Im Lesesaal 2013-01.pdf - Elster Verlag
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<strong>Im</strong> <strong>Lesesaal</strong><br />
Nummer II/13 | 3. Februar <strong>2013</strong> | <strong>Elster</strong> <strong>Verlag</strong>sbuchhandlung AG | Hofackerstrasse 13 | CH 8032 Zürich<br />
www.elsterverlag.ch – info@elsterverlag.ch | Telefon 0041 (0) 44 385 55 10<br />
Auslieferungen — Deutschland: Brockhaus Kommission, Kornwestheim | Schweiz: AVA, Affoltern a. A.<br />
Die Zeitvernichter: Das Atomforschungszentrum CERN in Genf.<br />
Digitale Schnelligkeit<br />
Grenzen der Beschleunigung<br />
Wahlweise wird die Bemerkung «So schnell schießen die Preußen nicht» dem preußischen<br />
König Friedrich II. (1712–1786) oder den Österreichern bei der Schlacht von Königgrätz<br />
(1866) zugeschrieben. Zum geflügelten Wort geworden, signalisiert sie den Willen,<br />
sich nicht von zu großer Hetze übertölpeln zu lassen. In Urheberrechts- und Netzfragen<br />
wäre es gut, sich an das entschleunigende Sprichwort zu erinnern.<br />
Bernd Zocher<br />
Es ist ein interessanter Prozess, zu beobachten,<br />
wie die Mitglieder der deutschen Piraten ihre<br />
Partei gegenwärtig selbst auseinandernehmen.<br />
Die ersten Resultate sind bereits erkennbar.<br />
<strong>Im</strong> deutschen Bundesland Niedersachsen<br />
haben sie bei den Landtagswahlen den Eintritt<br />
in das Landesparlament nicht geschafft.<br />
Gerade mal 2,1 Prozent der Wählerschaft gab<br />
ihnen die Stimme, obwohl sie die ganze Zeit<br />
in den Medien als die neue Politgeneration,<br />
die die allgemeine Politikverdrossenheit überwinden<br />
werde, gefeiert wurde.«Die Piraten»,<br />
spöttelte der SPIEGEL-Online-Journalist Fabian<br />
Reinbold ernüchtert, «bleiben eine APO<br />
Fortsetzung Seite 2<br />
Sie schnattern weiter!<br />
Liebe Kolleginnen und Kollegen,<br />
liebe Freunde des <strong>Verlag</strong>s,<br />
Der «Geist von Davos» ist letzte Woche wieder<br />
über uns gekommen – das ist die Chimäre<br />
des Ravensburger Professors Klaus Schwab,<br />
mit der er Jahr für Jahr Hunderte von reichen<br />
Menschen in diesen schönen Graubündner<br />
Ort zum «World Economic Forum» treibt, auf<br />
dass sie das Gefühl erhebe, an der Weltrettung<br />
beigetragen zu haben. Eine einfache Teilnahme<br />
kostet rund 22 000 Franken (18 000 Euro),<br />
«Strategischer Partner» ist man, wenn man eine<br />
halbe Million abliefert, für «Gemeinplätze, die<br />
dank Liveübertragungen auch dem gemeinen<br />
Publikum zugänglich» sind, wie der Schweizer<br />
Journalist Philipp Löpfe treffend lästert.<br />
Einer dieser Geister in Davos ist der amerikanische<br />
Ökonom Nouriel Roubini, genannt<br />
«Dr. Doom». Er hatte letztes Jahr vorausgesagt,<br />
Griechenland werde aus dem Euro austreten<br />
und der Euro kollabieren. Das ist ja jetzt alles<br />
nicht eingetreten. Gibt es daher Anlass für<br />
Selbstkritik? Aber nicht doch! Schließlich habe<br />
ja «überraschenderweise» die Europäische Zentralbank<br />
ihre Politik geändert. Warum nur soll<br />
einer sich korrigieren, wenn sich die Realität<br />
nicht nicht an die Prognosen hält?<br />
Roubini und seinesgleichen profitieren von<br />
der Gedächtnislosigkeit moderner Systeme.<br />
Die Menschen haben Angst vor der Zukunft<br />
und suchen dringend nach der Schau ins Morgen,<br />
selbst wenn die sich als genauso präzis<br />
erweist wie der Blick einer Wahrsagerin in die<br />
Glaskugel. Die Ökonomen bedienen das Bedürfnis<br />
glänzend. Ärzte vergraben ihre Fehler,<br />
Ökonomen – vergessen sie einfach.<br />
Mein Tipp zum Geldsparen: Schließt alle<br />
volkswirtschaftlichen Departemente an den<br />
Universitäten; die wohltuende Wirkung für die<br />
Gesellschaft wäre unvergleichlich.<br />
Ganz herzlich
Seite 2 <strong>Im</strong> <strong>Lesesaal</strong><br />
Fortsetzung von Seite 1<br />
Grenzen der Beschleunigung<br />
mit Internet-Anschluss», eine außerparlamentarische<br />
Opposition des digitalen Zeitalters.<br />
Ist diese Partei damit bereits an ihrem Ende<br />
angelangt?<br />
Das ist schwer zu beurteilen. Zukünftige<br />
Entwicklungen stellen wir uns in der Regel<br />
linear vor, und unsere Fantasie scheitert meist<br />
dort, wo die Dinge anders als in der gradlinigen<br />
Fortsetzung der Realität verlaufen. Der<br />
amerikanische Mathematiker Nassim Nicholas<br />
Taleb hat dieses gedankliche Phänomen<br />
einmal mit dem Bild des schwarzen Schwans<br />
umschrieben: Jeder rechnet nur mit weißen<br />
Schwänen, und alle sind deshalb umso überraschter,<br />
wenn ein schwarzer auftaucht.<br />
Aber unabhängig von der Frage, was denn<br />
diese Partei überhaupt zuwege gebracht hat<br />
außer Blog-Schreiben und sich gegenseitig anstänkern,<br />
lassen sich an ihren Strukturen bemerkenswerte<br />
und prinzipielle Dinge festmachen,<br />
die für eine digitale Gesellschaft stehen,<br />
die zwischen dem Auslösen einer Handlung<br />
und ihrem Reflex keine Zeit mehr zulässt.<br />
«Radikale Transparenz» ist das Stichwort<br />
in der Piratenpartei. Ihr politischer Geschäftsführer<br />
Johannes Ponader und der stellvertretende<br />
Vorsitzende Markus Barenhoff arbeiten<br />
an einer Änderung der Geschäftsordnung,<br />
wonach die Arbeit des Vorstandes transparenter<br />
werden soll. Noch transparenter, das<br />
würde bedeuten, dass Vorstandssitzungen<br />
und überhaupt jede Gremienbildung fast<br />
zeitgleich im Netz wiederzufinden ist und<br />
laufend kommentiert werden kann.<br />
Lassen wir die Fragen einmal außen vor,<br />
wie sinnvoll so etwas ist und wie lange sich<br />
jemand in einem Vorstandsgremium von der<br />
Partei zum Deppen machen lässt, während<br />
die Piratenmitglieder in den Blogs jegliche<br />
spontante Stellungnahme sofort in Grund<br />
und Boden verteufeln.<br />
Dann wird man sich mit der Tatsache<br />
auseinandersetzen müssen, dass durch die<br />
digitale Beschleunigung dem Gedanken der<br />
Reflexion kein Raum gegeben wird. Die permanente<br />
Öffentlichkeit ist den neuen Informationsmedien<br />
inhärent. Der Soziologe Gerhard<br />
Preyer hat in diesem Zusammenhang<br />
andere Rationalitätsparameter der neuen<br />
Medien ausgemacht; sie agierten nicht linear,<br />
«sondern gleichzeitig und netzartig». «Raum<br />
ist kein Ort, keine Bühne mehr, das Zeiterleben<br />
ist nicht mehr durch Sukzession bestimmt,<br />
sondern es wird in eine ‹unendliche<br />
und konstante Vertiefung des Augenblicks›<br />
(Paul Virilio) überführt.»<br />
Der Prozess des permanenten Handels<br />
erfolgt aber nicht allein durch die permanen-<br />
te Interaktion aus sich selbst heraus, sondern<br />
ist generell an eine Konsole geknüpft, sei es<br />
ein Computer oder ein Mobiltelefon. Welche<br />
Wirkung das hat, lässt sich bei einer einfachen<br />
Fahrt in einem öffentlichen Verkehrsmittel<br />
beobachten. Eine beträchtliche Minderheit ist<br />
ununterbrochen damit beschäftigt, auf das eigene<br />
Handy zu schauen – es könnte ja jemand<br />
angerufen haben.<br />
Von der Email-Flut bis zum Hochgeschwindigkeits-Aktienhandel<br />
wird das Tempo<br />
immer weiter vorangetrieben, ohne dass erkennbar<br />
wäre, dass Reflexionen, ungestörtes<br />
Denken, Zeit und Raum des Innehaltens,<br />
überhaupt noch einen Platz erhielten. Der<br />
Beginn des Internet-Hypes fing mit ähnlichen<br />
Erscheinungsformen an, um mit einer gigantischen<br />
Wertevernichtung zu enden.<br />
Und eine Neubelebung des politischen<br />
Agierungs durch die Technik? «Radikale<br />
Transparenz»? Auch das kann man sich kaum<br />
denken – eher eine seelische Überforderung:<br />
Der digital vernetzte Mensch ist ja jetzt schon<br />
für die Konzerne transparent. Zudem organisiert<br />
er sich selbst, plant sein Leben nur noch<br />
individuell, bewirtschaftet die ihm zugeschalteten<br />
Gimmicks von Morgen bis Abend, bis<br />
er an seine Grenzen kommt und erschöpft aus<br />
der Loipe fällt.<br />
Wie heißt es auf der Website der Hundeschule<br />
Slydogs im norddeutschen Falkensee<br />
so treffend? «Wir bitten auch um Verständnis,<br />
dass zur Zeit das Hundeschultelefon nicht 24<br />
Stunden besetzt ist und auch der Emailverkehr<br />
verlangsamt funktioniert.»<br />
Miszellen<br />
Empört haben die britischen Medien vor einigen<br />
Monaten über Prinz Harrys Teilnahme<br />
an einer Pool-Party in Las Vegas reagiert. Zumindest<br />
in der Armee des Britischen Empires<br />
ist er auf breite Zustimmung gestoßen. Es<br />
fehlt der Platz, um die vielen eindrücklichen<br />
Bilder zu zeigen, aus denen die Begeisterung<br />
der Armeeangehörigen spricht. Hier ein repräsentatives<br />
Bild. Und hier ein Link mit<br />
noch viel mehr Bildern:<br />
http://www.dailymail.co.uk/news/article-2194521/Prince-Harry-Facebook-groupstrips-support-party-loving-royal-naked-Vegas-photos-furore.html<br />
Aus der niederländischen Günter-Jauch-Variante<br />
von «Wer wird Millionär?»:
Logbuch:<br />
DAS GESCHLECHT<br />
DER SEELE<br />
Transmenschen erzählen<br />
DAS GESCHLECHT<br />
DER SEELE<br />
Tanja Polli (Text) und Ursula Markus (Fotografie)<br />
<strong>Elster</strong> <strong>Verlag</strong><br />
<strong>Im</strong> <strong>Lesesaal</strong> Seite 3<br />
Mittwoch, 23. Januar <strong>2013</strong>, 19 Uhr<br />
Vernissage: Ursula Markus / Tanja Polli<br />
«Das Geschlecht der Seele»<br />
Volkshaus Zürich, Weisser Saal<br />
Stauffacherstrasse 60, 8004 Zürich<br />
Mit anschliessendem Apéro. Eintritt frei.<br />
Demnächst: Jutta Motz liest aus «Blutfunde»<br />
• Donnerstag, 14. März <strong>2013</strong><br />
Leipziger Buchmesse, 13.00 Uhr Schweizer Stand<br />
• Freitag, 15. März <strong>2013</strong><br />
S.C.H.I.R.M Projekt, Halle (Saale)<br />
• Sonntag, 17. März <strong>2013</strong><br />
Leipziger Buchmesse, 13.00 Uhr Schweizer Stand<br />
• Montag, 25. März <strong>2013</strong><br />
Restaurant Neumühle, Baar ZG (Schweiz)<br />
• Donnerstag, 11. April <strong>2013</strong><br />
Hirslanden Buchhandlung, Zürich<br />
• Freitag, 19. April <strong>2013</strong><br />
CRIMINALE, Burgdorf (Schweiz), Moderation zur Ladies Crime Night<br />
• Samstag, 20. April <strong>2013</strong><br />
Ökumenisches Zentrum Kehrsatz, Bern<br />
Demnächst: Vernissage Jan A. Fischer<br />
«Der Calcium-Fischer»<br />
25. April <strong>2013</strong><br />
Haus Konstruktiv, Zürich
Seite 4 <strong>Im</strong> <strong>Lesesaal</strong><br />
Stéphane Hessel<br />
Geschichte erlebt<br />
über fast hundert Jahre<br />
Der in Berlin 1917 geborene Stéphane Hessel<br />
kam in seiner frühen Jugend zusammen mit<br />
seinen Eltern, der Vater jüdisch-polnischer<br />
Herkunft und die Mutter deutsche Protestantin,<br />
1924 nach Paris und erfuhr dort die<br />
klassische Erziehung an der Ecole Normale<br />
Supérieure.<br />
Er ist seit 1937 französischer Staatsbürger<br />
und schloss sich in London der Widerstandsbewegung<br />
gegen die Nazis unter General de<br />
Gaulle an.<br />
Ab 1941 half er in der Résistance in<br />
Frankreich die Landung der Alliierten vorzu-<br />
bereiten. Von der Gestapo verhaftet, kam er<br />
als Spion in die Konzentrationslager von Buchenwald<br />
und dort ins KZ Mittelbau-Dora,<br />
wo er einzig durch den Austausch seiner Identität<br />
mit einem an Fleckfieber verstorbenen,<br />
kremierten Häftling der Verurteilung zum<br />
Tod entrinnen konnte, während ein großer<br />
Teil der Mitgefangenen durch die Nazi sermordet<br />
wurde.<br />
Dieses Schicksal hat den Diplomaten für<br />
den Rest seines Lebens geprägt und veranlasste<br />
ihn, sich nach dem Zweiten Weltkrieg<br />
für die Menschenrechte einzusetzen, vorerst<br />
1948 bei der Erarbeitung der Charta der<br />
Menschenrechte der Vereinigten Nationen.<br />
Anschliesßnd trat er im Auftrag der UNO<br />
und des französischen Außenministeriums als<br />
Vermittler bei der Entkolonialisierung und in<br />
zahlreichen weiteren Konflikten auf.<br />
Nach dem Terroranschlag am 11. September<br />
2001 in New York forderte er Israel auf,<br />
seine Besetzungspolitik gegenüber den Palästinensern<br />
zu verbessern. Seither kümmert sich<br />
Hessel um das Schicksal von Palästina und<br />
vergleicht, etwas übertrieben formuliert, die<br />
brutale Besetzungspolitik von Israel mit seiner<br />
eigenen Erfahrung im von den Deutschen<br />
besetzten Frankreich während des Zweiten<br />
Weltkriegs. Der Vergleich mag nicht adäquat<br />
sein; seine Ernsthaftigkeit im Kampf um humanistische<br />
Regeln in unhumanen Zeiten<br />
steht aber außer Zweifel.<br />
In seiner Autobiographie beschreibt Hessel<br />
sein Leben im Dienst der humanitären<br />
Vermittlung, geprägt durch eine hohe Bildung<br />
in den französischen und deutschen<br />
Kulturkreisen, die auf sein Elternhaus zurückgeht.<br />
In der bildenden Kunst begegnete er<br />
Marcel Duchamp und Alexander Calder, und<br />
in der Literatur zitiert er unter anderen Friederich<br />
Hölderlin, Rainer Maria Rilke, Hugo<br />
von Hofmannsthal, Albert Camus und Jean<br />
Paul Sartre.<br />
Sein Leben lang kümmert sich Hessel um<br />
Menschen, denen Unrecht geschehen ist. Der<br />
unterdessen 96-jährige wehrt sich gegen die<br />
Abschottungspolitik des Westens gegenüber<br />
anderen Regionen der Welt und weist mit seinem<br />
Kulturpessimismus auf die zunehmende<br />
Verschlechterung der menschlichen Gesellschaften<br />
hin. Ein eindrucksvolles Buch.<br />
Jan A. Fischer<br />
Stéphane Hessel<br />
Empörung – meine Bilanz<br />
Gebunden, 234 Seiten<br />
Fr. 24.00 /Euro 17.00<br />
Pattloch <strong>Verlag</strong>, München 2012<br />
Stéphane Hessel 2011 auf einer Veranstaltung in<br />
Graz.
Ambrose Bierce<br />
Zeuge des Krieges<br />
Der Amerikanische Bürgerkrieg ist noch nicht zu Ende: Der außerordentliche Film von<br />
Steven Spielberg über Abraham Lincoln und die Wiederwahl des amerikanischen Präsidenten<br />
Barack Obama hat den Blick der Öffentlichkeit noch einmal auf die Disparitäten und<br />
Auseinandersetzungen in den USA über die gesellschaftlcieh Entwicklung angefacht und<br />
das Interesse über die Umstände des Bürgerkriegs von 1861–1865 geweckt. Einer seiner<br />
schärfsten Beobachter war Ambrose Bierce, dessen Bürgerkriegsgeschichten der <strong>Elster</strong><br />
<strong>Verlag</strong> neu auflegte. Aus dem Vorwort von Professor Elisabeth Bronfen:<br />
Mit seiner Mischung aus unverfrorener Direktheit<br />
und Nostalgie stand Bierce quer zu<br />
der Art, wie man in der Nachkriegszeit nach<br />
1865, die aufgrund des wirtschaftlichen<br />
Wachstums mit seiner extravaganten Darbietung<br />
von Reichtum Gilded Age genannt<br />
wurde, das blutrünstige Abschlachten wieder<br />
zu entschärfen suchte. War man anfangs auf<br />
das Ausmaß an Zerstörung nicht vorbereitet<br />
gewesen, weil man dachte, der Krieg würde<br />
nur drei Monate dauern, dann darüber erstaunt,<br />
wie die Kriegsgewalt von Schlacht zu<br />
Schlacht hartnäckig eskalierte, wollte man<br />
nach der Kapitulation des Südens den unermeßlichen<br />
Verlust an Menschen und die<br />
Zerstörung einer gesamten Lebensweise so<br />
schnell wie möglich wieder verdrängen.<br />
Die quälende Realität des Zermürbungskrieges<br />
zwischen General Grant und General<br />
Lee sowie der grausame Marsch Shermans<br />
durch Georgia, der wörtlich eine Wunde<br />
durch die Landschaft riß, wurde bald dem<br />
kapitalistischen Optimismus der Zeit angepaßt<br />
und in militärische Hagiographien über<br />
Schlachten und große Männer des Bürgerkrieges<br />
sowie sentimentale Romane umgeschrieben.<br />
In den Geschichten, die auf seinen<br />
Augenzeugenbericht über die Schlacht von<br />
von Shiloh folgen, bedient sich Bierce hingegen<br />
explizit einer Rhetorik des Unheimlichen.<br />
Das verdrängte Wissen um die vitale<br />
Gewaltbereitschaft, die vom Bürgerkrieg entfacht<br />
worden war, sollte wieder ins Blickfeld<br />
der Amerikaner gerückt werden.<br />
Dabei geht es ihm weder um eine Verklärung<br />
dieses Zerstörungswillens noch um<br />
eine Anklage. Vielmehr sucht der ehemalige<br />
militärische Kartograph gelassen jene<br />
emotionalen Zustände nachträglich zu vermessen,<br />
die sich im Krieg einstellen: die<br />
Zufälligkeiten und Gleichzeitigkeiten, die<br />
Verwirrung der Sinne und die Fehleinschätzung<br />
der Situation, die oft fatale Folgen mit<br />
sich bringt. Dabei ist das Traumland, welches<br />
in seiner Erinnerung wieder aufsteigt, zwar<br />
explizit eine Nachempfindung und zudem<br />
ein literarisches Gebilde. Dennoch ist Bierce<br />
daran gelegen, den Krieg als unheimlichen<br />
Mitbewohner des Friedens zu verstehen. Der<br />
Krieg ist keine fremde Kraft, die eine Nation<br />
<strong>Im</strong> <strong>Lesesaal</strong> Seite 5<br />
plötzlich ergreift, sondern mit ihrem Gewebe<br />
unweigerlich verstrickt. Er ist aus dem Frieden<br />
nicht wegzudenken. In seinem Teufels<br />
Wörterbuch nennt Bierce ihn ein «Nebenprodukt<br />
der Friedenskünste».<br />
Das römische Sprichwort «Wenn du<br />
Frieden willst, rüste zum Krieg», erklärt er,<br />
«hat eine tiefere Bedeutung als allgemein<br />
wahrgenommen; es besagt nicht nur, daß<br />
alles Irdische ein Ende hat – daß Veränderung<br />
das einzig unveränderliche und ewige<br />
Gesetz ist, sondern auch, daß die Scholle des<br />
Friedens dicht mit dem Samen des Krieges<br />
besät und seinem Aufkeimen und Gedeihen<br />
außerordentlich günstig ist.» Vordergründig<br />
geht es Bierce darum, ein elementares Mißtrauen<br />
gegenüber politischen Beteuerungen<br />
ewiger Freundschaft zu erzeugen. Zugleich<br />
läßt sich seiner eigenwilligen Deutung aber<br />
auch der Gedanke abgewinnen, selbst in<br />
Zeiten des Friedens dürfe man den Willen<br />
der Menschen zum Krieg nicht verdrängen.<br />
Der Widerstreit wohnt der Freundschaft als<br />
unheimlicher Kern inne, von jeher altvertraut,<br />
aber durch die Verdrängung ziviler<br />
Politik entfremdet.<br />
Entscheidend an der Mahnung, zu Friedenszeiten<br />
den Krieg nicht aus dem Bewußtsein<br />
auszublenden, ist jedoch auch Bierce’s<br />
subjektive Einschätzung seines eigenen Überlebens.<br />
Auch wenn er von dem Kopfschuß,<br />
den er bei Kennesaw Mountain erhalten hat,<br />
mirakulös wieder kuriert werden konnte, war<br />
er nachträglich davon überzeugt, er hätte<br />
einen Teil seines Selbst auf den Schlachtfeldern<br />
des Südens zurückgelassen. Einem<br />
Freund erzählte er nach dem Krieg: «Wenn<br />
ich mich frage, was aus dem jungen Ambrose<br />
Bierce geworden ist, der in Chickamauga<br />
gekämpft hat, bin ich geneigt zu antworten,<br />
er ist tot. Ein kleiner Rest lebt in meiner<br />
Erinnerung fort, aber die übrige Person ist<br />
tot und ausgelöscht.»<br />
Überleben entpuppt sich als eine Art Geisterexistenz<br />
in doppeltem Sinn. Zum einen<br />
wirkte das Amerika der Nachkriegszeit mit<br />
dessen brutalem Gewinnstreben und ostentativer<br />
Darbietung von Wohlstand auf ihn<br />
fremd. Die scharfen, böszüngigen Polemiken<br />
seiner Kolumnen lassen erkennen, wie sehr<br />
er sich in der Rolle des Unbeheimateten<br />
gefiel. Zum anderen war ihm aber auch<br />
sein Leben als Stadtschreier San Franciscos<br />
deshalb fremd, weil seine <strong>Im</strong>agination durch<br />
Erinnerung an eine frühere Existenz durchsetzt<br />
war, die ihn als unheimlicher Doppelgänger<br />
seiner selbst hartnäckig heimsuchte.<br />
So erscheint es nur folgerichtig, daß er für<br />
seine Erzählungen über den Bürgerkrieg in<br />
ein anderes Genre, das der Spukgeschichte,<br />
überwechselt.<br />
Es ist zwar ein Gemeinplatz, den Horror<br />
des Krieges auf die begründete Todesangst<br />
der Soldaten sowie die ubiquitären Zerstörungsmaschinerie<br />
zurückzuführen. Doch<br />
Kriegsgeschichten sind auch in dem Sinne<br />
Horrorgeschichten, als jeder Soldat in der<br />
Leiche eines erschlagenen Feindes zwar das<br />
eigene Überleben festmachen kann, zugleich<br />
aber auch darin ein memento mori erkennen<br />
muß: Der Tod hätte auch ihn treffen können,<br />
er wird ihm womöglich morgen zuteil.<br />
Der Horror, den Bierce in seinen Erzählungen<br />
aus dem Bürgerkrieg erzeugt, besteht<br />
zudem auch darin, daß er den Zufall, mit<br />
dem der Tod auf dem Schlachtfeld jeweils<br />
eintritt, nicht auflöst. Es gibt in seinen<br />
Geschichten keine Vorsehung und kein<br />
Schicksal, nur die Entgeisterung über das<br />
ubiquitäre Sterben und das Erstaunen, daß<br />
man beim Töten des Feindes, weil er der<br />
ehemalige Freund war, immer wieder zu sich<br />
selbst zurückgeführt wird.<br />
Ambrose Bierce<br />
Geschichten aus dem Bürgerkrieg<br />
Fr. 39.80 | €(D) 24.80<br />
300 Seiten, gebunden<br />
ISBN: 978-3-907668-74-0
Seite 2 <strong>Im</strong> <strong>Lesesaal</strong><br />
Noch einmal Hiaasen<br />
Wie man abstürzt …<br />
In Carl Hiaasens Romanen findet sich meist<br />
ein Personal, welches sich mit einer gewissen<br />
Unerbittlichkeit darum bemüht, den amerikanischen<br />
Traum, the pursuit of happyness, auf<br />
die eigenen Bedürfnisse zurechtzustutzen.<br />
Hier ist es die 20-jährige Popsirene Cherry<br />
Pye, die nach einem drogenbedingten Absturz<br />
an ihrem Comeback arbeitet. Aber es sieht<br />
schlecht aus. Wieder hat sie sich mit allem,<br />
was high macht, vollgestopft, diesmal auch<br />
mit Vogelfutter, denn sollte sie einmal wiedergeboren<br />
werden, möchte sie ein Kakadu sein.<br />
Damit die Abstürze und ihr Verschwinden<br />
in Entzugkliniken nicht zu offensichtlich<br />
werden, gibt es ein Körperdouble, das Cherry<br />
bei «Unpässlichkeit» ersetzt. Allerdings wird<br />
die von einem Paparazzo gekidnappt.<br />
Hiaasen jagt sein geldgieriges Personal<br />
mitleidslos durch die Handlung. Dabei hat<br />
er, sozusagen als Hilfestellung, zwei Protagonisten<br />
aus früheren Romanen zu Hilfe<br />
geholt, den ehemaligen Gouverneur, der<br />
jetzt einsam in den Krokodilsümpfen lebt,<br />
und dem Mörder Chemo, der in «Unter die<br />
Haut» seine rechte Hand an einen Barrakuda<br />
verloren hatte und an ihrer Stelle einen<br />
Rasentrimmer trägt. Hiaasen ist ein in den<br />
USA außerordentlich bekannter Autor, der<br />
mit seinen Romanen in ihrer merkwürdigen<br />
Mischung von kriminellem Tun und Humor<br />
ein ganzes Genre initiiert hat. Hier ist ihm<br />
wieder ein frischer und gleichzeitig recht<br />
schwarzer Roman gelungen, der gut zu seinen<br />
besseren seiner inzwischen langen Reihe<br />
von Thrillern passt.<br />
Bernd Zocher<br />
Carl Hiaasen<br />
Sternchenhimmel<br />
Broschiert, 396 Seiten<br />
Fr. 22.00 / Euro 15.00<br />
Goldmann – Manhattan, München 2012.<br />
Schmöker hoch vier<br />
Für die Herbstferien …<br />
Leichtfüßig und tiefgründig entführt uns<br />
Annika Reich nach Berlin, 34 Meter über<br />
dem Meer. Das ist Horowitz, der Meeresforscher,<br />
der nie am Meer war, gescheitert<br />
als Wissenschaftler und in der Liebe. Seine<br />
prächtige Wohnung erzählt Geschichten<br />
über das Meer; die Einrichtung ist der Jules<br />
Verne‘schen «Nautilus» nachempfunden. Sie<br />
ist für ihn aber zum Gefängnis voller Erinnerungen<br />
geworden, und so schreibt er sie zum<br />
Tausch aus.<br />
Für die Abenteuererin und ewige Träumerin<br />
Ella ist das Angebot ein Geschenk, das sie<br />
sofort annimmt. Ella hat eine lebenshungrige,<br />
blonde, pralle, immer abwesende Mutter und<br />
eine pragmatische Schwester, die immer wieder<br />
versucht, Ella auf den Boden der Realität<br />
zu bringen.<br />
Ausgerechnet in die Mutter der beiden<br />
Schwestern verliebt sich der melancholische<br />
Horowitz. Sie tröstet ihn mit dem klugen Satz:<br />
«Scheitern ist auch nur eine Interpretation einer<br />
Geschichte, die man auch anders hätte<br />
erzählen können» und reißt ihn buchstäblich<br />
mit in ein anderes Leben.<br />
Sanft und ideenreich spinnt die Erzählerin<br />
die Fäden ihrer Geschichte und man lässt sich<br />
freudig einwickeln, bis man, fröhlich gefangen<br />
im Kokon der Ereignisse, beschliesst, noch<br />
ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen und<br />
eine weitere Sommernacht mit den witzigen,<br />
mutigen und schrägen Figuren aus Berlin zu<br />
verbringen.<br />
Ulla Schiesser<br />
Annika Reich<br />
34 Meter über dem Meer<br />
Gebunden, 272 Seiten<br />
Fr. 26.90 / Euro 18.90<br />
Hanser <strong>Verlag</strong>, München 2012.