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Im Lesesaal-10.pdf - Elster Verlag

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Seite 2<strong>Im</strong> <strong>Lesesaal</strong>Fortsetzung von Seite 1Ein Leben – eine Ära – ein Todmit Sommersprossen. Aufgeworfener Mund,stark rot überschminkt. Graugrüne Augen,diese Farbe ebenfalls gemäß Pass.«Na Süßer, kommst du mit» – „Bläst duumsonst? Ich bin ein armer Student!» – «Dukriegst von mir den Hintern versohlt, duRotznase, und blasen kannst dir selber!» Soschildert ein damaliger Philosophiestudentseine nicht sehr platonischen Dialoge mitdieser Nachtmacht.«Stehen» nennt Irene ihre Tätigkeit. Essei anstrengend zu stehen». Besonders wennkeiner anbeiße. «Habe 3 ½ ohne – AchScheiße. Ich schaff es nicht. Es ist mir zukalt, an der Schoffelgasse zu stehen», schreibtsie in ein Erinnerungsbuch. Sie zeichneteinen Schuh, oder lässt sich diesen vonjemandem hineinzeichnen, und sie schreibtdazu: «This shoe is made for waiting.»Zürichs Szene war eine kleine Welt oder«ein Riesenkuchen», wie es in der Spracheder Eingeborenen heißt. Für Irene war dieStadt ein Resonanzraum. Was sie tat odersagte, verbreitete sich wie Wellen, die sichvon einer Energiequelle ausbreiten.Man kreuzte sich in den Gassen. Wasfür ein Biotop war diese Schoffelgasse, woHandwerker und Künstler wohnten! Ganzunten, an der Ecke zum Rüdenplatz, das«Fantasio». Treffpunkt aller Treffpunkte. DieFanti-Bar, wo ein Mineralwasser oder eineCola zwei Franken kostete und ein Whiskyder gängigen Sorte 5,50 Franken. <strong>Im</strong>Gegensatz zum oberen Stockwerk mit denleicht gewandeten Damen, wo der Whisky8,50 Franken kostete. Eine Ambiance wieauf Grafiken von Toulouse-Lautrec, diskretund mit Stil, so schildert es ein Gast, der hierKunden zu treffen pflegte.Wo Irene auftaucht, auf hohen Absätzenund in einer Wolke von Chanel No. 5, erregtsie Aufmerksamkeit und ist gleich Mittelpunktder Gesellschaft: Irena, wie sie sichoft nannte, das klang weniger gewöhnlichals Irene.Charmant, wenn sie gut aufgelegt war,aber auch polarisierend in ihrer unverblümtenArt. Irene konnte schnippisch sein,schwierig im Kontakt. «Gestört», sagt eineFrau. Die Beziehung mit ihr war jedenfalls«eine Achterbahn», erinnert sich der BerlinerKünstler Salomé, «mal heiß, mal kalt. Mal istes ihr recht, mal nicht. Mal ist sie auf hundertachtzig,dann deprimiert und heulend.»Unzählige Geschichten zirkulieren überdiese Irene. Die spitzigste geht so: Die Freundinund Modeschöpferin Ursula Rodel hatihr ein Kostüm gemacht, Lederkleid mitDinosaurierzacken auf beiden Schultern.Irene, mit einem Freund in der Beiz, verkrachtsich mit einem Kellner, der das Falschegebracht hat. Sie reklamiert. Er erbostsich. Sie schimpft, spuckt sogar. Als er sieschlagen will, dreht sie ihm blitzschnell einebewehrte Schulter hin. Die Spitzen sollenwehgetan haben. Dann zog sie einen Stilettovom Fuß; der Kellner sei unter den Schlägenzu Boden gegangen. Nein, so was lässt siesich nicht bieten!Eine Frau wie Irene stecken sich manchegern an den Hut. Als wäre sie eine exotischeBlume, eine überdimensionierte, üppigduftende Blume. Wie kleidsam konnte dasVerruchte sein!Doch hinter Irenes inszenierter Schönheitsei ein anderer Mensch gewesen, schlichtwegein ganz anderer Mensch, sagt ein Theatermann.Das finden viele aus ihrer nahenUmgebung. «Privat war sie seltsam scheu»,berichtet eine Freundin. «Wahnsinnig lustigund schräg», sagt ein Freund.Sie genießt das Leben im Zürcher Teich.Eine symbolische Sequenz in einem Filmzeigt sie mit Freunden in einem gelben Jeepohne Verdeck durchs Limmatquai stieben.*Sie sitzt auf der Kühlerhaube, im knallrotenKleid, eine lange Boa um den Hals geschlungen,mit der sie und der Fahrtwind spielen.Beim Modelabel Thema Selection istsie zum Vorzeigemodell avanciert. Sie siehtblendend aus, ist gesund, trainiert im Fitnessstudio,geht schwimmen, auch bei großerKälte im Zürichsee, fährt Velo. Auch dieModefrauen sind vom Champagnergeist derZeit inspiriert. Sie veranstalten Events anausgefallenen Orten, mit ausgefallenen Programmen.Eindrücklich war 1976 eine Schauin der «Frauenbadi», die nahe am Bürkliplatzin den Fluss gebaut ist. «Eine geniale Idee»,fand der Tages-Anzeiger: «Das war Zürichsallerverrückteste Modeschau.» Thema Selectionzelebriert jenes Gefühl von Strand undSommer und Mittelmeerstimmung, das sichin Zürich zunehmend bemerkbar macht. Irenestakst locker auf dem hölzernen Steg überdem Bassin, im Overall oder auch im elegantenMantel, unter dem ein paillettenglänzendesMieder zum Vorschein kommt.«Ich erinnere mich gut an die aus exquisitenStoffe gefertigte, auf neue Art eleganteund echt coole Frauenmode von ThemaSelection, die hier präsentiert wurde. Allerdingsnoch mehr an zwei schöne Jungs, dieals Teil der Inszenierung im Bad hin- undherschwammen, das war für mich der Höhepunktjenes Nachmittags», meint DavidStreiff, später Direktor des Filmfestivals vonLocarno und dann des Schweizer Bundesamtesfür Kultur.«Da herrschten Hedonismus und Lebensfreud»,meint er, «im Frühlingserwachen vonetwas, was kurz darauf zum Aufbruch von1980 und schließlich zum Massenphänomender Street Parade führte. Eine Gegenwelt zuZwingli und Co.» Das sage er als Kunsthi-Fortsetzung Seite 4

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