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1. Generelle Bewertung der direkten Demokratie in Rheinland-Pfalz ...

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Institut für Sozialwissenschaften - Politikwissenschaft I -Breitscheidstr. 2, 70174 StuttgartUniversität StuttgartInstitut für SozialwissenschaftenProf. Dr. Oscar GabrielBreitscheidstr. 2D-70174 StuttgartTel.: 0711/685-83430e-mail: oscar.gabriel@sowi.unistuttgart.deStuttgart, 29.1<strong>1.</strong>2013<strong>1.</strong> <strong>Generelle</strong> <strong>Bewertung</strong> <strong>der</strong> <strong>direkten</strong> <strong>Demokratie</strong> <strong>in</strong> Rhe<strong>in</strong>land-<strong>Pfalz</strong>E<strong>in</strong>e <strong>Bewertung</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong> Rhe<strong>in</strong>land <strong>Pfalz</strong> bestehenden Möglichkeiten zur Teilnahmedirektdemokratischen Verfahren lässt sich unter drei Gesichtspunkten vornehmen: Erstens durche<strong>in</strong>en Rückgriff auf normative Standards, zweitens durch e<strong>in</strong>en Bezug auf die Erwartungen und<strong>Bewertung</strong>en <strong>der</strong> Bevölkerung und drittens durch e<strong>in</strong>e Bilanzierung vorliegen<strong>der</strong> Erfahrungen.In Deutschland wird die Diskussion über direkte <strong>Demokratie</strong> nahezu ausschließlich normativgeführt, wobei die Argumente <strong>der</strong> Befürworter und <strong>der</strong> Kritiker seit langem bekannt s<strong>in</strong>d undwenig Neues enthalten. Zwar besteht weitgehende Übere<strong>in</strong>stimmung im Ziel, e<strong>in</strong>e hohe Qualität<strong>der</strong> <strong>Demokratie</strong> zu sichern, doch ist es kontrovers, ob es zu diesem Zweck weitgehen<strong>der</strong>Reformen bedarf, ob <strong>der</strong> Ausbau direktdemokratischer Verfahren e<strong>in</strong>en geeigneten Weg zurVerbesserung <strong>der</strong> Qualität <strong>der</strong> <strong>Demokratie</strong> darstellt o<strong>der</strong> unerwünschte Nebeneffekte hat undwelche spezifischen Regelungen im H<strong>in</strong>blick auf die Gestaltung <strong>der</strong> Verfahren geeignet s<strong>in</strong>d.Auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite stehen Positionen, die die existierende Form <strong>der</strong> repräsentativen <strong>Demokratie</strong>als angemessen und erhaltenswert e<strong>in</strong>schätzen. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite wird das Ziel verfolgt, denE<strong>in</strong>wohnern und Bürgern möglichst weit reichende direkte Möglichkeiten zur E<strong>in</strong>flussnahmeauf politische Entscheidungen zu geben und <strong>in</strong>soweit das Repräsentationspr<strong>in</strong>zip zu ergänzeno<strong>der</strong> zu durchbrechen. Diese zweite Position ist mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung nach mehr o<strong>der</strong> weniger weitreichenden <strong>in</strong>stitutionellen Verän<strong>der</strong>ungen verbunden. Diese schließen die folgenden Aspektee<strong>in</strong>: die Ausgestaltung direktdemokratischer Verfahren als Rechte <strong>der</strong> Bürger und <strong>der</strong>E<strong>in</strong>wohner, e<strong>in</strong>en weit Anwendungsbereich direktdemokratischer Verfahren, von <strong>der</strong>Mitwirkung an Verfassungsän<strong>der</strong>ungen, die Entscheidung über die Auflösung desLandtages, die Initiierung von Gesetzgebungsverfahren, die verb<strong>in</strong>dlicheEntscheidung über Gesetze, die Korrektur vom Parlament bereits beschlossenerGesetze, enge Negativ- und weite Positivkataloge, niedrige Unterstützungs- und Abstimmungsquoren, niedrige Anfor<strong>der</strong>ungen an die Ausarbeitung von Begründungen undF<strong>in</strong>anzierungsvorschlägen und schließlich lange B<strong>in</strong>dungsfristen, während <strong>der</strong>er ke<strong>in</strong>e parlamentarische Revision e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em direktdemokratischen Verfahren getroffenen Entscheidung möglich ist.Gemessen an diesem For<strong>der</strong>ungskatalog s<strong>in</strong>d die <strong>in</strong> Rhe<strong>in</strong>land-<strong>Pfalz</strong> geltenden Regelungen<strong>in</strong> hohem Maße verbesserungsbedürftig, was z.B. se<strong>in</strong>en Nie<strong>der</strong>schlag dar<strong>in</strong> f<strong>in</strong>det, dassRhe<strong>in</strong>land-<strong>Pfalz</strong> im Rank<strong>in</strong>g des Vere<strong>in</strong>s „Mehr <strong>Demokratie</strong> e.V.“ e<strong>in</strong>en unteren Mittelplatzunter den 16 Bundeslän<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>nimmt. Dem stehen allerd<strong>in</strong>gs Positionen gegenüber, die <strong>in</strong>den durch demokratische Wahlen legitimierten Parlamenten die wichtigsten1


Entscheidungsträger <strong>in</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Demokratie</strong>n sehen. Vertreter dieser Position lehnen nichtzwangsläufig alle Formen direktdemokratischer Beteiligung ab, empfehlen jedoch primärReformen <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er Verbesserung konsultativer Beteiligungsformen und e<strong>in</strong>er Stärkungbürgerschaftlicher Initiativrechte. Reformen f<strong>in</strong>den ihre Grenzen dort, wo die Kompetenz<strong>der</strong> durch demokratische Wahlen legitimierten Volksvertretungen <strong>in</strong> Frage gestellt wird,allgeme<strong>in</strong> verb<strong>in</strong>dliche Entscheidungen zu treffen und für diese die Verantwortunggegenüber <strong>der</strong> Wählerschaft zu übernehmen. Zwischen den beiden beschriebenen Positionenexistieren breite politische Gestaltungsmöglichkeiten, über die jedoch auf <strong>der</strong> Basisexpliziter Ziele politisch entschieden werden muss.Generell sollte man allerd<strong>in</strong>gs den E<strong>in</strong>fluss <strong>der</strong> rechtlichen Ausgestaltung vonBeteiligungsverfahren auf <strong>der</strong>en Nutzung und <strong>der</strong>en Wirkungen nicht überschätzen.Institutionelle Regelungen schaffen Anreize für bestimmte Formen des politischenVerhaltens o<strong>der</strong> erschweren diese, sie determ<strong>in</strong>ieren das politische Verhalten aber nicht. Obsich Menschen an direktdemokratischen Verfahren beteiligen o<strong>der</strong> nicht, hängt <strong>in</strong> ersterL<strong>in</strong>ie von <strong>der</strong>en Ressourcen und Motiven, von ihrer E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung <strong>in</strong> politische Netzwerkesowie von e<strong>in</strong>em beteiligungsfreundlichen o<strong>der</strong> aktiv die politische Beteiligungermutigenden Verhalten <strong>der</strong> politischen Entscheidungsträger ab. Institutionelle Regelungenspielen im Vergleich damit e<strong>in</strong>e untergeordnete Rolle. Allerd<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d dieseBestimmungsfaktoren <strong>der</strong> politischen Beteiligung unterschiedlich gut untersucht,<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e über die Beteiligung an direktdemokratischen Verfahren liegen nur wenigeempirisch gesicherte Informationen vor.Mehrere empirische Studien bzw. Umfragen belegen für Deutschland e<strong>in</strong>en breiten und imZeitverlauf gewachsenen Wunsch nach mehr direkter <strong>Demokratie</strong>. Allerd<strong>in</strong>gs erfassen dievorliegenden Daten nur die E<strong>in</strong>stellungen zu e<strong>in</strong>er Erweiterung direktdemokratischerBeteiligungsmöglichkeiten. Über die <strong>Bewertung</strong> von E<strong>in</strong>zelheiten <strong>der</strong> Verfahrensgestaltung(Quoren, Anwendungsfel<strong>der</strong> etc.) liegen ke<strong>in</strong>e Informationen vor. Das unzulänglicheAngebot an solchen Möglichkeiten wird als e<strong>in</strong>e Schwäche <strong>der</strong> <strong>Demokratie</strong> <strong>in</strong> Deutschlandkritisiert. Der Wunsch nach mehr direktdemokratischer Beteiligung wirdüberdurchschnittlich stark von politikfernen Bevölkerungsgruppen vorgetragen werden, diediese Verfahren faktisch noch weniger nutzen als die übrige Bevölkerung. Gut gebildete,politisch <strong>in</strong>teressierte und selbstbewusste Bürger wünschen sich ebenfalls mehr direkteMitsprache <strong>in</strong> <strong>der</strong> Politik, aber <strong>in</strong> ger<strong>in</strong>gerem Maße als politikferne Gruppen.Die reale Nutzung <strong>der</strong> direktdemokratischen Verfahren steht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em deutlichen Kontrast zu<strong>der</strong> breiten Unterstützung <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung nach e<strong>in</strong>er Erweiterung dieser Möglichkeiten. Vonden reichhaltigen direktdemokratischen Beteiligungsmöglichkeiten auf <strong>der</strong> Landes- undKommunalebene machen die Bundesbürger selten Gebrauch. Dies gilt vor allem für diedirekte <strong>Demokratie</strong> <strong>in</strong> den Bundeslän<strong>der</strong>n. Zudem lässt sich feststellen, dassdirektdemokratische Verfahren auch <strong>in</strong> den Län<strong>der</strong>n mit sehr niedrigschwelligenRegelungen ke<strong>in</strong>e große Rolle spielen. Die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnen Län<strong>der</strong>n mehrfach erfolgteAbsenkung <strong>der</strong> Anfor<strong>der</strong>ungen hat an den beschriebenen Sachverhalten nichts geän<strong>der</strong>t.Sofern direktdemokratische Verfahren zustande kommen, erreicht die Beteiligung an ihnennur <strong>in</strong> seltenen Ausnahmefällen, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel bei Verfassungsreferenden, die fürParlamentswahlen typischen Beteiligungsraten. Dieser auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schweiz und <strong>in</strong> den USAfestgestellte Sachverhalt hat unter an<strong>der</strong>em damit zu tun, dass viele Verfahren auf dieRegelung nur für e<strong>in</strong>en Teil <strong>der</strong> Bevölkerung relevanter Fragen zielen und <strong>in</strong>sofern nur e<strong>in</strong>en2


Teil des Publikums zu mobilisieren vermögen. Ich will das nicht als Argument gegen e<strong>in</strong>eAbsenkung von Beteiligungsschwellen anführen, f<strong>in</strong>de <strong>in</strong> <strong>der</strong> Beteiligungspraxis aber auchke<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>weise auf die Dr<strong>in</strong>glichkeit e<strong>in</strong>es entsprechenden Bedarfs. E<strong>in</strong>e Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><strong>in</strong>stitutionellen Regelungen wird vielmehr mit hoher Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit folgenlos für diePraxis <strong>der</strong> <strong>direkten</strong> <strong>Demokratie</strong> bleiben. Sie lässt sich allerd<strong>in</strong>gs damit rechtfertigen, dassdas bloße Vorhandense<strong>in</strong> niedrigschwelliger direktdemokratischer Verfahren auf diepolitische Führung Druck ausübt, ihre Politik so zu gestalten, dass <strong>der</strong> E<strong>in</strong>satz dieserVerfahren möglichst unterbleibt.Bisher liefert die empirische Forschung ke<strong>in</strong>e Anhaltspunkte dafür, dass <strong>der</strong> Ausbaudirektdemokratischer Beteiligung bisher <strong>in</strong>aktive Gruppen an den politischen Prozessheranführt und die vielfach nachgewiesene soziale Selektivität des politischen Engagementsverr<strong>in</strong>gert. In politikfernen Gruppen f<strong>in</strong>det die For<strong>der</strong>ung nach mehr direkter <strong>Demokratie</strong>zwar e<strong>in</strong>e breitere Zustimmung als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe <strong>der</strong> politisch <strong>in</strong>teressierten, <strong>in</strong>formiertenund selbstbewussten Bürger. Wenn es aber um e<strong>in</strong>e tatsächliche Beteiligung andirektdemokratischen Verfahren geht, zeigt sich das übliche Bild: Unter den Teilnehmerns<strong>in</strong>d die „üblichen Verdächtigen“ über-, politikferne Gruppen dagegen unterrepräsentiert.Die Erleichterung <strong>der</strong> Anwendung direktdemokratischer Verfahren erweitert <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>iedie E<strong>in</strong>flussmöglichkeiten <strong>der</strong> ohneh<strong>in</strong> Aktiven, mobilisiert aber politisch Inaktive <strong>in</strong> <strong>der</strong>Regel nicht zur Teilnahme.Im H<strong>in</strong>blick auf die Auswirkungen des Vorhandense<strong>in</strong>s und <strong>der</strong> Nutzungdirektdemokratischer Verfahren auf die Qualität <strong>der</strong> <strong>Demokratie</strong> vermitteln die spärlichenBefunde <strong>der</strong> Forschung ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>deutiges Bild. In e<strong>in</strong>igen Studien wurden positive Effektedirektdemokratischer Beteiligung für den demokratischen Prozess festgestellt. Hierzugehören e<strong>in</strong>e Zunahme des politischen Interesses, des politischen Wissens, <strong>der</strong> politischenUrteilsfähigkeit, des Verständnisses <strong>der</strong> Position An<strong>der</strong>er und nicht zuletzt e<strong>in</strong>e wachsendeBereitschaft, Entscheidungen zu akzeptieren, mit <strong>der</strong>en Inhalt man nach wie vor nichte<strong>in</strong>verstanden ist. Allerd<strong>in</strong>gs resultieren diese Befunde aus E<strong>in</strong>zelfallstudien und aus <strong>der</strong>Untersuchung direktdemokratischer Verfahren <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schweiz und <strong>in</strong> amerikanischenBundesstaaten. Da zugleich e<strong>in</strong>e Reihe von Studien mit an<strong>der</strong>sartigen Befunden vorliegen,lässt sich aus <strong>der</strong> empirischen Forschung nicht die Folgerung ableiten, gemessen an denallgeme<strong>in</strong> anerkannten Standards führe e<strong>in</strong> Ausbau direktdemokratischerBeteiligungsformen zu e<strong>in</strong>er Verbesserung <strong>der</strong> Qualität <strong>der</strong> <strong>Demokratie</strong>. Eben so wenigRückhalt f<strong>in</strong>den allerd<strong>in</strong>gs die von Kritikern geäußerten Befürchtungen, e<strong>in</strong> Ausbau <strong>der</strong><strong>direkten</strong> <strong>Demokratie</strong> überfor<strong>der</strong>e die Bürger, löse e<strong>in</strong>e Überlastung des politischen Systemsdurch zahllose direktdemokratische Verfahren aus, begünstige e<strong>in</strong>e Dom<strong>in</strong>anz aktivistischerM<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten o<strong>der</strong> gefährde die Rationalität politischer Willensbildungs- undEntscheidungsprozesse durch e<strong>in</strong>e Daueremotionalisierung <strong>der</strong> Öffentlichkeit.Aus den bisher vorgetragenen Überlegungen ergibt sich für mich die Schlussfolgerung, dasse<strong>in</strong> Ausbau direktdemokratischer Verfahren <strong>in</strong> Rhe<strong>in</strong>land-<strong>Pfalz</strong> zwar normativ begründetwerden kann, nicht aber durch Verweise auf beson<strong>der</strong>s restriktive Regelungen o<strong>der</strong> durchempirisch fundierte Erkenntnisse über e<strong>in</strong>en beson<strong>der</strong>s stark ausgeprägten Wunsch <strong>der</strong>Bevölkerung nach Verän<strong>der</strong>ungen o<strong>der</strong> durch die Erwartung e<strong>in</strong>es positiven Beitragesentsprechen<strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutioneller Verän<strong>der</strong>ungen zur Verbesserung <strong>der</strong> Qualität <strong>der</strong><strong>Demokratie</strong>. Unrealistisch ist es <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e, kurzfristige Erfolge zu erwarten und die3


faktische Wirkung von Än<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Rechtsgrundlagen <strong>der</strong> <strong>direkten</strong> <strong>Demokratie</strong> zuüberschätzen.2. <strong>Bewertung</strong> <strong>der</strong> QuorenIm Vergleich mit an<strong>der</strong>en Bundeslän<strong>der</strong>n s<strong>in</strong>d die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Landesverfassung von Rhe<strong>in</strong>land-<strong>Pfalz</strong> vorgesehenen Unterstützungs- und Entscheidungsquoren we<strong>der</strong> beson<strong>der</strong>s restriktivnoch beson<strong>der</strong>s partizipationsfreundlich. Erkenntnisse über mögliche Schwellenwerte,jenseits <strong>der</strong>er Quoren von <strong>der</strong> Beteiligung abschrecken, liegen nicht vor. Insofern kann e<strong>in</strong>e<strong>Bewertung</strong> <strong>der</strong> <strong>der</strong>zeitigen Regelungen erneut nur auf <strong>der</strong> Basis normativer Gesichtspunkteerfolgen. In diesem Kontext ersche<strong>in</strong>t es mir erfor<strong>der</strong>lich, zwischen Quoren bei Initiativenbzw. Begehren und solchen bei Entscheiden zu differenzieren, denn beide Verfahren erfüllenunterschiedliche Funktionen.Volks<strong>in</strong>itiativen und Volksbegehren dienen dem Zweck, Themen auf die politische Agendazu setzen, die auf den üblichen, für die direkte <strong>Demokratie</strong> typischen Wegen, z.B. überParteien, Interessenverbände o<strong>der</strong> Massenmedien nicht h<strong>in</strong>länglich zum Zuge kommen unddeshalb vernachlässigt werden. Initiativen und Begehren können e<strong>in</strong>e Diskussion über dieseThemen auslösen und e<strong>in</strong>en parlamentarischen o<strong>der</strong> direktdemokratischenGesetzgebungsprozess <strong>in</strong> Gang br<strong>in</strong>gen, sie schränken aber die Entscheidungskompetenzendemokratisch gewählter Parlamente nicht e<strong>in</strong>. Insofern s<strong>in</strong>d diese Verfahren ohne mit denStrukturen e<strong>in</strong>er repräsentativen <strong>Demokratie</strong> vere<strong>in</strong>bar. Niedrig angesetzteUnterstützungsquoren können im Zusammenspiel mit großzügigen Regelungen desAnwendungsbereichs von Begehren und Initiativen dazu beitragen, die Offenheit,Bürgernähe, Verantwortlichkeit, Problemlösungs- und Innovationsfähigkeit des politischenSystems und se<strong>in</strong>er Institutionen und Akteure zu för<strong>der</strong>n. Da nach den bisherigenErfahrungen nicht zu erwarten ist, dass niedrige Quoren für Initiativen und Begehren daspolitische System mit e<strong>in</strong>er Flut <strong>der</strong>artiger Verfahren überschwemmen und se<strong>in</strong>eEntscheidungs- und Problemlösungsfähigkeit überfor<strong>der</strong>n, spricht wenig für e<strong>in</strong>e restriktiveFestlegung von Quoren. Während die Landesverfassung von Rhe<strong>in</strong>land-<strong>Pfalz</strong> fürVolks<strong>in</strong>itiativen e<strong>in</strong> sehr niedriges Quorum von 30.000 Stimmen festlegt, könnte man beiden Regelungen über Volksbegehren (<strong>der</strong>zeit 300.000 Stimmen, ca. 10%) e<strong>in</strong>e Absenkungvornehmen, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e soweit sie auf die Verabschiedung, Än<strong>der</strong>ung o<strong>der</strong> Aufhebung vonGesetzen zielen.Volksentscheide erfüllen e<strong>in</strong>e gänzlich an<strong>der</strong>e Funktion, nämlich die verb<strong>in</strong>dlicheEntscheidung über die Verabschiedung, Än<strong>der</strong>ung o<strong>der</strong> Aufhebung e<strong>in</strong>es Gesetzes. Sieverlagern damit Entscheidungskompetenzen von e<strong>in</strong>er durch demokratische Wahlenlegitimierten Volksvertretung auf die Mehrheit <strong>der</strong> Abstimmenden. Dies schließt zugleichden Verzicht darauf e<strong>in</strong>, die parlamentarische Mehrheit für die von ihr getroffenenEntscheidungen zur Verantwortung zu ziehen. In Anbetracht <strong>der</strong> Reichweite <strong>der</strong> damitverbundenen E<strong>in</strong>griffe <strong>in</strong> das Entscheidungsgefüge parlamentarischer <strong>Demokratie</strong>n und <strong>der</strong>bisherigen Erkenntnisse über die Nutzung direktdemokratischer Verfahren ist e<strong>in</strong>eAbsenkung <strong>der</strong> Quoren unter das <strong>der</strong>zeitige Niveau von 25% bei Gesetzen und 50% beiVerfassungsän<strong>der</strong>ungen nicht erstrebenswert. Bereits die <strong>der</strong>zeit gültigen Regelungen lassenes im Extremfall zu, dass M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten über e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong> verb<strong>in</strong>dliches Gesetz und übere<strong>in</strong>e Verfassungsän<strong>der</strong>ung entscheiden. Der Zweck direktdemokratischer Verfahren sollte4


nicht dar<strong>in</strong> bestehen, M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten das Umgehen des demokratisch legitimierten Parlamentsmöglichst e<strong>in</strong>fach zu machen.3. Fel<strong>der</strong> für e<strong>in</strong>e Weiterentwicklung <strong>der</strong> <strong>direkten</strong> <strong>Demokratie</strong>Bei e<strong>in</strong>em Blick auf die <strong>in</strong>ternationale Praxis direkter <strong>Demokratie</strong> lassen sich auf <strong>der</strong>Landesebene zunächst ke<strong>in</strong>e für die Anwendung dieser Verfahren grundsätzlichungeeigneten Politikfel<strong>der</strong> erkennen. Dies gilt für Volksbegehren wie für Volksentscheide.In <strong>der</strong> Praxis f<strong>in</strong>den diese auf sehr unterschiedlichen Politikfel<strong>der</strong>n statt. Als Beispiele seiengenannt:Die Entscheidung über e<strong>in</strong> abstraktes Problem wie die Reform des Wahlrechts <strong>in</strong>British Columbia,F<strong>in</strong>anz- und Steuerreferenden <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schweiz und <strong>in</strong> Kalifornien,Gesetzesreferenden auf e<strong>in</strong>er Fülle unterschiedlicher Politikfel<strong>der</strong> (Schule,Migration, Begrenzung von Managergehältern, Tempolimit auf Autobahnen, dieReform des Kfz-Versicherungsrechts),Entscheidungen über den Beitritt zu <strong>in</strong>ternationalen Organisationen o<strong>der</strong> dieRatifizierung <strong>in</strong>ternationaler Verträge,Voten über die Durchführung spezifischer Maßnahmen wie den Umbau e<strong>in</strong>esBahnhofs, die Erweiterung e<strong>in</strong>es Flughafens o<strong>der</strong> die Genehmigung des Baus vonM<strong>in</strong>aretten.Diese Verfahren erzielten une<strong>in</strong>heitliche Policywirkungen, Mobilisierungs- und Lernerfolge,so dass sich unter diesen Gesichtspunkten ke<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>weise auf beson<strong>der</strong>s geeignete o<strong>der</strong>ungeeignete Anwendungsfel<strong>der</strong> ergeben. Wenn man direktdemokratische Verfahrenausbauen möchte, gibt es ke<strong>in</strong>e überzeugenden Gründe dafür, ihren materiellenAnwendungsbereich mehr o<strong>der</strong> weniger willkürlich e<strong>in</strong>zuschränken. Dies gilt ausdrücklichauch für F<strong>in</strong>anzfragen, die <strong>in</strong> den meisten politischen Entscheidungen ohneh<strong>in</strong> implizierts<strong>in</strong>d.Wichtiger s<strong>in</strong>d Überlegungen über beson<strong>der</strong>s geeignete Arten von Entscheidungen. <strong>Generelle</strong>ignen sich für Volksabstimmungen vor allem die folgenden Arten von Fragen:Grundsatzentscheidungen über politische Ziele o<strong>der</strong> Maßnahmen, bei denen die fürparlamentarische Entscheidungen typischen Verhandlungslösungen undKompromisse schwer zu erreichen s<strong>in</strong>d und die sich zu e<strong>in</strong>er klaren Ja-Ne<strong>in</strong>Alternative verdichten lassen (Verfassungsän<strong>der</strong>ungen, moralische Fragen,Mitgliedschaft <strong>in</strong> <strong>in</strong>ternationalen Organisationen). In diesen Fällen könnenVolksabstimmungen befriedend und akzeptanzstiftend wirken, müssen dies abernicht.Entscheidungen über die Annahme o<strong>der</strong> Ablehnung e<strong>in</strong>es vom Parlamentbeschlossenen Gesetzes. In diesen Fällen holt die Wahlbürgerschaft dieEntscheidungskompetenz zu sich zurück.Entscheidungen über die Realisierung ganz bestimmter, sachlich o<strong>der</strong> lokal klare<strong>in</strong>grenzbarer Maßnahmen, die nicht die Auswahl unter mehreren politischenAlternativen implizieren (Bau e<strong>in</strong>er Infrastrukture<strong>in</strong>richtung), e<strong>in</strong>schließlich <strong>der</strong>Entscheidung über e<strong>in</strong>en ganz spezifischen Standort e<strong>in</strong>es Projekts.5


Differenzierungen dieser Art betreffen weniger die rechtliche Ausgestaltung als vielmehr diepraktische Handhabung direktdemokratischer Verfahren.4. Weitere Faktoren für e<strong>in</strong>e erfolgreiche Anwendung direktdemokratischer VerfahrenDie Antwort ergibt sich aus den vorherigen Ausführungen. Der Erfolg direktdemokratischerVerfahren hängt <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie von den E<strong>in</strong>stellungen und Verhaltensweisen <strong>der</strong> Bürger und<strong>der</strong> Entscheidungsträger <strong>in</strong> <strong>der</strong> Politik und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verwaltung ab. Auf Seiten <strong>der</strong>Bürgerschaft s<strong>in</strong>d die folgenden Faktoren für den Erfolg direktdemokratischer Verfahrenrelevant:Die allgeme<strong>in</strong>en Bestimmungsfaktoren politischer Beteiligung (Motive, Ressourcen,E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung <strong>in</strong> soziale Netzwerke),die Erkenntnis, dass direktdemokratische Verfahren <strong>in</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaften nure<strong>in</strong>e Ergänzung, aber ke<strong>in</strong> Ersatz für die repräsentativ-demokratischen Verfahrense<strong>in</strong> können sowiedie E<strong>in</strong>sicht, dass es beim E<strong>in</strong>satz direktdemokratischer Verfahren <strong>in</strong> pluralistischenGesellschaften Gew<strong>in</strong>ner und Verlierer gibt, wobei sich die eigene Position nichtimmer auf <strong>der</strong> Gew<strong>in</strong>nerseite bef<strong>in</strong>det.Auf Seiten <strong>der</strong> Entscheidungsträger bestehen die folgenden Notwendigkeitendie E<strong>in</strong>schätzung <strong>der</strong> Bürgerbeteiligung als produktive Ressource, und nicht alsStörfaktor, im politischen Prozess: die Bürger s<strong>in</strong>d diejenigen, auf <strong>der</strong>en Mandat sichdie Ausübung staatlicher Herrschaft durch die Volksvertreter stützt. Sie habenlegitime Interessen, Wertvorstellungen und Policypräferenzen, die sie – auchzwischen Wahlen - <strong>in</strong> vielfältiger Form, auch <strong>in</strong> direktdemokratischen Verfahrenzum Ausdruck br<strong>in</strong>gen unddie Bereitschaft zur aktiven Mitwirkung <strong>in</strong> direktdemokratischen Verfahren statt desE<strong>in</strong>nehmens e<strong>in</strong>er Abwehrhaltung gegen diese.Zur Frage 4 nehme ich nicht Stellung, weil ich hierüber nicht geforscht habe.6

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