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Blick ins Buch - Klartext Verlag

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Die Feuernacht. Als die Stadt ihr Gesicht verlor 11<br />

Es gibt in meinem Kopf dutzende von Erlebnissen im Krieg. Sie<br />

müssen wohl für ein Kinderhirn derart prägend gewesen sein, dass sie<br />

ein ganzes Leben lang dort eingebrannt sind. Oder habe ich vielleicht<br />

ein besonders intensives Erinnerungsvermögen? Immerhin hatte einer<br />

meiner Klassenlehrer, Dr. Johann-Dietrich Bödeker, meiner Mutter<br />

mal tadelnd gesagt: »Ihr Sohn hat ein erstaunliches Gedächtnis für<br />

jede Art von nebensächlichen und überflüssigen Dingen.« Nur: Wer<br />

bestimmt, was eine Hauptsache, was eine Nebensache ist?<br />

Vielleicht höre ich deshalb noch die Stiefel jener SA-Männer knallen,<br />

die auf meinen Vater losrannten, als er einmal die Hakenkreuzfahne<br />

nicht gegrüßt hatte. Vor unserem Haus am Wilhelmitorwall 4, wo wir<br />

bis zum Sommer 1944 gewohnt hatten, marschierte eine Kolonne von<br />

SA-Männern mit Musik und Fahnen vom Madamenweg kommend in<br />

die Sonnenstraße. Mein Vater und ich standen etwa 80 Meter entfernt,<br />

als drei oder vier der Braun-Uniformierten mit dem Ruf heranstürmten:<br />

»Da grüßt einer die Fahne nicht.« Im Laufen lösten sie – dieses<br />

Bild bleibt – ihre ledernen Schulterriemen, um sie als Peitschen zu<br />

gebrauchen. Sie griffen meinen Vater, schüttelten ihn. Es gab eine Brüllerei,<br />

aber – zu meiner Erleichterung – sie prügelten nicht los. Dieses<br />

Gefühl totaler Hilflosigkeit schreckt mich noch heute.<br />

Die ständige Furcht vor einer erdrückenden Hakenkreuz-Obrigkeit<br />

ist auch noch bei einem anderen Erlebnis übermächtig geworden. Es<br />

war im Winter 1944, wahrscheinlich Januar oder Februar. An der Hand<br />

meiner Mutter ging ich die Schuhstraße entlang, wo eine Gruppe<br />

hohlwangiger junger Mädchen und Frauen – angeblich jüdische und<br />

polnische Zwangsarbeiterinnen – unter den Augen von uniformierten<br />

Bewachern Schnee schaufelten. Die schmalen Hungergestalten – eine<br />

in grauer Zopfmusterstrickjacke, andere in zu weiten Männerjacken –<br />

hatten Tücher um den Kopf geschlungen und manche trugen statt der<br />

Schuhe nur um die Füße gewickelte Lappen. Eine grauenhafte Szene,<br />

die jeden aufrütteln musste. Doch die meisten Menschen in dieser<br />

belebten Straße sahen wohl weg. Sie eilten schweigend vorüber.<br />

Meine Mutter schwenkte in den Laden von Bäcker Eckhardt, kaufte<br />

etwa 20 Brötchen und legte mir die pralle Tüte in den Arm. Als wir dann<br />

ganz dicht an den Gefangenen vorbeikamen, flüsterte sie: »Lass die<br />

Tüte fallen.« Ich tat es. Die Eckhard Mädchen Schimpf stürzten sich auf die Brötchen, die<br />

Mein Braunschweig<br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010

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