e<strong>in</strong>en Urlaub am Meer zu verbr<strong>in</strong>gen und sich demonstrativ mit ihm im Zentrum Ferraras<br />

zu zeigen, wenn er se<strong>in</strong>e Heimatstadt besuchte.<br />

Ravenna dachte deshalb auch nie an Flucht oder Emigration. Das änderte sich im Herbst 1943, als<br />

im von <strong>den</strong> Deutschen besetzten Norditalien überall Verhaftungen und Razzien e<strong>in</strong>setzten. In Ferrara<br />

g<strong>in</strong>g man dabei besonders drastisch vor. Die Deportationen, so Pavan, seien von <strong>den</strong> „Autoritäten<br />

der Republik von Salò mit extremer bürokratischer Effizienz“ <strong>in</strong>s Werk gesetzt wor<strong>den</strong> (166). Ravenna<br />

entzog sich diesem Mordprogramm durch Flucht <strong>in</strong> die Schweiz, wo er mit se<strong>in</strong>er Frau und se<strong>in</strong>en<br />

K<strong>in</strong>dern überlebte, während acht se<strong>in</strong>er engsten Verwandten <strong>in</strong> <strong>den</strong> Vernichtungslagern des Ostens<br />

<strong>den</strong> Tod fan<strong>den</strong>.<br />

Alles deutet darauf h<strong>in</strong>, dass sich Ravenna nach 1938 vom Faschismus zu lösen begann und 1943<br />

schließlich ganz mit ihm brach. Das hieß aber nicht, dass sich se<strong>in</strong>e nationalistische B<strong>in</strong>dung an se<strong>in</strong><br />

Heimatland gelockert und dass er se<strong>in</strong>e eigene Rolle im faschistischen Regime kritisch h<strong>in</strong>terfragt<br />

hätte. Er def<strong>in</strong>ierte sich als loyaler Diener se<strong>in</strong>er Stadt, der sich aufgeopfert hatte und da<strong>für</strong> schlecht<br />

entlohnt wor<strong>den</strong> war. Er empfand sich als Opfer und legte sich nie Rechenschaft darüber ab, dass er<br />

auch Täter gewesen war und e<strong>in</strong>em verbrecherischen Regime gedient hatte. Dazu passte, dass er bis<br />

zu se<strong>in</strong>em Tod 1961 alles unternahm, um Italo Balbo zu rehabilitieren; dieser blieb <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Augen<br />

der bewunderte Freund – <strong>den</strong> skrupellosen Faschisten, der Balbo auch gewesen war, blendete er e<strong>in</strong>fach<br />

aus.<br />

E<strong>in</strong>seitigkeiten dieser Art gehörten zu Ravennas Überlebensstrategie und sie ermöglichten ihm<br />

wohl auch die Re<strong>in</strong>tegration <strong>in</strong> Ferrara, wo nach 1945 h<strong>in</strong>ter der Fassade l<strong>in</strong>ker Dom<strong>in</strong>anz vieles<br />

Westliche Demokratien, Südeuropa und <strong>in</strong>ternationale Organisationen


378 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

beim Alten geblieben war. Ilaria Pavan hat se<strong>in</strong>e Geschichte nacherzählt – mit viel F<strong>in</strong>gerspitzengefühl,<br />

auf der Basis gründlicher Quellenrecherchen und immer auf der Höhe der neuesten Forschung,<br />

die an <strong>den</strong> tiefen autochthonen Wurzeln der Rassengesetze und an der engagierten Mitwirkung zahlreicher<br />

Faschisten am nationalsozialistischen Ju<strong>den</strong>mord ke<strong>in</strong>en Zweifel mehr lässt. Entstan<strong>den</strong> ist<br />

so schließlich e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Meisterwerk, das am E<strong>in</strong>zelbeispiel zeigt, was Ju<strong>den</strong> im Faschismus widerfahren<br />

konnte. Hoffentlich wird es bald <strong>in</strong>s Deutsche übersetzt.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Westliche Demokratien, Südeuropa und <strong>in</strong>ternationale Organisationen


Michele Sarfatti: The Jews <strong>in</strong> Mussol<strong>in</strong>i’s Italy. From Equality to Persecution. Translated by<br />

John and Anne C. Tedeschi (= Series <strong>in</strong> Modern European Cultural and Intellectual History),<br />

Madison: University of Wiscons<strong>in</strong> Press 2006, XV + 419 S., ISBN 978-0-299-21734-1, USD 29,95<br />

Rezensiert von Gustavo Corni<br />

Universität Trient<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 6<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/06/13652.html<br />

Die – <strong>in</strong>sbesondere gegen die jüdische Bevölkerung gerichtete –<br />

„Rassenpolitik“ des faschistischen Regimes ist seit wenigstens<br />

zwanzig Jahren e<strong>in</strong> bevorzugtes Thema der Geschichtswissenschaft<br />

und darüber h<strong>in</strong>aus auch Gegenstand heftiger Debatten,<br />

wobei sich Historiografie und Politik wiederholt vermischten,<br />

wie das <strong>in</strong> Italien häufig geschieht. Bis heute wur<strong>den</strong> zahllose<br />

Arbeiten veröffentlicht, die sich von „oben“ oder als Regionalstudien<br />

von „unten“ mit zwei weith<strong>in</strong> akzeptierten Thesen<br />

Renzo De Felices ause<strong>in</strong>andersetzten, der diesen Problemkomplex<br />

als e<strong>in</strong>er der ersten untersucht hat: Die Rassengesetze<br />

seien, erstens, vor allem wegen außenpolitischer Erwägungen<br />

erlassen wor<strong>den</strong>, um das Bündnis mit Hitler-Deutschland zu<br />

stärken. Der Faschismus unterscheide sich, zweitens, grundsätzlich<br />

vom Nationalsozialismus, da er sich „außerhalb des<br />

Schlagschattens“ der Ermordung der europäischen Ju<strong>den</strong> bef<strong>in</strong>de.<br />

Michele Sarfatti, der sich seit langen Jahren mit der<br />

Geschichte des italienischen Ju<strong>den</strong>tums beschäftigt, gehört zu<br />

<strong>den</strong> bekanntesten Kritikern dieser Sichtweise. Der Historiker<br />

aus Mailand fasst <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em hier besprochenen Buch – die überarbeitete und übersetzte Fassung e<strong>in</strong>er<br />

bereits im Jahr 2000 bei E<strong>in</strong>audi erschienenen Monografie – die lange Geschichte der jüdischen<br />

M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> Italien von der E<strong>in</strong>igung des Königreichs bis 1945 knapp, aber nichtsdestoweniger<br />

gründlich zusammen. Dabei stellt er immer wieder se<strong>in</strong>e profunde Kenntnis von Quellen und Literatur<br />

unter Beweis. Wie viele Fachkollegen kommt er zu dem Ergebnis, dass die kle<strong>in</strong>e jüdische M<strong>in</strong>derheit<br />

<strong>in</strong> vollem Umfang und ohne Misstöne am Prozess der E<strong>in</strong>igung und Modernisierung Italiens<br />

nach 1861 partizipiert habe. Diese <strong>in</strong>tensive Beteiligung am öffentlichen Leben habe dazu geführt,<br />

dass sich nicht wenige Ju<strong>den</strong> nach dem Ersten Weltkrieg der faschistischen Bewegung angeschlossen<br />

hätten, weil sie – wie viele andere Italiener auch – auf <strong>den</strong> von Mussol<strong>in</strong>i versprochenen <strong>in</strong>nen-<br />

und außenpolitischen Wiederaufstieg des Vaterlands hofften.<br />

Zunächst geht es Sarfatti um die jüdischen Geme<strong>in</strong><strong>den</strong>, ihren Aufbau und ihr Innenleben. Dann<br />

beschreibt er ihre fruchtbare Interaktion mit der italienischen Gesellschaft, um schließlich zum faschistischen<br />

Regime zu kommen. Auch hier erweist sich der Autor als exzellenter Kenner des Materials<br />

und rekonstruiert Elemente rassistischen und antisemitischen Gedankenguts <strong>in</strong> der Bewegungs- und<br />

frühen Regimephase des Faschismus. Sarfatti betont diesen Punkt im Gegensatz zu De Felice und


380 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

verweist auf <strong>den</strong> Prozess der Radikalisierung, der im Herbst 1938 zu <strong>den</strong> offen diskrim<strong>in</strong>atorischen<br />

Rassengesetzen geführt habe, die <strong>in</strong> mancher H<strong>in</strong>sicht strenger gewesen seien als die deutschen. Dabei<br />

arbeitet er – me<strong>in</strong>es Erachtens zu Recht – die komplexe Dynamik heraus, die sich zwischen <strong>den</strong> antisemitischen<br />

Kräften im Faschismus und der <strong>in</strong>ternationalen Konstellation – geprägt von der deutschitalienischen<br />

Annäherung seit 1935 – ergab. Dabei vernachlässigt er aber die <strong>in</strong>nere Entwicklung des<br />

faschistischen Regimes ke<strong>in</strong>eswegs, das sich aus se<strong>in</strong>er Sicht <strong>in</strong> diesen Jahren immer stärker radikalisierte.<br />

Der koloniale Eroberungskrieg <strong>in</strong> Ostafrika wirkte dabei als rassenpolitischer Katalysator,<br />

was <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Reihe von Anordnungen ihren Ausdruck fand, mit <strong>den</strong>en sexuelle Kontakte zwischen<br />

Italienern und E<strong>in</strong>heimischen verh<strong>in</strong>dert wer<strong>den</strong> sollten. Sarfatti sche<strong>in</strong>t diesem Faktor allerd<strong>in</strong>gs ger<strong>in</strong>gere<br />

Bedeutung beizumessen, als dies andere Gelehrte <strong>in</strong> ihrem Bemühen getan haben, die Genesis<br />

der Rassengesetze zu erklären. Zum<strong>in</strong>dest argumentiert er differenzierter und ordnet die diesbezüglichen<br />

Auswirkungen des Abess<strong>in</strong>ienkriegs <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en größeren Rahmen e<strong>in</strong>.<br />

Und Mussol<strong>in</strong>i? Sarfattis Darstellung der Aktionen des Diktators <strong>in</strong> dieser entschei<strong>den</strong><strong>den</strong> Phase<br />

ist voll von Diskrepanzen und bleibt alles <strong>in</strong> allem undeutlich. Sicher, Mussol<strong>in</strong>i war sich der Notwendigkeit<br />

bewusst, die <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Augen zögerliche, nicht se<strong>in</strong>en Erwartungen entsprechende italienische<br />

Gesellschaft aufzurütteln, zumal sich die <strong>in</strong>ternationale Lage immer stärker zuspitzte. Doch<br />

der Autor verfügt nicht über die Quellen, die die Motive <strong>für</strong> Mussol<strong>in</strong>is Entscheidungen überzeugend<br />

klären könnten.<br />

Se<strong>in</strong>e Darstellung der Aktionen des faschistischen Regimes und der Reaktionen der jüdischen<br />

Geme<strong>in</strong><strong>den</strong>, die unter immer schwierigeren Bed<strong>in</strong>gungen zu retten versuchten, was zu retten war, ist<br />

dagegen besser dokumentiert. Der Entrechtung der Ju<strong>den</strong> folgte nach der deutschen Besetzung Mittel-<br />

und Süditaliens die Bedrohung von Leib und Leben. Auch hier versucht Sarfatti auf engem<br />

Raum, sowohl das deutsche Vorgehen als auch die Kollaboration italienischer <strong>Institut</strong>ionen herauszuarbeiten.<br />

Dabei kommt er auch auf das Verhalten der Bevölkerung, die ihre jüdischen Mitbürger<br />

vielfach unterstütze, sich <strong>in</strong> anderen Fallen aber auch an der Verfolgung beteiligte, sowie auf die<br />

Handlungsmuster der überleben<strong>den</strong> Ju<strong>den</strong> zu sprechen, von <strong>den</strong>en viele <strong>in</strong> <strong>den</strong> Reihen der Resistenza<br />

kämpften und fielen.<br />

Sarfattis Buch bietet e<strong>in</strong>e vorzügliche Gesamtdarstellung e<strong>in</strong>es komplexen Problems, das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen<br />

Punkten noch der e<strong>in</strong>gehen<strong>den</strong> Untersuchung harrt. So wissen wir beispielsweise noch zu wenig<br />

über die konkrete Beteiligung italienischer Funktionsträger an <strong>den</strong> Deportationen, auch was die<br />

Denunziationen betrifft, ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Dem Autor ist es gelungen, die<br />

Geschichte des italienischen Ju<strong>den</strong>tums <strong>in</strong> <strong>den</strong> achtzig Jahren von der vollständigen Integration bis<br />

zur Verfolgung differenziert und facettenreich, aber gleichwohl gut verständlich zu erzählen. Es ist<br />

daher außeror<strong>den</strong>tlich begrüßenswert, dass die Studie des Mailänder Historikers nun auch <strong>in</strong> englischer<br />

Sprache vorliegt und damit e<strong>in</strong>em breiteren Publikum zugänglich ist.<br />

Aus dem Italienischen übersetzt von Thomas Schlemmer.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Westliche Demokratien, Südeuropa und <strong>in</strong>ternationale Organisationen


Ost- und Nordeuropa<br />

Robert Bohn/Christoph Cornelißen/Karl Christian Lammers (Hrsg.): Vergangenheitspolitik<br />

und Er<strong>in</strong>nerungskulturen im Schatten des Zweiten Weltkriegs. Deutschland und Skand<strong>in</strong>avien<br />

seit 1945, Essen: Klartext 2008, 271 S., ISBN 978-3-89861-988-2, EUR 32,00<br />

Rezensiert von Malte Thießen<br />

Forschungsstelle <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, Hamburg<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 12<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/12/15534.html<br />

Seit Längerem blicken Historiker beim Thema Er<strong>in</strong>nerung<br />

und NS-Zeit über <strong>den</strong> deutschen Tellerrand. Doch während<br />

<strong>für</strong> West- und Osteuropa fundierte Studien vorliegen, ist der<br />

skand<strong>in</strong>avische Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg selten<br />

e<strong>in</strong> Thema <strong>für</strong> deutsche Historiker gewesen. Dieser Band<br />

möchte das ändern, wie die Herausgeber <strong>in</strong> ihrer E<strong>in</strong>führung<br />

erklären, und <strong>den</strong> „ausgeblendeten Nor<strong>den</strong> Europas“ (11) erforschen.<br />

In vier Abschnitten beschäftigen sich die 18 Autoren<br />

daher sowohl mit der skand<strong>in</strong>avischen Er<strong>in</strong>nerungskultur<br />

zum Zweiten Weltkrieg als auch mit dem deutsch-deutschen<br />

Umgang mit dem nordeuropäischen NS-Erbe.<br />

Den Anfang machen fünf Aufsätze zur Vergangenheitspolitik,<br />

an <strong>den</strong>en sich bereits die Weite des Forschungsfeldes abzeichnet.<br />

In se<strong>in</strong>em Beitrag zur bundesdeutschen Nachkriegsdiplomatie<br />

geht Robert Bohn über „klassische“ Aspekte wie<br />

Entschädigungszahlungen oder Sicherheitspolitik h<strong>in</strong>aus und<br />

begreift auch Handelsbeziehungen oder Diskussionen um <strong>den</strong> M<strong>in</strong>derheitenschutz als Faktoren <strong>für</strong><br />

Vergangenheitspolitik. Für die DDR nimmt Michael F. Scholz die Auslandspropaganda <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

Blick. Im Dienste e<strong>in</strong>er antifaschistischen Imagepolitik und e<strong>in</strong>es „negativen nation brand<strong>in</strong>gs“ (55)<br />

der Bundesrepublik nahm sie u. a. E<strong>in</strong>fluss auf schwedische Journalisten und Historiker. Neuere<br />

transnationale Bezüge untersucht Alexander Muschik. An <strong>den</strong> „Holocaust“-Konferenzen der letzten<br />

Jahre zeichnet er e<strong>in</strong>e Internationalisierung der Vergangenheitspolitik nach und macht so ihre Instrumentalisierung<br />

<strong>für</strong> außenpolitische Ziele sichtbar, wenn z. B. Schwe<strong>den</strong>s Bild als „moralische Großmacht“<br />

(57) gefördert wer<strong>den</strong> soll. Im Gegensatz zum neutralen Schwe<strong>den</strong> hatte der Krieg <strong>in</strong> Dänemark<br />

und F<strong>in</strong>nland schwerwiegendere Folgen. Das erklärt <strong>den</strong> Bedarf an konsensstiften<strong>den</strong> Er<strong>in</strong>nerungen,<br />

wie sie Nils Arne Sørensen und Seppo Hentilä analysieren. Insofern ist am dänischen Fall weniger<br />

die Beliebtheit des „offical narratives“ (71) von der gee<strong>in</strong>ten Nation bemerkenswert, es s<strong>in</strong>d<br />

die Konjunkturen des Widerstands-Motivs bis <strong>in</strong> das Jahr 2003, <strong>in</strong> dem der militärische Widerstand


382 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

als Argument <strong>für</strong> die dänische Teilnahme am Irakkrieg diente. In F<strong>in</strong>nland wiederum war nach 1945<br />

die Beteiligung am Krieg auf der Seite der Deutschen e<strong>in</strong> Problem, <strong>für</strong> das Politiker und Historiker<br />

die entlastende „Treibholz-Theorie“ (er)fan<strong>den</strong>, nach der man durch „unglückliche Umstände [...]<br />

völlig machtlos“ (85) <strong>in</strong> <strong>den</strong> Krieg gezogen wor<strong>den</strong> sei.<br />

Bereits diese fünf Beiträge weisen auf e<strong>in</strong> wichtiges Ergebnis des Bandes h<strong>in</strong>: Vergangenheitspolitik<br />

und „Historiographische Deutungen“, die <strong>den</strong> Schwerpunkt des zweiten Kapitels bil<strong>den</strong>, s<strong>in</strong>d beim<br />

Zweiten Weltkrieg kaum zu trennen. Im Falle Norwegens f<strong>in</strong>det E<strong>in</strong>hart Lorenz folglich Ursachen<br />

<strong>für</strong> problematische Er<strong>in</strong>nerungsmuster nach 1945 <strong>in</strong> traditionellen antisemitischen Stereotypen.<br />

Christoph Cornelißen muss <strong>für</strong> se<strong>in</strong>en Beitrag zur „Weserübung“ <strong>in</strong> der deutschen Geschichtsschreibung<br />

weniger weit zurück blicken. In biografischen Skizzen von Historikern und Publizisten problematisiert<br />

er deren Wirken im „Dritten Reich“, mit der sich entlastende Selbstbilder wie die Präventivschlagthese<br />

oder „mythische Überhöhungen“ (142) der Wehrmacht bis <strong>in</strong> die 60er Jahre erklären.<br />

Palle Roslyng-Jensens Untersuchung zu Dänemark kommt zu ähnlichen Ergebnissen wie Sørensen,<br />

geht jedoch <strong>in</strong>sofern darüber h<strong>in</strong>aus, weil er Forschungen zur Kollaboration <strong>in</strong> Frankreich auf Dänemark<br />

bezieht und so e<strong>in</strong>e neue Vergleichsebene e<strong>in</strong>führt. Wichtig ist zudem se<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weis auf <strong>den</strong><br />

Zusammenhang zwischen wissenschaftlichen „discourses and political power struggle“ (138), gibt<br />

dieser doch Aufschluss über Wege der Forschung. Auch vor diesem H<strong>in</strong>tergrund ist der Befund von<br />

Rolf Hobson verblüffend. Denn während Hobson <strong>für</strong> die norwegische Öffentlichkeit e<strong>in</strong> „spürbares<br />

Interesse“ (101) am Zweiten Weltkrieg konstatiert, seien Historiker eher zurückhaltend. Se<strong>in</strong> Fazit<br />

bietet hier<strong>für</strong> zwar ke<strong>in</strong>e Erklärung, allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e ausführliche Agenda, was <strong>in</strong> Zukunft zu tun sei.<br />

Bernd Wegner erweitert Hentiläs Befunde zur f<strong>in</strong>nischen Vergangenheitspolitik, weil er die Deutungen<br />

aller drei f<strong>in</strong>nischen Konflikte (vom W<strong>in</strong>ter-, über <strong>den</strong> „Fortsetzungs“- bis zum Lappland-Krieg) <strong>in</strong><br />

<strong>den</strong> Blick nimmt. Außerdem bezieht Wegner <strong>den</strong> (außen-)politischen Kontext auf <strong>den</strong> Forschungsgang,<br />

mit dem sich die „ breite Ausdifferenzierung“ (166) seit 1989 erkläre. Auch <strong>in</strong> der Außenpolitik<br />

f<strong>in</strong><strong>den</strong> wir also H<strong>in</strong>weise, warum Geschichtspolitik und -wissenschaft schwer zu trennen s<strong>in</strong>d.<br />

Vor diesem H<strong>in</strong>tergrund ist es wenig überraschend, dass <strong>in</strong> Dänemark und Norwegen lange Zeit<br />

nur der Widerstand <strong>in</strong> die Museen fand. Henrik Skov Kristensen widmet sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Beitrag zu<br />

dänischen Ge<strong>den</strong>kstätten daher e<strong>in</strong>er zweiten Welle der Musealisierung seit <strong>den</strong> 70er Jahren, die sich<br />

im „Frøslev Camp Museum“ abzeichnet und die Raum <strong>für</strong> (selbst)kritischere Er<strong>in</strong>nerungen bietet. In<br />

Norwegen behielt das Widerstandsmuseum h<strong>in</strong>gegen bis <strong>in</strong> die 90er Jahre e<strong>in</strong>e Monopolstellung.<br />

Selbst die großen Lager Gr<strong>in</strong>i und Falstad blieben jahrzehntelang „lost landscapes“, was Jon Reitand<br />

auf e<strong>in</strong> „national syndrom of consensus“ (191) zurückführt. Spannend wäre hierzu e<strong>in</strong>e Replik von<br />

Ivar Kraglund gewesen, dem Direktor des Widerstandsmuseums <strong>in</strong> Oslo, dessen Beitrag auf knapp<br />

vier Seiten <strong>in</strong>des kaum ausführlicher auf entsprechende Entwicklungen e<strong>in</strong>gehen kann. Mogens R.<br />

Nissen schließlich präsentiert e<strong>in</strong>e Ausstellung neuen Typs, das „Virtuelle Museum“ zur Region<br />

Süddänemark/Schleswig-Holste<strong>in</strong> (www.vimu.<strong>in</strong>fo). Dabei geht er auch auf methodische und <strong>in</strong>haltliche<br />

Aspekte des deutsch-dänischen Projektes e<strong>in</strong>, hält sich aber zu Fragen der <strong>in</strong>ternationalen Kooperation<br />

zurück. Das ist zwar ebenso höflich wie nachvollziehbar, doch <strong>in</strong>sofern schade, weil Nissen<br />

hier die er<strong>in</strong>nerungskulturellen Verwicklungen der Forscher zum Thema hätte machen können.<br />

Den letzten Abschnitt zu „medialen Repräsentationen“ eröffnet Ruth S<strong>in</strong>dt mit ihrer Mikrostudie<br />

zum Städtchen Kirkenes <strong>in</strong> Nordnorwegen. Anhand von Interviews kann sie nachweisen, dass sich<br />

nach 1945 geme<strong>in</strong>schaftsstiftende „Er<strong>in</strong>nerungsmuster“ ausgeprägt haben, die von E<strong>in</strong>wohnern als<br />

eigene Erzählungen übernommen wur<strong>den</strong>, selbst wenn deren persönliche Erfahrung vom kollektiven<br />

Gedächtnis abwich. Vom kommunikativen Gedächtnis führt Heiko Uecker zur Nachkriegsliteratur <strong>in</strong><br />

Norwegen. Se<strong>in</strong> Ergebnis, „dass der Fe<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e so ger<strong>in</strong>ge Bedeutung <strong>in</strong> der Literatur“ (233) hat, ist<br />

nicht nur überraschend, es wird auch überzeugend auf persönliche und politische H<strong>in</strong>tergründe der<br />

Autoren zurückgeführt. Ob jedoch das Trauma-Konzept <strong>für</strong> diese Analyse besonders geeignet ist,<br />

Ost- und Nordeuropa


383 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

wie Uecker vorschlägt, bleibt fraglich. Zum<strong>in</strong>dest hätte man diese These auf aktuelle Debatten zum<br />

Nutzen und Nachteil des Trauma-Konzepts beziehen können. Mart<strong>in</strong> Moll beschäftigt sich anschließend<br />

mit skand<strong>in</strong>avischen Spielfilmen und deren E<strong>in</strong>fluss auf die „Erzeugung nationaler Mythen“<br />

(256). Weiterführend ist hierzu se<strong>in</strong>e Beobachtung, dass die Darstellung <strong>in</strong> Filmen nicht zuletzt von<br />

staatlicher Subventionspolitik bee<strong>in</strong>flusst sei. Er<strong>in</strong>nerungskulturen, das wäre e<strong>in</strong> weiteres Ergebnis,<br />

s<strong>in</strong>d also nicht zuletzt e<strong>in</strong>e Frage der F<strong>in</strong>anzen.<br />

Am Ende des Bandes bietet Karl Christian Lammers e<strong>in</strong>en Gesamtüberblick zum „Bild des neuen<br />

Deutschland“ <strong>in</strong> Skand<strong>in</strong>avien. Wie stark die skand<strong>in</strong>avische Wahrnehmung von der deutschen<br />

„Vergangenheitsbewältigung“ geprägt wurde, fasst Lammers treffend an e<strong>in</strong>em Bonmot des dänischen<br />

Außenm<strong>in</strong>isters zusammen. Nach <strong>den</strong> Diskussionen um Hans Globke und Hans Speidel<br />

sprach Per Haekkerup von drei außenpolitischen Problemen Dänemarks: „Deutschland, Deutschland<br />

und nochmals Deutschland“ (268). Es war e<strong>in</strong>e allmähliche Annäherung zwischen Skand<strong>in</strong>avien und<br />

der Bundesrepublik, da sich das Deutschlandbild der nordeuropäischen Länder lange am er<strong>in</strong>nerungskulturellen<br />

Koord<strong>in</strong>atensystem orientierte, wie Lammers zeigt.<br />

Mit diesem Fazit schließt sich der Kreis, knüpft Lammers doch an <strong>den</strong> ersten Beitrag von Bohn<br />

an. Nordeuropa, das zeigt der Band e<strong>in</strong>drucksvoll, ist nicht nur e<strong>in</strong> neues Forschungsfeld, sondern<br />

e<strong>in</strong>es, an dem sich neue er<strong>in</strong>nerungskulturelle Phänomene studieren lassen. Gerade weil dieses Gesamtkonzept<br />

hervorragend aufgeht, hätte man sich gelegentlich engere Bezüge zwischen e<strong>in</strong>igen<br />

Beiträgen sowie e<strong>in</strong>en Schlussteil gewünscht, der all diese Fä<strong>den</strong> zu e<strong>in</strong>em Band zusammenfügt und<br />

mit e<strong>in</strong>em Blick auf Forschungen zu West- und Osteuropa e<strong>in</strong>ordnet, um e<strong>in</strong>e wahrhaft „<strong>in</strong>ternational<br />

vergleichende Bestandsaufnahme“ (11) zu leisten. Diese Anmerkung schmälert <strong>den</strong> Ertrag des<br />

Bandes <strong>in</strong>des um ke<strong>in</strong> Gramm. Das Buch ist e<strong>in</strong>e wichtige Pionierstudie, die e<strong>in</strong> neues Forschungsfeld<br />

erschließt und daher sehr viel mehr als „erste Anstöße“ (19) bietet: e<strong>in</strong>e Fülle fundierter Beiträge,<br />

auf der zukünftige Arbeiten zum nordeuropäischen Gedächtnis aufbauen wer<strong>den</strong>.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Ost- und Nordeuropa


Stefan Creuzberger: Stal<strong>in</strong>. Machtpolitiker und Ideologe, Stuttgart: W. Kohlhammer 2009,<br />

343 S., ISBN 978-3-17-018280-6, EUR 19,80<br />

Rezensiert von Gerhard Wettig<br />

Kommen<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 9<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/09/15891.html<br />

Während sich Stal<strong>in</strong> heute <strong>in</strong> Russland wieder hoher unkritischer<br />

Wertschätzung erfreut, die <strong>in</strong> auflagenstarken Publikationen<br />

zum Ausdruck kommt, s<strong>in</strong>d sich die russischen Historiker,<br />

die ihr Urteil auf die seit <strong>den</strong> frühen neunziger Jahren<br />

zugänglichen Quellen stützen (wie Dmitrij Volkogonov, V.P.<br />

Naumov, A.F. Noskova und Aleksandr Vatl<strong>in</strong>), mit ihren<br />

Kollegen im Westen über <strong>den</strong> rundum verbrecherischen Charakter<br />

se<strong>in</strong>er Herrschaft e<strong>in</strong>ig. In <strong>den</strong> Werken sowohl über die<br />

Persönlichkeit Stal<strong>in</strong>s (etwa <strong>in</strong> der Biografie von Robert Service<br />

oder <strong>in</strong> Richard Overys Vergleich mit Hitler) als auch<br />

über die Entwicklung der Sowjetunion (etwa von Manfred<br />

Hildermeier oder Jörg Baberowski) hat demgegenüber das<br />

außenpolitische Handeln nur wenig Aufmerksamkeit gefun<strong>den</strong>.<br />

Diese E<strong>in</strong>seitigkeit vermeidet Stefan Creuzberger <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

zusammenfassen<strong>den</strong> Darstellung: Nach e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>leiten<strong>den</strong><br />

Kapitel über das Lebensende und die Anfänge des Diktators<br />

wer<strong>den</strong> <strong>in</strong> zwei weiteren Hauptteilen die Innen- und die<br />

Außenpolitik gleichgewichtig abgehandelt. Daher wird nicht<br />

nur Stal<strong>in</strong>s Terrorregime <strong>in</strong> der UdSSR beleuchtet, sondern<br />

auch das Vorgehen gegenüber der Außenwelt bis <strong>in</strong> die ersten,<br />

noch vor der Sowjetzeit liegen<strong>den</strong> Anfänge zurückverfolgt.<br />

Der Leser erfährt zunächst <strong>in</strong> knapper, zuweilen nur exemplarisch darstellender Form, was Stal<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong> der Zeit bis zum frühen Mannesalter, also vor dem Aufstieg zur Macht, prägte. Er schien als gehätschelter<br />

Sohn se<strong>in</strong>er Mutter und geförderter Musterschüler zunächst im Rahmen des bestehen<strong>den</strong><br />

Systems sozial aufzusteigen. Die Grundlagen se<strong>in</strong>er Bildung wur<strong>den</strong> auf e<strong>in</strong>em orthodoxen Priestersem<strong>in</strong>ar<br />

gelegt. Dort geriet er unter <strong>den</strong> E<strong>in</strong>fluss von Gegnern des Zarenregimes, verließ dann die<br />

Anstalt und verschaffte sich im Untergrund durch Organisationstalent, Beliebtheit bei <strong>den</strong> Genossen<br />

und erfolgreiche krim<strong>in</strong>elle Aktionen e<strong>in</strong>e führende Stellung. Len<strong>in</strong> wurde auf ihn aufmerksam und<br />

begann sich auf se<strong>in</strong>e organisatorischen Fähigkeiten zu stützen. Von da nahm se<strong>in</strong> Aufstieg <strong>in</strong> der<br />

Partei se<strong>in</strong>en Ausgang. Creuzberger wendet sich gegen psychologische Deutungen, <strong>den</strong>en zufolge <strong>in</strong><br />

der K<strong>in</strong>dheit erworbene Traumata spätere Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster – etwa Paranoia<br />

und Grausamkeit – nach sich zogen. Nach se<strong>in</strong>er Ansicht waren es wesentlich die von zahlreichen<br />

scharfen Konflikten bestimmten Erfahrungen <strong>in</strong> der transkaukasischen Region des Russischen Reiches,<br />

die <strong>für</strong> Stal<strong>in</strong>s Vorstellungen nicht nur vom <strong>in</strong>nenpolitischen, sondern auch vom <strong>in</strong>ternationalen


385 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Machtkampf maßgebende Bedeutung erlangten. Diese blieben vor wie nach der kommunistischen<br />

Machtergreifung nicht ohne E<strong>in</strong>fluss auf Len<strong>in</strong>, selbst wenn dieser verschie<strong>den</strong>tlich anders entschied.<br />

Als Generalsekretär der kommunistischen Partei konnte Stal<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Talente zum Aufbau se<strong>in</strong>er<br />

persönlichen Macht nutzen. Während se<strong>in</strong>e Konkurrenten ihn ständig unterschätzten, machte er von<br />

se<strong>in</strong>en Möglichkeiten rücksichtslosen Gebrauch. Er spielte sie gegene<strong>in</strong>ander aus, schaltete sie nache<strong>in</strong>ander<br />

aus und vernichtete sie dann. Zur dauern<strong>den</strong> Sicherung se<strong>in</strong>er Herrschaft hielt er die Partei-<br />

und Staatsapparate im Zustand permanenter Rivalität, sodass alle stets auf se<strong>in</strong> Wohlwollen angewiesen<br />

waren, und er ließ se<strong>in</strong>e Mitarbeiter durch plötzliche Akte der Willkür und Erniedrigung spüren,<br />

dass ihre physische Existenz von ihm abh<strong>in</strong>g. Der Massenterror, der sich zunächst gegen beliebig zu<br />

„Klassenfe<strong>in</strong><strong>den</strong>“ erklärte Personen und Gruppen, dann aber auch gegen die eigene Partei und alte<br />

Mitstreiter richtete, hatte dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e wesentliche Ursache. Wie er mit anderen Ländern und Völkern<br />

umzugehen gedachte, die unter se<strong>in</strong>e Herrschaft gerieten, hatte bereits se<strong>in</strong> Vorgehen nach dem siegreichen<br />

Ende des Bürgerkriegs gezeigt, als er wesentlich an der Wiedere<strong>in</strong>verleibung der transkaukasischen<br />

Republiken <strong>in</strong> das wiedererstehende Imperium beteiligt war. Im Umgang mit anderen<br />

Staaten, die se<strong>in</strong>er Macht entzogen waren, neigte Stal<strong>in</strong> dagegen zu pragmatischer Vorsicht, an deren<br />

Stelle aber „revolutionäre“ Unbedachtheit treten konnte, wenn sich Expansionschancen zu eröffnen<br />

schienen. Das führte bei der Kom<strong>in</strong>tern-Politik mehrfach zu Inkonsistenz und Widersprüchlichkeit:<br />

Hier Zurückhaltung und dort offensiver Zugriff. Wenn das Wagnis scheiterte, wusste Stal<strong>in</strong> die Schuld<br />

stets anderen zuzuschieben. Se<strong>in</strong>em überwiegen<strong>den</strong> Hang zur Vorsicht entsprach der Grundsatz,<br />

man müsse sich vorerst auf <strong>den</strong> „Sozialismus <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Lande“ beschränken. Die Frage, wie sich die<br />

UdSSR gegenüber e<strong>in</strong>er weit stärkeren systemfrem<strong>den</strong> Außenwelt behaupten könne, die, der Ideologie<br />

zufolge, nichts anderes beabsichtigte, als sie zu vernichten, beantwortete er mit der These von<br />

<strong>den</strong> „zwischenimperialistischen Widersprüchen“. Demnach gab es zwischen <strong>den</strong> kapitalistischen<br />

Staaten grundlegende Konflikte, die sie am Zusammenschluss gegen die Sowjetunion h<strong>in</strong>derten.<br />

Diese Konflikte müsse man weiter verstärken. Damit verband sich e<strong>in</strong> offensives Motiv: Die gegnerische<br />

Außenwelt sollte ihre <strong>in</strong>ternen Konflikte bis zum Ausbruch e<strong>in</strong>es neuen Weltkriegs vorantreiben,<br />

der sie so weit schwäche, dass die „Arbeiterklasse“ dieser Länder <strong>den</strong> Aufstand beg<strong>in</strong>nen und mit<br />

Unterstützung der UdSSR <strong>den</strong> Kapitalismus niederr<strong>in</strong>gen könne.<br />

Auch zu dem Zweck, Hitler zum Krieg gegen die Westmächte zu ermutigen, schloss Stal<strong>in</strong> mit<br />

dem NS-Regime 1939 <strong>den</strong> Nichtangriffspakt. Zwar kam es nicht zu der erwarteten wechselseitigen<br />

Vernichtung der kapitalistischen Staaten mit folgender sowjetischer Weltherrschaft, doch sorgte der<br />

Sieg über Deutschland im Bündnis mit <strong>den</strong> Westmächten <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en enormen Machtzuwachs Moskaus.<br />

Die gewaltige Zerstörung im Innern sollte mit amerikanischer wirtschaftlicher Hilfe behoben<br />

wer<strong>den</strong>, doch das rücksichtslose Vorgehen, das sich Stal<strong>in</strong> <strong>in</strong> Erwartung e<strong>in</strong>es raschen Rückzugs der<br />

USA aus Europa dort leisten zu können glaubte, machte nicht nur die Hoffnung auf materielle Unterstützung<br />

illusorisch, sondern bewog die Amerikaner auch zum ökonomischen, danach auch politischen<br />

und schließlich militärischen Engagement auf dem Kont<strong>in</strong>ent. Als sich der ‚Kalte Kriegʻ mit<br />

dem Westen abzeichnete, hoffte Stal<strong>in</strong> erneut auf die Entwicklung „zwischenimperialistischer Widersprüche“,<br />

ohne wahrhaben zu wollen, dass er die westlichen Länder zur Bildung e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen<br />

Abwehrfront gegen die von ihm ausgehende Herausforderung veranlasste. Bei se<strong>in</strong>em Tod h<strong>in</strong>terließ<br />

er e<strong>in</strong> Imperium, das zwar nach außen h<strong>in</strong> über bee<strong>in</strong>druckende Macht verfügte, aber sich <strong>in</strong>ternational<br />

isoliert und militärisch e<strong>in</strong>gekreist sah und im Innern an e<strong>in</strong>em schweren Erbe zu tragen hatte.<br />

Creuzberger stellt Stal<strong>in</strong>s Leben und Wirken <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en breiten Leserkreis e<strong>in</strong>gängig dar. Da er<br />

neueste Forschungsergebnisse auswertet und <strong>den</strong> Erkenntnisstand zwar knapp, aber zuverlässig zusammenfasst,<br />

ist das Werk auch als Überblicksstudie <strong>für</strong> <strong>den</strong> Fachmann geeignet. Das Buch ist daher<br />

Ost- und Nordeuropa


386 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

sowohl Forschern, Universitätslehrern und Stu<strong>den</strong>ten als auch politisch und historisch <strong>in</strong>teressierten<br />

Laien zu empfehlen.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Ost- und Nordeuropa


Shalom Eilati: Cross<strong>in</strong>g the River. Aus dem Hebräischen übersetzt von Vern Lenz, Tuscaloosa,<br />

Tuscaloosa, AL: University of Alabama Press 2008, 320 S., ISBN 978-0-8173-1631-0, USD 29,95<br />

Rezensiert von Edith Raim<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/05/16124.html<br />

Obwohl der Holocaust bereits vielfach <strong>für</strong> völlig erforscht<br />

erklärt wurde, entdecken wir stets neue „weiße Flecken“ auf<br />

unserer Landkarte des Wissens. Die am <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Zeit-<br />

geschichte München-Berl<strong>in</strong> vergangenes Jahr abgehaltene<br />

Gettorententagung hat deutlich gemacht, wie ger<strong>in</strong>g unser<br />

Wissen über die osteuropäischen Gettos ist. Dies gilt auch <strong>für</strong><br />

das Getto/KZ Kaunas/Kauen <strong>in</strong> Litauen, das neben Litzmannstadt<br />

und Riga e<strong>in</strong>es der langlebigsten nazistischen Gettos<br />

war und zu dem bis heute ke<strong>in</strong>e größere wissenschaftliche<br />

Abhandlung veröffentlicht ist. [1] Dabei ist die Überlieferung<br />

– anders als bei <strong>den</strong> meisten anderen osteuropäischen Gettos<br />

– eigentlich sehr gut: Dokumente des Ju<strong>den</strong>rats s<strong>in</strong>d ebenso<br />

erhalten wie Fotografien, die der Fotograf Zwi Kadush<strong>in</strong> heimlich<br />

anfertigte. Der stellvertretende Vorsitzende des Ju<strong>den</strong>rats,<br />

Leib Garfunkel, und der Sekretär des Ju<strong>den</strong>rats, Abraham<br />

Tory, haben ihre Tagebücher und Erfahrungsberichte publiziert.<br />

Zahlreiche Überlebende haben ihre Memoiren vorgelegt.<br />

Außerdem existieren e<strong>in</strong>gehende Ermittlungen der Ludwigsburger<br />

Zentralen Stelle sowie deutscher Staatsanwaltschaften zur Rolle der Täter.<br />

H<strong>in</strong>zu kommt, dass das Getto Kaunas zahlreiche Beziehungen zur deutschen oder genauer bayerischen<br />

Geschichte hat. Der SA-Brigadeführer Hans Cramer, Dachauer Bürgermeister von 1937 bis<br />

1939, avancierte <strong>in</strong> Kaunas im August 1941 zum Chef der deutschen Zivilverwaltung, <strong>in</strong> dessen Zuständigkeit<br />

damit auch das Getto fiel. Im November 1941 wur<strong>den</strong> etwa fünftausend aus dem Reich<br />

verschleppte Ju<strong>den</strong> im IX. Fort, e<strong>in</strong>er zaristischen Befestigungsanlage bei Kaunas, erschossen, unter<br />

ihnen auch über e<strong>in</strong>tausend Münchner Ju<strong>den</strong>. Im Juli 1944 wur<strong>den</strong> nach der Liquidierung des KZ<br />

Kauen e<strong>in</strong>ige tausend männliche Überlebende <strong>in</strong> die umgekehrte Richtung deportiert, um <strong>in</strong> dem<br />

Dachauer Außenlagerkomplex Kaufer<strong>in</strong>g Zwangsarbeit zu leisten. Der Ju<strong>den</strong>älteste von Kaunas, der<br />

Arzt Dr. Elchanan Elkes, liegt auf e<strong>in</strong>em KZ-Friedhof im Gewerbegebiet von Landsberg am Lech<br />

begraben. In der frühen Nachkriegszeit wur<strong>den</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong> Displaced-Persons (DP)-Lagern <strong>in</strong> Bayern die<br />

ersten Er<strong>in</strong>nerungen an <strong>den</strong> Holocaust gesammelt, niedergeschrieben und veröffentlicht, bevor die<br />

Überleben<strong>den</strong> <strong>in</strong> Israel und <strong>den</strong> USA e<strong>in</strong> neues Leben begannen. In München wurde mit der von<br />

1946 bis 1948 ersche<strong>in</strong>en<strong>den</strong> jiddischsprachigen Publikation „Fun Letztn Churbn“ (Von der letzten<br />

Vernichtung) die erste wissenschaftliche Zeitschrift herausgegeben, die sich ausschließlich der Holocaustgeschichtsschreibung<br />

widmete. [2]


388 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Kaunas hatte im Juni 1941 etwa 40.000 jüdische E<strong>in</strong>wohner, von <strong>den</strong>en bei Kriegsende nur noch<br />

schätzungsweise 2.000 – zumeist verstreut an anderen Orten <strong>in</strong> Europa – am Leben waren. Der Holocaust<br />

<strong>in</strong> Litauen nahm dabei e<strong>in</strong>en fundamental anderen Verlauf als etwa <strong>in</strong> Polen: Vom ersten Tag<br />

der deutschen Besatzung an fan<strong>den</strong> Massenmorde statt, sodass Ende 1941 bereits 80 Prozent aller litauischen<br />

Ju<strong>den</strong> tot waren, während <strong>in</strong> Polen die Mordaktionen vor allem <strong>in</strong> die Jahre 1942 und 1943<br />

fallen. In Kaunas selbst wur<strong>den</strong> alle<strong>in</strong> im Juni und Juli 1941 zwischen 8.000 und 10.000 Menschen<br />

ermordet, sodass zum 15. August 1941 lediglich noch drei Viertel der früheren jüdischen Bevölkerung<br />

von Kaunas <strong>in</strong> <strong>den</strong> ärmlichen Vorort Vilijampolė (jiddisch Slobodka) <strong>in</strong> das Getto gezwungen<br />

wer<strong>den</strong> konnten.<br />

Insgesamt schätzt man, dass etwa 95 Prozent der litauischen Ju<strong>den</strong> getötet wur<strong>den</strong>. Die Zahl der<br />

überleben<strong>den</strong> litauischen jüdischen K<strong>in</strong>der betrug Schätzungen zufolge um 200, wobei viele von ihnen<br />

zwangsweise zum Katholizismus bekehrt und häufig gegen nicht unbeträchtliche Geldsummen bei<br />

nicht jüdischen Familien versteckt wor<strong>den</strong> waren.<br />

Die Autobiografie e<strong>in</strong>es dieser K<strong>in</strong>der liegt jetzt auf Englisch vor. Shalom Eilati, damals Sholik<br />

Kaplan, wurde 1933 als erstes K<strong>in</strong>d der Dichter<strong>in</strong> und Krankenschwester Leah Greenste<strong>in</strong>-Kaplan<br />

und des Lehrers und Historikers Israel Kaplan geboren. Erst seit e<strong>in</strong>iger Zeit berücksichtigt die Forschung<br />

auch die Erfahrungen der jugendlichen Holocaust-Überleben<strong>den</strong>. [3] E<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d er<strong>in</strong>nert sich<br />

nicht zuletzt an andere K<strong>in</strong>der – dies ist gerade hier von besonderer Bedeutung, da so vielen von ihnen<br />

ke<strong>in</strong> Leben vergönnt war, so etwa dem Schulfreund Hans Haber (71), dessen Familie Ende der 30er<br />

Jahr aus Innsbruck nach Kaunas geflohen war [4], oder Eilatis Freun<strong>den</strong> Arke und Maimke, die von<br />

Kaunas mit e<strong>in</strong>em Transport von 129 acht bis 14-jährigen Jungen via Kaufer<strong>in</strong>g nach Auschwitz-<br />

Birkenau deportiert und dort ermordet wur<strong>den</strong>.<br />

Naturgemäß behält e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d weniger die Orte, Namen und Daten im Gedächtnis. Nichtsdestoweniger<br />

s<strong>in</strong>d manche Er<strong>in</strong>nerungen <strong>in</strong> ihrer Reduziertheit vielleicht treffender als die mancher Erwachsener.<br />

Lakonisch schreibt Eilati <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Er<strong>in</strong>nerungen an die „Große Aktion“ vom 28. Oktober 1941, bei<br />

der 9.200 E<strong>in</strong>wohner des Gettos von dem SS-Hauptscharführer Herbert Rauca selektiert und anschließend<br />

im IX. Fort ermordet wur<strong>den</strong>: „Achtung, halt, kaput(t) – the entire story of the ghetto <strong>in</strong> three<br />

short words.“ (44)<br />

Ruth Klüger stellte fest, dass die entsetzlichen Umstände die Familien ke<strong>in</strong>eswegs enger zusammenrücken<br />

ließen. „Wo es mehr auszuhalten gibt, wird auch die immer prekäre Duldsamkeit <strong>für</strong> <strong>den</strong><br />

Nächsten fa<strong>den</strong>sche<strong>in</strong>iger, und die Familienbande wer<strong>den</strong> rissiger. Während e<strong>in</strong>es Erdbebens zerbricht<br />

erfahrungsgemäß mehr Porzellan als sonst.“ [5] Dies deckt sich mit Eilatis Erfahrung: Mit e<strong>in</strong>er<br />

Cous<strong>in</strong>e, die sich um e<strong>in</strong>e junge Nichte der Mutter kümmern sollte, diese aber während der „Großen<br />

Aktion“ <strong>in</strong> der Obhut älterer Nachbarn ließ, die alle selektiert und getötet wur<strong>den</strong>, wird die Mutter<br />

nie wieder e<strong>in</strong> Wort wechseln (49). Der etwas weltfremde Vater verschw<strong>in</strong>det ebenfalls fast wortlos<br />

aus der Geschichte, da er sich – gegen <strong>den</strong> Rat der Mutter – freiwillig zu e<strong>in</strong>em Appell begibt, nachdem<br />

ihm von <strong>den</strong> Funktionären im Getto zugesagt wor<strong>den</strong> war, er würde nicht <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en geplanten<br />

Transport nach Riga rekrutiert wer<strong>den</strong>. Er hofft, nach e<strong>in</strong>er Inspektion se<strong>in</strong>er Arbeitspapiere wieder<br />

weggeschickt zu wer<strong>den</strong>, stattdessen wer<strong>den</strong> alle, die zum Sammelplatz gekommen waren, <strong>für</strong> <strong>den</strong><br />

Transport zurückbehalten. Vergeblich s<strong>in</strong>d die Anstrengungen der Mutter und von Angehörigen des<br />

Ju<strong>den</strong>rats, ihn aus der ausgewählten Gruppe auszulösen.<br />

Warum litauische Ju<strong>den</strong> aus Kaunas im Februar 1942 (und erneut im Oktober 1942) nach Riga<br />

deportiert wur<strong>den</strong>, nachdem dort lettische Ju<strong>den</strong> zu Zehntausen<strong>den</strong> im November und Dezember<br />

1941 ermordet wor<strong>den</strong> war, muss wohl das Geheimnis der deutschen Besatzer bleiben. Die Mutter<br />

wird sich <strong>für</strong> <strong>den</strong> Rest ihres kurzen Lebens vorwerfen, dass sie sich nicht genügend beim Ju<strong>den</strong>rat<br />

um die Freilassung ihres Mannes bemüht hat, weil sie <strong>in</strong> der Nacht vor dem Abtransport des Vaters<br />

bei ihrem kranken Sohn bleiben musste. Der Sohn fühlt sich mitschuldig gegenüber se<strong>in</strong>er jüngeren<br />

Ost- und Nordeuropa


389 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Schwester, weil er sich nicht von ihr verabschiedet, als sie aus dem Getto geschmuggelt wird. Er<br />

wird sie nie wiedersehen.<br />

Das Buch ist vor allem e<strong>in</strong>e Hommage an Eilatis Mutter, die sich dem Untergrund anschließt und<br />

die es – auch durch Aufbr<strong>in</strong>gung großer Summen Geldes – schafft, <strong>für</strong> ihre bei<strong>den</strong> K<strong>in</strong>der Verstecke zu<br />

f<strong>in</strong><strong>den</strong>. Als die Vernichtung des Gettos Wilna (September 1943) und die „K<strong>in</strong>deraktion“ im Getto/KZ<br />

Schaulen (November 1943) <strong>in</strong> Kaunas bekannt wer<strong>den</strong>, wird auch hier die Liquidierung be<strong>für</strong>chtet.<br />

Im Dezember 1943 br<strong>in</strong>gt die Mutter die sechse<strong>in</strong>halbjährige Tochter Yehudith jenseits des Flusses<br />

Neris, der <strong>den</strong> Gettovorort Vilijampolė von der Stadt Kaunas trennt, bei e<strong>in</strong>er litauischen Bekannten<br />

unter, nach der „K<strong>in</strong>deraktion“ vom März 1944 im Getto/KZ Kauen rettet sie auch <strong>den</strong> Sohn, der bei<br />

mehreren litauischen Familien die letzten Monate bis zur Befreiung übersteht und im August 1944 <strong>in</strong><br />

die Ru<strong>in</strong>en des Gettos zurückkehrt. Dem Sohn schenkt die Mutter zweimal das Leben: E<strong>in</strong>mal bei<br />

se<strong>in</strong>er Geburt und e<strong>in</strong> zweites Mal, als sie ihn von sich wegschickt mit der strengen Auflage, sich auf<br />

se<strong>in</strong>em Weg aus dem Getto nicht umzudrehen, um ke<strong>in</strong>en Verdacht zu erregen. Die jüngere Tochter<br />

Yehudith dagegen wird von ihrer „Gastfamilie“ noch im Sommer 1944 <strong>den</strong> deutschen Behör<strong>den</strong><br />

ausgeliefert, die Mutter stirbt kurz vor der Befreiung bei e<strong>in</strong>em Fluchtversuch aus dem Getto/KZ.<br />

Sholik Kaplan erfährt <strong>in</strong> der frühen Nachkriegszeit durch e<strong>in</strong>en Brief se<strong>in</strong>es Vaters, dass dieser <strong>in</strong><br />

München lebt und reist über Wilna, M<strong>in</strong>sk, Brest-Litowsk, Warschau, Lodz, Posen, Stett<strong>in</strong> und Berl<strong>in</strong><br />

nach Nürnberg, wo ihn der Vater abholt. In München wohnen sie <strong>in</strong> der Borstei – ausgerechnet<br />

an der Straße, die nach Dachau führt, wie der Sohn bemerkt (251).<br />

Das Buch erzählt von dem großen Schmerz, der die überleben<strong>den</strong> Familienangehörigen pe<strong>in</strong>igt.<br />

Der Sohn wirft dem Vater vor, die Mutter grundlos mit zwei kle<strong>in</strong>en K<strong>in</strong>dern alle<strong>in</strong>gelassen zu haben.<br />

Der Vater leidet daran, dass er Ehefrau und Tochter nicht vor der Vernichtung bewahren konnte und<br />

wird bis an se<strong>in</strong> Lebensende nicht über ihren Tod sprechen, ja selbst ihren Namen im Totengebet<br />

nicht erwähnen können. Den Sohn quält, dass se<strong>in</strong> Vater ihn nicht nach se<strong>in</strong>em Schicksal fragt:<br />

„What happened to me, to me and no one else, what I had lived through and was hurt by, what frightened<br />

me and grieved me, how I worried and feared – he never discovered that, because he never<br />

asked.“ (254) Dabei befragt der Vater, e<strong>in</strong> Pionier der Holocausthistoriografie und Herausgeber der<br />

Zeitschrift „Fun Letztn Churbn“, so viele andere, als er im DP-Lager, der Münchner Flakkaserne,<br />

Zeugnisse der Überleben<strong>den</strong> der Gettos und KZ sammelt und auf jiddisch veröffentlicht. (Die Dokumente<br />

sollten später e<strong>in</strong>en ersten wesentlichen Bestandteil des Archivs von Yad Vashem bil<strong>den</strong>). So<br />

schreibt der Sohn se<strong>in</strong>e Geschichte <strong>für</strong> die Mutter, die nicht überlebte, <strong>den</strong> Vater, der nie fragte, aber<br />

auch <strong>für</strong> se<strong>in</strong>e eigenen K<strong>in</strong>der und nicht zuletzt <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressierte Nachwelt (261).<br />

Franz Kafka hat 1904 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Brief an se<strong>in</strong>en Freund Oscar Pollak formuliert: „Wir brauchen<br />

aber die Bücher, die auf uns wirken wie e<strong>in</strong> Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod e<strong>in</strong>es, <strong>den</strong><br />

wir lieber hatten als uns, wie wenn wir <strong>in</strong> Wälder verstoßen wür<strong>den</strong>, von allen Menschen weg, wie<br />

e<strong>in</strong> Selbstmord, e<strong>in</strong> Buch muss die Axt se<strong>in</strong> <strong>für</strong> das gefrorene Meer <strong>in</strong> uns.“ Ja, das hier ist so e<strong>in</strong><br />

Buch. Und ja, hier gilt: „Aufbewahren <strong>für</strong> alle Zeit“.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Die immer noch beste knappe Darstellung bietet Christoph Dieckmann: Das Getto und das<br />

Konzentrationslager <strong>in</strong> Kaunas, 1941–1944, <strong>in</strong>: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager.<br />

Entwicklung und Struktur, hrsg. von Ulrich Herbert/Kar<strong>in</strong> Orth/Christoph Dieckmann, Gött<strong>in</strong>gen<br />

1998, Bd. 1, 438-471. E<strong>in</strong>en guten E<strong>in</strong>druck von der Fülle schriftlicher und bildlicher Zeugnisse<br />

des Gettos gibt der Ausstellungsband Hid<strong>den</strong> History of the Kovno Ghetto, Wash<strong>in</strong>gton D.C. 1997.<br />

[2] Vgl. Laura Jockusch: Jüdische Geschichtsforschung im Lande Amaleks. Jüdische historische<br />

Kommissionen <strong>in</strong> Deutschland 1945–1949, <strong>in</strong>: Zwischen Er<strong>in</strong>nerung und Neubeg<strong>in</strong>n. Zur<br />

deutsch-jüdischen Geschichte nach 1945. hrsg. von Susanne Schönborn, München 2006, 20-41.<br />

Ost- und Nordeuropa


390 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

[3] Vgl. Feliks Tych u.a. (Hrsg.): K<strong>in</strong>der über <strong>den</strong> Holocaust. Frühe Zeugnisse 1944–1948, Berl<strong>in</strong><br />

2008; auch Boaz Cohen: The Children’s Voice: Post-War Collection of Testimonies from Children<br />

Survivors of the Holocaust, <strong>in</strong>: Holocaust and Genocide Studies, Spr<strong>in</strong>g 2007, 74-95.<br />

[4] Der e<strong>in</strong>zige Überlebende der vierköpfigen Familie war der ältere Bruder Ernst David Haber.<br />

Vgl. David Ben-Dor: Die schwarze Mütze. Geschichte e<strong>in</strong>es Mitschuldigen. Leipzig 2000.<br />

[5] Ruth Klüger: weiter leben. E<strong>in</strong>e Jugend. Gött<strong>in</strong>gen 1992, 55.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Ost- und Nordeuropa


Lorenz Erren: „Selbstkritik“ und Schuldbekenntnis. Kommunikation und Herrschaft unter<br />

Stal<strong>in</strong> (1917–1953), München: Ol<strong>den</strong>bourg Wissenschaftsverlag 2008 (= Ordnungssysteme.<br />

Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit; Bd. 19), 405 S., ISBN 978-3-486-57971-0, EUR 49,80<br />

Rezensiert von Alexander R. Schejngeit<br />

Universität Konstanz<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 12<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/12/12718.html<br />

In der überarbeiteten Fassung se<strong>in</strong>er 2003 an der Universität<br />

Tüb<strong>in</strong>gen verfassten Dissertation untersucht Lorenz Erren die<br />

„Selbstkritik“ und „Schuldbekenntnisse“ als zwei zentrale Elemente<br />

des stal<strong>in</strong>istischen Kommunikationssystems. Die Bedeutung<br />

und Funktion beider Praktiken haben die <strong>in</strong>ternationale<br />

Forschung zu verschie<strong>den</strong>en Deutungsweisen und Kontroversen<br />

veranlasst. Man sah dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Kontrollmechanismus der<br />

sowjetischen Untertanen, e<strong>in</strong>en quasi religiösen Re<strong>in</strong>igungsakt<br />

der bolschewistischen Glaubensgeme<strong>in</strong>schaft, e<strong>in</strong> Unterwerfungs-<br />

und Diszipl<strong>in</strong>ierungsritual, e<strong>in</strong>e der Erlösungsreligion<br />

<strong>in</strong>härente Prüf<strong>in</strong>stanz und <strong>in</strong>stitutionalisierte Praxis der<br />

„Seelen-Hermeneutik“. E<strong>in</strong>e umfassende, e<strong>in</strong>en breiten Quellenkomplex<br />

aus <strong>den</strong> russischen Archiven heranziehende Untersuchung<br />

fehlte allerd<strong>in</strong>gs bis jetzt. In theoretischer H<strong>in</strong>sicht<br />

stützt sich Erren auf die von Michel Foucault ausgearbeiteten<br />

Modelle der Sozialkontrolle und des panoptischen Überwachungsstaates.<br />

Neu ist die These des Autors, dass „Selbstkritik“ und<br />

„Schuldbekenntnis“ vom stal<strong>in</strong>istischen Ordnungsentwurf und<br />

Wertesystem hervorgebracht wur<strong>den</strong> und als genu<strong>in</strong>e und orig<strong>in</strong>elle Phänomene des sowjetischen<br />

Herrschaftsdiskurses anzusehen s<strong>in</strong>d. Das Apriori e<strong>in</strong>es „präexistenten russischen, christlichen, <strong>in</strong>telligenzlerischen<br />

oder bolschewistischen kulturellen Code[s]“ lehnt Erren ab (25). Ihm zufolge entstan<strong>den</strong><br />

beide Praktiken „entlang e<strong>in</strong>er Kette von Präze<strong>den</strong>zfällen“ (28), sie bildeten sich im „postrevolutionäre[n]<br />

Vakuum an geme<strong>in</strong>samen Werten und politischer Legitimation“ heraus (25).<br />

Im ersten Kapitel behandelt Erren die Entstehung der sowjetischen Schuldbekenntnisrituale. E<strong>in</strong>e<br />

wichtige Zäsur stellte hierbei das 1921 auf dem zehnten Parteitag der sowjetischen KP e<strong>in</strong>geführte<br />

Fraktionsverbot dar, das das Immunitätspr<strong>in</strong>zip praktisch aufhob. Jede abweichende Me<strong>in</strong>ung der<br />

M<strong>in</strong>derheit konnte von der organisierten Mehrheit als Versuch der Fraktionsbildung <strong>in</strong>terpretiert<br />

wer<strong>den</strong>. Die Mehrheit selbst wurde als Geisel ihrer Anführer behandelt. Solche tatsächlichen und<br />

verme<strong>in</strong>tlichen Konflikte konnten nur durch Unterwerfung und Reuebekenntnisse der M<strong>in</strong>derheit beigelegt<br />

wer<strong>den</strong>. Der Sieg über die l<strong>in</strong>ke Opposition 1927 war <strong>für</strong> die Kultivierung und Ausweitung<br />

der Praktiken von Schuldbekenntnissen und Reueritualen bedeutend: Er führte zur massiven Säuberung<br />

an der Parteibasis. Wer aber <strong>in</strong> die Partei zurückf<strong>in</strong><strong>den</strong> wollte, hatte Distanzierungs- und


392 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Schuldbekenntnisse zu leisten, die zum Jahreswechsel 1927/1928 <strong>den</strong> Charakter e<strong>in</strong>es Massenphänomens<br />

annahmen.<br />

Die Kultur der Schuldbekenntnisse wurde <strong>in</strong> der Ause<strong>in</strong>andersetzung mit der rechten Opposition<br />

1929 durch e<strong>in</strong>e neue Dimension erweitert: Fehlere<strong>in</strong>geständnisse dienten als Unterwerfungsritual,<br />

das „e<strong>in</strong> neues, absolut verstan<strong>den</strong>es Herrschaftsverhältnis“ produzierte und <strong>den</strong> Parteifunktionären<br />

e<strong>in</strong>e als bolschewistische Tugend deklarierte Untertanenmentalität „des loyalen Befehlempfängers“<br />

e<strong>in</strong>impfte (92). Für die führen<strong>den</strong> Parteigremien hatte diese Entwicklung fatale Folgen: Sie wur<strong>den</strong><br />

„zur kollektiven Geisel degradiert“, <strong>in</strong> steuerbare, der Willkür Stal<strong>in</strong>s vollkommen ausgelieferte Abstimmungskörper<br />

verwandelt, deren Mitglieder auf ihre künftige, martialische Rolle der „Täter und<br />

Opfer gleichermaßen“ vorbereitet wur<strong>den</strong> (91).<br />

Im zweiten Kapitel wer<strong>den</strong> Ursprünge, Praktiken und Funktionen der „Kritik und Selbstkritik“<br />

untersucht. Die Losung wurde 1928 lanciert und stellte e<strong>in</strong>en Ersatz <strong>für</strong> die konstruktive Me<strong>in</strong>ungsbildung<br />

und die Austragung von Konflikten dar. Die Selbstkritik diente als Selbstbeobachtungsmodus<br />

der Gesellschaft, <strong>in</strong> dem dr<strong>in</strong>gende Probleme der Sowjetwirklichkeit wahrgenommen, diskutiert<br />

und gelöst wer<strong>den</strong> sollten (Leistungssteigerung). Sie hob bestehende Rang- und Hierarchiegrenzen<br />

auf, gab e<strong>in</strong>er breiten (parteilosen) Bevölkerungsschicht e<strong>in</strong>e Stimme und trug wesentlich zur<br />

Etablierung e<strong>in</strong>es „panoptischen“ Überwachungssystems im Stal<strong>in</strong>ismus bei (Diszipl<strong>in</strong>ierungsfunktion).<br />

Überdies konnten Protestpotentiale und Unzufrie<strong>den</strong>heit der loyalen Sowjetbevölkerung durch<br />

die „Selbstkritik“ kanalisiert und unter Kontrolle gebracht wer<strong>den</strong>. Erren weist überzeugend nach,<br />

dass die „Selbstkritik“ und die Praxis der „Schuldbekenntnisse“ nicht verwechselt wer<strong>den</strong> dürfen<br />

(wie es <strong>in</strong> der Forschung oft geschieht). Sie stellen vielmehr zwei verschie<strong>den</strong>e Phänomene im stal<strong>in</strong>istischen<br />

Kommunikationssystem dar, die ihre eigenen Ursprünge und Funktionen haben. In ihren<br />

Anfängen verlangte die „Selbstkritik“ nicht nach Schuldbekenntnissen und trug <strong>in</strong> sich ke<strong>in</strong>e sozialpädagogischen<br />

oder erzieherischen Momente. Der pädagogische Anspruch kam später, als die „Selbstkritik“<br />

sich <strong>in</strong> „e<strong>in</strong>e Technik panoptischer Sozialkontrolle“ verwandelte und zu e<strong>in</strong>er Rettungsstrategie<br />

wurde, „sich aus der Gefahrenzone des elim<strong>in</strong>atorischen Abstimmungskörpers <strong>in</strong> die Sphäre der<br />

sche<strong>in</strong>bar versöhnlichen [...] samokritika-Öffentlichkeit zu flüchten“ (133).<br />

Im dritten Kapitel untersucht Erren am Beispiel von Literaten und Akademikern, wie die Praxis<br />

der Schuldbekenntnisse <strong>in</strong> <strong>den</strong> „Selbstkritik“-Diskurs <strong>in</strong>tegriert wurde. Im <strong>in</strong>tellektuellen Milieu<br />

wurde bereits 1929 e<strong>in</strong>e semantische Neuerung beobachtet: Der Begriff der „Selbstkritik“ rückte <strong>in</strong><br />

die Nähe des <strong>in</strong>dividuellen Fehlere<strong>in</strong>geständnisses. Besonders „junge Eiferer“, e<strong>in</strong>e aufstrebende<br />

Generation der militant e<strong>in</strong>gestellten jungen Stal<strong>in</strong>isten, trieben diese Fusion durch ihren Macht- und<br />

E<strong>in</strong>flussanspruch voran. In der Atmosphäre der Hetzkampagnen wur<strong>den</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong> „Selbstkritik“-<br />

Debatten nun Gehorsam (Untertanenloyalität) und Unterwerfung (Fehlere<strong>in</strong>geständnisse und Ges<strong>in</strong>nungswandel)<br />

erwartet.<br />

Im vierten Kapitel wird die Janusköpfigkeit der stal<strong>in</strong>istischen Öffentlichkeit (1931–1953) thematisiert:<br />

Sie oszillierte zwischen e<strong>in</strong>em „zur Geisel gemachte(n) politische[n] Abstimmungskörper“<br />

und e<strong>in</strong>er pädagogischen Anstalt. Erren spricht von „zwei Bewußtse<strong>in</strong>szustände[n]“, „<strong>den</strong> multiplen<br />

I<strong>den</strong>titäten e<strong>in</strong>es Schizophreniekranken“ (180). Nach dem Großen Terror 1937/1938 dom<strong>in</strong>ierte e<strong>in</strong>deutig<br />

die erzieherische Funktion der Selbstkritik, die aus der Geme<strong>in</strong>schaft der Sowjetmenschen e<strong>in</strong>e<br />

„patriarchalische Großfamilie“ formte und sie als unmündige, der Loyalitätstugend verpflichtete Schüler<br />

behandelte.<br />

Im fünften Kapitel geht es um die Schuldbekenntnisse vor Gericht, <strong>den</strong>en die Bedeutung e<strong>in</strong>er politischen<br />

Kapitulation zukam. Sie stellten re<strong>in</strong>e Inszenierungen dar, hatten mit dem modernen Rechtsverständnis<br />

nichts geme<strong>in</strong>sam und er<strong>in</strong>nerten „an Vorbilder aus der Inquisition und dem Mittelalter“<br />

(359). „In der stal<strong>in</strong>istischen Dämonologie“ konnten Buße und Reue der Angeklagten ke<strong>in</strong>e Vergebung<br />

erwarten, e<strong>in</strong>e „ontologische“ Schuld der Stal<strong>in</strong>-Fe<strong>in</strong>de war nicht zu tilgen (369).<br />

Ost- und Nordeuropa


393 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Lorenz Erren kommt das Verdienst zu, Begriffe „Selbstkritik“ und „Schuldbekenntnis“ <strong>in</strong> ihrer<br />

Genese, semantischen Entfaltung und als i<strong>den</strong>titätsstiftende und machtgenerierende Praktiken <strong>in</strong> verschie<strong>den</strong>en<br />

Zeiträumen und Milieus zu analysieren. Se<strong>in</strong>e Unterscheidung zwischen dem politischen<br />

Abstimmungskörper als e<strong>in</strong>er elim<strong>in</strong>atorischen Kampfgeme<strong>in</strong>schaft und der öffentlichen Selbstkritik<br />

als Besserungs- und Erziehungs<strong>in</strong>stanz ist wegweisend. Künftige Untersuchungen wer<strong>den</strong> nicht nur<br />

dieses Erklärungsmodell, sondern auch die von Lorenz Erren auf e<strong>in</strong>em hohen Reflexionsniveau geleisteten<br />

Detailanalysen der sowjetischen „Selbstkritik“- und Schuldbekenntnispraktiken berücksichtigen<br />

müssen.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Ost- und Nordeuropa


Benjam<strong>in</strong> Gilde: F<strong>in</strong>nland und das geteilte Vietnam, Hannover: Ibidem 2007, 149 S.,<br />

ISBN 978-3-89821-683-8, EUR 24,90<br />

Rezensiert von Olivia Griese<br />

Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 11<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/11/14804.html<br />

Wohl kaum e<strong>in</strong> Thema der f<strong>in</strong>nischen Nachkriegsgeschichte<br />

ist bereits so umfangreich erforscht wor<strong>den</strong> wie die f<strong>in</strong>nische<br />

Neutralitätspolitik. Dennoch können Fallstudien e<strong>in</strong>zelner<br />

Aspekte der f<strong>in</strong>nischen Außenpolitik auf der Grundlage von<br />

neu zugänglichen oder bisher nicht vollständig ausgewerteten<br />

Aktenbestän<strong>den</strong> dem bereits vielschichtigen Bild neue Dimensionen<br />

h<strong>in</strong>zufügen und gewonnene Erkenntnisse vertiefen.<br />

Nach dem Zweiten Weltkrieg musste F<strong>in</strong>nland aufgrund<br />

se<strong>in</strong>er prekären geopolitischen Lage das Verhältnis zum ehemaligen<br />

Kriegsgegner und unmittelbaren Grenznachbarn Sowjetunion<br />

auf e<strong>in</strong>e neue Grundlage stellen. Aus dieser Notwendigkeit<br />

heraus wurde die f<strong>in</strong>nische aktive Neutralitätspolitik<br />

entwickelt, deren Kernpr<strong>in</strong>zip war, ke<strong>in</strong>e Stellung zu Konflikten<br />

zwischen <strong>den</strong> Machtblöcken des Kalten Krieges zu beziehen.<br />

E<strong>in</strong>e Konsequenz dieser Politik war die Nichtanerkennung<br />

des geteilten Deutschland, was sich als wichtiger Prüfste<strong>in</strong><br />

<strong>für</strong> die Neutralitätspolitik erwies. Erst 1973 konnte das<br />

Verhältnis zu bei<strong>den</strong> deutschen Staaten mit der Aufnahme diplomatischer<br />

Beziehungen normalisiert wer<strong>den</strong>. [1]<br />

Die vor diesem H<strong>in</strong>tergrund entwickelten Pr<strong>in</strong>zipien <strong>für</strong> <strong>den</strong> Umgang mit geteilten Staaten fan<strong>den</strong><br />

auch andernorts Anwendung, so auch im Fall von Vietnam, wo<strong>für</strong> jetzt erstmalig e<strong>in</strong>e umfassende<br />

Untersuchung vorliegt. Auf Basis der vollständigen Aktenbestände des f<strong>in</strong>nischen Außenm<strong>in</strong>isteriums<br />

analysiert Benjam<strong>in</strong> Gilde die Außenpolitik gegenüber dem geteilten Vietnam vom Beg<strong>in</strong>n der USamerikanischen<br />

Phase des Vietnamkriegs 1964 bis zur vietnamesischen Wiedervere<strong>in</strong>igung und der<br />

Normalisierung der Beziehungen zu F<strong>in</strong>nland 1976. Die Wahl des Untersuchungszeitraums ersche<strong>in</strong>t<br />

nachvollziehbar, da sich <strong>in</strong> diesem Zeitabschnitt die Entwicklung von ersten Ansätzen e<strong>in</strong>er eigenständigen<br />

f<strong>in</strong>nischen Vietnampolitik bis zur Aufnahme diplomatischer Beziehung und damit der bilateralen<br />

Normalität vollzieht. Dabei liegt e<strong>in</strong> besonderes Augenmerk auf dem Verhältnis der zur<br />

Deutschlandpolitik und deren Bedeutung als Bezugsrahmen <strong>für</strong> das Verhältnis zu geteilten Staaten.<br />

Die Schilderung des chronologischen Ereignisablaufs gliedert sich <strong>in</strong> zwei Phasen. In der ersten<br />

Phase bis 1971 entstan<strong>den</strong> erstmalig Kontakte auf Botschafterebene zu Nord-Vietnam. Der Besuch<br />

des <strong>in</strong> Moskau akkreditierten nordvietnamesischen Botschafters <strong>in</strong> F<strong>in</strong>nland 1966 barg bereits e<strong>in</strong>igen<br />

außenpolitischen Sprengstoff, da dessen vorangegangener Aufenthalt <strong>in</strong> Stockholm und die offenen<br />

Solidaritätsdemonstrationen des späteren M<strong>in</strong>isterpräsi<strong>den</strong>ten Olof Palme zu e<strong>in</strong>em diplomatischen


395 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Konflikt Schwe<strong>den</strong>s mit <strong>den</strong> USA geführt hatten, der <strong>in</strong> der kurzzeitigen Abberufung des amerikanischen<br />

Botschafters gipfelte.<br />

Dieses Ereignis zeigte bereits zum e<strong>in</strong>en die außenpolitische Gratwanderung, die F<strong>in</strong>nland <strong>in</strong> dieser<br />

Frage vollbr<strong>in</strong>gen musste, um e<strong>in</strong>erseits die Beziehungen zu <strong>den</strong> USA nicht zu gefähr<strong>den</strong>, andererseits<br />

aber auch e<strong>in</strong>e Eigenständigkeit im Handeln zu bewahren, die <strong>den</strong> eigenen Interessen diente.<br />

Zum anderen wird die <strong>in</strong> dieser Frage zu beobachtende Orientierung an der Politik der nordischen<br />

und der neutralen Staaten deutlich. Insbesondere die sehr aktive Parte<strong>in</strong>ahme von Schwe<strong>den</strong> bot<br />

F<strong>in</strong>nland die Möglichkeit, gewissermaßen <strong>in</strong> dessen W<strong>in</strong>dschatten erste eigene Aktivitäten zu erproben.<br />

Diese Orientierung zeigt sich auch beim Übergang <strong>in</strong> die aktivere Phase seit 1971. Die Anerkennung<br />

Nord-Vietnams durch Schwe<strong>den</strong> 1969 sowie Norwegen, Dänemark und die neutrale Schweiz<br />

1971 setzte nach E<strong>in</strong>schätzung des Autors F<strong>in</strong>nland ebenso unter Zugzwang wie der stetig wachsende<br />

Druck, die DDR anzuerkennen. Auch hier zeigt sich die Bezugnahme auf die Politik gegenüber bei<strong>den</strong><br />

deutschen Staaten, ebenso wie beim Verhandlungsangebot, dem sog. Deutschland-Paket war F<strong>in</strong>nland<br />

auch gegenüber Vietnam bemüht, die Gespräche über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen<br />

möglichst parallel zu führen, um ke<strong>in</strong>er Seite <strong>den</strong> Vorrang zu geben. Dieser Anspruch war jedoch<br />

<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Fall von Erfolg gekrönt, wobei mit bei<strong>den</strong> deutschen Staaten zwar die Verhandlungen<br />

zeitlich versetzt geführt wur<strong>den</strong>, aber die Aufnahme diplomatischer Beziehungen praktisch gleichzeitig<br />

erfolgte. Im Fall von Vietnam hielt der Anspruch der Gleichbehandlung <strong>den</strong> widerstreiten<strong>den</strong><br />

Interessen noch weniger stand, was schließlich zunächst nur zu Gesprächen mit Nord-Vietnam führte.<br />

E<strong>in</strong>e erneute Verschärfung der US-amerikanischen Kriegshandlungen 1972 wurde schließlich zum<br />

Auslöser <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>seitige Anerkennung Nord-Vietnams durch F<strong>in</strong>nland und damit der endgültigen<br />

Abkehr von der offiziell postulierten Politik der Gleichbehandlung von geteilten Staaten.<br />

Benjam<strong>in</strong> Gilde zeichnet diese Entwicklung stimmig nach, wobei die flüssig geschriebene Abhandlung<br />

<strong>in</strong> ihrer engen Anlehnung an das Quellenmaterial teilweise zu e<strong>in</strong>er chronologischen Nacherzählung<br />

der Ereignisabläufe gerät. Er bewertet die zunächst zögerliche Haltung der f<strong>in</strong>nischen Politik<br />

<strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> der ersten Phase durchaus kritisch (z.B., 52) und betont <strong>den</strong> Zugzwang, <strong>in</strong> <strong>den</strong> F<strong>in</strong>nland<br />

dann aufgrund dieser Zurückhaltung nach 1971 geriet. Ob die vorangegangene Politik durch <strong>den</strong><br />

Kurswechsel 1971 tatsächlich als gescheitert oder die enge Verzahnung mit der Deutschlandpolitik<br />

tatsächlich im Nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> als Fehler zu werten ist, darf bezweifelt wer<strong>den</strong>. Vielmehr bestand bis zu<br />

diesem Zeitpunkt wohl weder e<strong>in</strong>e realistische Alternative noch e<strong>in</strong>e unmittelbare Notwendigkeit,<br />

erst nach 1971 ließ die weltpolitische Lage e<strong>in</strong> Abweichen von der bisherigen Praxis zu. Die Politik<br />

gegenüber <strong>den</strong> geteilten Staaten hatte zu diesem Zeitpunkt Anfang der 70er Jahre vielmehr, wie der<br />

Autor an anderer Stelle richtig bemerkt, ihre Funktion erfüllt und konnte unter nun geänderten Gegebenheiten<br />

revidiert wer<strong>den</strong>. Damit illustriert diese Fallstudie e<strong>in</strong>mal mehr, wie F<strong>in</strong>nland trotz der<br />

gegebenen Zwänge erfolgreich vermei<strong>den</strong> konnte, gegen die eigenen Interessen handeln zu müssen.<br />

Sehr vage bleibt die Rolle der Sowjetunion; die Darstellung beschränkt sich auf knappe H<strong>in</strong>weise<br />

auf die sowjetische Zurückhaltung. Auch wenn dies <strong>den</strong> Erkenntnissen aus der Forschung über die<br />

f<strong>in</strong>nische Deutschlandpolitik entspricht – hier hatte die Sowjetunion zwar ihr Interesse an e<strong>in</strong>er Anerkennung<br />

der DDR deutlich gemacht, jedoch stets davon abgesehen, entschei<strong>den</strong><strong>den</strong> Druck auszuüben<br />

– hätte man sich e<strong>in</strong> ausführlicheres E<strong>in</strong>gehen auf diese Haltung und die dah<strong>in</strong>ter stehen<strong>den</strong><br />

Motive gewünscht, auch wenn dies im vorliegen<strong>den</strong> Quellenmaterial offensichtlich nicht greifbar<br />

wird. Trotz dieser vere<strong>in</strong>zelten E<strong>in</strong>wände liegt hier erstmalig e<strong>in</strong>e umfassende Studie zur f<strong>in</strong>nischen<br />

Vietnampolitik und deren Verhältnis zur Politik gegenüber geteilten Staaten vor, die das Bild der<br />

f<strong>in</strong>nischen Neutralitätspolitik auf solider Quellenbasis um weitere Facetten bereichert.<br />

Ost- und Nordeuropa


396 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Anmerkung:<br />

[1] Seppo Hentilä: Neutral zwischen <strong>den</strong> bei<strong>den</strong> deutschen Staaten. F<strong>in</strong>nland und Deutschland im<br />

Kalten Krieg. Berl<strong>in</strong> 2006.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Ost- und Nordeuropa


Wladislaw Hedeler/Me<strong>in</strong>hard Stark: Das Grab <strong>in</strong> der Steppe. Leben im Gulag.<br />

Die Geschichte e<strong>in</strong>es sowjetischen „Besserungsarbeitslagers“ 1930–1959,<br />

Paderborn: Schön<strong>in</strong>gh 2008, 465 S., ISBN 978-3-506-76376-1, EUR 38,00<br />

Wladislaw Hedeler (Hrsg.): KARLag. Das Karagand<strong>in</strong>sker „Besserungsarbeitslager“<br />

1930–1959. Dokumente zur Geschichte des Lagers, se<strong>in</strong>er Häftl<strong>in</strong>ge und Bewacher,<br />

Paderborn: Schön<strong>in</strong>gh 2008, 365 S., ISBN 978-3-506-76377-8, EUR 39,90<br />

Rezensiert von Andreas Hilger<br />

Hamburg<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 4<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/04/13861.html<br />

Spätestens mit Solženicyns e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glichen Beschreibungen ist<br />

der Begriff „Gulag“ zum Synonym <strong>für</strong> Stal<strong>in</strong>s Schreckensherrschaft<br />

gewor<strong>den</strong>. Die <strong>in</strong>tensiven Forschungen, die seit<br />

Perestroika und nach dem Zerfall der UdSSR zunächst e<strong>in</strong>mal<br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong> Moskauer Zentralarchiven möglich wur<strong>den</strong>, haben das<br />

System der Lagerhauptverwaltung des Volkskommissariats<br />

<strong>für</strong> Innere Angelegenheiten (respektive Innenm<strong>in</strong>isteriums) <strong>in</strong><br />

all se<strong>in</strong>en Verästelungen analysiert und endgültig offengelegt,<br />

dass es sich beim Gulag um mehr handelte als um e<strong>in</strong> systemisches<br />

Terror<strong>in</strong>strument oder um e<strong>in</strong> Wirtschaftsimperium:<br />

Se<strong>in</strong>e Abteilungen stellten regionale Macht- und E<strong>in</strong>flusszentren<br />

dar und die Lebenswelt des Gulag prägte bis weit über<br />

se<strong>in</strong>e Auflösung h<strong>in</strong>aus die Ausformung kollektiver E<strong>in</strong>stellungen<br />

und Wahrnehmungen, Interaktionen und Er<strong>in</strong>nerungen. [1]<br />

Diese grundlegende, vielschichtige Bedeutung lässt sich<br />

gerade an e<strong>in</strong>em konkreten Beispiel e<strong>in</strong>er Lagerverwaltung<br />

besonders gut erfassen und zwar unter Zuhilfenahme der Archivalien<br />

der Bürokratie und Politik sowie der Beschreibungen<br />

ehemaliger Insassen. Das mehrjährige Großprojekt (2001–2004) von Wladislaw Hedeler und Me<strong>in</strong>hard<br />

Stark hat sich zur Aufgabe gestellt, aus diesen verschie<strong>den</strong>en Perspektiven das Karagand<strong>in</strong>sker<br />

Besserungsarbeitslager <strong>in</strong> Kasachstan (Karlag) zu analysieren (Dokumentenband, 7f.). Die Ergebnisse<br />

liegen nun <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em umfangreichen Dokumentenband und e<strong>in</strong>er Darstellung vor.<br />

Die Fokussierung auf das Karlag ist s<strong>in</strong>nvoll: Hier gab es von 1929 bis 1959 alle wesentlichen<br />

Lagertypen des Gulag, die Häftl<strong>in</strong>ge schufteten <strong>für</strong> wichtige Versorgungs- und Industriezweige, und<br />

sie prägten Gesicht und Geschichte der Region bis heute mit. Der öffentliche Umgang mit diesen<br />

Aspekten der sowjetischen Geschichte <strong>in</strong> Kasachstan er<strong>in</strong>nert im Übrigen an die unebene russische<br />

Vergangenheitspolitik: 1993 verabschiedete das kasachische Parlament e<strong>in</strong> „Gesetz über die Rehabilitierung<br />

der Opfer der Massenrepressalien“, verbannte 2002 aber die zentrale Lagerge<strong>den</strong>kstätte an<br />

e<strong>in</strong>en Nebenort des damaligen Geschehens. Die Bevölkerung vor Ort zeigt ke<strong>in</strong> großes Interesse an


398 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

<strong>den</strong> dunklen Seiten der Vergangenheit, sondern er<strong>in</strong>nert sich an verme<strong>in</strong>tlich positive Seiten früherer<br />

Ordnung (Monografie, 437-444). Derartige aktuelle Momentaufnahmen lassen die Bruchstellen e<strong>in</strong>er<br />

Gesellschaft erahnen, <strong>in</strong> der sich zwischen Häftl<strong>in</strong>gen und Freien oft e<strong>in</strong>e tiefe Kluft auftat, <strong>in</strong> der<br />

diese Personen und ihre Nachfahren jedoch auf engstem<br />

Raum zusammenlebten. Entlassene, so das Resümee von Befragten,<br />

taten sich <strong>in</strong> ihren ehemaligen Haftgebieten immer noch<br />

leichter mit der Re<strong>in</strong>tegration als im restlichen Sowjetreich<br />

(Monografie, 13f.).<br />

Die abgedruckten, e<strong>in</strong>wandfrei übersetzten 119 Dokumente<br />

s<strong>in</strong>d dem Lagerarchiv, das sich <strong>in</strong> Karaganda bef<strong>in</strong>det, entnommen.<br />

E<strong>in</strong>e thematische Gliederung der Dokumente wäre<br />

allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>facher zu handhaben gewesen als die gewählte<br />

chronologische Anordnung – detaillierte Personen- und Ortsregister<br />

können hier nur begrenzt weiterhelfen. Auch die Kommentare<br />

hätte man sich mitunter <strong>in</strong>formativer gewünscht (58,<br />

70). Auf e<strong>in</strong>e analytisch-komparative E<strong>in</strong>bettung <strong>in</strong> die Gesamtlandschaft<br />

des Gulag verzichten im Übrigen beide Bände.<br />

Da<strong>für</strong> liefert die Monografie e<strong>in</strong>e m<strong>in</strong>utiöse Beschreibung des<br />

Lageralltags <strong>in</strong> <strong>den</strong> Haftstätten des Karlag, die von der Haftordnung<br />

über Freundschaften, von Bekleidung über K<strong>in</strong>derheime<br />

alle <strong>den</strong>kbaren Facetten des Häftl<strong>in</strong>gslebens ausleuchtet.<br />

Hier<strong>für</strong> wur<strong>den</strong> die adm<strong>in</strong>istrativen Dokumente durch e<strong>in</strong>e<br />

Auswertung von 1080 Häftl<strong>in</strong>gsakten ergänzt. Ob deren Ergebnisse<br />

repräsentativ <strong>für</strong> die Lagergesellschaft s<strong>in</strong>d, sche<strong>in</strong>t fraglich: Von <strong>den</strong> Personalakten, die<br />

<strong>für</strong> je<strong>den</strong> der rund 800.000 Karlaghäftl<strong>in</strong>ge angelegt wur<strong>den</strong>, wurde zu Sowjetzeiten e<strong>in</strong> Großteil aus<br />

nicht näher erläuterten Grün<strong>den</strong> vernichtet. Bewusst aufbewahrt wur<strong>den</strong> dagegen Akten von Ausländern<br />

oder von im Lager erschossenen Opfern (Monografie, 14). Die übergroße Mehrheit der im Lager<br />

Verstorbenen g<strong>in</strong>g allerd<strong>in</strong>gs an <strong>den</strong> vorherrschen<strong>den</strong> Lebens- und Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen zugrunde.<br />

Im Längsschnitt erwies sich die hohe Arbeitsbelastung, die durch Unterschlagung und Desorganisation<br />

zusätzlich verm<strong>in</strong>derte Mangelverpflegung, sanitäre und mediz<strong>in</strong>ische Unterversorgung und die<br />

<strong>für</strong> das harsche Klima oftmals ungeeigneten Unterkünfte als Ursachenkonglomerat <strong>für</strong> die hohe<br />

Sterblichkeit im Karlag. Hedeler/Stark gehen von über 38.000 Toten aus, das s<strong>in</strong>d rund fünf Prozent<br />

der Gesamtbelegung. Die chronologische Aufschlüsselung der Todesraten belegt e<strong>in</strong>mal mehr, dass<br />

sich die Gulaghäftl<strong>in</strong>ge am untersten Ende e<strong>in</strong>er Mangelgesellschaft befan<strong>den</strong>: Nach <strong>den</strong> plan- und<br />

gewissenlosen Anfangsjahren der Verwaltung lagen weitere Höhepunkte des Massensterbens im<br />

Hungerjahr 1933 und <strong>in</strong> <strong>den</strong> Kriegsjahren (Monografie, 382).<br />

Schließlich haben die Autoren mit 49 ehemaligen Häftl<strong>in</strong>gen lebensgeschichtliche Interviews geführt<br />

sowie 14 weitere schriftliche Berichte ausgewertet. Das Spektrum der Gesprächspartner und<br />

Autoren umfasst u.a. Russen, Polen, Ukra<strong>in</strong>er, Balten sowie e<strong>in</strong>e ganze Anzahl von deutschen Kriegs-<br />

und Zivilgefangenen. Über die chaotischen Aufbaujahre des Karlag ließ sich Anfang des 21. Jahrhunderts<br />

nicht mehr mit Zeitzeugen sprechen; die 63 Berichte decken <strong>den</strong> Zeitraum von 1936 bis<br />

1956 ab (26). Auf diese Weise spiegelt sich der frühe Krieg des Gulagsystems gegen die e<strong>in</strong>heimische<br />

Noma<strong>den</strong>bevölkerung nicht <strong>in</strong> <strong>den</strong> genutzten Häftl<strong>in</strong>gser<strong>in</strong>nerungen. Bereits 1933 beanspruchten<br />

acht Haftabteilungen mit über 70 Lagerpunkten, die das Karlag ausmachten, e<strong>in</strong> Territorium von der<br />

Größe des deutschen Bundeslandes Sachsen. E<strong>in</strong>heimische Noma<strong>den</strong> setzten sich gegen <strong>den</strong> Verlust<br />

ihres Weidelandes zur Wehr, konnten sich aber gegen <strong>den</strong> massiven Druck nicht behaupten (33f.);<br />

Häftl<strong>in</strong>ge griffen darüber h<strong>in</strong>aus 1931/32 mit Billigung und Unterstützung ihrer Wärter selbst feste<br />

Ost- und Nordeuropa


399 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Siedlungen an, um sich Nahrung zu verschaffen (41). Kasachische Häftl<strong>in</strong>ge litten <strong>in</strong> der ersten Hälfte<br />

der 1930er Jahre schließlich unter gezielter zusätzlicher Diskrim<strong>in</strong>ierung seitens der Lagerverwaltungen<br />

(Dokument Nr. 11). Die regionale Kultur wurde im Gulag buchstäblich untergepflügt und<br />

ausgeschlachtet (Dokumente 12, 58). Das Zusammenleben von Gulag- und Zivilgesellschaft blieb<br />

weiterh<strong>in</strong> spannungsgela<strong>den</strong>: Zivilisten beispielsweise erhielten Geldprämien, wenn sie flüchtige<br />

Gefangene aufspürten (Monografie, 46f.). Im Innern des Gulag wiederum blieb der Gegensatz zwischen<br />

„krim<strong>in</strong>ellen“ und „politischen“ Häftl<strong>in</strong>gen bedeutsam. Dabei machen die Autoren zu Recht<br />

darauf aufmerksam, dass derartige Kategorisierungen der stal<strong>in</strong>istischen Justiz fragwürdig s<strong>in</strong>d: Die<br />

Krim<strong>in</strong>alisierung von Bürgern fußte oft genug auf politisch-ideologischen Vorgaben Moskaus und<br />

verzerrt entsprechende Statistiken (Monografie, 177f.). Nichtsdestoweniger waren gewaltkrim<strong>in</strong>elle<br />

Gefangene <strong>für</strong> die politischen Häftl<strong>in</strong>ge e<strong>in</strong>e Belastung, oft genug e<strong>in</strong>e Gefahr. Sie erwiesen sich gegenüber<br />

der Lagerobrigkeit ebenfalls als rücksichtslos renitent. Ihre Welt bleibt auch <strong>den</strong> Autoren<br />

dieser Studie weitgehend verschlossen.<br />

Insgesamt bieten die Bände e<strong>in</strong>e Fülle von E<strong>in</strong>sichten <strong>in</strong> Leben und Überleben im Karlag. Der<br />

Schwerpunkt liegt e<strong>in</strong>deutig auf Bed<strong>in</strong>gungen und Erfahrungen der desaströsen Lagerverhältnisse,<br />

h<strong>in</strong>ter <strong>den</strong>en die weite Ausstrahlung des Gulag <strong>in</strong> Raum, Zeit und Gesellschaft zurücksteht. Diese<br />

Konzentration folgt letztlich <strong>den</strong> Häftl<strong>in</strong>gserfahrungen, die sich <strong>in</strong>nerhalb des Lagersystems eigene<br />

Orientierungs- und Vergleichspunkte suchen mussten und im Lageralltag das Zeitgefühl verloren<br />

(253). [2] Sie spiegelt schließlich auch die verkürzte Perspektive der Lagerverwaltungen selbst wider:<br />

Ende 1934 befahl die Verwaltung die „E<strong>in</strong>richtung e<strong>in</strong>es Lagermuseums, das die Vorstellung der<br />

Ergebnisse des Lagers bei der Umgestaltung der Natur und beim Umschmie<strong>den</strong> der Menschen zum<br />

Ziel hat.“ (Dokument 15) Doch <strong>in</strong> der Praxis galt das Augenmerk der Adm<strong>in</strong>istration alle<strong>in</strong> der Erfüllung<br />

der Arbeitsnormen und Planvorgaben. Das Museumsprojekt der Verwaltung versandete. Die<br />

Lagerzeitschrift stellte noch 1934 die Berichterstattung über <strong>in</strong>nen- und außerpolitische Themen e<strong>in</strong><br />

und wurde später umbenannt <strong>in</strong> „Für die sozialistische Tierproduktion“: „E<strong>in</strong>e Welt außerhalb des<br />

Lagers schien nicht zu existieren.“ (Dokumentenband, 14)<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Grundlegend die siebenbändige Dokumentation „Istorija Stal<strong>in</strong>skogo Gulaga. Konec 1920-ch –<br />

pervaja polov<strong>in</strong>a 1950-ch godov“, Moskau 2004–2005; Oleg V. Chlevnjuk: The history of the<br />

Gulag. From collectivization to the great terror, New Haven 2004; Gal<strong>in</strong>a M. Ivanova: Istorija<br />

Gulaga. 1918–1958, Moskau 2006.<br />

[2] Vgl. bereits Aleksandr I. Solženicyn: E<strong>in</strong> Tag im Leben des Iwan Denissowitsch, München 1963.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Ost- und Nordeuropa


Peter Hübner/Christa Hübner: Sozialismus als soziale Frage. Sozialpolitik <strong>in</strong> der DDR<br />

und Polen 1968–1976. Mit e<strong>in</strong>em Beitrag von Christoph Boyer zur Tschechoslowakei (= Zeithistorische<br />

Studien; Bd. 45), Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2008, 520 S., ISBN 978-3-412-20203-3,<br />

EUR 59,90<br />

Rezensiert von Silke Röttger<br />

Leipzig<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 4<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/04/14895.html<br />

„Sozialismus als Soziale Frage“ – dieser Gleichklang hat im<br />

heutigen wiedervere<strong>in</strong>igten Deutschland e<strong>in</strong>e ungebrochene<br />

Kont<strong>in</strong>uität. Die sozialen „Errungenschaften“ s<strong>in</strong>d (neben dem<br />

angeblichen Antifaschismus) das Phänomen, das am nachhaltigsten<br />

das Bild der DDR abseits der wissenschaftlichen Forschung<br />

prägt. Die Wurzeln dieser Entwicklung liegen <strong>in</strong> der<br />

hohen ideologisch-propagandistischen Aufladung, die die Wirtschafts-<br />

und Sozialpolitik auf <strong>den</strong> höchsten Parteiebenen <strong>in</strong><br />

allen Ländern des östlichen Blocks stets erfuhr. Wie János<br />

Kornai 1992 gezeigt hat, wur<strong>den</strong> im „sozialistischen System“<br />

die wirtschaftlichen Strukturen von der Ideologie und dem<br />

Willen der Partei zum Machterhalt so nachhaltig geprägt, dass<br />

sämtliche Entscheidungen nur <strong>in</strong>nerhalb dieses unverrückbaren<br />

Rahmens getroffen wer<strong>den</strong> konnten.<br />

Dieselbe Beobachtung hat M. Ra<strong>in</strong>er Lepsius 1994 am<br />

Beispiel der DDR als „Entdifferenzierung der <strong>Institut</strong>ionen“<br />

bezeichnet, die bewirkt, dass alle Entscheidungen von Partei<strong>in</strong>stanzen<br />

getroffen wer<strong>den</strong>. Dieses Phänomen ist <strong>für</strong> sozialistische<br />

Staaten typisch und führt dazu, dass auf dem Gebiet der Wirtschaft die ökonomische Effizienz<br />

als Rationalitätskriterium und Handlungsleitfa<strong>den</strong> stets h<strong>in</strong>ter der politischen Zweckmäßigkeit zurückstehen<br />

muss: „Das zentrale Rationalitätskriterium war die Erhaltung der Macht der Partei.“ [1]<br />

Vor diesem H<strong>in</strong>tergrund fällt Peter Hübners Untersuchung des „Sozialismus als soziale Frage“,<br />

die mit Christa Hübner als Koautor<strong>in</strong> erstellt wurde, seltsam neutral aus. Hübner analysiert die Sozialpolitik<br />

der DDR und Polens zwischen 1968 und 1976. E<strong>in</strong>en prom<strong>in</strong>enten Platz nehmen dabei die<br />

Krisenmonate 1970/71 e<strong>in</strong>, die <strong>in</strong> bei<strong>den</strong> Ländern nicht nur Wechsel an <strong>den</strong> Parteispitzen, sondern<br />

auch wirtschafts- und sozialpolitische Kursveränderungen mit sich brachten. Die folgen<strong>den</strong> Jahre bis<br />

zum Ausbruch e<strong>in</strong>er erneuten polnischen Krise 1976 wer<strong>den</strong> kenntnis- und detailreich „gewissermaßen<br />

als e<strong>in</strong>e deutsch-polnische Parallelgeschichte“ beschrieben (24). Ergänzende Kapitel untersuchen die<br />

Perzeption der polnischen Politik durch die SED.<br />

Hoch<strong>in</strong>teressant und aufschlussreich ist die umfangreiche Studie vor allem durch ihren vergleichen<strong>den</strong><br />

Ansatz, der hier am Beispiel der Sozialpolitik e<strong>in</strong>mal mehr verdeutlicht, dass es sich beim<br />

„Ostblock“ ke<strong>in</strong>eswegs um e<strong>in</strong> monolithisches Gebilde handelte. E<strong>in</strong> deutlicher Unterschied zwischen


401 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

der DDR und Polen, der entschei<strong>den</strong><strong>den</strong> E<strong>in</strong>fluss auf die Gestaltung der jeweiligen Sozialpolitik hatte,<br />

war z.B. das Arbeitskräftepotenzial. Während der Betriebsalltag <strong>in</strong> der DDR von e<strong>in</strong>em ständigen<br />

Mangel an Arbeitskräften geprägt war, herrschte <strong>in</strong> Polen e<strong>in</strong> spürbarer Überschuss. E<strong>in</strong> Schwerpunkt<br />

der polnischen Sozialpolitik <strong>in</strong> <strong>den</strong> 70er Jahren bestand dementsprechend dar<strong>in</strong>, durch verschie<strong>den</strong>e<br />

Anreize (Teilzeit, dreijähriger unbezahlter Mutterurlaub) Frauen und <strong>in</strong>sbesondere Mütter<br />

von e<strong>in</strong>er vollen Erwerbstätigkeit fernzuhalten. Diesem Ziel kam e<strong>in</strong> Familienbild entgegen, das <strong>in</strong><br />

Polen traditioneller war als <strong>in</strong> der DDR. In diesem Zusammenhang bleibt die Rolle der katholischen<br />

Kirche <strong>in</strong> Polen, die die Familien- und Sozialpolitik der Partei wiederholt öffentlich bewertete, jedoch<br />

leider unterbelichtet, wie auch überhaupt der Vergleich der Mentalitäten der deutschen bzw. polnischen<br />

Bevölkerung und deren Akzeptanz des Systems zu kurz kommt. So wirken die sozialpolitischen<br />

Akteure auf <strong>den</strong> höchsten Ebenen von SED und PVAP zwar stets getrieben, doch was sie antreibt,<br />

benennt Hübner lediglich pauschal mit der Anspruchs<strong>in</strong>flation, die <strong>in</strong> bei<strong>den</strong> Ländern die <strong>in</strong>tendierten<br />

politischen Wirkungen der „sozialistischen Errungenschaften“ schnell zunichtemachte (15, 460).<br />

Doch warum verlief dann die Entwicklung <strong>in</strong> Polen so viel krisenhafter als <strong>in</strong> der DDR? Nur vage<br />

lässt sich e<strong>in</strong> möglicher Grund da<strong>für</strong> herauskristallisieren, wenn Gierek noch auf dem VII. Parteitag<br />

der PVAP 1975 davon spricht, Polen habe die „meisten Aufgaben der Übergangsperiode vom Kapitalismus<br />

zum Sozialismus“ erfüllt (342). E<strong>in</strong>e solche Selbste<strong>in</strong>schätzung wäre <strong>in</strong> der DDR schon zu<br />

Ulbrichts Zeiten un<strong>den</strong>kbar gewesen. Offensichtlich waren <strong>in</strong> Polen tief verwurzelte gesellschaftliche<br />

Mechanismen am Werk, die e<strong>in</strong>e ideologische Überheblichkeit der Partei wie im Fall der SED verh<strong>in</strong>derten<br />

und der PVAP auch auf dem Gebiet der Sozialpolitik weniger Spielräume <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en Legitimationszugew<strong>in</strong>n<br />

ließen.<br />

Weil Hübner die allem übergeordnete Ebene der ideologischen Zwänge und des ständigen Legitimationsstrebens<br />

der Parteien vernachlässigt, wirkt <strong>in</strong> der vorliegen<strong>den</strong> Studie die Sozialpolitik Honeckers<br />

und Giereks stark operativ. Tatsächlich aber wurde sie gerade vor dem H<strong>in</strong>tergrund der polnischen<br />

Krise im Dezember 1970 im folgen<strong>den</strong> Jahrzehnt (und bis zum Ende des Ostblocks) eher stärker <strong>für</strong><br />

<strong>den</strong> höheren Zweck des Machterhalts <strong>in</strong>strumentalisiert als zuvor, wie Christoph Kleßmann und André<br />

Ste<strong>in</strong>er gezeigt haben. [2] So bleibt Hübners Bewertung der Streikwelle <strong>in</strong> Polen 1970/71 unvollständig:<br />

Die sozialpolitischen Maßnahmen und Versprechen seien e<strong>in</strong>e „schwere Hypothek“ <strong>für</strong><br />

Gierek gewesen (185) – doch die eigentliche Hypothek bleibt unerwähnt, nämlich die erschossenen<br />

Arbeiter und die verlorene Glaubwürdigkeit der polnischen „Arbeiterpartei“, die ja gerade durch die<br />

sozialpolitischen Versprechen wiederhergestellt wer<strong>den</strong> sollte.<br />

Dieses Defizit des ansonsten äußerst verdienstvollen Buches wird durch e<strong>in</strong>en Aufsatz von Christoph<br />

Boyer ausgeglichen, der im Anhang <strong>den</strong> Blick auf die Tschechoslowakei weitet und die „Tschechoslowakische<br />

Sozial- und Konsumpolitik im Übergang von der Reform zur Normalisierung“ untersucht.<br />

Er bettet die Sozial- und Konsumpolitik nicht nur <strong>in</strong> das Gesamtsyndrom der „Normalisierung“<br />

e<strong>in</strong>, sondern erklärt sie sogar zu ihrem „zentral wichtigen Element.“ (473) Diese Untersuchungsebene<br />

ermöglicht es, strukturelle Ähnlichkeiten zur DDR sichtbar zu machen: In bei<strong>den</strong> Ländern folgte<br />

dem Reformabbruch e<strong>in</strong>e politische und ökonomische Rezentralisierung und e<strong>in</strong>e Sozial- und Konsumpolitik,<br />

die vor allem pazifizierende Funktionen zu erfüllen hatte. Boyers These von der Familienähnlichkeit<br />

zwischen dem „Realsozialismus“ der DDR und der „Normalisierung“ <strong>in</strong> der ČSSR lässt<br />

die Unterschiede zum polnischen Entwicklungspfad, der seit <strong>den</strong> 70er Jahren trotz aller sozialpolitischen<br />

Anstrengungen zu e<strong>in</strong>er immer stärkeren Erosion der Parteimacht führte, umso deutlicher hervortreten.<br />

Es erweist sich, dass e<strong>in</strong> Vergleich der Sozialpolitik erst unter E<strong>in</strong>beziehung der ideologisch-legitimatorischen<br />

Zwänge, <strong>den</strong>en alle sozialistischen Regime unterlagen, e<strong>in</strong> vollständiges<br />

Bild ergibt. Insofern rundet erst Boyers Beitrag dieses lesenswerte Buch vollends ab.<br />

In vielen detailreichen und quellennahen Passagen, z.B. über <strong>den</strong> Umgang der PVAP mit Gomułka<br />

nach dessen Sturz oder über Giereks berühmten Auftritt vor Danziger Arbeitern, wird das Buch se<strong>in</strong>em<br />

Ost- und Nordeuropa


402 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Hauptanliegen, angesichts des häufig mangelhaften Wissens deutscher Forscher über Polen „e<strong>in</strong>[en]<br />

ganz triviale[n] Informationsbedarf zu befriedigen“ (23), jederzeit gerecht.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] M. Ra<strong>in</strong>er Lepsius: Die <strong>Institut</strong>ionenordnung als Rahmenbed<strong>in</strong>gung der Sozialgeschichte der<br />

DDR, <strong>in</strong>: Sozialgeschichte der DDR, hrsg. von Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka/Hartmut Zwahr,<br />

Stuttgart 1994, 17-30, hier 21.<br />

[2] Christoph Kleßmann: Gesamtbetrachtung, <strong>in</strong>: Deutsche Demokratische Republik 1961–1971. Politische<br />

Stabilisierung und wirtschaftliche Mobilisierung (Geschichte der Sozialpolitik <strong>in</strong><br />

Deutschland seit 1945, Bd. 9), hrsg. von Christoph Kleßmann, Ba<strong>den</strong>-Ba<strong>den</strong> 2006, 791-813,<br />

hier 797; André Ste<strong>in</strong>er: Zwischen Konsumversprechen und Innovationszwang. Zum wirtschaftlichen<br />

Niedergang der DDR, <strong>in</strong>: Weg <strong>in</strong> <strong>den</strong> Untergang. Der <strong>in</strong>nere Zerfall der DDR, hrsg. von<br />

Konrad H. Jarausch/Mart<strong>in</strong> Sabrow, Gött<strong>in</strong>gen 1999, 153-192, hier 156.<br />

Redaktionelle Betreuung: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte<br />

<strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Ost- und Nordeuropa


Melanie Ilic/Jeremy Smith (eds.): Soviet State and Society under Nikita Khrushchev<br />

(= BASEES/RoutledgeCurzon Series on Russian and East European Studies; Vol. 57),<br />

London/New York: Routledge 2009, XVIII + 216 S., ISBN 978-0-415-47649-2, GBP 80,00<br />

Rezensiert von Andreas Hilger<br />

Hamburg<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 12<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/12/16080.html<br />

Nach Chruščevs Tod entwarf der Künstler Ernst Neizvestnyj e<strong>in</strong><br />

Grabmal, das die Licht- und Schattenseiten des ehemaligen Ersten<br />

Sekretärs zum Ausdruck br<strong>in</strong>gen sollte. Öffentlichkeit und Forschung<br />

überwan<strong>den</strong> die Mauer des Schweigens, die Chruščevs Nachfolger<br />

errichtet hatten, erst wieder mit Perestrojka und mit dem Zerfall der<br />

UdSSR. Die jüngere Forschung hat sich dem ambivalenten Charakter<br />

Chruščevs sowie der zwiespältigen Bilanz se<strong>in</strong>er Karriere mit<br />

differenzierten Analysen angenähert und konnten sich dabei auf e<strong>in</strong>e<br />

wesentlich erweiterte Quellenbasis stützen. [1] Schon diese Darstellungen<br />

haben gezeigt, dass Chruščevs Widersprüchlichkeit und se<strong>in</strong><br />

politisch-ideologisches Programm nur ausschnittsweise erfasst wer<strong>den</strong>,<br />

wenn der Fokus auf die begrenzte Entstal<strong>in</strong>isierung sowie <strong>den</strong><br />

Kalten Krieg gerichtet wird. Der von Melanie Ilic und Jeremy Smith<br />

herausgegebene Sammelband beleuchtet daher weitere <strong>in</strong>nen- und<br />

gesellschaftspolitische Aspekte der Ära Chruščev. E<strong>in</strong> Folgeband,<br />

der <strong>den</strong> oberen Machtzirkel im Kreml und se<strong>in</strong>e Wirtschaftspolitik <strong>in</strong> <strong>den</strong> Blick nimmt, ist <strong>für</strong> 2010<br />

angekündigt. [2]<br />

Die zehn Kapitel decken e<strong>in</strong>e große Bandbreite von Themen ab, natürlich ohne dass damit Vollständigkeit<br />

angestrebt wer<strong>den</strong> könnte. Nach e<strong>in</strong>er fundierten E<strong>in</strong>leitung (Melanie Ilic) widmet sich<br />

der erste Beitrag der Entstehung und Rezeption des dritten Parteiprogramms von 1961. Das Programm<br />

trug bekanntermaßen die Handschrift Chruščevs. Se<strong>in</strong>e Anweisungen enthüllten beispielhaft<br />

die Sprunghaftigkeit sowie <strong>den</strong> ideologisch begründeten Optimismus des Parteichefs. So warnte<br />

Chruščev zwar davor, Punkte <strong>in</strong> das Programm aufzunehmen, die die Partei nicht realisieren könnte,<br />

da sonst das gesamte Programm diskreditiert würde. Zugleich aber war es Chruščev selbst, der e<strong>in</strong>e<br />

Passage e<strong>in</strong>fügte, die versprach, die USA <strong>in</strong> der Pro-Kopf-Produktion bis 1970 zu überholen (10).<br />

Der Darstellung der programmatischen Hauptideen folgen im Buch Fallstudien über die Wohnungs-,<br />

Bildungs-, Familien- und Frauenpolitik bis 1964. E<strong>in</strong> aufschlussreicher Beitrag von Pia Koivunen<br />

widmet sich dem Jugendfestival von 1957 <strong>in</strong> Moskau, e<strong>in</strong> anderer der Rolle der Gewerkschaften <strong>in</strong><br />

Chruščevs Reformentwürfen. Die letzten drei Kapitel unterstreichen, dass das poststal<strong>in</strong>istische Regime<br />

auf die repressive Absicherung se<strong>in</strong>er Macht nicht verzichten wollte und konnte. Die Jahre<br />

1957/58 markierten <strong>den</strong> Höhepunkt der poststal<strong>in</strong>istischen, politisch motivierten Verhaftungen, obwohl<br />

die politische Dissi<strong>den</strong>z das Gesamtsystem ke<strong>in</strong>eswegs grundsätzlich <strong>in</strong> Frage stellte (Julie<br />

Elkner; Robert Hornsby). Die blutige Niederschlagung des Aufstands von Novočerkassk (1962)


404 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

(Joshua Andy) bildete e<strong>in</strong>en weiteren negativen Höhepunkt der Regierung Chruščev. Auch hier richtete<br />

sich die Unzufrie<strong>den</strong>heit der Arbeiter gegen <strong>den</strong> Kreml’-Chef und gegen konkrete E<strong>in</strong>zelmaßnahmen<br />

und nicht gegen die sowjetische Ordnung als solche. E<strong>in</strong>e umfangreiche Auswahlbibliographie<br />

schließt <strong>den</strong> Band ab.<br />

Die analytischen Grundfragen der Herausgeber halten die Sammlung trotz ihrer thematischen<br />

Vielfalt gut zusammen. Die verschie<strong>den</strong>en Untersuchungen loten das Verhältnis zwischen Chruščev’scher<br />

Macht- und Reformpolitik auf der e<strong>in</strong>en und <strong>den</strong> betroffenen Bürgern und gesellschaftlichen<br />

<strong>Institut</strong>ionen auf der anderen Seite aus. Gefragt wird nach Handlungsspielräumen e<strong>in</strong>er Gesellschaft<br />

unter <strong>den</strong> Bed<strong>in</strong>gungen des Poststal<strong>in</strong>ismus, der auf Massenterror verzichtete und auf Massenmobilisierung<br />

und -mitwirkung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em hoch ideologisierten Rahmen setzen wollte. Die Autoren weisen<br />

zu Recht darauf h<strong>in</strong>, dass viele Projektideen oder Lösungsansätze der späten 1950er und frühen<br />

1960er Jahre ihren Ursprung <strong>in</strong> der Stal<strong>in</strong>herrschaft hatten. Diese verdeckten Kont<strong>in</strong>uitäten bieten<br />

e<strong>in</strong>en wichtigen Maßstab <strong>für</strong> die Gesamtbewertung der Entstal<strong>in</strong>isierung. Sie weisen zugleich auf die<br />

epochenübergreifende Relevanz gesellschaftlicher Grundprobleme im ganzen sowjetischen System<br />

h<strong>in</strong>. Auf der anderen Seite lassen sich Kommunikationskanäle zwischen Staat und Gesellschaft und<br />

die entsprechen<strong>den</strong> <strong>Institut</strong>ionen nicht auf e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige, exklusive Funktion oder Wirkungsweise<br />

reduzieren. „Frauenräte“, Gewerkschaften oder Hausverwaltungen beispielsweise gewährleisteten<br />

Kontrolle und Anleitung von oben. Gleichzeitig bündelten sie Forderungen von unten und verliehen<br />

ihnen so mehr Durchschlagskraft. Sie boten staatlich legitimierte und kontrollierte neue Räume und<br />

öffentliche Foren, die eben auch zur Verfolgung von <strong>in</strong>dividuellen oder Gruppen<strong>in</strong>teressen genutzt<br />

wer<strong>den</strong> konnten. Umgekehrt führte die neue Mobilisierung der Bevölkerung nicht zwangsläufig zu<br />

e<strong>in</strong>em Mehr an Partizipation, sondern dehnte immer auch die Möglichkeiten des Überwachungsstaats<br />

aus (34).<br />

Vor diesem H<strong>in</strong>tergrund gilt <strong>den</strong> systemrelevanten Funktionseliten und -kadern e<strong>in</strong> besonderes Interesse.<br />

Für die Bildungsreform von 1958 zeichnet Laurent Coumel <strong>den</strong> nachhaltigen Widerstand der<br />

Wissenschaft nach, die das weit gehende Reformprojekt Chruščevs dauerhaft unterlief. Die Armee<br />

bildete bis zum Anfang der 1960er Jahre, folgt man der bereits erwähnten Darstellung von Joshua<br />

Andy, e<strong>in</strong> starkes Selbstbewusstse<strong>in</strong> heraus. Der Kreml brauchte im Kalten Krieg e<strong>in</strong>e schlagkräftige<br />

und moderne Streitmacht. Die entsprechende Aufwertung und Spezialisierung trug dazu bei, dass<br />

sich die Armeekader im Extremfall nicht mehr umstandslos <strong>für</strong> die Bekämpfung <strong>in</strong>nerer Unruhen <strong>in</strong>strumentalisieren<br />

ließen. Der Beitrag spricht schließlich e<strong>in</strong>en weiteren Aspekt an, der <strong>den</strong> Band<br />

ebenfalls wie e<strong>in</strong> roter Fa<strong>den</strong> durchzieht: Aktuelle Forschungen zu e<strong>in</strong>er Periode, die mittlerweile<br />

über 40 Jahre zurück liegt, lei<strong>den</strong> immer noch an unverständlichen Zugangsbeschränkungen russischer<br />

Archive.<br />

Wie <strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>schaftsunternehmen üblich, so variiert auch <strong>in</strong> diesem Sammelband nicht nur die<br />

Quellendichte der Beiträge, sondern auch ihre analytische Schärfe. Die Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung<br />

etwa ließ sich offenbar nur anhand veröffentlichter Quellen rekonstruieren und<br />

bleibt vornehmlich deskriptiv. Neben <strong>den</strong> bereits erwähnten Autoren gel<strong>in</strong>gt es vor allem Mark B.<br />

Smith <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Beitrag über die Wohnungsproblematik, das Spannungsfeld von Politik, gesellschaftlichen<br />

Eigen<strong>in</strong>teressen, von Ideologie und Expertentum auszumessen. Insgesamt unterstreichen<br />

die Beiträge <strong>den</strong> ambivalenten Charakter der Ära Chruščev und zeigen Wege auf, ihm <strong>in</strong> der Forschung<br />

weiter gerecht zu wer<strong>den</strong>. Der exorbitante Preis des Buches steht e<strong>in</strong>er angemessenen Verbreitung<br />

dieser Anregungen leider im Weg und stellt letztlich die Grundidee wissenschaftlichen Publizierens<br />

<strong>in</strong> Frage.<br />

Ost- und Nordeuropa


405 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Anmerkungen:<br />

[1] Besonders William Taubman: Khrushchev. The man and his era, New York 2003; Aleksandr<br />

Fursenko/Timothy Naftali: Khrushchev’s Cold War. The Inside Story of an American Adversary,<br />

New York 2006.<br />

[2] Jeremy Smith/Melanie Ilic (eds.): Khrushchev <strong>in</strong> the Kreml<strong>in</strong>: Policy and Government <strong>in</strong> the<br />

Soviet Union, 1953–1964, London 2010.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Ost- und Nordeuropa


Feliks Tych/Alfons Kenkmann/Elisabeth Kohlhaas/Andreas Eberhardt (Hrsg.): K<strong>in</strong>der über<br />

<strong>den</strong> Holocaust. Frühe Zeugnisse 1944–1948. Interviewprotokolle der Zentralen Jüdischen Historischen<br />

Kommission <strong>in</strong> Polen, Berl<strong>in</strong>: Metropol 2008, 327 S., ISBN 978-3-938690-08-6, EUR<br />

19,00<br />

Rezensiert von Giles Bennett<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 10<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/10/14948.html<br />

Kaum e<strong>in</strong> polnisch-jüdisches K<strong>in</strong>d überlebte <strong>den</strong> Holocaust.<br />

Unmittelbar nach Beendigung des Krieges begannen Interviewer<br />

der Jüdischen Historischen Kommission <strong>in</strong> Polen damit,<br />

überlebende K<strong>in</strong>der und Jugendliche zu befragen. Im<br />

Gegensatz zu Befragungen, die teilweise Jahrzehnte später<br />

durchgeführt wur<strong>den</strong>, zeichnen sich die Aussagen durch zeitliche<br />

Nähe zu <strong>den</strong> Ereignissen sowie durch die besondere, relativ<br />

vorurteilsfreie k<strong>in</strong>dliche beziehungsweise jugendliche Perspektive<br />

aus.<br />

Der Band [1] enthält neben der ausführlichen E<strong>in</strong>leitung<br />

und <strong>den</strong> Anhängen erstmals <strong>in</strong> deutscher Übersetzung 55 Interviews<br />

<strong>in</strong> alphabetischer Reihenfolge aus e<strong>in</strong>em Gesamtbestand<br />

von 429 Berichten von K<strong>in</strong>dern und Jugendlichen der Jahrgänge<br />

1929 bis 1939. E<strong>in</strong>leitend wer<strong>den</strong> die Überlebenswege<br />

der K<strong>in</strong>der charakterisiert, anschließend die Entstehung der<br />

Interviews <strong>in</strong> ihrem <strong>in</strong>stitutionellen Rahmen beschrieben.<br />

Grundlage bildete e<strong>in</strong> eigens entwickelter Interviewleitfa<strong>den</strong>,<br />

der im Anhang auch <strong>in</strong> Übersetzung abgedruckt ist. Hier wird<br />

auch auf <strong>den</strong> E<strong>in</strong>fluss der Interviewer (Ziel war das „durchgängige Erzählen“) und die Grenzen der<br />

Quellengattung e<strong>in</strong>gegangen. Dabei wird ebenso die Geschichte der Befragungen von K<strong>in</strong>dern <strong>in</strong> der<br />

unmittelbaren Nachkriegszeit sowie die frühe Publikationsgeschichte von K<strong>in</strong>derberichten abgedeckt.<br />

Bei der Betrachtung des Gesamtbestands fällt auf, dass der Nordosten der polnischen Republik<br />

gar nicht (Woiwodschaften Nowogródek und Polesie) beziehungsweise kaum vertreten ist (Woiwodschaften<br />

Bialystok und Wilna). Ansonsten s<strong>in</strong>d alle wichtigen Gebiete mit e<strong>in</strong>em bedeuten<strong>den</strong> jüdischen<br />

Bevölkerungsanteil und gemäß der Präsenz im Gesamtbestand der Protokolle recht repräsentativ<br />

berücksichtigt, wodurch sich e<strong>in</strong>e starke Vertretung der Großstadt Warschau ergibt.<br />

In <strong>den</strong> Protokollen trifft der Leser auf sehr unterschiedliche (Über-) Lebenswege – <strong>in</strong> Gettos und<br />

Lagern, auf der „arischen Seite“ mit e<strong>in</strong>er angenommenen nichtjüdischen I<strong>den</strong>tität, <strong>in</strong> Kellern bei<br />

Polen versteckt, <strong>in</strong> jüdischen Waldlagern, ja sogar als Deutsche getarnt! Plastisch wer<strong>den</strong> die schwierigen<br />

Bed<strong>in</strong>gungen, unter <strong>den</strong>en e<strong>in</strong> falsches Wort <strong>den</strong> Tod bedeuten konnte, dem Leser nähergebracht.<br />

Teilweise mussten diese K<strong>in</strong>der <strong>den</strong> gewaltsamen Tod von engen Familienmitgliedern selbst unmittelbar<br />

miterleben, meist konnten sie selbst nur durch e<strong>in</strong>e Kette von äußerst glücklichen Umstän<strong>den</strong>


407 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

überleben. Dabei kommt es immer wieder zu verschie<strong>den</strong>sten, <strong>in</strong> anderen Quellen nur schwer zu f<strong>in</strong><strong>den</strong><strong>den</strong><br />

E<strong>in</strong>blicken <strong>in</strong> <strong>den</strong> Alltag <strong>in</strong> dieser extremen Situation. So berichtet Seweryn Dobrecki (geboren<br />

1936) davon, wie er als Pole getarnt mit polnischen K<strong>in</strong>dern beim „Ju<strong>den</strong>spielen“ dem betteln<strong>den</strong><br />

„Ju<strong>den</strong>mädchen“ e<strong>in</strong> Stück Brot verweigern muss, um ke<strong>in</strong>e Zweifel über se<strong>in</strong>e Tarni<strong>den</strong>tität aufkommen<br />

zu lassen. Sehr stark konnte besonders das Verhältnis zu polnischen und ukra<strong>in</strong>ischen „Beherbergern“<br />

schwanken; <strong>in</strong> mehreren Berichten ist sogar von (<strong>in</strong> diesen Fällen) gescheiterten Tötungsversuchen<br />

der von Angst belasteten „Wirte“ die Rede. Daneben s<strong>in</strong>d die Berichte auch Quellen <strong>für</strong><br />

die unmittelbare Nachkriegszeit, <strong>in</strong> der die K<strong>in</strong>der oft auf abenteuerlichen Wegen <strong>in</strong> Heime, auch <strong>in</strong><br />

<strong>den</strong> neuen polnischen Westgebieten, kamen.<br />

Obwohl die Quellen im Rahmen e<strong>in</strong>es Interviewvorhabens entstan<strong>den</strong>, differiert der Charakter der<br />

Texte doch stark, sodass dem Leser sehr unterschiedliche Texte präsentiert wer<strong>den</strong>. Neben kurzen<br />

telegrammartigen Zusammenfassungen stehen lange Berichte, neben Nacherzählungen <strong>in</strong> der dritten<br />

Person durch <strong>den</strong> Interviewer (<strong>in</strong>sbesondere bei sehr jungen K<strong>in</strong>dern) stehen gänzlich selbst vom<br />

K<strong>in</strong>d konzipierte Berichte. Nützliche Anhänge wie e<strong>in</strong> ausführliches, die E<strong>in</strong>zeldokumentkommentierung<br />

ergänzendes Glossar, ausgewählte Faksimiles sowie e<strong>in</strong> tief greifendes Orts- und Sachregister<br />

run<strong>den</strong> <strong>den</strong> Band ab.<br />

Die Quellenauswahl erlaubt es, sich vom Schicksal der schutzlosesten Opfer des systematischen<br />

Massenmordprogramms der Nationalsozialisten anhand von e<strong>in</strong>drücklichen Zeugenaussagen der wenigen<br />

überleben<strong>den</strong> jüdischen K<strong>in</strong>der e<strong>in</strong> Bild zu machen. Dabei erhält der Leser die Gelegenheit, sich<br />

mit e<strong>in</strong>igen der wichtigsten geografischen Räume des Holocaust <strong>in</strong> Ostmitteleuropa zu beschäftigen,<br />

deren Geschichte im deutschen Sprachraum <strong>in</strong> der Allgeme<strong>in</strong>heit noch wenig bekannt ist. Der vergleichsweise<br />

günstige Preis sowie die angekündigten zusätzlichen pädagogischen Begleitmaterialien<br />

lassen <strong>den</strong> Band neben der Nutzung durch das Fach- und das allgeme<strong>in</strong>e, historisch <strong>in</strong>teressierte Publikum<br />

gerade <strong>für</strong> <strong>den</strong> Gebrauch <strong>in</strong> allen Bildungsbereichen, darunter <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> Schulen, besonders<br />

geeignet ersche<strong>in</strong>en.<br />

Anmerkung:<br />

[1] Er entstand unter Mitarbeit von Edyta Kurek, Jürgen Hensel, Dennis Riffel und Michaela<br />

Christ, als (praktisch immer überaus kundige, <strong>den</strong> jeweiligen Duktus erhaltende) Übersetzer der<br />

meist, aber nicht ausschließlich polnischsprachigen Quellen wirkten Jürgen Hensel, Herbert Ulrich<br />

und Maciej Wójcicki. Getragen wurde die Veröffentlichung von Gegen Vergessen – Für<br />

Demokratie e.V. geme<strong>in</strong>sam mit dem Jüdischen Historischen <strong>Institut</strong> <strong>in</strong> Warschau und der Universität<br />

Leipzig, gefördert wurde sie von der Stiftung Er<strong>in</strong>nerung, Verantwortung und Zukunft.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Ost- und Nordeuropa


Stefan Wiederkehr: Die eurasische Bewegung. Wissenschaft und Politik <strong>in</strong> der<br />

russischen Emigration der Zwischenkriegszeit und im postsowjetischen Russland (= Beiträge<br />

zur Geschichte Osteuropas; Bd. 39), Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2007, VIII + 398 S.,<br />

ISBN 978-3-412-33905-0, EUR 49,90<br />

Rezensiert von Leonid Luks<br />

Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt<br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/05/10036.html<br />

Die eurasische Bewegung, die sich 1921 mit ihrer programmatischen<br />

Schrift Ischod k Vostoku [Der Auszug nach Osten]<br />

lautstark zu Wort meldete, gehörte zu <strong>den</strong> orig<strong>in</strong>ellsten Strömungen<br />

der „ersten“ russischen Emigration (1920–1940). Die<br />

von <strong>den</strong> Eurasiern aufgeworfenen Themen wur<strong>den</strong> im russischen<br />

Exil ausführlich diskutiert. In der zweiten Hälfte der<br />

30er Jahre sollte jedoch diese Bewegung, die zunächst so viel<br />

Aufsehen erregt hatte, zerfallen. Die Lehre der Eurasier schien<br />

e<strong>in</strong> skurriles und endgültig abgeschlossenes Kapitel der Ideengeschichte<br />

des russischen Exils zu se<strong>in</strong>. Fünfzig Jahre später<br />

erlebten aber die sche<strong>in</strong>bar endgültig <strong>in</strong> der Versenkung verschwun<strong>den</strong>en<br />

eurasischen Ideen e<strong>in</strong>e völlig unerwartete Renaissance.<br />

Bereits <strong>in</strong> der Endphase der Gorbatschow’schen<br />

Perestroika, als die Erosion der kommunistischen Ideologie<br />

immer offensichtlicher wurde, begaben sich viele Verfechter<br />

der imperialen russischen Idee auf die Suche nach e<strong>in</strong>er neuen<br />

e<strong>in</strong>igen<strong>den</strong> Klammer <strong>für</strong> alle Völker und Religionsgeme<strong>in</strong>schaften<br />

des Sowjetreiches und entdeckten dabei <strong>den</strong> eurasischen<br />

Gedanken. Mit dem Aufstieg und Fall und der Renaissance<br />

des Eurasiertums beschäftigt sich die vorliegende Studie.<br />

Das Buch Wiederkehrs gehört zu <strong>den</strong> wenigen Monografien, die sich ausführlich sowohl mit dem<br />

„klassischen“ Eurasiertum der Zwischenkriegszeit als auch mit <strong>den</strong> neoeurasischen Strömungen des<br />

ausgehen<strong>den</strong> 20. und des beg<strong>in</strong>nen<strong>den</strong> 21. Jahrhunderts befassen. Dies gibt dem Autor die Möglichkeit,<br />

die bei<strong>den</strong> Konstellationen, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en der eurasische Gedanke zum Durchbruch gelangte, mite<strong>in</strong>ander<br />

zu vergleichen. In bei<strong>den</strong> Fällen betrat das Eurasiertum <strong>in</strong>folge e<strong>in</strong>er außeror<strong>den</strong>tlichen<br />

Erschütterung des russischen Selbstverständnisses die politische Bühne; es sollte das ideologische<br />

Vakuum ausfüllen, das nach der Erosion der Staatsdoktr<strong>in</strong>en entstan<strong>den</strong> war, die bis dah<strong>in</strong> das jeweilige<br />

russische Imperium legitimiert hatten – zunächst der zaristischen Idee und dann der Ideologie<br />

des proletarischen Internationalismus. Die Eurasier versuchten die Des<strong>in</strong>tegrationsprozesse, die <strong>den</strong><br />

Zusammenhalt des russischen Reiches gefährdeten, mithilfe e<strong>in</strong>es neuen ideologischen Konstrukts<br />

e<strong>in</strong>zudämmen. Für sie stellten die Völker des eurasischen Subkont<strong>in</strong>ents (e<strong>in</strong> Synonym <strong>für</strong> das russische<br />

Reich) trotz all ihrer kulturellen, religiösen und sprachlichen Unterschiede e<strong>in</strong>e Schicksals-


409 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

geme<strong>in</strong>schaft dar, die um je<strong>den</strong> Preis bewahrt wer<strong>den</strong> musste. Mit Recht hebt Wiederkehr hervor,<br />

dass die „eurasische Theorie [...] als solche wesentlich e<strong>in</strong>e Reaktion auf das Pr<strong>in</strong>zip des Selbst-<br />

bestimmungsrechts der Völker darstellte, die der amerikanische Präsi<strong>den</strong>t Wilson während des Ersten<br />

Weltkrieges verkündet hatte. Sie verfolgte <strong>den</strong> Zweck, die Weiterexistenz e<strong>in</strong>es imperialen Staates<br />

auf dem Territorium des ehemaligen Russländischen Reiches zu legitimieren, obwohl zur selben Zeit<br />

das Vielvölkerreich der Osmanen sowie die Habsburgermonarchie zerfielen.“ (112)<br />

Und wie bewerteten die Eurasier <strong>den</strong> Bolschewismus, dem es gelang, das 1917/18 zusammengebrochene<br />

russische Reich mit Hilfe des „roten Terrors“ und der Ideologie des proletarischen Internationalismus<br />

wiederherzustellen? Dieser Frage widmet Wiederkehr viel Aufmerksamkeit. So weist er<br />

daraufh<strong>in</strong>, dass die prägen<strong>den</strong> Gestalten der Bewegung, vor allem Fürst Nikolaj Trubeckoj, anders<br />

als die Verfechter der „nationalbolschewistischen“ „Smena-Vech“-Bewegung nicht bereit waren, aus<br />

Dankbarkeit <strong>für</strong> die Errettung des Imperiums vor dem Bolschewismus zu kapitulieren: „Im Unterschied<br />

zu <strong>den</strong> Eurasiern waren die Smenovechovcy [Mitglieder der Smena-Vech-Bewegung; L.L.]<br />

bereit, <strong>den</strong> ‚Gang nach Canossaʻ anzutreten und e<strong>in</strong>e ideologische Begründung <strong>für</strong> die Zusammen-<br />

arbeit der nichtbolschewistischen Intelligencija mit der Sowjetmacht zu liefern.“ (55)<br />

Anders als die Smenovechovcy betrachteten sich die Eurasier nicht als Verbündete, sondern als<br />

Konkurrenten der Bolschewiki. Zwar hielten sie <strong>den</strong> Bolschewiki zugute, dass diese, anders als die<br />

westlichen Demokratien, der Ideologie e<strong>in</strong>e große Bedeutung beimaßen. Denn das von <strong>den</strong> Eurasiern<br />

angestrebte politische System sollte von e<strong>in</strong>er herrschen<strong>den</strong> Ideologie gänzlich durchdrungen se<strong>in</strong><br />

(sie nannten es „Ideokratie“). Allerd<strong>in</strong>gs hielten die Eurasier die bolschewistische Ideokratie <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en<br />

Fremdkörper im eurasischen Raum: „Der Materialismus und Atheismus der Bolschewiki seien westeuropäischen<br />

Ursprungs.“ (144) Die von <strong>den</strong> Eurasiern konzipierte Ideokratie sollte h<strong>in</strong>gegen auf<br />

dem orthodoxen Christentum basieren. Mit Recht hebt der Autor hervor, dass dieses e<strong>in</strong>deutige religiöse<br />

Bekenntnis der Eurasier im Widerspruch zu ihrer Idee von der eurasischen Völkergeme<strong>in</strong>schaft<br />

stand, die sich aus orthodoxen Christen, Moslems und Buddhisten zusammensetzen sollte.<br />

Um aus diesem Dilemma herauszukommen, sprachen die Eurasier von e<strong>in</strong>er angeblich unbewussten<br />

Neigung der Moslems und der Buddhisten zum orthodoxen Christentum. [1]<br />

E<strong>in</strong> anderer Widerspruch, der <strong>in</strong> <strong>den</strong> programmatischen Vorstellungen vieler Eurasier enthalten<br />

war, bestand dar<strong>in</strong>, dass sie die führende Rolle der Russen <strong>in</strong> der eurasischen Völkergeme<strong>in</strong>schaft als<br />

selbstverständlich voraussetzten. Nicht zuletzt deshalb, so Wiederkehr, waren „die Inhalte des eurasischen<br />

I<strong>den</strong>titätsentwurfs [...] <strong>für</strong> die nicht-russischen Nationalitäten des ehemaligen Russländischen<br />

Reiches nicht glaubwürdig, weil sie zu offensichtlich auf <strong>den</strong> Erhalt des imperialen Staates zielten<br />

und sich dem Verdacht nicht entziehen konnten, e<strong>in</strong>zig zu diesem Zweck ausgedacht wor<strong>den</strong> zu<br />

se<strong>in</strong>.“ (169f.) Wiederkehr unterschätzt allerd<strong>in</strong>gs die Tatsache, dass Nikolaj Trubeckoj sich über diesen<br />

Widerspruch durchaus im Klaren war. 1927 schrieb er, dass aufgrund des wachsen<strong>den</strong> Nationalbewusstse<strong>in</strong>s<br />

der nicht russischen Völker die Monopolstellung der Russen im russischen Reich<br />

unhaltbar gewor<strong>den</strong> sei und kritisierte die russischen Chauv<strong>in</strong>isten. Durch ihren Mangel an Kompromissbereitschaft<br />

gegenüber <strong>den</strong> anderen Völkern Russlands setzten sie <strong>den</strong> territorialen Bestand<br />

des Reiches aufs Spiel. Ihr anachronistisches Festhalten an bereits verlorenen Positionen könne dazu<br />

führen, dass das russische Reich auf se<strong>in</strong>en großrussischen Kern reduziert werde. Die Zeit der Alle<strong>in</strong>herrschaft<br />

der Russen <strong>in</strong> Russland sei endgültig vorbei. [2] Dennoch betrachtete die Mehrheit der<br />

Eurasier das eurasische Programm weiterh<strong>in</strong> als e<strong>in</strong> im Wesentlichen russisches Imperialprojekt.<br />

Dadurch büßte es, wie Wiederkehr mit Recht sagt, se<strong>in</strong>e Attraktivität bei <strong>den</strong> Vertretern der nicht<br />

russischen Völker des ehemaligen russischen Reiches e<strong>in</strong>, was letztendlich zum Scheitern des Eurasiertums<br />

<strong>in</strong> der Zwischenkriegszeit beitrug.<br />

E<strong>in</strong> anderer, nicht weniger gewichtiger Grund <strong>für</strong> <strong>den</strong> Niedergang des „klassischen“ Eurasiertums,<br />

mit dem sich Wiederkehr detailliert befasst, bestand <strong>in</strong> der L<strong>in</strong>kswendung großer Teile der ur-<br />

Ost- und Nordeuropa


410 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

sprünglich antibolschewistischen Bewegung. So erlagen viele Eurasier der Versuchung, die sie zunächst<br />

an der „Smena-Vech“-Bewegung kritisiert hatten; sie neigten zu e<strong>in</strong>er immer engeren Kooperation<br />

mit dem sowjetischen Regime. Gefördert wurde diese Ten<strong>den</strong>z durch e<strong>in</strong>ige e<strong>in</strong>geschleuste<br />

sowjetische Agenten und durch die berüchtigte Tarnorganisation des sowjetischen Geheimdienstes<br />

Trest. 1928/29 fand die Spaltung der Bewegung statt. Zwei ihrer Gründer – Trubeckoj und Petr<br />

Savickij – distanzierten sich vom probolschewistischen Flügel des Eurasiertums, der sich um die <strong>in</strong><br />

Paris ersche<strong>in</strong>ende Zeitschrift „Evrazija“ gruppierte. Etwas irreführend ist allerd<strong>in</strong>gs die Aussage<br />

Wiederkehrs: „Trubeckoj und andere distanzierten sich im Zusammenhang mit der Spaltung von<br />

1929 öffentlich von Eurasismus.“ (43) In Wirklichkeit blieb Trubeckoj, trotz all se<strong>in</strong>er Zweifel, praktisch<br />

bis zu se<strong>in</strong>em Tod (1938), <strong>den</strong> eurasischen Ideen treu. So veröffentlichte er 1935 und 1937 im<br />

11. und 12. Heft der „Evrazijskaja chronika“ zwei Abhandlungen, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en er e<strong>in</strong>deutig eurasische<br />

Positionen vertrat. [3] Nach der Spaltung von 1928/29 verlor die eurasische Bewegung ihren bisherigen<br />

Schwung und trat <strong>in</strong> der zweiten Hälfte der 30er Jahre von der politischen Bühne ab.<br />

Nicht anders erg<strong>in</strong>g es übrigens e<strong>in</strong>er anderen Bewegung, die <strong>den</strong> Eurasiern <strong>in</strong> vieler H<strong>in</strong>sicht<br />

ähnelte – der deutschen „Konservativen Revolution“, die so wie die Eurasier ihre Blütezeit <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

20er Jahren erlebte und die nach der Errichtung des NS-Regimes ihre Bedeutung gänzlich e<strong>in</strong>büßte.<br />

Auf die Parallelen zwischen <strong>den</strong> Eurasiern und der „Konservativen Revolution“ geht Wiederkehr<br />

ausführlich e<strong>in</strong>: „Die Zivilisationskritik und der Antiparlamentarismus beider Strömungen beruhte<br />

auf e<strong>in</strong>er organizistischen Gesellschaftsauffassung. Die Ablehnung der Aufklärung als ‚westlichʻ<br />

und das Denken <strong>in</strong> geopolitischen Kategorien war ihnen ebenfalls geme<strong>in</strong>sam. Vor allem verb<strong>in</strong>det<br />

sie die Idee der revolutionären Durchsetzung konservativer Ziele, die Denkfigur e<strong>in</strong>er Revolution<br />

zur Wiederanknüpfung an die Tradition.“ (147) Die <strong>den</strong> Eurasiern eigene Ablehnung der „offenen<br />

Gesellschaft“ und des liberalen Denkmodells stellte also ke<strong>in</strong> typisch russisches Phänomen dar, sondern<br />

war Bestandteil der länderübergreifen<strong>den</strong> Auflehnung gegen die Moderne, die damals viele<br />

europäische Länder erfasste.<br />

Im zweiten Teil se<strong>in</strong>er Monografie geht der Autor auf die Renaissance des Eurasiertums <strong>in</strong> der<br />

Periode der Dämmerung des Sowjetreiches und nach der Auflösung der Sowjetunion e<strong>in</strong>. Wodurch<br />

lässt sich diese völlig unerwartete Rückkehr des Eurasiertums erklären? Der Autor führt folgende<br />

Gründe hier<strong>für</strong> an: „Erstens legitimierte [der eurasische Gedanke] <strong>den</strong> von vielen erwünschten Fortbestand<br />

e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zigen Staates auf dem Territorium des alten Vielvölkerreiches, das zu zerfallen<br />

drohte und schließlich tatsächlich zerfiel. Zweitens stillte die eurasische Ideologie e<strong>in</strong> Bedürfnis, <strong>in</strong>dem<br />

sie e<strong>in</strong>e Alternative zum kollabieren<strong>den</strong> Wirtschafts- und Herrschaftssystem bereitstellte, die nicht <strong>in</strong><br />

der bloßen Übernahme des westlichen Modells bestand, ja sie rechtfertigte die Überw<strong>in</strong>dung der bolschewistischen<br />

Herrschaft ohne Verwestlichung Russlands.“ (227)<br />

Zwar handelt es sich bei dem Neoeurasiertum <strong>in</strong> der ehemaligen UdSSR um e<strong>in</strong> facettenreiches<br />

und vielschichtiges Phänomen, dom<strong>in</strong>iert wird allerd<strong>in</strong>gs der neoeurasische Diskurs durch Aleksandr<br />

Dug<strong>in</strong>, der <strong>für</strong> viele Beobachter <strong>den</strong> neoeurasischen Gedanken im heutigen Russland als solchen<br />

verkörpert. Dug<strong>in</strong>s Programm wurde von der Forschung bereits ausführlich untersucht. Deshalb<br />

betritt Wiederkehr mit se<strong>in</strong>er Analyse ke<strong>in</strong> Neuland. Die Stärke se<strong>in</strong>er Interpretation besteht aber<br />

dar<strong>in</strong>, dass er die Vorstellungen Dug<strong>in</strong>s unentwegt mit <strong>den</strong>jenigen der „klassischen“ Eurasier vergleicht<br />

und grundlegende Unterschiede zwischen <strong>den</strong> bei<strong>den</strong> Konzepten erarbeitet. So war <strong>den</strong> „klassischen“<br />

Eurasiern der Zwischenkriegszeit die <strong>für</strong> Dug<strong>in</strong> charakteristische Verherrlichung von Krieg<br />

und Gewalt fremd: „Denn im Gegensatz zu <strong>den</strong> Eurasiern der Zwischenkriegszeit, deren Ideologie<br />

e<strong>in</strong>e isolationistische war, mün<strong>den</strong> die Pamphlete Dug<strong>in</strong>s regelmäßig <strong>in</strong> martialische Aufrufe zur Vernichtung<br />

der ‚Atlantikerʻ.“ (238)<br />

Auch die „von esoterisch-okkulten Motiven durchzogenen Verschwörungstheorien Dug<strong>in</strong>s“ waren<br />

<strong>den</strong> Eurasiern der Zwischenkriegszeit fremd. Mit anderen Worten: Dug<strong>in</strong>s Programm stellt e<strong>in</strong>e<br />

Ost- und Nordeuropa


411 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Variante des Rechtsextremismus dar, das Programm der klassischen Eurasier h<strong>in</strong>gegen stand weder<br />

rechts noch l<strong>in</strong>ks. Man kann es als e<strong>in</strong>e Ideologie des „dritten Weges“ bezeichnen. Abgesehen davon,<br />

so Wiederkehr, fehle <strong>den</strong> Neoeurasiern die theoretische Tiefe und Orig<strong>in</strong>alität ihrer Vorgänger:<br />

„Ke<strong>in</strong>er von ihnen hat e<strong>in</strong> <strong>in</strong>novatives Modell zu bieten, das traditionelle Denkbarrieren aufbricht<br />

und e<strong>in</strong>en wissenschaftlichen Erkenntnisgew<strong>in</strong>n verspricht.“ (298) Durch dieses Lob auf die „klassischen“<br />

Eurasier gerät der Autor <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en gewissen Widerspruch zu se<strong>in</strong>em früheren Urteil, als er von<br />

<strong>den</strong> „verme<strong>in</strong>tlich wissenschaftlichen Arbeiten der Eurasier“ (7) sprach.<br />

Die Tatsache, dass viele Eurasier der Gründergeneration, trotz ihrer ideologischen Borniertheit, zu<br />

<strong>den</strong> brillantesten Wissenschaftlern ihrer Zeit zählten (N. Trubeckoj, P. Savickij, L. Karsav<strong>in</strong>,<br />

G. Vernadskij, N. Alekseev u.a.) kommt <strong>in</strong> der Studie Wiederkehrs zu wenig zur Geltung. Solche<br />

abstrusen gedanklichen Konstruktionen wie die rassistische „Chimären“-Theorie des Neoeurasiers<br />

Lev Gumilev oder die okkulte „Konspirologie“ Dug<strong>in</strong>s wären bei <strong>den</strong> Eurasiern der ersten Stunde<br />

un<strong>den</strong>kbar gewesen.<br />

Dessen ungeachtet, und hier kann man Wiederkehr durchaus beipflichten, gel<strong>in</strong>gt es <strong>den</strong> „militant<br />

antiwestlichen und gewaltbereiten Neoeurasiern um Dug<strong>in</strong>“ (300), mit ihren pseudowissenschaftlichen<br />

Theorien wichtige Akzente im <strong>in</strong>nerrussischen Diskurs zu setzen. Der Autor äußert am Ende<br />

der Studie allerd<strong>in</strong>gs die Hoffnung, dass „die Neuauflage des Eurasismus an der Wende vom 20. zum<br />

21. Jahrhundert das Schicksal des Orig<strong>in</strong>als teilen und ke<strong>in</strong>e politische Wirksamkeit entfalten wird.“<br />

(300)<br />

Die Monografie Wiederkehrs bee<strong>in</strong>druckt durch ihre Gründlichkeit und Orig<strong>in</strong>alität. Dies betrifft<br />

<strong>in</strong>sbesondere <strong>den</strong> ersten Teil der Studie, <strong>in</strong> dem der Verfasser <strong>den</strong> zeithistorischen und ideologischen<br />

Kontext des „klassischen“ Eurasismus untersucht. Jedem Leser, der sich über das Phänomen „Eurasiertum“<br />

detailliert und zuverlässig <strong>in</strong>formieren will, kann man diese Studie als e<strong>in</strong> unentbehrliches<br />

Referenzwerk empfehlen.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Evrazijstvo. Opyt sistematičeskogo izloženija, Paris 1926, 20f.<br />

[2] Nikolaj Trubeckoj: Obščeevrazijskij nacionalizm, <strong>in</strong>: Evrazijskaja chronika 9 (1927), 24-30.<br />

[3] Nikolaj Trubeckoj: Ob idee pravitel’nice ideokratičeskogo gosudarstva, <strong>in</strong>: ders.: Istorija.<br />

Kul’tura. Jazyk, hrsg. von V.M. Živov, Moskau 1995, 438-442; ders.: Upadok tvorčestva, ebenda,<br />

444-448.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Ost- und Nordeuropa


Neueste <strong>Zeitgeschichte</strong> ab 1990<br />

Massoud Hanifzadeh: Deutschlands Rolle <strong>in</strong> der UNO 1982–2005, Marburg: Tectum 2006,<br />

186 S., ISBN 978-3-8288-9069-5, EUR 24,90<br />

Rezensiert von Amit Das Gupta<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong>, München-Berl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>: sehepunkte 9 (2009), Nr. 12<br />

URL: http://www.sehepunkte.de/2009/12/15337.html<br />

Die Vere<strong>in</strong>ten Nationen wur<strong>den</strong> schon bald nach ihrer Gründung<br />

1945 e<strong>in</strong> wichtiges Aktionsfeld deutscher und deutschdeutscher<br />

Politik. Auch wenn die Bundesrepublik und die<br />

DDR erst 1973 vollwertige Mitglieder wur<strong>den</strong>, nachdem sie<br />

mit dem Grundlagenvertrag die bilateralen Beziehungen weitgehend<br />

normalisiert hatten, nutzten sie <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

fünfziger Jahren mittels ihrer jeweiligen Verbündeten dieses<br />

wichtigste Forum der <strong>in</strong>ternationalen Politik <strong>in</strong> ihrem S<strong>in</strong>ne.<br />

Während A<strong>den</strong>auer sich bemühte, die Unterstützung der Weltgeme<strong>in</strong>schaft<br />

<strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Wiedervere<strong>in</strong>igung im S<strong>in</strong>ne der Bundesrepublik<br />

zu f<strong>in</strong><strong>den</strong>, lancierten Moskau und Ost-Berl<strong>in</strong> ihrerseits<br />

deutschlandpolitische Initiativen. Die Vere<strong>in</strong>ten Nationen<br />

waren selbstverständlich nicht das e<strong>in</strong>zige Forum, über das<br />

die weltweit zunehmend mächtigere Bundesrepublik ihren E<strong>in</strong>fluss<br />

zur Geltung br<strong>in</strong>gen konnte. Nachdem die deutsche Frage<br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong> sechziger Jahren <strong>in</strong> <strong>den</strong> H<strong>in</strong>tergrund getreten war, engagierte<br />

sich Bonn <strong>in</strong>sbesondere beim Nord-Süd-Dialog. Es war<br />

e<strong>in</strong> Zeichen <strong>in</strong>ternationaler Wertschätzung, dass die Bundesrepublik<br />

bereits 1978 <strong>für</strong> zwei Jahre zum nichtständigen Mitglied des Sicherheitsrats gewählt wurde.<br />

Dabei entfaltete sie <strong>in</strong>sbesondere h<strong>in</strong>sichtlich der Loslösung Namibias von Südafrika zusammen mit<br />

Großbritannien, Frankreich, Kanada und <strong>den</strong> USA erhebliche Aktivitäten, die die Berufung <strong>in</strong> das<br />

wichtigste Gremium der Weltorganisation nochmals rechtfertigten. Des weiteren zählte die Bundesrepublik<br />

schon lange vor der Aufnahme <strong>in</strong> die UNO zu <strong>den</strong> Industrieländern, die sich entwicklungspolitisch<br />

besonders <strong>in</strong>tensiv engagierten. Mit <strong>den</strong> Ölkrisen der siebziger Jahre zeigte sie sich unter<br />

Bundeskanzler Helmut Schmidt auf dem Felde der Energiepolitik besonders aktiv.<br />

Zu Recht greift Massoud Hanifzadeh <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Dissertation das bundesdeutsche Engagement <strong>in</strong><br />

Sachen Menschenrechte auf, das auch nach Ende des Kalten Krieges e<strong>in</strong> zentrales Anliegen deutscher<br />

Politik geblieben ist. Richtete sich dies vor 1990 auf die sozialistischen Staaten – womit es laut<br />

Hanifzadeh vornehmlich „ideologisch“ motiviert war –, gerieten <strong>in</strong> <strong>den</strong> neunziger Jahren das zerfallende<br />

Jugoslawien und Konflikte <strong>in</strong> der Dritten Welt <strong>in</strong> <strong>den</strong> Blick. In diesem Kontext stand auch die


413 sehepunkte – Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Debatte über die Beteiligung der Bundeswehr an frie<strong>den</strong>sschaffen<strong>den</strong> Missionen im Rahmen der<br />

Vere<strong>in</strong>ten Nationen. In der Untersuchung stehen außerdem die Bemühungen um e<strong>in</strong>en ständigen Sitz<br />

im Sicherheitsrat der Vere<strong>in</strong>ten Nationen sowie die Wahrnehmung letzterer bei deutschen Nichtregierungsorganisationen<br />

im Mittelpunkt. Diese Schwerpunktsetzung ersche<strong>in</strong>t willkürlich, da sie<br />

Kernfelder wie die Entwicklungs- und die Klimapolitik außer acht lässt und damit <strong>den</strong> Fokus verengt,<br />

andererseits aber mit der E<strong>in</strong>beziehung nichtstaatlicher Akteure <strong>den</strong> Rahmen zu erweitern versucht.<br />

E<strong>in</strong>e solche Herangehensweise unterschlägt, dass die Bundesrepublik schon seit <strong>den</strong> siebziger<br />

Jahren beispielsweise im Rahmen der UNCTAD e<strong>in</strong>er der wichtigsten Gesprächspartner der Entwicklungsländer<br />

war. E<strong>in</strong>e Erklärung, warum die Betrachtung nicht mit der Vollmitgliedschaft, sondern<br />

erst 1982 e<strong>in</strong>setzt, bleibt der Autor ebenfalls schuldig. Nahe läge der damalige Regierungswechsel<br />

<strong>in</strong> der Bundesrepublik, der aber weder <strong>in</strong> der Außenpolitik <strong>in</strong>sgesamt noch <strong>in</strong> der UN-<br />

Politik e<strong>in</strong>e Wende bedeutete. Überhaupt fallen gravierende Mängel und Lücken <strong>in</strong>s Auge, während<br />

e<strong>in</strong> eigenständiger wissenschaftlicher Wert der Studie nicht zu erkennen ist. Obwohl die Unter-<br />

suchung noch zu Zeiten der deutschen Teilung e<strong>in</strong>setzt, ist von e<strong>in</strong>er UN-Politik der DDR nirgendwo<br />

die Rede. Darüber h<strong>in</strong>aus sche<strong>in</strong>t dem Autor nicht bewußt zu se<strong>in</strong>, dass er nicht die deutsche Politik<br />

<strong>in</strong> der Organisation der Vere<strong>in</strong>ten Nationen (UNO), sondern <strong>in</strong> <strong>den</strong> Vere<strong>in</strong>ten Nationen selbst (UN)<br />

darstellt. Auffällig ist, dass der Verfasser fast je<strong>den</strong> Satz auf Memoiren oder wissenschaftliche Literatur<br />

zurückführt bzw. diese umfassend zitiert, dies gilt selbst noch <strong>für</strong> das Schlußresümee. Abgesehen<br />

davon, dass der Text durch die Anhäufung von Verweisen nicht lesbarer gewor<strong>den</strong> ist, kann man angesichts<br />

dieses Vorgehens kaum von e<strong>in</strong>em eigenständigen Text oder e<strong>in</strong>er eigenen Gedankenführung<br />

sprechen. Bezeichnenderweise stehen <strong>in</strong> der Bibliographie Veröffentlichungen von <strong>Institut</strong>ionen,<br />

Memoiren und Literatur so ungestört nebene<strong>in</strong>ander, als gehörten sie zu e<strong>in</strong> und derselben Kategorie.<br />

Beim Rückgriff auf wissenschaftliche Literatur hat der Verfasser zudem gelegentlich auf mittlerweile<br />

überholte Darstellungen vertraut: Nicht erst nach der Offenlegung entsprechender Akten des Auswärtigen<br />

Amts darf man anders als Hanifzadeh der Bundesrepublik weder e<strong>in</strong>e ambivalente Namibia-<br />

noch e<strong>in</strong>e profillose Nahost-Politik besche<strong>in</strong>igen. Nicht umsonst pflegt die Bundesrepublik wegen<br />

ihrer historischen Verpflichtung im Angesicht des Holocaust enge Bande zu Israel, während sie zugleich<br />

durch kritische Stellungnahmen zur israelischen Politik große Sympathien <strong>in</strong> der arabischen<br />

Welt genießt. Dies wäre aufgefallen, wäre die verwendete Literatur kritisch h<strong>in</strong>terfragt und nicht<br />

schlichtweg übernommen wor<strong>den</strong>. Dazu fügt es sich, dass der Verfasser sichtlich mit sprachlichen<br />

Schwierigkeiten zu kämpfen hat.<br />

Es ist unbestritten, dass an deutschen Universitäten erstellte Dissertationen <strong>in</strong> der Regel eher zu<br />

lang geraten. E<strong>in</strong>e Abhandlung der bundesdeutschen UN-Politik über e<strong>in</strong>en Zeitraum von 23 Jahren<br />

auf gerade e<strong>in</strong>mal 137 Seiten schlägt aber <strong>in</strong>s andere Extrem um. Hätte der Verfasser auf diesem engen<br />

Raum eigenständige Thesen formuliert, besser noch untermauert, ließe sich das Werk wenigstens als<br />

leicht überdimensionierte Magisterarbeit e<strong>in</strong>schätzen.<br />

Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte <strong>für</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Neueste <strong>Zeitgeschichte</strong> ab 1990

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