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Zitat der Wochen 46-47 / 2011 - i-daf.org

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NEWSLETTER <strong>46</strong>-<strong>47</strong>/<strong>2011</strong>DRUCKVERSIONIntegration, Kultur, Demographie: Von Gemeinsamkeiten undUnterschieden<strong>Zitat</strong> <strong>der</strong> <strong>Wochen</strong> <strong>46</strong>-<strong>47</strong> / <strong>2011</strong>Toleranz o<strong>der</strong> Emanzipation? Das Dilemma <strong>der</strong> Integrationspolitik o<strong>der</strong> dieDiskriminierung, die keine sein darfWer in Rotterdam, Berlin o<strong>der</strong> Kopenhagen verschleierten Frauen wie in Beirut o<strong>der</strong>Damaskus begegnete und vor allem wer mit fremdartigen Gewohnheiten im Bereich vonFamilie, Erziehung und Heirat konfrontiert wurde, die von einer islamischen Kultur geprägtwaren und im Wi<strong>der</strong>spruch zu den mo<strong>der</strong>nen europäischen Anschauungen standen,musste sich fragen, ob unbegrenzte Toleranz nicht in Verleugnung o<strong>der</strong> Aushöhlung <strong>der</strong>eigenen Werte und Kultur umschlagen kann. […] Jetzt, da in Europa in <strong>der</strong> Sexualität, imVerhältnis <strong>der</strong> Geschlechter und in <strong>der</strong> Erziehung frühere Tabus und Beschränkungenverschwunden waren, war <strong>der</strong> Kontrast zu den Sitten und <strong>der</strong> Denkweise von Menschenaus einer ganz an<strong>der</strong>sartigen Kultur umso auffälliger. Angesichts des hohen Stellenwerts,den Toleranz, Antirassismus und die Emanzipation von Min<strong>der</strong>heiten im offiziellenMoralkodex seit den sechziger Jahren hatten […] verstrickte man sich hier in einverzwicktes, paradoxes Problem. Gerade diejenigen, die sich mehr als an<strong>der</strong>e und ausPrinzip für Emanzipation und Rechtsgleichheit stark machten, mussten die Ungleichheit(nach den eigenen Maßstäben also Diskriminierung), die untergeordnete Position <strong>der</strong> Frauund die ganze patriarchalische Familienstruktur in den islamischen Gemeinschaftenverurteilen. Nach dem ebenso bedeutsamen Toleranzprinzip dagegen, das auf denGedanken <strong>der</strong> Gleichwertigkeit <strong>der</strong> verschiedenen Religionen und Kulturen beruht, musstensie all dies respektieren. Es ist nicht verwun<strong>der</strong>lich, dass Regierungen und Öffentlichkeitdiese Grundsatzfragen am liebsten vor sich her schoben.Hermann W. von <strong>der</strong> Dunk: Kulturgeschichte des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts, Band II, München 2004 (ErstausgabeAmsterdam 2000), S. 516-517.Anmerkung: Hermann W. von <strong>der</strong> Dunk, geboren 1926 in Bonn, seit 1937 in den Nie<strong>der</strong>landen lebend, warProfessor für mo<strong>der</strong>ne Geschichte und Kulturgeschichte an den Universitäten Utrecht und Nijmegen.Nachricht <strong>der</strong> <strong>Wochen</strong> <strong>46</strong>-<strong>47</strong> / <strong>2011</strong>Integration, Kultur, Demographie: Von Gemeinsamkeiten und Unterschieden„Integration ist difficult, everywhere“ (Integration ist überall schwierig) erklärte vor Jahreneine führende amerikanische Einwan<strong>der</strong>ungsexpertin bei einem Deutschlandbesuch (1).Mit diesem nur scheinbar banalen Statement formulierte sie die Erfahrung eines„klassischen“ Einwan<strong>der</strong>ungslandes: Der Aufstieg <strong>der</strong> USA zur führenden Industrienation<strong>der</strong> Welt ist untrennbar mit ihrer Immigrationsgeschichte verbunden: Im 19. und frühen 20.Jahrhun<strong>der</strong>t kamen die Zuwan<strong>der</strong>er hauptsächlich aus Europa; für ihre Identität und ihren1


Alltag blieb dabei ihre ethnische Zugehörigkeit konstitutiv: In Metropolen wie New Yorkbildeten sich deutsche, irische, italienische etc. „Parallelgesellschaften“ – die damitverbundenen Konflikte sind durch populäre Filme auch Nicht-Historikern bekannt (2). Heutestehen die „Hispanics“ im Focus <strong>der</strong> amerikanischen Migrations- und Integrationspolitik:Aufgrund ihres Kin<strong>der</strong>reichtums und <strong>der</strong> Zuwan<strong>der</strong>ung aus Lateinamerika werden sie imSüden <strong>der</strong> USA (New Mexico, Texas, Kalifornien) von einer Min<strong>der</strong>heit längerfristig zurgrößten Bevölkerungsgruppe werden (3). Im Vergleich zu Angehörigen <strong>der</strong> „weißen“ und<strong>der</strong> „asiatischen“ Bevölkerung sind die Hispanics weniger gut ausgebildet, häufiger schlechtbezahlt und beson<strong>der</strong>s oft nicht krankenversichert. Noch prekärer sind dieLebensverhältnisse vieler Afro-Amerikaner – die verhängnisvollen Folgen <strong>der</strong> früherenRassentrennung wirken nach und führten immer wie<strong>der</strong> (z. B. in Los Angeles) zu Unruhenund Gewalt.Mit dem Zuzug von „Gastarbeitern“ aus Südeuropa, Nor<strong>daf</strong>rika und vor allem <strong>der</strong> Türkei istseit etwa 1960 auch Deutschland zu einem Einwan<strong>der</strong>ungsland geworden. DieseZuwan<strong>der</strong>ungsgeschichte verlief vergleichsweise undramatisch; im Gegensatz zuGroßbritannien und Frankreich sind größere Gewaltausbrüche bisher ausgeblieben. EinGrund <strong>daf</strong>ür ist die niedrigere Jugendarbeitslosigkeit: Das duale System <strong>der</strong> Berufsbildunghilft auch Jugendlichen mit Migrationshintergrund bei <strong>der</strong> Integration in dieErwerbsgesellschaft (4). Diese Seite <strong>der</strong> Integrationsbilanz bleibt oft unterbelichtet; gehörtes doch in manchen Medien schon zur Gewohnheit, <strong>der</strong> Politik „Versagen“ bei <strong>der</strong>Integration von Zuwan<strong>der</strong>ern vorzuwerfen (5). Anlass <strong>daf</strong>ür sind die Integrationsprobleme,von denen auch Deutschland nicht verschont bleibt: Die Zugewan<strong>der</strong>ten sind im Vergleichzu den „Autochthonen“ schlechter ausgebildet, häufiger ohne Arbeit und von relativerEinkommensarmut bedroht (6).Im Blick auf die Lebenswirklichkeit von Zuwan<strong>der</strong>ern sind statistische Durchschnittswertebei <strong>der</strong> Kategorie „Migrationshintergrund“ allerdings wenig aussagekräftig, gehören zu ihrdoch alle Zuwan<strong>der</strong>er – deutschsprachige Aussiedler, Nie<strong>der</strong>län<strong>der</strong> und Franzosengenauso wie Türken, Araber o<strong>der</strong> Schwarzafrikaner. Neuere Untersuchungen schlüsselndeshalb den „Migrationshintergrund“ nach <strong>der</strong> Herkunftsregion (Türkei, Ex-Jugoslawienetc.) auf. Ihre Ergebnisse bestätigen manche vermeintlichen Vorurteile <strong>der</strong> „Stammtische“:Türkischstämmige sind demnach wesentlich seltener erwerbstätig als „autochthone“Deutsche o<strong>der</strong> auch Südeuropäer: türkische Mütter bleiben häufiger zu Hause undtürkische Männer sind etwa doppelt so oft arbeitslos wie deutsche Männer. Gleichzeitigarbeiten türkischstämmige Arbeitnehmer häufiger als an- und ungelernte Arbeiter imunteren Einkommensbereich (7). Das Zusammenspiel geringerer Erwerbsbeteiligung undniedrigerer Löhne führt dazu, dass Türkischstämmige mehr als doppelt so häufig wie„Einheimische“ in prekären Einkommensverhältnissen leben (8). Ein zentraler Grund fürdiese ökonomische Deprivation ist mangelnde schulische Bildung: Nur 2% <strong>der</strong>„Autochthonen“ und auch nur 4% <strong>der</strong> Osteuropäer, aber rund 26% <strong>der</strong> Türkischstämmigenhaben keinen Schulabschluss und damit wenig Chancen auf dem regulären Arbeitsmarkt(9). Beson<strong>der</strong>s ausgeprägt sind die Bildungsdefizite bei den Älteren, während die inDeutschland aufgewachsenen Jüngeren schon deutlich häufiger schulische und auchberufliche Bildungsabschlüsse haben – über die Generationen macht die Integration <strong>der</strong>„Türken“ also durchaus Fortschritte.Im Vergleich zu an<strong>der</strong>en Migranten sind die Türkischstämmigen aber nach wie vorschlechter integriert: Sie haben weniger Kontakte zu Deutschen und identifizieren sich auchweniger mit Deutschland (10). Verbunden mit <strong>der</strong> schwächeren Integration in dieGesellschaft ist eine stärkere Rolle <strong>der</strong> Familie in ihrem Leben: Türkischstämmige lebenseltener allein, heiraten früher und gründen häufiger (größere) Familien. Deshalbübertreffen ihre Kin<strong>der</strong>zahlen bei weitem die <strong>der</strong> „autochthonen“ Deutschen (11). Zuerklären ist diese Fertilitätsdifferenz nicht zuletzt dadurch, dass aufgrund fehlen<strong>der</strong>beruflicher Erfolgschancen gering qualifizierten Migrantinnen mehr Zeit für Kin<strong>der</strong> undFamilie bleibt. Dies bedeutet umgekehrt: Je besser künftig die Bildungs- und2


Arbeitsmarktintegration <strong>der</strong> türkischstämmigen Frauen gelingt, desto mehr wird ihreGeburtenneigung sinken (12). Der zivilisatorische Fortschritt hätte dann einmal mehr denNachwuchs wegrationalisiert.(1) So zitiert <strong>der</strong> Migrationsforscher Friedrich Heckmann ein Statement von Doris Meissner, <strong>der</strong> früherenLeiterin des „Immigration and Naturalization Service“ <strong>der</strong> USA. Siehe: Friedrich Heckmann:Integrationsweisen europäischer Gesellschaften: Erfolge, nationale Beson<strong>der</strong>heiten, Konvergenzen, S. 202-223, in: Klaus J. Bade et al. (Hrsg.): Migrationsreport 2004, Frankfurt am Main/New York 2004, S. 223.(2) Siehe hierzu: http://www.i-<strong>daf</strong>.<strong>org</strong>/117-0-Woche-4-2009.html.(3) Vgl. Friedrich Heckmann: Integrationsweisen europäischer Gesellschaften, a.a.O., S. 16.(4) Beispielhaft hierfür: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,795268,00.html. In einem denkwürdigen,aber von Journalisten lei<strong>der</strong> nie selbstkritisch reflektierten Kontrast zu solchen moralisierenden Beiträgenstehen manche frühere, gegenüber Migranten wenig wohlwollende, Berichte auch des „Spiegel“ zurEinwan<strong>der</strong>ung nach Deutschland: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41955159.html.(5) Vgl.: Gunter Bruckner Gabriela Fuhr: Bevölkerung mit Migrationshintergrund, S. 188-192, in: StatistischesBundesamt/Wissenschaftszentrum Berlin (Hrsg.): Datenreport <strong>2011</strong>. Ein Sozialbericht für die BundesrepublikDeutschland, Band I, S. 192; Ingrid Tucci: Lebenssituation von Migrantinnen und <strong>der</strong>en Nachkommen, S. 193-199, ebd., S. 194 (Abb. 1).(6) Vgl. ebd., S. 196-198.(7) Der Ausdruck „prekär“ bezeichnet hier (wissenschaftlich nicht ganz exakt) das sog. „Armutsrisiko“ (< 60%des Durchschnittseinkommens). Zu den Zahlen: Ebd., S. 194 (Abb. 1).(8) Zur Schulbildung siehe: „Migranten: Desintegration durch Bildungsdefizite?“ (Abbildung unten).(9) Vgl.: Heinz-Herbert Noll und Stefan Weick: Zuwan<strong>der</strong>er mit türkischem Migrationshintergrund schlechterintegriert, Indikatoren und Analysen zur Integration von Migranten in Deutschland, S. 1-6, in:Informationsdienst Soziale Indikatoren, Ausgabe <strong>46</strong> – Juli 2006, S. 5-6 (Datenbasis: Mikrozensus SUF 2008).(10) Siehe hierzu: http://www.i-<strong>daf</strong>.<strong>org</strong>/364-0-<strong>Wochen</strong>-5-6-<strong>2011</strong>.html. Den höheren Kin<strong>der</strong>zahlen entsprichteine höhere Wertigkeit von Elternschaft: Siehe „Ethnischer Traditionalismus vs. Familienunlust?“ (Abbildungunten).(11) Für diese Annahme spricht, dass sich die Kin<strong>der</strong>zahlen hochqualifizierter Frauen mitMigrationshintergrund nur wenig von denen „autochthoner“ Frauen unterscheiden. Vgl.: Jürgen Dorbritz:Kin<strong>der</strong>zahlen bei Frauen mit und ohne Migrationshintergrund im Kontext von Lebensformen und Bildung, S. 7-12, in: Bevölkerungsforschung Aktuell 01/<strong>2011</strong>, Tabellen 1 und 2 (Datenquelle: Statistisches Bundesamt:Mikrozensus 2008).3

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