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Hodentorsion rechtzeitig erkennen - Ärztekammer Nordrhein

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WISSENSCHAFTUND FORTBILDUNG<strong>Hodentorsion</strong><strong>rechtzeitig</strong> <strong>erkennen</strong>Differenzialdiagnostische Versäumnisse – Folge 37 der Reihe „Aus der Arbeit derGutachterkommission für ärztliche Behandlungsfehler bei der Ärztekammer <strong>Nordrhein</strong>“von Herbert Weltrich und Wilfried Fitting*Die Gutachterkommissionhat sich häufig mit Sachverhaltenbeschäftigen müssen,bei denen es um die <strong>rechtzeitig</strong>eErkennung einer <strong>Hodentorsion</strong> ging(siehe auch die Folge 5, veröffentlichtim Rheinischen Ärzteblatt, Januar2001, Seite 10, im Internet verfügbarunter www.aekno.de, Rubrik ÄrzteblattArchiv).Ein besonders gelagerterFall gibt Anlass, über diese Problematikerneut zu berichten.Die Torsion wird durch einekrampfartige Kontraktion der Muskelndes Samenstranges ausgelöstmit der Folge einer Durchblutungsstörungvon Hoden und Nebenhoden.Das Leitsymptom der <strong>Hodentorsion</strong>ist der plötzlich einsetzende,sich langsam steigernde Schmerz imHoden oder Nebenhoden, der allerdingsin manchen Fällen zunächstim Bauchraum, in der Leisten- oderNierenregion verspürt wird und erstspäter den Hoden erreicht.Deshalb ist es notwendig, bei einerAbklärung von Bauchschmerzen,insbesondere bei Jugendlichen,eine akute Erkrankung des Hodensdifferenzialdiagnostisch in die Überlegungendes untersuchenden Arzteseinzubeziehen. Der Verdacht auf eineTorsion ergibt sich aus den symptomatischenSchmerzen und demBefund eines druckschmerzhaften,oft zunächst nicht vergrößerten Hodensoder Nebenhodens. Begleitetwird der Schmerz in etwa 10 Prozentder Fälle von peritonealen Reizerscheinungen(Übelkeit, Erbrechen,Abwehrspannung). Vor und währendder Pubertät sind Verdrehungendes Samenstranges die häufigste,bis zum 30. Lebensjahr nach einerNebenhodenentzündung die zweithäufigsteUrsache eines akuten Hodenschmerzes.Da die Beschwerden, die auf eineakute <strong>Hodentorsion</strong> hindeuten,häufig am frühen Morgen auftreten,gehört die <strong>rechtzeitig</strong>e zutreffendeBeurteilung dieser Symptomatik zuden Aufgaben,die vor allem auch imNotfalldienst von Ärzten aller Fachrichtungenwahrzunehmen sind.Die Gutachterkommission hatbei ihren Beurteilungen in zahlreichenFällen vermeidbare Diagnosemängelfestgestellt, die in derRegel zum Verlust des betroffenenHodens führten. Die Behandlungsfehlerbetrafen in erste LinieChirurgen, Urologen, Allgemeinmediziner,Internisten und Pädiater.Im nachfolgend geschildertenFall verursachten schwerwiegendediagnostische Versäumnisse bei einemJugendlichen den Verlust desrechten Hodens.Der SachverhaltAm frühen Morgen des 30. Januarklagte der 13-jährige Patient überstarke Unterbauchschmerzen mitFieber, Erbrechen und Schweißausbruch.In der Ambulanz der beschuldigtenChirurgischen Klinik wurdeer gegen 8.15 Uhr untersucht. Esfanden sich im Wesentlichen folgendeBefunde: Patient blass,Abdomenweich, Druckschmerz im rechtenUnterbauch, keine Abwehrspannung,Nierenlager frei, Peristaltikspärlich. Bei einer Abdomen-Übersichtsaufnahmein linker Seitenlagezeigte sich eine mäßige Verstopfungohne Hinweis auf freie intraperitonealeLuft oder Ileuszeichen. DieKörpertemperatur betrug rektal36,6° C. Die Blutwerte waren imNormbereich. Der untersuchendeArzt stellte die vorläufige Diagnose:„Appendizitis, DifferentialdiagnoseGastroenteritis“.Stationäre BehandlungDer Patient wurde gegen 9 Uhrauf die Station übernommen; er erhieltInfusionen mit Paspertin undein Klysma zum Abführen. Danacherfolgte eine Untersuchung durchden Oberarzt, der sich vorerst gegeneine Operation entschied.Gegen 12.30 Uhr waren nachDarmentleerung die Beschwerdennoch vorhanden; etwa eine Stundespäter nahmen sie zu. Darauf wurdedie Indikation zur Operation gestellt(„Entfernung des Blinddarmsbei Blinddarmentzündung“).Der Operationsbericht führt an,dass nach dem Eröffnen des Peritoneumseine etwa 6 cm lange gefäßinjizierteAppendix in typischerWeise abgetragen worden sei. Nachdem mikroskopischen Befund desPathologen vom 1. Februar handeltees sich um Appendixgewebe miteiner Fibrose und einer leichtgradigenchronischen Entzündung.* Herbert Weltrich ist Präsident des Oberlandesgerichts Köln a. D. und war von 1984 bis 1999 Vorsitzender der Gutachterkommission für ärztlicheBehandlungsfehler bei der Ärztekammer <strong>Nordrhein</strong>. Professor Dr. med. Wilfried Fitting war von 1987 bis 1996 Geschäftsführendes Kommissionsmitgliedder Gutachterkommission.Rheinisches Ärzteblatt 7/2006 23


Am 31. Januar wies der Patientgegen 19 Uhr auf seinen geschwollenenHoden hin. Es wurde ein Hodenkissenverordnet. Außerdem erhieltder Junge Eis zum Kühlen fürden Hoden.Am nächsten Tag gegen6.30 Uhr klagte der Patient überstarke Schmerzen; er erhielt eine„Bedarfsmedikation“. Gegen 9 Uhrwaren die Schmerzen rückläufig.Gegen 10 Uhr meldete sich die Muttermit der Angabe, der Patient habeeinen stark geschwollenen, gerötetenHoden, der extrem druckschmerzhaftsei. Die Mutter gabweiter an, die Schwellung besteheschon seit dem gestrigen Tage; derSohn habe aus Scham nichts darübergesagt. Nach dem Pflegeberichthatte sich der Zustand so verschlechtert,dass der Junge kaumnoch laufen konnte. Es wurde eineKonsiliaruntersuchung durch einenniedergelassenen Urologen veranlasst,der einen stark geschwollenenund blau unterlaufenen rechten Hodensackfeststellte. Die Schwellungdes Hodens war schmerzhaft.Stationäre urologische BehandlungWegen des Verdachts auf eine<strong>Hodentorsion</strong> rechts wurde der Patientnoch am Vormittag des 1. Februarnotfallmäßig in der Urologieeines anderen Krankenhauses aufgenommen.Dort erfolgte nach sonographischemNachweis einer fehlendenDurchblutung des rechtenHodens zwischen 13.10 und 15.15Uhr die Operation. Bei der skrotalenFreilegung zeigte sich der rechteHoden „tiefbläulichschwarz“ verfärbtim Sinne einer ischämischenDurchblutungsstörung. Der Samenstrangwar mäßig verdickt ohnejetzt bestehende Torsion.Im Anschnitt war das Hodengewebevöllig infarziert, so dass dieEntfernung der Hodengebilde indiziertwar. Nach dem pathoanatomischenBefund des Pathologen zeigtesich ein rechtsseitiges Orchiektomiepräparatmit diffuser fortgeschrittenerhämorrhagischer Infarzierungdes Hodens und Nebenhodenssowie frischeren venösen Gefäßthrombosenentsprechend demZustand nach einer Torsion.Der Heilungsverlauf war komplikationslos.Am26. März wurde inWISSENSCHAFTUND FORTBILDUNGderselben Urologie zur Vorbeugungeiner Verdrehung des linken Hodenseine transskrotale Orchidopexieohne nachfolgende Komplikationendurchgeführt.Beurteilung des SachverhaltsNach Auffassung der Gutachterkommissionbestand als einzigesHinweiszeichen auf eine akute Appendizitisein rechtsseitiger Unterbauchschmerz.Andere typischeSymptome wie eine Abwehrspannung,ein Loslassschmerz, eine Temperaturerhöhung,eine Leukozytoseund/oder ein Anstieg des C-reaktivenProteins fehlten. In diesem Fallewäre vor der Entscheidung zurOperation des Wurmfortsatzes eineeingehende Untersuchung der benachbartenOrgansysteme dringendgeboten gewesen.Hierzu hätte bei einem 13-jährigenJungen auch die Inspektion seinerGenitalorgane gehört. Bei derzu fordernden gründlichen Untersuchungwäre die Schwellung bzw.Schmerzreaktion der Hodengebildeals Hinweis auf deren Erkrankungaufgefallen.Nach dem intraoperativen undmikroskopischen Befund des entferntenGewebes bestand die verdrehungsbedingteDurchblutungsstörunglänger als nur wenige Stundenund wahrscheinlich seit Beginn derakuten Erkrankung. Nach der Überzeugungder Gutachterkommissionwäre daher bei einer sorgfältigerenUntersuchung die Erkrankung desHodens zu <strong>erkennen</strong> gewesen.Dieses Versäumnis hat sich beider Operation wiederholt. Nachdemsich die Diagnose einer akuten Appendizitisnicht bestätigt hatte, wärees dringend notwendig gewesen,durch eine Untersuchung der benachbartenOrgane nach der tatsächlichenSchmerzursache zu suchen.Auch diese differenzialdiagnostischzwingend erforderliche Maßnahmeist sorgfaltswidrig unterblieben.Die nachfolgende Behandlung inder beschuldigten Klinik war ebenfallsfehlerhaft. Spätestens um 19Uhr des ersten postoperativen Tageswar die schmerzhafte Hodenschwellungbekannt. Eine angemesseneDiagnostik fand weder zu diesemZeitpunkt noch am frühenMorgen (6.30 Uhr) des nächsten Tagesstatt. Es wurde lediglich eine„Bedarfsmedikation“ gegeben.Über 14 Stunden nach der erstenDokumentation der schmerzhaftenSchwellung wurde schließlich aufDrängen der Mutter eine urologischeUntersuchung veranlasst. Entgegendem Gebot der Dringlichkeiterfolgte zunächst die Überweisungin eine urologische Fachpraxis. Beieiner sofortigen Verlegung in dienächstgelegene urologische Klinikhätte die Operation etwa zwei Stundenfrüher stattfinden können. Innoch kürzerer Zeit hätten die behandelndenChirurgen bei den erstenSymptomen des akuten Hodenschmerzesauch selbst eine operativeFreilegung vornehmen können.Dies sei, wie die Gutachterkommissionzum Ausdruck bringt, in einemKrankenhaus ohne eigeneUrologie durchaus angebracht undnotwendig, um irreversible Organschädenzu vermeiden. Stattdessenkam es zu einer Kette von vorwerfbarenVersäumnissen und Fehlentscheidungen,die zum Verlust desrechten Hodens geführt haben.Die Gutachterkommission hatinsgesamt die festgestellten Sorgfaltsmängelals schwerwiegend(grob) fehlerhaft bewertet, da siegegen gesicherte medizinische Erkenntnisseund Erfahrungen verstießenund aus objektiver ärztlicherSicht nicht mehr verständlichseien. Bei einem groben Behandlungsfehler,der geeignet ist, deneingetretenen Gesundheitsschadenherbeizuführen, obliegt nach derRechtsprechung dem Arzt der Beweisder fehlenden Kausalität. Dasbedeutet, dass in einem solchen Fallnicht der Patient die Ursächlichkeitnachzuweisen hat. Es ist dann Sachedes Arztes, den Nachweis zu führen,dass der Schaden – hier der Verlustdes Hodens – nicht eine Folge derärztlichen Versäumnisse war, wasbei dem geschilderten Fall kaum gelingendürfte.24 Rheinisches Ärzteblatt 7/2006

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