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Blick ins Buch - Klartext Verlag

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Mein Braunschweig – Wie war das damals?<br />

Eckhard Schimpf<br />

Mein Braunschweig<br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010


Eckhard Schimpf<br />

Mein Braunschweig<br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010


Mein Braunschweig<br />

Wie war das damals?<br />

Eckhard Schimpf erzählt<br />

Eckhard Schimpf<br />

Mein Braunschweig<br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010


1. Auflage Oktober 2010<br />

Satz und Gestalting: <strong>Klartext</strong> Medienwerkstatt GmbH, Essen<br />

Umschlaggestaltung: Volker Pecher, Essen<br />

Titelfoto: Rudolf Flentje<br />

Druck: Bercker Graphischer Betrieb GmbH, Kevelaer<br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong>, Essen 2010<br />

ISBN 3-978-8375-0033-2<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

www.klartext-verlag.de Eckhard Schimpf<br />

Mein Braunschweig<br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010


Inhalt<br />

Gedanken voraus ............................................... 5<br />

Kindheit im Krieg ............................................... 7<br />

Die Feuernacht. Als die Stadt ihr Gesicht verlor ................ 9<br />

Plötzlich »Weihnachtsbäume« am Nachthimmel .............. 19<br />

Mit Kaffeemütze auf dem Kopf im Gartenbunker ............... 22<br />

Die Sonne schien, und mein Elternhaus brannte ................ 25<br />

»Schlaf weiter. Es ist Frieden.« Der letzte Tag ................. 28<br />

Nachkriegsnot .................................................. 43<br />

Der Wind pfiff durch die Ruine. Erste Friedensweihnacht ....... 45<br />

Der Tag, als die Oker kam. Hochwasser 1946 .................. 51<br />

Tag für Tag erfroren Menschen im Jahrhundertwinter .......... 55<br />

Überall Chaos, aber Erhabenheit und Stille im Dom ............ 59<br />

Mit der D-Mark begann das Wirtschaftswunder ................ 68<br />

Die alte Stadt ................................................... 75<br />

Der Löwe stand schon auf seinem Sockel,<br />

als es den Dom noch gar nicht gab ............................. 77<br />

Schloss Richmond: Die Liebe der Prinzessin von Wales ......... 80<br />

Theater am Steinweg:<br />

Spannung zwischen Traum und Wirklichkeit ................... 83<br />

St. Katharinen: Achthundert Jahre lang<br />

Bomben, Blitzen, Stürmen getrotzt ............................ 87<br />

<strong>Blick</strong> vom Turm: St. Andreas. Das alte Herz der Stadt ........... 90<br />

Reiz der Kontraste. Klassizismus und gläserner Turm . . . . . . . . . . . 93<br />

Rätselhaft und ein Verweilen wert: Das Imervard-Kreuz ......... 96<br />

Ein Grab, aus dem achthundert Jahre Geschichte heranwehen ... 99<br />

Klingeln und knutschen: Die Brücke über den »Liebesgrund« . . 101<br />

Eckhard Schimpf<br />

Mein Braunschweig<br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010


Ein <strong>Blick</strong> zurück ................................................ 105<br />

Huflattich unter der Rotunde. Erinnerungen ans Schloss ........ 107<br />

Eulenspiegel saß lächelnd im qualmenden Schutt ............... 120<br />

Erst die Bomber, dann die Bagger. Zweite Zerstörungswelle ..... 123<br />

Von der Rückkehr der Schokoladeneier. Ein Osterspaziergang .. 131<br />

Sonntags ein Bier für den »Rechenaugust« .................... 137<br />

Warum die weiße Villa am Wall eine Brücke war ................ 140<br />

Menschen in dieser Stadt ....................................... 145<br />

Ferdinand Piëch und die Bitte »um gute Nachrede« ........... 147<br />

Der Mann, der die »Braunschweiger Zeitung« erfand .......... 153<br />

Populär über zwei Kriege hinweg. Viktoria Luise ................ 163<br />

Braunschweiger Rot über Berlin und New York ................ 170<br />

Der Wirbelwind unter den Dom-Türmen ...................... 173<br />

Kämpfer für Braunschweigs Kunstschätze. Kurt Seeleke ......... 177<br />

Als Günter Gaus noch Horoskope schrieb ...................... 180<br />

Ricarda Huch war unsere bedeutendste Dichterin .............. 182<br />

Norbert Schultze und sein Welthit »Lili Marleen« ............. 184<br />

Bei den Rettichs am Wald, wo die Märchen wohnen ............ 187<br />

Gustav Knuth konnte so unnachahmlich braunschweigern ...... 190<br />

»Kiki« Zahn und der »Mitternachtsschrei« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192<br />

Quellennachweis ............................................... 195<br />

Abbildungsnachweis ............................................ 197<br />

Eckhard Schimpf<br />

Mein Braunschweig<br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010


Gedanken voraus<br />

»Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer<br />

als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit«,<br />

schreibt Egon Erwin Kisch, einer der großen Lehrmeister der<br />

Journalistenzunft. Die in diesem Band versammelten Arbeiten von<br />

Eckhard Schimpf sind für diese These der beste Beleg.<br />

Eckhard Schimpf ist ein Mann von beneidenswert klarer Wahrnehmung.<br />

Er hat einen unbestechlichen <strong>Blick</strong> für den Kern der Dinge –<br />

und bringt seine E<strong>ins</strong>ichten in einer Sprache zur Wirkung, die ohne<br />

Verstellung auskommt.<br />

Dass dieser Mann aus Braunschweig berichtet, ist kein Zufall. In seinen<br />

Arbeiten finden der Stil des Autoren und seine Sujets auf wunderbare<br />

Weise zusammen: Eckhard Schimpf versteht es wie kein zweiter,<br />

die herzliche Lakonie einzufangen, die die Menschen seiner Vaterstadt<br />

auszeichnet.<br />

Das Ergebnis ist ein Stück lebendiger Stadtgeschichte. Die Texte,<br />

die Schimpf für die Braunschweiger Zeitung geschrieben und für<br />

diesen Band gründlich durchgesehen hat, lassen den Leser spüren, was<br />

so besonders an dieser großen deutschen Stadt ist.<br />

Sie bezeugen den Lebenswillen der Braunschweiger, die der Bombenkrieg<br />

mit besonderer Brutalität traf, sie machen anrührende, dramatische,<br />

tragische und alltägliche Episoden im Leben dieser Stadt so<br />

plastisch, dass der Leser meinen könnte, sie selbst erlebt zu haben.<br />

Wer verstehen möchte, warum Braunschweig die liebenswerteste<br />

Großstadt unserer Republik ist, der möge dieses <strong>Buch</strong> lesen.<br />

Armin Maus<br />

Chefredakteur der Braunschweiger Zeitung<br />

Eckhard Schimpf<br />

Mein Braunschweig<br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010


Eckhard Schimpf<br />

Mein Braunschweig<br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010


Kindheit im Krieg<br />

Eckhard Schimpf<br />

Mein Braunschweig<br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010<br />

7


Eckhard Schimpf<br />

Mein Braunschweig<br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010


Die Feuernacht<br />

Als die Stadt ihr Gesicht verlor<br />

Noch heute marschieren zuweilen SA-Leute trommelnd durch meine<br />

Träume. Auch die Erinnerung an den lang verwehten Geruch von verbrannten<br />

Balken, von nassem Lehm und verkohlten Leichen wird öfter<br />

mal angefacht, wenn nur ein einziges Fünkchen des damaligen Kriegs-<br />

Aromas heranweht – beispielsweise Mörtelstaub beim Abbruch eines<br />

Hauses oder selbst bei einem Osterfeuer. Die Vergangenheit ist also<br />

nicht weg, sie ist allenfalls verschüttet.<br />

Ist nicht wirklich schon alles über die Braunschweiger Feuernacht<br />

vom 14. auf den 15. Oktober 1944 gesagt, geschrieben, bewertet worden?<br />

Mag sein. Aber Geschichte hängt nicht nur vom Erzähler ab, sondern<br />

auch vom Zeitpunkt, wann er erzählt. Ich habe diese Schreckensnacht<br />

als Kind im Bunker an der Schuhstraße erlebt. Eingeschlossen<br />

von einer Flammenhölle, deren Wucht mit Worten nur schwer, nur<br />

unzulänglich zu schildern ist.<br />

Kurz danach hat mich dieses Erlebnis überhaupt nicht mehr<br />

berührt. Wir Kinder hielten das Chaos des Krieges für das ganz normale<br />

Leben. Nur widerwillig und in kindlich-knappen Worten hatte ich<br />

dieses Erlebnis dann 1948 in einem Schulaufsatz niedergeschrieben, als<br />

unsere Lehrerin, Frau Kröger, uns das Thema »Ein Erlebnis im Krieg«<br />

aufgegeben hatte. Meine Schwester Renate, zehn Jahre älter als ich, hob<br />

übrigens mein damaliges Gekritzel auf und schickte es mir 1974 wieder<br />

zu.<br />

In meinen späteren Jahren – im Alter zwischen zwanzig und vierzig<br />

– rückte der Bombenkrieg sogar noch weiter weg. Doch nachdem<br />

ich 1984, genau vierzig Jahre nach dem Untergang des mittelalterlichen<br />

Braunschweigs, meine Erinnerungen an jene Epoche in einem<br />

Zeitungsartikel veröffentlicht hatte, wurde plötzlich alles anders.<br />

Das Leser-Echo war erstaunlich groß, und zwar aus zwei Lagern. Die<br />

einen, die das alles miterlebt hatten, sagten: Ja, genauso war es. Diese<br />

Menschen fanden sich sozusagen wieder. Sie fanden sich bestätigt,<br />

sahen ihr eigenes Schicksal Eckhard nochmals Schimpf schwarz auf weiß. Die anderen,<br />

Mein Braunschweig<br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010<br />

9


10 Kindheit im Krieg<br />

die ganz jungen Leute, waren ergriffen und wissbegierig zugleich: Es<br />

schien ihnen schier unvorstellbar, kaum glaublich.<br />

Die Aufmerksamkeit der Alten und der Jungen hatte Gründe. Es<br />

war über jene bisher unbedeutend erscheinenden Details der Kriegswirren,<br />

über diese Epoche deutscher Opfer und vor allem auch über<br />

die Basis von Geschichte kaum gesprochen worden. Da hat sich inzwischen<br />

viel geändert.<br />

Für die, die heute Vergleichbares erleben, beispielsweise bei einem<br />

Zugunglück, wird behutsame psychologische Betreuung angeboten.<br />

Das ist auch gut und richtig. Damals, in den Kriegs- und Nachkriegsjahren,<br />

gab es nichts dergleichen. Die berechtigten Fragen: Wie<br />

konnten die Menschen das alles ertragen? Haben die nicht irgendwie<br />

alle einen Knacks erlitten? Solche Fragen hätte ich, dem als Kind<br />

die Bomben und das Feuer, die Trümmer und die Leiden alltäglich<br />

waren, nie zu stellen gewagt. Vor allem deshalb nicht, weil meine Mutter<br />

öfter das berühmte, von Walter Kempowski später zum <strong>Buch</strong>titel<br />

geadelte Sprichwort gebrauchte: »Uns geht’s ja noch gold.« Ja, das<br />

stimmte auch. Uns ging es wirklich noch gut, wenn man bedachte,<br />

welche Schicksale Millionen Menschen als Soldaten, als KZ-Insassen,<br />

als Flüchtlinge erleiden mussten. Waren da die – noch dazu glücklich<br />

überstandenen – Bombennächte überhaupt der Rede wert?<br />

Wer jemals über Braunschweig oder die Geschichte dieser Stadt<br />

schreibt, wird an dem Fliegerangriff vom 14. auf den 15. Oktober 1944<br />

nicht vorbeikommen. Mehr noch, im Abstand von mehr als sechs<br />

Jahrzehnten festigt sich die Erkenntnis: Es war bei weitem das grauenvollste<br />

und vor allem e<strong>ins</strong>chneidendste Ereignis in der tausendjährigen<br />

Historie dieser Stadt. Ob Pest oder Revolutionen, Eroberungen oder<br />

Belagerungen: Nie zuvor wurde Braunschweig so zerschunden.<br />

Wie war es denn eigentlich in jener Nacht? Erinnerung besteht ja<br />

aus einzelnen, wenigen Bildern, die in uns leben. Oft sind es nur Facetten,<br />

Belanglosigkeiten – wie das im Schlafzimmer meiner Eltern am<br />

hölzernen Stiefelknecht hängende Futteral mit der Pistole meines<br />

Vaters. Manchmal sind es auch erschreckend klare, längere Ereignisse<br />

– wie beispielsweise ein Kelleraufenthalt, bei dem meine Mutter<br />

bei jeder heranorgelnden Bombenwelle verzweifelt hauchte: »Jetzt<br />

trifft es uns.« Eckhard Schimpf<br />

Mein Braunschweig<br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010


Die Feuernacht. Als die Stadt ihr Gesicht verlor 11<br />

Es gibt in meinem Kopf dutzende von Erlebnissen im Krieg. Sie<br />

müssen wohl für ein Kinderhirn derart prägend gewesen sein, dass sie<br />

ein ganzes Leben lang dort eingebrannt sind. Oder habe ich vielleicht<br />

ein besonders intensives Erinnerungsvermögen? Immerhin hatte einer<br />

meiner Klassenlehrer, Dr. Johann-Dietrich Bödeker, meiner Mutter<br />

mal tadelnd gesagt: »Ihr Sohn hat ein erstaunliches Gedächtnis für<br />

jede Art von nebensächlichen und überflüssigen Dingen.« Nur: Wer<br />

bestimmt, was eine Hauptsache, was eine Nebensache ist?<br />

Vielleicht höre ich deshalb noch die Stiefel jener SA-Männer knallen,<br />

die auf meinen Vater losrannten, als er einmal die Hakenkreuzfahne<br />

nicht gegrüßt hatte. Vor unserem Haus am Wilhelmitorwall 4, wo wir<br />

bis zum Sommer 1944 gewohnt hatten, marschierte eine Kolonne von<br />

SA-Männern mit Musik und Fahnen vom Madamenweg kommend in<br />

die Sonnenstraße. Mein Vater und ich standen etwa 80 Meter entfernt,<br />

als drei oder vier der Braun-Uniformierten mit dem Ruf heranstürmten:<br />

»Da grüßt einer die Fahne nicht.« Im Laufen lösten sie – dieses<br />

Bild bleibt – ihre ledernen Schulterriemen, um sie als Peitschen zu<br />

gebrauchen. Sie griffen meinen Vater, schüttelten ihn. Es gab eine Brüllerei,<br />

aber – zu meiner Erleichterung – sie prügelten nicht los. Dieses<br />

Gefühl totaler Hilflosigkeit schreckt mich noch heute.<br />

Die ständige Furcht vor einer erdrückenden Hakenkreuz-Obrigkeit<br />

ist auch noch bei einem anderen Erlebnis übermächtig geworden. Es<br />

war im Winter 1944, wahrscheinlich Januar oder Februar. An der Hand<br />

meiner Mutter ging ich die Schuhstraße entlang, wo eine Gruppe<br />

hohlwangiger junger Mädchen und Frauen – angeblich jüdische und<br />

polnische Zwangsarbeiterinnen – unter den Augen von uniformierten<br />

Bewachern Schnee schaufelten. Die schmalen Hungergestalten – eine<br />

in grauer Zopfmusterstrickjacke, andere in zu weiten Männerjacken –<br />

hatten Tücher um den Kopf geschlungen und manche trugen statt der<br />

Schuhe nur um die Füße gewickelte Lappen. Eine grauenhafte Szene,<br />

die jeden aufrütteln musste. Doch die meisten Menschen in dieser<br />

belebten Straße sahen wohl weg. Sie eilten schweigend vorüber.<br />

Meine Mutter schwenkte in den Laden von Bäcker Eckhardt, kaufte<br />

etwa 20 Brötchen und legte mir die pralle Tüte in den Arm. Als wir dann<br />

ganz dicht an den Gefangenen vorbeikamen, flüsterte sie: »Lass die<br />

Tüte fallen.« Ich tat es. Die Eckhard Mädchen Schimpf stürzten sich auf die Brötchen, die<br />

Mein Braunschweig<br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010


12 Kindheit im Krieg<br />

in Sekunden weg waren. Sofort waren wir von brüllenden Aufsehern<br />

umringt. Und meine Mutter, wohl verängstigt, beugte sich zu mir runter<br />

und fragte: »Ja, wieso hast du denn die Tüte fallen lassen?« Darauf<br />

ich: »Aber du hast es doch gesagt.« Die Geschichte endete glimpflich,<br />

obwohl wir auch ein Polizeiverhör erdulden mussten. Heute kaum zu<br />

glauben: Aber es gehörte zu einem solchen – natürlich verbotenen –<br />

Akt der Menschlichkeit damals ebenso viel Zivilcourage, wie etwa statt<br />

»Heil Hitler« schlicht »Guten Morgen« zu sagen.<br />

Im Juni und Juli 1944 war ganz unerwartet ein geradezu friedliches<br />

Leben in Braunschweig eingezogen. Plötzlich hatten die Fliegerangriffe,<br />

das tägliche Sirenengeheul und das hektische Fliehen in die Bunker<br />

und Keller aufgehört. Aber es sollte nur ein Atemholen vor dem<br />

nächsten Schlag sein; denn Amerikaner und Briten waren durch die<br />

Invasion in der Normandie lediglich vorübergehend auf jenen Kriegsabschnitt<br />

in Frankreich konzentriert.<br />

Es war Sommer. Im Capitol lief der Film »Die Feuerzangenbowle«<br />

mit Heinz Rühmann. Bei Waldmann auf dem Altstadtmarkt gab es Erdbeereis,<br />

und im Park von Salve Hospes ließ Kreisleiter Berthold Heilig<br />

Shakespeares »Sommernachtstraum« spielen. Ich erinnere mich an<br />

meinen Geburtstag am 1. Juli 1944, zu dem mir der Parfümeriebesitzer<br />

Krapp aus Holz ein silberfarbenes JU 52-Flugzeug gebastelt hatte.<br />

Und ich sehe mich noch am Südende des Löwenwalls von dem damals<br />

noch nicht abgetragenen Windmühlenberg auf das dicht aneinander<br />

gekuschelte Dächergewirr der Stadt hinabschauen – zwei Monate später<br />

war da nur noch Schutt.<br />

Es war in jenen Wochen 1944 sogar wieder möglich, relativ entspannt<br />

durch die krummen, engen Kopfsteinpflaster-Gassen zu schlendern.<br />

Dort, wo die Dächer über den Straßen fast aneinander stießen,<br />

scharrten noch Pferde in den Hinterhöfen, und aus den Kellern und<br />

offen stehenden Türen der Jahrhunderte alten Fachwerkhäuser wehte<br />

ein kühles Duftgemisch von Holz und Schimmel, von Bratenfett und<br />

Bohnerwachs.<br />

Plötzlich änderte sich das trügerische Idyll. Es war der 5. August<br />

1944, ein warmer Sommertag, an dem nach einem amerikanischen<br />

Fliegerangriff unser gerade vier Wochen zuvor bezogenes Haus in der<br />

Ferdinandstraße 4 ausbrannte. Eckhard Ich Schimpf stand auf der gegenüberliegenden<br />

Mein Braunschweig<br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010


Die Feuernacht. Als die Stadt ihr Gesicht verlor 13<br />

Straßenseite, während aus den rußgeschwärzten Fensterhöhlen die<br />

Flammen leckten. Um uns herum nur Qualm, Trümmer, Tränen. Ein<br />

Gewirr von Möbelstücken, in einem Baum die Jacke von Dr. Bertram,<br />

den ich am Morgen noch gesehen hatte. Nun war er spurlos verschwunden,<br />

zerfetzt von einer Bombe. Meine Mutter saß weinend auf dem<br />

Bürgersteig, und der in blankgewichsten Stiefeln vorbeiflanierende<br />

Nazi Rudolf Müller von der Ferdinandstraße Nummer 8 brüllte sie an:<br />

»Gaffen Sie nicht. Helfen Sie lieber.«<br />

Nach ein paar Stunden sinnlosen, lähmenden Verharrens gingen wir<br />

zur Schuhstraße in die Hofapotheke. Eine Freundin meiner Mutter, die<br />

Apothekerin Elisabeth Lambrecht, gewährte uns dort Unterschlupf.<br />

Zu schleppen brauchten wir nichts. Wir hatten nur noch das, was wir<br />

auf dem Körper trugen. Unser Hund Jockel begleitete uns. Er hatte im<br />

Keller des Hauses überlebt – vergraben unter einem Berg von Kohlen.<br />

In der Schuhstraße 4 lebten wir dann vom August 1944 bis zum<br />

Einmarsch der Amerikaner am 11. April 1945 relativ geschützt, weil der<br />

Bunker Am Sack direkt gegenüber lag. Das war ein Privileg. Ein paar<br />

Schritte nur – und wir waren hinter den mehr als zwei Meter dicken<br />

Bunkermauern in Sicherheit. Mehr als hundert Mal hab‘ ich dort<br />

gesessen. Der Bunker war uns vertrauter als die Wohnung. In diesem<br />

Betonkoloss, der später – mit Fenstern bestückt – aussah wie ein ganz<br />

normales Haus, erlebte ich auch die Feuernacht, als Braunschweigs<br />

historische Innenstadt zu neunzig Prozent in Schutt und Asche sank.<br />

Eine dieser recht merkwürdigen Kriegsregeln war, dass tagsüber<br />

stets nur die amerikanischen Bomberverbände angriffen und nachts<br />

die Engländer. Braunschweig erlitt zwischen dem 17. August 1940 und<br />

dem 10. April 1945 <strong>ins</strong>gesamt achtundvierzig Luftangriffe mit Bombenabwürfen,<br />

und fast neunhundert Mal gab es Fliegeralarm. Alle Angriffe<br />

habe ich miterlebt. Mal in Kellern kauernd, mal in unserem Schutzraum<br />

im Garten, mal im Großbunker Knochenhauerstraße, mal im<br />

Bunker Am Sack oder im Tiefbunker am Petritor und einmal – weil<br />

meine Mutter und ich keinen anderen Unterschlupf fanden – sogar in<br />

der Katharinen-Kirche. Während rundherum die Bomben prasselten,<br />

spielte die Organistin Hilde Pfeiffer-Dürkop unerschrocken weiter die<br />

Orgel und die Frauen, die gerade eine Chorprobe hatten, sangen mit<br />

Inbrunst »Lobe den Herrn«. Eckhard Schimpf<br />

Mein Braunschweig<br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010


14 Kindheit im Krieg<br />

Fast alle Jungen und Mädchen hatten in jenen Monaten längst die<br />

Stadt verlassen, waren mit der Kinderlandverschickung in ländliche<br />

Regionen gebracht worden. Doch meine Mutter wollte das nicht.<br />

So blieb ich in Braunschweig. Ich spielte mit Elastolin-Soldaten und<br />

brüllte laut Exerzierkommandos, lernte Kriegslieder (»Wir fahren<br />

gegen Engelland«) und konnte auch ziemlich genau heraushören,<br />

welche Bomben gerade auf uns herab fielen. Die Brandbomben, sechseckig<br />

und etwa sechzig Zentimeter lang, entwickelten ein Geräusch<br />

wie flatterndes Blech. Das kam daher, dass sie bündelweise und aneinander<br />

gekettet abgeworfen wurden. Sprengbomben dagegen pfiffen,<br />

erst heller, dann dunkler, und explodierten mit einer kleinen Verzögerung.<br />

Nach einem weiteren Moment folgte dann ein Scheppern, als ob<br />

ein kompletter Geschirrschrank umkippt: Das getroffene Haus oder<br />

Teile davon brachen zusammen. Die ganz schweren Sprengbomben,<br />

die Zehn-Zentner-Kaliber, orgelten wie ein vorbeifahrendes Auto mit<br />

Zweitaktmotor. Dieses Geräusch wurde angeblich durch die mächtigen<br />

Stabilisierungsflügel der Bombe ausgelöst.<br />

Von August 1944 an mussten wir fast jeden Tag und jede Nacht in<br />

den Bunker rennen, obwohl nicht immer Bomben fielen. Aber das<br />

wusste auch der so genannte Luftlagedienst nicht, wenn er per Drahtfunk<br />

aus dem Volksempfänger meldete: »Feindliche Bomberverbände<br />

im Raum Osnabrück im Anflug auf Hannover und Braunschweig.«<br />

Oft brummten die Flugzeugrudel über uns hinweg – nach Berlin, Halle<br />

oder Leipzig. Tagsüber sah man die Maschinen häufig ganz deutlich –<br />

lange, helle Kondensstreifen ziehend – am blauen Himmel, umgeben<br />

von den weißen Rauchbällchen des Flakfeuers. Ab und zu stießen<br />

deutsche Jagdflugzeuge wie Habichte in diese schwerfälligen Bomberverbände<br />

hinein. Ich weiß noch, wie wir Kinder einmal, auf der Schuhstraße<br />

stehend, beobachten konnten, wie ein Bomber getroffen wurde.<br />

Erst quoll dunkler Qualm aus der Maschine, dann war da auf einmal<br />

ein Feuerball und tief darunter einige dunkle Pünktchen, aus denen<br />

plötzlich weiße Fallschirme wuchsen – die sich rettenden Piloten.<br />

In der Nacht vom 14. auf den 15. Oktober war es eigentlich wie immer.<br />

Die Sirenen heulten zunächst wieder gegen 23 Uhr, und der Drahtfunk<br />

warnte vor »feindlichen Fliegerverbänden«. Doch um 24 Uhr durften<br />

wir wieder nach Haus. Nichts Eckhard war Schimpf geschehen. Dann erneuter Alarm<br />

Mein Braunschweig<br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010


Die Feuernacht. Als die Stadt ihr Gesicht verlor 15<br />

um 1 Uhr 50. Hastende Schritte in den völlig f<strong>ins</strong>teren Straßen, Rufe<br />

und Befehlstöne vor dem schlecht abgedunkelten Handschuhgeschäft<br />

Röver in der Schuhstraße: »Röver Licht aus!« An das blitzschnelle<br />

Aufstehen war man längst gewöhnt, zumal die meisten stets halb angezogen<br />

schliefen und Taschen mit dem Nötigsten – Papiere, Geld, etwas<br />

Wäsche – an der Wohnungstür immer parat standen.<br />

Im Gedränge vor dem Eingang des Bunkers wurde ich mit dem<br />

Kopf an die Eisentür gebufft, und – auch daran erinnere ich mich – die<br />

Menschen lachten plötzlich über einen Soldaten, der, wohl auf Urlaub,<br />

zwar einen Helm auf dem Kopf hatte, aber in der Hast seine Uniformjacke<br />

nicht mehr hatte anziehen können und nur in einem grauen<br />

Unterhemd in der Menge stand.<br />

In diesen Betonburgen der Innenstadt – es gab <strong>ins</strong>gesamt vierundzwanzig<br />

Großbunker in ganz Braunschweig – war man relativ sicher.<br />

Die meterdicken Decken und Mauern hielten selbst Treffer schwerer<br />

Sprengbomben aus. In solchen Fällen schwankten die Wände ein<br />

wenig, Sand rieselte von der Decke, das Licht flackerte, aber sonst<br />

passierte nichts. Meistens saßen stets die selben Leute im selben<br />

Raum auf den selben doppelstöckigen Pritschen. »Bunkerbekanntschaften«<br />

nannten wir das – man traf sich ja täglich. Hier im Bunker<br />

Am Sack saßen alle, die in der Umgebung der Schuhstraße wohnten:<br />

Jauns, Bochmann, Pfankuch und Krieg, Wehr, Hoppe, Manschott und<br />

Ziemann, Blanke, Hoffmann, Reisky, Mank – und wie sie alle hießen.<br />

Die Menschen unterhielten sich leise, versuchten zu schlafen, spielten<br />

Karten oder »Mensch ärgere dich nicht«. Wir Kinder malten mit Bleistift<br />

Kriegsszenen: Panzer, Schiffe, Flugzeuge und brennende Häuser.<br />

Nach einer oder zwei Stunden öffneten sich normalerweise die Bunkertüren<br />

wieder. Manchmal war nichts geschehen, manchmal kündeten<br />

Qualm und Trümmer von erneutem Leid.<br />

Aber in dieser Oktobernacht war plötzlich alles anders. Die Sirenentöne,<br />

die ›Entwarnung‹ signalisierten, blieben aus, obwohl die<br />

Bunkerwarte Weiß und Berkemeyer behaupteten, die Flugzeuge seien<br />

längst wieder weg. Es vergingen Stunden, und die eisernen Bunkertüren<br />

blieben immer noch verrammelt. Die Gespräche verstummten<br />

allmählich. Es wurde heiß und stickig in den überfüllten Räumen.<br />

Menschen sanken in Ohnmacht. Eckhard Ein Schimpf Kind rief: »Mutti, ich ersticke.«<br />

Mein Braunschweig<br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010


16 Kindheit im Krieg<br />

Gerüchte kamen auf. »Vielleicht haben die Tommys Giftgas geworfen?«,<br />

fürchtete der Apotheker Rolf Wehr, der als Bunkeraufsicht tätig<br />

war.<br />

Dann drängten sich zwischen 6 und 7 Uhr morgens verrußte und<br />

verdreckte Luftschutzmänner und auch SS-Leute in den Bunker. Wir<br />

seien, so hieß es, rundherum vom Feuer eingeschlossen, aber die Rettungsmannschaften<br />

hätten eine Wassergasse aus der brennenden Stadt<br />

heraus bis zum Bürgerpark gebildet.<br />

Was dann folgte, schien die Apokalypse zu sein. An diesem 15. Oktober<br />

morgens um 7 Uhr war für mich die Kindheit zu Ende, als meine<br />

Mutter sagte: »Wir müssen jetzt tapfer durchs Feuer. Und du bleibst<br />

fest an meiner Hand.« Zunächst wurden grobe Scheuerlappen verteilt,<br />

dann an den Bunkereingängen in die dort stehenden Wasserfässer<br />

getaucht und über die Köpfe gezogen. Die ersten Schritte aus dem<br />

eisernen Bunkertor waren wie der Gang in die Hölle. Eine Glutwelle<br />

fegte in unsere Gesichter, als schauten wir in den Schlund eines Hochofens.<br />

Rundherum Feuer, beißender Qualm und ein Sturmgetöse, das<br />

jedes Wort erstickte. Links, wohl fünfhundert Meter entfernt, loderte<br />

der Andreas-Kirchturm wie eine Fackel. Auch die Kaufhäuser Langerfeldt<br />

und Schuchhard brannten. Diszipliniert und gebückt – ich<br />

zwischen meiner Mutter und meiner Schwester Renate – begann die<br />

Flucht unter dem rieselnden Wasser der Feuerwehrleute, die bogenförmig<br />

über den etwa tausend Menschen von einer Straßenseite zur<br />

anderen einen Wasserschleier sprühten.<br />

Ein paar Male, ich denke drei Mal, schob ich die feuchte Kopfmaske<br />

zur Seite und sah mich um. Feuerwände überall. Und dann jene Bilder,<br />

die man nie vergisst. Auf dem Dach eines dicht hinter dem Bunker<br />

schon zur Neuen Straße gehörenden Hauses, dessen untere Stockwerke<br />

lichterloh brannten, wankte eine Gestalt und schwenkte Hilfe<br />

suchend und wohl auch rufend die Arme. Der Schein der Flammen<br />

ließ diesen Menschen, vielleicht hundert Meter von uns entfernt, ganz<br />

deutlich sichtbar werden. Niemand kümmerte sich darum.<br />

Dann ein <strong>Blick</strong> in die Stephanstraße am Karstadt-Kaufhaus. Eine<br />

Frau mit zwei Kindern blieb im flüssigen Asphalt kleben. Sie schrien,<br />

ließen die Schuhe zurück. Taumelten weiter, blieben wieder stecken,<br />

fielen hin. Da war keiner, Eckhard der half. Schimpf Jeder hatte mit sich selbst zu tun.<br />

Mein Braunschweig<br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010


Die Feuernacht. Als die Stadt ihr Gesicht verlor 17<br />

Häuser brachen krachend und funkenstiebend zusammen. Gespenstisch<br />

die Fensterhöhlen, hinter denen die Flammen tobten. An einer<br />

Stelle der Schuhstraße schlugen sie zwischen den Kaufhäusern Witting<br />

und Stöber sogar von einer Straßenseite zur anderen. Und wir mussten<br />

unter dieser sengend heißen Feuerbrücke hindurch hasten. »Hilfe, ich<br />

brenne«, schrie eine Frau.<br />

Mit schier unglaublicher Wucht raste über allem ein Funkenorkan,<br />

dicht wie ein Schneetreiben. Immer wieder gerieten Haare, Mäntel<br />

oder Jacken der Flüchtenden und natürlich auch weitere Häuser in<br />

Brand. Der Orkan war durch eine Art Zug entstanden, weil die heißen<br />

Luftmassen des Flächenbrandes aufwärts strömten und kältere Luft<br />

zur Erde sackte. Der Sturm war so stark, dass nicht nur Funken, sondern<br />

auch glühende Holzstücke und sogar Tische und Stühle durch die<br />

Luft gewirbelt wurden.<br />

Noch einmal schob ich meine Kopfbedeckung auf dem Kohlmarkt<br />

zur Seite. Der Anblick ist in meinem Kopf gespeichert: Die brennenden<br />

Turmhelme der Martinikirche sahen aus wie riesige glühende<br />

Bälle. Endlich war der Bürgerpark erreicht. Tausende lagerten hier. Die<br />

Teiche waren von der Feuerwehr schon fast leergesogen. Rote-Kreuz-<br />

Wagen brausten hin und her, Militärfahrzeuge brachten Suppe und<br />

Getränke.<br />

Es wurde nicht hell an diesem Tag und auch nicht an den nächsten<br />

Tagen. Ein gewaltiger Rauchpilz verdunkelte den Himmel. Auf<br />

allen Straßen ein Gewirr von Feuerwehrschläuchen und von Helfern<br />

und Kriegsgefangenen, die die Trümmer wegräumten. Vertraute Bilder<br />

waren einfach weg, ganze Straßenzüge verschwunden. Von der<br />

Humboldtstraße konnte man plötzlich bis zum Petritor sehen. Da war<br />

nichts mehr außer rauchendem Schutt. Nur die ausgebrannten Kirchtürme<br />

ragten aus dieser Trostlosigkeit heraus.<br />

Auf den Bürgersteigen lagen verkohlte Leichen aufgereiht. Wir<br />

Kinder schlichen um die merkwürdig zusammengeschrumpften Körper<br />

herum, die überall aus den Kellern gezogen wurden. Andere Tote,<br />

die im Qualm erstickt waren wie zum Beispiel fünfundneunzig Insassen<br />

eines Kellers in der Schöppenstedter Straße Nummer 31, sahen<br />

völlig unversehrt aus. Eine Frau hatte noch ein kariertes Kopftuch um<br />

und einen dunklen Mantel Eckhard an, der Schimpf sorgfältig zugeknöpft war. Neben<br />

Mein Braunschweig<br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010


18 Kindheit im Krieg<br />

ihr lag ein kleines Mädchen, mit grauen Kniestrümpfen und braunen<br />

Stiefeln.<br />

Ich grübele so manches Mal darüber nach, wieso meine Mutter uns<br />

Kinder am Nachmittag dieses grauenhaften Tages – es war ein Sonntag<br />

– überhaupt allein auf der Straße hat herumlaufen lassen. Gut, sie<br />

räumte in unserer Not-Behausung in der Hofapotheke den zentimeterdicken<br />

Ruß und die Berge von zerborstenem Glas weg. Aber dennoch,<br />

merkwürdig, diese Sorglosigkeit. War vielleicht meine große Schwester<br />

bei mir? Ich erinnere mich nicht genau. Ich weiß aber noch, dass ich<br />

mit einem Jungen zusammen im Erdgeschoss des ausgebrannten, noch<br />

ganz heißen Karstadt-Hauses eine ganze Kiste voller Glühbirnen fand.<br />

Wir warfen alle nacheinander an die Wand, wo sie zu unserer Freude<br />

mit einem dumpfen Knall zerplatzten. Kindervergnügen an einem solchen<br />

Schreckenstag.<br />

Erst später sickerte durch, in welcher Gefahr wir uns in dieser Nacht<br />

befunden hatten. Der gewaltige Feuersturm über der Stadt hatte nicht<br />

nur die Bunker eingekesselt, sondern auch noch den Sauerstoff weggesogen.<br />

Es hätte nicht viel gefehlt, und die 23.000 von den Flammen<br />

eingeschlossenen Menschen in den Bunkern der Innenstadt wären<br />

erstickt. Weil es relativ viele sichere Bunker und Erdstollen (wie im<br />

Nußberg) gab, war die Zahl der Toten bei diesem Angriff relativ gering.<br />

Nach Angaben der Nazi-Behörden waren es sechshundert, heute gehen<br />

Historiker jedoch von tausend Toten aus.<br />

Viele Jahre lang herrschte die Überzeugung, dass in jener Oktobernacht<br />

tausend englische Flugzeuge auf Befehl von »Bomber-Harris«<br />

die Stadt Braunschweig angegriffen hätten. Eckart Grotes Recherchen<br />

in britischen Militärarchiven Anfang der 1990er Jahre ergaben aber,<br />

dass es ›nur‹ 233 Viermotorige gewesen waren. Ihre Bombenlast in<br />

dieser Nacht: 12.000 Sprengbomben und Luftminen sowie 200.000<br />

Brandbomben. So gesehen war es eine Nacht wie viele andere im<br />

Deutschland jener Zeit.<br />

Eckhard Schimpf<br />

Mein Braunschweig<br />

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