Blick ins Buch - Klartext Verlag
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Mein Braunschweig – Wie war das damals?<br />
Eckhard Schimpf<br />
Mein Braunschweig<br />
© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010
Eckhard Schimpf<br />
Mein Braunschweig<br />
© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010
Mein Braunschweig<br />
Wie war das damals?<br />
Eckhard Schimpf erzählt<br />
Eckhard Schimpf<br />
Mein Braunschweig<br />
© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010
1. Auflage Oktober 2010<br />
Satz und Gestalting: <strong>Klartext</strong> Medienwerkstatt GmbH, Essen<br />
Umschlaggestaltung: Volker Pecher, Essen<br />
Titelfoto: Rudolf Flentje<br />
Druck: Bercker Graphischer Betrieb GmbH, Kevelaer<br />
© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong>, Essen 2010<br />
ISBN 3-978-8375-0033-2<br />
Alle Rechte vorbehalten<br />
www.klartext-verlag.de Eckhard Schimpf<br />
Mein Braunschweig<br />
© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010
Inhalt<br />
Gedanken voraus ............................................... 5<br />
Kindheit im Krieg ............................................... 7<br />
Die Feuernacht. Als die Stadt ihr Gesicht verlor ................ 9<br />
Plötzlich »Weihnachtsbäume« am Nachthimmel .............. 19<br />
Mit Kaffeemütze auf dem Kopf im Gartenbunker ............... 22<br />
Die Sonne schien, und mein Elternhaus brannte ................ 25<br />
»Schlaf weiter. Es ist Frieden.« Der letzte Tag ................. 28<br />
Nachkriegsnot .................................................. 43<br />
Der Wind pfiff durch die Ruine. Erste Friedensweihnacht ....... 45<br />
Der Tag, als die Oker kam. Hochwasser 1946 .................. 51<br />
Tag für Tag erfroren Menschen im Jahrhundertwinter .......... 55<br />
Überall Chaos, aber Erhabenheit und Stille im Dom ............ 59<br />
Mit der D-Mark begann das Wirtschaftswunder ................ 68<br />
Die alte Stadt ................................................... 75<br />
Der Löwe stand schon auf seinem Sockel,<br />
als es den Dom noch gar nicht gab ............................. 77<br />
Schloss Richmond: Die Liebe der Prinzessin von Wales ......... 80<br />
Theater am Steinweg:<br />
Spannung zwischen Traum und Wirklichkeit ................... 83<br />
St. Katharinen: Achthundert Jahre lang<br />
Bomben, Blitzen, Stürmen getrotzt ............................ 87<br />
<strong>Blick</strong> vom Turm: St. Andreas. Das alte Herz der Stadt ........... 90<br />
Reiz der Kontraste. Klassizismus und gläserner Turm . . . . . . . . . . . 93<br />
Rätselhaft und ein Verweilen wert: Das Imervard-Kreuz ......... 96<br />
Ein Grab, aus dem achthundert Jahre Geschichte heranwehen ... 99<br />
Klingeln und knutschen: Die Brücke über den »Liebesgrund« . . 101<br />
Eckhard Schimpf<br />
Mein Braunschweig<br />
© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010
Ein <strong>Blick</strong> zurück ................................................ 105<br />
Huflattich unter der Rotunde. Erinnerungen ans Schloss ........ 107<br />
Eulenspiegel saß lächelnd im qualmenden Schutt ............... 120<br />
Erst die Bomber, dann die Bagger. Zweite Zerstörungswelle ..... 123<br />
Von der Rückkehr der Schokoladeneier. Ein Osterspaziergang .. 131<br />
Sonntags ein Bier für den »Rechenaugust« .................... 137<br />
Warum die weiße Villa am Wall eine Brücke war ................ 140<br />
Menschen in dieser Stadt ....................................... 145<br />
Ferdinand Piëch und die Bitte »um gute Nachrede« ........... 147<br />
Der Mann, der die »Braunschweiger Zeitung« erfand .......... 153<br />
Populär über zwei Kriege hinweg. Viktoria Luise ................ 163<br />
Braunschweiger Rot über Berlin und New York ................ 170<br />
Der Wirbelwind unter den Dom-Türmen ...................... 173<br />
Kämpfer für Braunschweigs Kunstschätze. Kurt Seeleke ......... 177<br />
Als Günter Gaus noch Horoskope schrieb ...................... 180<br />
Ricarda Huch war unsere bedeutendste Dichterin .............. 182<br />
Norbert Schultze und sein Welthit »Lili Marleen« ............. 184<br />
Bei den Rettichs am Wald, wo die Märchen wohnen ............ 187<br />
Gustav Knuth konnte so unnachahmlich braunschweigern ...... 190<br />
»Kiki« Zahn und der »Mitternachtsschrei« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192<br />
Quellennachweis ............................................... 195<br />
Abbildungsnachweis ............................................ 197<br />
Eckhard Schimpf<br />
Mein Braunschweig<br />
© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010
Gedanken voraus<br />
»Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer<br />
als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit«,<br />
schreibt Egon Erwin Kisch, einer der großen Lehrmeister der<br />
Journalistenzunft. Die in diesem Band versammelten Arbeiten von<br />
Eckhard Schimpf sind für diese These der beste Beleg.<br />
Eckhard Schimpf ist ein Mann von beneidenswert klarer Wahrnehmung.<br />
Er hat einen unbestechlichen <strong>Blick</strong> für den Kern der Dinge –<br />
und bringt seine E<strong>ins</strong>ichten in einer Sprache zur Wirkung, die ohne<br />
Verstellung auskommt.<br />
Dass dieser Mann aus Braunschweig berichtet, ist kein Zufall. In seinen<br />
Arbeiten finden der Stil des Autoren und seine Sujets auf wunderbare<br />
Weise zusammen: Eckhard Schimpf versteht es wie kein zweiter,<br />
die herzliche Lakonie einzufangen, die die Menschen seiner Vaterstadt<br />
auszeichnet.<br />
Das Ergebnis ist ein Stück lebendiger Stadtgeschichte. Die Texte,<br />
die Schimpf für die Braunschweiger Zeitung geschrieben und für<br />
diesen Band gründlich durchgesehen hat, lassen den Leser spüren, was<br />
so besonders an dieser großen deutschen Stadt ist.<br />
Sie bezeugen den Lebenswillen der Braunschweiger, die der Bombenkrieg<br />
mit besonderer Brutalität traf, sie machen anrührende, dramatische,<br />
tragische und alltägliche Episoden im Leben dieser Stadt so<br />
plastisch, dass der Leser meinen könnte, sie selbst erlebt zu haben.<br />
Wer verstehen möchte, warum Braunschweig die liebenswerteste<br />
Großstadt unserer Republik ist, der möge dieses <strong>Buch</strong> lesen.<br />
Armin Maus<br />
Chefredakteur der Braunschweiger Zeitung<br />
Eckhard Schimpf<br />
Mein Braunschweig<br />
© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010
Eckhard Schimpf<br />
Mein Braunschweig<br />
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Kindheit im Krieg<br />
Eckhard Schimpf<br />
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Eckhard Schimpf<br />
Mein Braunschweig<br />
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Die Feuernacht<br />
Als die Stadt ihr Gesicht verlor<br />
Noch heute marschieren zuweilen SA-Leute trommelnd durch meine<br />
Träume. Auch die Erinnerung an den lang verwehten Geruch von verbrannten<br />
Balken, von nassem Lehm und verkohlten Leichen wird öfter<br />
mal angefacht, wenn nur ein einziges Fünkchen des damaligen Kriegs-<br />
Aromas heranweht – beispielsweise Mörtelstaub beim Abbruch eines<br />
Hauses oder selbst bei einem Osterfeuer. Die Vergangenheit ist also<br />
nicht weg, sie ist allenfalls verschüttet.<br />
Ist nicht wirklich schon alles über die Braunschweiger Feuernacht<br />
vom 14. auf den 15. Oktober 1944 gesagt, geschrieben, bewertet worden?<br />
Mag sein. Aber Geschichte hängt nicht nur vom Erzähler ab, sondern<br />
auch vom Zeitpunkt, wann er erzählt. Ich habe diese Schreckensnacht<br />
als Kind im Bunker an der Schuhstraße erlebt. Eingeschlossen<br />
von einer Flammenhölle, deren Wucht mit Worten nur schwer, nur<br />
unzulänglich zu schildern ist.<br />
Kurz danach hat mich dieses Erlebnis überhaupt nicht mehr<br />
berührt. Wir Kinder hielten das Chaos des Krieges für das ganz normale<br />
Leben. Nur widerwillig und in kindlich-knappen Worten hatte ich<br />
dieses Erlebnis dann 1948 in einem Schulaufsatz niedergeschrieben, als<br />
unsere Lehrerin, Frau Kröger, uns das Thema »Ein Erlebnis im Krieg«<br />
aufgegeben hatte. Meine Schwester Renate, zehn Jahre älter als ich, hob<br />
übrigens mein damaliges Gekritzel auf und schickte es mir 1974 wieder<br />
zu.<br />
In meinen späteren Jahren – im Alter zwischen zwanzig und vierzig<br />
– rückte der Bombenkrieg sogar noch weiter weg. Doch nachdem<br />
ich 1984, genau vierzig Jahre nach dem Untergang des mittelalterlichen<br />
Braunschweigs, meine Erinnerungen an jene Epoche in einem<br />
Zeitungsartikel veröffentlicht hatte, wurde plötzlich alles anders.<br />
Das Leser-Echo war erstaunlich groß, und zwar aus zwei Lagern. Die<br />
einen, die das alles miterlebt hatten, sagten: Ja, genauso war es. Diese<br />
Menschen fanden sich sozusagen wieder. Sie fanden sich bestätigt,<br />
sahen ihr eigenes Schicksal Eckhard nochmals Schimpf schwarz auf weiß. Die anderen,<br />
Mein Braunschweig<br />
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10 Kindheit im Krieg<br />
die ganz jungen Leute, waren ergriffen und wissbegierig zugleich: Es<br />
schien ihnen schier unvorstellbar, kaum glaublich.<br />
Die Aufmerksamkeit der Alten und der Jungen hatte Gründe. Es<br />
war über jene bisher unbedeutend erscheinenden Details der Kriegswirren,<br />
über diese Epoche deutscher Opfer und vor allem auch über<br />
die Basis von Geschichte kaum gesprochen worden. Da hat sich inzwischen<br />
viel geändert.<br />
Für die, die heute Vergleichbares erleben, beispielsweise bei einem<br />
Zugunglück, wird behutsame psychologische Betreuung angeboten.<br />
Das ist auch gut und richtig. Damals, in den Kriegs- und Nachkriegsjahren,<br />
gab es nichts dergleichen. Die berechtigten Fragen: Wie<br />
konnten die Menschen das alles ertragen? Haben die nicht irgendwie<br />
alle einen Knacks erlitten? Solche Fragen hätte ich, dem als Kind<br />
die Bomben und das Feuer, die Trümmer und die Leiden alltäglich<br />
waren, nie zu stellen gewagt. Vor allem deshalb nicht, weil meine Mutter<br />
öfter das berühmte, von Walter Kempowski später zum <strong>Buch</strong>titel<br />
geadelte Sprichwort gebrauchte: »Uns geht’s ja noch gold.« Ja, das<br />
stimmte auch. Uns ging es wirklich noch gut, wenn man bedachte,<br />
welche Schicksale Millionen Menschen als Soldaten, als KZ-Insassen,<br />
als Flüchtlinge erleiden mussten. Waren da die – noch dazu glücklich<br />
überstandenen – Bombennächte überhaupt der Rede wert?<br />
Wer jemals über Braunschweig oder die Geschichte dieser Stadt<br />
schreibt, wird an dem Fliegerangriff vom 14. auf den 15. Oktober 1944<br />
nicht vorbeikommen. Mehr noch, im Abstand von mehr als sechs<br />
Jahrzehnten festigt sich die Erkenntnis: Es war bei weitem das grauenvollste<br />
und vor allem e<strong>ins</strong>chneidendste Ereignis in der tausendjährigen<br />
Historie dieser Stadt. Ob Pest oder Revolutionen, Eroberungen oder<br />
Belagerungen: Nie zuvor wurde Braunschweig so zerschunden.<br />
Wie war es denn eigentlich in jener Nacht? Erinnerung besteht ja<br />
aus einzelnen, wenigen Bildern, die in uns leben. Oft sind es nur Facetten,<br />
Belanglosigkeiten – wie das im Schlafzimmer meiner Eltern am<br />
hölzernen Stiefelknecht hängende Futteral mit der Pistole meines<br />
Vaters. Manchmal sind es auch erschreckend klare, längere Ereignisse<br />
– wie beispielsweise ein Kelleraufenthalt, bei dem meine Mutter<br />
bei jeder heranorgelnden Bombenwelle verzweifelt hauchte: »Jetzt<br />
trifft es uns.« Eckhard Schimpf<br />
Mein Braunschweig<br />
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Die Feuernacht. Als die Stadt ihr Gesicht verlor 11<br />
Es gibt in meinem Kopf dutzende von Erlebnissen im Krieg. Sie<br />
müssen wohl für ein Kinderhirn derart prägend gewesen sein, dass sie<br />
ein ganzes Leben lang dort eingebrannt sind. Oder habe ich vielleicht<br />
ein besonders intensives Erinnerungsvermögen? Immerhin hatte einer<br />
meiner Klassenlehrer, Dr. Johann-Dietrich Bödeker, meiner Mutter<br />
mal tadelnd gesagt: »Ihr Sohn hat ein erstaunliches Gedächtnis für<br />
jede Art von nebensächlichen und überflüssigen Dingen.« Nur: Wer<br />
bestimmt, was eine Hauptsache, was eine Nebensache ist?<br />
Vielleicht höre ich deshalb noch die Stiefel jener SA-Männer knallen,<br />
die auf meinen Vater losrannten, als er einmal die Hakenkreuzfahne<br />
nicht gegrüßt hatte. Vor unserem Haus am Wilhelmitorwall 4, wo wir<br />
bis zum Sommer 1944 gewohnt hatten, marschierte eine Kolonne von<br />
SA-Männern mit Musik und Fahnen vom Madamenweg kommend in<br />
die Sonnenstraße. Mein Vater und ich standen etwa 80 Meter entfernt,<br />
als drei oder vier der Braun-Uniformierten mit dem Ruf heranstürmten:<br />
»Da grüßt einer die Fahne nicht.« Im Laufen lösten sie – dieses<br />
Bild bleibt – ihre ledernen Schulterriemen, um sie als Peitschen zu<br />
gebrauchen. Sie griffen meinen Vater, schüttelten ihn. Es gab eine Brüllerei,<br />
aber – zu meiner Erleichterung – sie prügelten nicht los. Dieses<br />
Gefühl totaler Hilflosigkeit schreckt mich noch heute.<br />
Die ständige Furcht vor einer erdrückenden Hakenkreuz-Obrigkeit<br />
ist auch noch bei einem anderen Erlebnis übermächtig geworden. Es<br />
war im Winter 1944, wahrscheinlich Januar oder Februar. An der Hand<br />
meiner Mutter ging ich die Schuhstraße entlang, wo eine Gruppe<br />
hohlwangiger junger Mädchen und Frauen – angeblich jüdische und<br />
polnische Zwangsarbeiterinnen – unter den Augen von uniformierten<br />
Bewachern Schnee schaufelten. Die schmalen Hungergestalten – eine<br />
in grauer Zopfmusterstrickjacke, andere in zu weiten Männerjacken –<br />
hatten Tücher um den Kopf geschlungen und manche trugen statt der<br />
Schuhe nur um die Füße gewickelte Lappen. Eine grauenhafte Szene,<br />
die jeden aufrütteln musste. Doch die meisten Menschen in dieser<br />
belebten Straße sahen wohl weg. Sie eilten schweigend vorüber.<br />
Meine Mutter schwenkte in den Laden von Bäcker Eckhardt, kaufte<br />
etwa 20 Brötchen und legte mir die pralle Tüte in den Arm. Als wir dann<br />
ganz dicht an den Gefangenen vorbeikamen, flüsterte sie: »Lass die<br />
Tüte fallen.« Ich tat es. Die Eckhard Mädchen Schimpf stürzten sich auf die Brötchen, die<br />
Mein Braunschweig<br />
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12 Kindheit im Krieg<br />
in Sekunden weg waren. Sofort waren wir von brüllenden Aufsehern<br />
umringt. Und meine Mutter, wohl verängstigt, beugte sich zu mir runter<br />
und fragte: »Ja, wieso hast du denn die Tüte fallen lassen?« Darauf<br />
ich: »Aber du hast es doch gesagt.« Die Geschichte endete glimpflich,<br />
obwohl wir auch ein Polizeiverhör erdulden mussten. Heute kaum zu<br />
glauben: Aber es gehörte zu einem solchen – natürlich verbotenen –<br />
Akt der Menschlichkeit damals ebenso viel Zivilcourage, wie etwa statt<br />
»Heil Hitler« schlicht »Guten Morgen« zu sagen.<br />
Im Juni und Juli 1944 war ganz unerwartet ein geradezu friedliches<br />
Leben in Braunschweig eingezogen. Plötzlich hatten die Fliegerangriffe,<br />
das tägliche Sirenengeheul und das hektische Fliehen in die Bunker<br />
und Keller aufgehört. Aber es sollte nur ein Atemholen vor dem<br />
nächsten Schlag sein; denn Amerikaner und Briten waren durch die<br />
Invasion in der Normandie lediglich vorübergehend auf jenen Kriegsabschnitt<br />
in Frankreich konzentriert.<br />
Es war Sommer. Im Capitol lief der Film »Die Feuerzangenbowle«<br />
mit Heinz Rühmann. Bei Waldmann auf dem Altstadtmarkt gab es Erdbeereis,<br />
und im Park von Salve Hospes ließ Kreisleiter Berthold Heilig<br />
Shakespeares »Sommernachtstraum« spielen. Ich erinnere mich an<br />
meinen Geburtstag am 1. Juli 1944, zu dem mir der Parfümeriebesitzer<br />
Krapp aus Holz ein silberfarbenes JU 52-Flugzeug gebastelt hatte.<br />
Und ich sehe mich noch am Südende des Löwenwalls von dem damals<br />
noch nicht abgetragenen Windmühlenberg auf das dicht aneinander<br />
gekuschelte Dächergewirr der Stadt hinabschauen – zwei Monate später<br />
war da nur noch Schutt.<br />
Es war in jenen Wochen 1944 sogar wieder möglich, relativ entspannt<br />
durch die krummen, engen Kopfsteinpflaster-Gassen zu schlendern.<br />
Dort, wo die Dächer über den Straßen fast aneinander stießen,<br />
scharrten noch Pferde in den Hinterhöfen, und aus den Kellern und<br />
offen stehenden Türen der Jahrhunderte alten Fachwerkhäuser wehte<br />
ein kühles Duftgemisch von Holz und Schimmel, von Bratenfett und<br />
Bohnerwachs.<br />
Plötzlich änderte sich das trügerische Idyll. Es war der 5. August<br />
1944, ein warmer Sommertag, an dem nach einem amerikanischen<br />
Fliegerangriff unser gerade vier Wochen zuvor bezogenes Haus in der<br />
Ferdinandstraße 4 ausbrannte. Eckhard Ich Schimpf stand auf der gegenüberliegenden<br />
Mein Braunschweig<br />
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Die Feuernacht. Als die Stadt ihr Gesicht verlor 13<br />
Straßenseite, während aus den rußgeschwärzten Fensterhöhlen die<br />
Flammen leckten. Um uns herum nur Qualm, Trümmer, Tränen. Ein<br />
Gewirr von Möbelstücken, in einem Baum die Jacke von Dr. Bertram,<br />
den ich am Morgen noch gesehen hatte. Nun war er spurlos verschwunden,<br />
zerfetzt von einer Bombe. Meine Mutter saß weinend auf dem<br />
Bürgersteig, und der in blankgewichsten Stiefeln vorbeiflanierende<br />
Nazi Rudolf Müller von der Ferdinandstraße Nummer 8 brüllte sie an:<br />
»Gaffen Sie nicht. Helfen Sie lieber.«<br />
Nach ein paar Stunden sinnlosen, lähmenden Verharrens gingen wir<br />
zur Schuhstraße in die Hofapotheke. Eine Freundin meiner Mutter, die<br />
Apothekerin Elisabeth Lambrecht, gewährte uns dort Unterschlupf.<br />
Zu schleppen brauchten wir nichts. Wir hatten nur noch das, was wir<br />
auf dem Körper trugen. Unser Hund Jockel begleitete uns. Er hatte im<br />
Keller des Hauses überlebt – vergraben unter einem Berg von Kohlen.<br />
In der Schuhstraße 4 lebten wir dann vom August 1944 bis zum<br />
Einmarsch der Amerikaner am 11. April 1945 relativ geschützt, weil der<br />
Bunker Am Sack direkt gegenüber lag. Das war ein Privileg. Ein paar<br />
Schritte nur – und wir waren hinter den mehr als zwei Meter dicken<br />
Bunkermauern in Sicherheit. Mehr als hundert Mal hab‘ ich dort<br />
gesessen. Der Bunker war uns vertrauter als die Wohnung. In diesem<br />
Betonkoloss, der später – mit Fenstern bestückt – aussah wie ein ganz<br />
normales Haus, erlebte ich auch die Feuernacht, als Braunschweigs<br />
historische Innenstadt zu neunzig Prozent in Schutt und Asche sank.<br />
Eine dieser recht merkwürdigen Kriegsregeln war, dass tagsüber<br />
stets nur die amerikanischen Bomberverbände angriffen und nachts<br />
die Engländer. Braunschweig erlitt zwischen dem 17. August 1940 und<br />
dem 10. April 1945 <strong>ins</strong>gesamt achtundvierzig Luftangriffe mit Bombenabwürfen,<br />
und fast neunhundert Mal gab es Fliegeralarm. Alle Angriffe<br />
habe ich miterlebt. Mal in Kellern kauernd, mal in unserem Schutzraum<br />
im Garten, mal im Großbunker Knochenhauerstraße, mal im<br />
Bunker Am Sack oder im Tiefbunker am Petritor und einmal – weil<br />
meine Mutter und ich keinen anderen Unterschlupf fanden – sogar in<br />
der Katharinen-Kirche. Während rundherum die Bomben prasselten,<br />
spielte die Organistin Hilde Pfeiffer-Dürkop unerschrocken weiter die<br />
Orgel und die Frauen, die gerade eine Chorprobe hatten, sangen mit<br />
Inbrunst »Lobe den Herrn«. Eckhard Schimpf<br />
Mein Braunschweig<br />
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14 Kindheit im Krieg<br />
Fast alle Jungen und Mädchen hatten in jenen Monaten längst die<br />
Stadt verlassen, waren mit der Kinderlandverschickung in ländliche<br />
Regionen gebracht worden. Doch meine Mutter wollte das nicht.<br />
So blieb ich in Braunschweig. Ich spielte mit Elastolin-Soldaten und<br />
brüllte laut Exerzierkommandos, lernte Kriegslieder (»Wir fahren<br />
gegen Engelland«) und konnte auch ziemlich genau heraushören,<br />
welche Bomben gerade auf uns herab fielen. Die Brandbomben, sechseckig<br />
und etwa sechzig Zentimeter lang, entwickelten ein Geräusch<br />
wie flatterndes Blech. Das kam daher, dass sie bündelweise und aneinander<br />
gekettet abgeworfen wurden. Sprengbomben dagegen pfiffen,<br />
erst heller, dann dunkler, und explodierten mit einer kleinen Verzögerung.<br />
Nach einem weiteren Moment folgte dann ein Scheppern, als ob<br />
ein kompletter Geschirrschrank umkippt: Das getroffene Haus oder<br />
Teile davon brachen zusammen. Die ganz schweren Sprengbomben,<br />
die Zehn-Zentner-Kaliber, orgelten wie ein vorbeifahrendes Auto mit<br />
Zweitaktmotor. Dieses Geräusch wurde angeblich durch die mächtigen<br />
Stabilisierungsflügel der Bombe ausgelöst.<br />
Von August 1944 an mussten wir fast jeden Tag und jede Nacht in<br />
den Bunker rennen, obwohl nicht immer Bomben fielen. Aber das<br />
wusste auch der so genannte Luftlagedienst nicht, wenn er per Drahtfunk<br />
aus dem Volksempfänger meldete: »Feindliche Bomberverbände<br />
im Raum Osnabrück im Anflug auf Hannover und Braunschweig.«<br />
Oft brummten die Flugzeugrudel über uns hinweg – nach Berlin, Halle<br />
oder Leipzig. Tagsüber sah man die Maschinen häufig ganz deutlich –<br />
lange, helle Kondensstreifen ziehend – am blauen Himmel, umgeben<br />
von den weißen Rauchbällchen des Flakfeuers. Ab und zu stießen<br />
deutsche Jagdflugzeuge wie Habichte in diese schwerfälligen Bomberverbände<br />
hinein. Ich weiß noch, wie wir Kinder einmal, auf der Schuhstraße<br />
stehend, beobachten konnten, wie ein Bomber getroffen wurde.<br />
Erst quoll dunkler Qualm aus der Maschine, dann war da auf einmal<br />
ein Feuerball und tief darunter einige dunkle Pünktchen, aus denen<br />
plötzlich weiße Fallschirme wuchsen – die sich rettenden Piloten.<br />
In der Nacht vom 14. auf den 15. Oktober war es eigentlich wie immer.<br />
Die Sirenen heulten zunächst wieder gegen 23 Uhr, und der Drahtfunk<br />
warnte vor »feindlichen Fliegerverbänden«. Doch um 24 Uhr durften<br />
wir wieder nach Haus. Nichts Eckhard war Schimpf geschehen. Dann erneuter Alarm<br />
Mein Braunschweig<br />
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Die Feuernacht. Als die Stadt ihr Gesicht verlor 15<br />
um 1 Uhr 50. Hastende Schritte in den völlig f<strong>ins</strong>teren Straßen, Rufe<br />
und Befehlstöne vor dem schlecht abgedunkelten Handschuhgeschäft<br />
Röver in der Schuhstraße: »Röver Licht aus!« An das blitzschnelle<br />
Aufstehen war man längst gewöhnt, zumal die meisten stets halb angezogen<br />
schliefen und Taschen mit dem Nötigsten – Papiere, Geld, etwas<br />
Wäsche – an der Wohnungstür immer parat standen.<br />
Im Gedränge vor dem Eingang des Bunkers wurde ich mit dem<br />
Kopf an die Eisentür gebufft, und – auch daran erinnere ich mich – die<br />
Menschen lachten plötzlich über einen Soldaten, der, wohl auf Urlaub,<br />
zwar einen Helm auf dem Kopf hatte, aber in der Hast seine Uniformjacke<br />
nicht mehr hatte anziehen können und nur in einem grauen<br />
Unterhemd in der Menge stand.<br />
In diesen Betonburgen der Innenstadt – es gab <strong>ins</strong>gesamt vierundzwanzig<br />
Großbunker in ganz Braunschweig – war man relativ sicher.<br />
Die meterdicken Decken und Mauern hielten selbst Treffer schwerer<br />
Sprengbomben aus. In solchen Fällen schwankten die Wände ein<br />
wenig, Sand rieselte von der Decke, das Licht flackerte, aber sonst<br />
passierte nichts. Meistens saßen stets die selben Leute im selben<br />
Raum auf den selben doppelstöckigen Pritschen. »Bunkerbekanntschaften«<br />
nannten wir das – man traf sich ja täglich. Hier im Bunker<br />
Am Sack saßen alle, die in der Umgebung der Schuhstraße wohnten:<br />
Jauns, Bochmann, Pfankuch und Krieg, Wehr, Hoppe, Manschott und<br />
Ziemann, Blanke, Hoffmann, Reisky, Mank – und wie sie alle hießen.<br />
Die Menschen unterhielten sich leise, versuchten zu schlafen, spielten<br />
Karten oder »Mensch ärgere dich nicht«. Wir Kinder malten mit Bleistift<br />
Kriegsszenen: Panzer, Schiffe, Flugzeuge und brennende Häuser.<br />
Nach einer oder zwei Stunden öffneten sich normalerweise die Bunkertüren<br />
wieder. Manchmal war nichts geschehen, manchmal kündeten<br />
Qualm und Trümmer von erneutem Leid.<br />
Aber in dieser Oktobernacht war plötzlich alles anders. Die Sirenentöne,<br />
die ›Entwarnung‹ signalisierten, blieben aus, obwohl die<br />
Bunkerwarte Weiß und Berkemeyer behaupteten, die Flugzeuge seien<br />
längst wieder weg. Es vergingen Stunden, und die eisernen Bunkertüren<br />
blieben immer noch verrammelt. Die Gespräche verstummten<br />
allmählich. Es wurde heiß und stickig in den überfüllten Räumen.<br />
Menschen sanken in Ohnmacht. Eckhard Ein Schimpf Kind rief: »Mutti, ich ersticke.«<br />
Mein Braunschweig<br />
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16 Kindheit im Krieg<br />
Gerüchte kamen auf. »Vielleicht haben die Tommys Giftgas geworfen?«,<br />
fürchtete der Apotheker Rolf Wehr, der als Bunkeraufsicht tätig<br />
war.<br />
Dann drängten sich zwischen 6 und 7 Uhr morgens verrußte und<br />
verdreckte Luftschutzmänner und auch SS-Leute in den Bunker. Wir<br />
seien, so hieß es, rundherum vom Feuer eingeschlossen, aber die Rettungsmannschaften<br />
hätten eine Wassergasse aus der brennenden Stadt<br />
heraus bis zum Bürgerpark gebildet.<br />
Was dann folgte, schien die Apokalypse zu sein. An diesem 15. Oktober<br />
morgens um 7 Uhr war für mich die Kindheit zu Ende, als meine<br />
Mutter sagte: »Wir müssen jetzt tapfer durchs Feuer. Und du bleibst<br />
fest an meiner Hand.« Zunächst wurden grobe Scheuerlappen verteilt,<br />
dann an den Bunkereingängen in die dort stehenden Wasserfässer<br />
getaucht und über die Köpfe gezogen. Die ersten Schritte aus dem<br />
eisernen Bunkertor waren wie der Gang in die Hölle. Eine Glutwelle<br />
fegte in unsere Gesichter, als schauten wir in den Schlund eines Hochofens.<br />
Rundherum Feuer, beißender Qualm und ein Sturmgetöse, das<br />
jedes Wort erstickte. Links, wohl fünfhundert Meter entfernt, loderte<br />
der Andreas-Kirchturm wie eine Fackel. Auch die Kaufhäuser Langerfeldt<br />
und Schuchhard brannten. Diszipliniert und gebückt – ich<br />
zwischen meiner Mutter und meiner Schwester Renate – begann die<br />
Flucht unter dem rieselnden Wasser der Feuerwehrleute, die bogenförmig<br />
über den etwa tausend Menschen von einer Straßenseite zur<br />
anderen einen Wasserschleier sprühten.<br />
Ein paar Male, ich denke drei Mal, schob ich die feuchte Kopfmaske<br />
zur Seite und sah mich um. Feuerwände überall. Und dann jene Bilder,<br />
die man nie vergisst. Auf dem Dach eines dicht hinter dem Bunker<br />
schon zur Neuen Straße gehörenden Hauses, dessen untere Stockwerke<br />
lichterloh brannten, wankte eine Gestalt und schwenkte Hilfe<br />
suchend und wohl auch rufend die Arme. Der Schein der Flammen<br />
ließ diesen Menschen, vielleicht hundert Meter von uns entfernt, ganz<br />
deutlich sichtbar werden. Niemand kümmerte sich darum.<br />
Dann ein <strong>Blick</strong> in die Stephanstraße am Karstadt-Kaufhaus. Eine<br />
Frau mit zwei Kindern blieb im flüssigen Asphalt kleben. Sie schrien,<br />
ließen die Schuhe zurück. Taumelten weiter, blieben wieder stecken,<br />
fielen hin. Da war keiner, Eckhard der half. Schimpf Jeder hatte mit sich selbst zu tun.<br />
Mein Braunschweig<br />
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Die Feuernacht. Als die Stadt ihr Gesicht verlor 17<br />
Häuser brachen krachend und funkenstiebend zusammen. Gespenstisch<br />
die Fensterhöhlen, hinter denen die Flammen tobten. An einer<br />
Stelle der Schuhstraße schlugen sie zwischen den Kaufhäusern Witting<br />
und Stöber sogar von einer Straßenseite zur anderen. Und wir mussten<br />
unter dieser sengend heißen Feuerbrücke hindurch hasten. »Hilfe, ich<br />
brenne«, schrie eine Frau.<br />
Mit schier unglaublicher Wucht raste über allem ein Funkenorkan,<br />
dicht wie ein Schneetreiben. Immer wieder gerieten Haare, Mäntel<br />
oder Jacken der Flüchtenden und natürlich auch weitere Häuser in<br />
Brand. Der Orkan war durch eine Art Zug entstanden, weil die heißen<br />
Luftmassen des Flächenbrandes aufwärts strömten und kältere Luft<br />
zur Erde sackte. Der Sturm war so stark, dass nicht nur Funken, sondern<br />
auch glühende Holzstücke und sogar Tische und Stühle durch die<br />
Luft gewirbelt wurden.<br />
Noch einmal schob ich meine Kopfbedeckung auf dem Kohlmarkt<br />
zur Seite. Der Anblick ist in meinem Kopf gespeichert: Die brennenden<br />
Turmhelme der Martinikirche sahen aus wie riesige glühende<br />
Bälle. Endlich war der Bürgerpark erreicht. Tausende lagerten hier. Die<br />
Teiche waren von der Feuerwehr schon fast leergesogen. Rote-Kreuz-<br />
Wagen brausten hin und her, Militärfahrzeuge brachten Suppe und<br />
Getränke.<br />
Es wurde nicht hell an diesem Tag und auch nicht an den nächsten<br />
Tagen. Ein gewaltiger Rauchpilz verdunkelte den Himmel. Auf<br />
allen Straßen ein Gewirr von Feuerwehrschläuchen und von Helfern<br />
und Kriegsgefangenen, die die Trümmer wegräumten. Vertraute Bilder<br />
waren einfach weg, ganze Straßenzüge verschwunden. Von der<br />
Humboldtstraße konnte man plötzlich bis zum Petritor sehen. Da war<br />
nichts mehr außer rauchendem Schutt. Nur die ausgebrannten Kirchtürme<br />
ragten aus dieser Trostlosigkeit heraus.<br />
Auf den Bürgersteigen lagen verkohlte Leichen aufgereiht. Wir<br />
Kinder schlichen um die merkwürdig zusammengeschrumpften Körper<br />
herum, die überall aus den Kellern gezogen wurden. Andere Tote,<br />
die im Qualm erstickt waren wie zum Beispiel fünfundneunzig Insassen<br />
eines Kellers in der Schöppenstedter Straße Nummer 31, sahen<br />
völlig unversehrt aus. Eine Frau hatte noch ein kariertes Kopftuch um<br />
und einen dunklen Mantel Eckhard an, der Schimpf sorgfältig zugeknöpft war. Neben<br />
Mein Braunschweig<br />
© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010
18 Kindheit im Krieg<br />
ihr lag ein kleines Mädchen, mit grauen Kniestrümpfen und braunen<br />
Stiefeln.<br />
Ich grübele so manches Mal darüber nach, wieso meine Mutter uns<br />
Kinder am Nachmittag dieses grauenhaften Tages – es war ein Sonntag<br />
– überhaupt allein auf der Straße hat herumlaufen lassen. Gut, sie<br />
räumte in unserer Not-Behausung in der Hofapotheke den zentimeterdicken<br />
Ruß und die Berge von zerborstenem Glas weg. Aber dennoch,<br />
merkwürdig, diese Sorglosigkeit. War vielleicht meine große Schwester<br />
bei mir? Ich erinnere mich nicht genau. Ich weiß aber noch, dass ich<br />
mit einem Jungen zusammen im Erdgeschoss des ausgebrannten, noch<br />
ganz heißen Karstadt-Hauses eine ganze Kiste voller Glühbirnen fand.<br />
Wir warfen alle nacheinander an die Wand, wo sie zu unserer Freude<br />
mit einem dumpfen Knall zerplatzten. Kindervergnügen an einem solchen<br />
Schreckenstag.<br />
Erst später sickerte durch, in welcher Gefahr wir uns in dieser Nacht<br />
befunden hatten. Der gewaltige Feuersturm über der Stadt hatte nicht<br />
nur die Bunker eingekesselt, sondern auch noch den Sauerstoff weggesogen.<br />
Es hätte nicht viel gefehlt, und die 23.000 von den Flammen<br />
eingeschlossenen Menschen in den Bunkern der Innenstadt wären<br />
erstickt. Weil es relativ viele sichere Bunker und Erdstollen (wie im<br />
Nußberg) gab, war die Zahl der Toten bei diesem Angriff relativ gering.<br />
Nach Angaben der Nazi-Behörden waren es sechshundert, heute gehen<br />
Historiker jedoch von tausend Toten aus.<br />
Viele Jahre lang herrschte die Überzeugung, dass in jener Oktobernacht<br />
tausend englische Flugzeuge auf Befehl von »Bomber-Harris«<br />
die Stadt Braunschweig angegriffen hätten. Eckart Grotes Recherchen<br />
in britischen Militärarchiven Anfang der 1990er Jahre ergaben aber,<br />
dass es ›nur‹ 233 Viermotorige gewesen waren. Ihre Bombenlast in<br />
dieser Nacht: 12.000 Sprengbomben und Luftminen sowie 200.000<br />
Brandbomben. So gesehen war es eine Nacht wie viele andere im<br />
Deutschland jener Zeit.<br />
Eckhard Schimpf<br />
Mein Braunschweig<br />
© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010