11.07.2015 Aufrufe

AJC Berlin Briefing Fakten und Mythen in der Beschneidungsdebatte_0

AJC Berlin Briefing Fakten und Mythen in der Beschneidungsdebatte_0

AJC Berlin Briefing Fakten und Mythen in der Beschneidungsdebatte_0

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN
  • Keine Tags gefunden...

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> <strong>Brief<strong>in</strong>g</strong>FAKten &mYtHen<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong>American Jewish committee <strong>Berl<strong>in</strong></strong>


FAKten &mYtHen<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong>imPressumHerausgeber<strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> Lawrence & Lee Ramer Institutefor German Jewish RelationsLeipziger Platz 1510117 <strong>Berl<strong>in</strong></strong><strong>Berl<strong>in</strong></strong>@ajc.orgwww.ajcgermany.orgV. i. s. d. P.: Deidre BergerAutoren: Deidre Berger, Alexan<strong>der</strong> Hasgall,Juliane Hüber, Fabian Weißbarthstand: 15. November 2012© AJc <strong>Berl<strong>in</strong></strong> lawrence & lee ramer <strong>in</strong>stitutefor german Jewish relations2 | <strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> – <strong>Fakten</strong> <strong>und</strong> <strong>Mythen</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong>


<strong>in</strong>HAltE<strong>in</strong>leitung 4Religiöse Dimension früherer Debatten 6Beschneidung <strong>und</strong> antijüdisches Vorurteil 7Mediz<strong>in</strong>ische Dimension <strong>der</strong> <strong>der</strong>zeitigen Debatte 11Fazit 26<strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> – <strong>Fakten</strong> <strong>und</strong> <strong>Mythen</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong> | 3


e<strong>in</strong>leitungKaum e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Thema hat die politische Debatte <strong>und</strong> die öffentliche Diskussion<strong>in</strong> den letzten Wochen <strong>in</strong> Deutschland so erregt, wie die Frage nach <strong>der</strong> Rechtmäßigkeit<strong>der</strong> Beschneidung. Auslöser <strong>der</strong> Debatte war die Entscheidung des KölnerLandgerichts vom Mai 2012, nach <strong>der</strong> die nicht mediz<strong>in</strong>isch <strong>in</strong>dizierte Beschneidungals strafbare Handlung zu bewerten ist.Zwar stellt das Urteil nicht mehr als e<strong>in</strong>e juristische E<strong>in</strong>zelme<strong>in</strong>ung dar, doch wurdehierdurch e<strong>in</strong> rechtliches Vakuum geschaffen, das unter <strong>der</strong> jüdischen <strong>und</strong> muslimischenGeme<strong>in</strong>schaft, aber auch bei Mediz<strong>in</strong>ern, große Verunsicherung auslöste.Auch <strong>in</strong>ternational hat das Thema für Aufsehen gesorgt. Infolgedessen hat <strong>der</strong>Deutsche B<strong>und</strong>estag <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Son<strong>der</strong>sitzung während <strong>der</strong> Sommerpause die B<strong>und</strong>esregierungdazu aufgefor<strong>der</strong>t, e<strong>in</strong> Gesetz zur rechtlichen Absicherung <strong>der</strong> bisherigenBeschneidungspraxis auf den Weg zu br<strong>in</strong>gen.Aber auch nach <strong>der</strong> Vorlage e<strong>in</strong>es Gesetzentwurfs durch die B<strong>und</strong>esm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong> <strong>der</strong>Justiz hält die Debatte an. Verschiedene humanistische <strong>und</strong> mediz<strong>in</strong>ische Verbändehaben das Urteil des Kölner Landgerichts <strong>und</strong> die B<strong>und</strong>estagssitzung am 19.07.2012 zum Anlass genommen, mit e<strong>in</strong>er breit angelegten Kampagne die bisher fastausschließlich <strong>in</strong> mediz<strong>in</strong>ischen <strong>und</strong> juristischen Fachkreisen geführte Frage <strong>in</strong> dieÖffentlichkeit zu tragen. B<strong>und</strong>estagsabgeordnete verschiedener Fraktionen berichtetene<strong>in</strong>vernehmlich, selten so viele aufgebrachte Zuschriften erhalten zu haben.In den B<strong>und</strong>estagsfraktionen werden <strong>der</strong> Gesetzentwurf <strong>und</strong> die juristischen <strong>und</strong>mediz<strong>in</strong>ischen Aspekte <strong>der</strong> Beschneidung kontrovers <strong>in</strong> Anhörungen <strong>und</strong> Expertengesprächendiskutiert. E<strong>in</strong>e überfraktionelle Parlamentariergruppe aus Teilen vonSPD, Grünen <strong>und</strong> L<strong>in</strong>ken hat <strong>in</strong>des e<strong>in</strong>en alternativen Gesetzentwurf e<strong>in</strong>gebracht,<strong>der</strong> die Beschneidung bis zum 14. Lebensjahr untersagen soll.Die Diskussion lediglich als e<strong>in</strong>e juristische Abwägung verschiedener Verfassungsrechte,wie <strong>der</strong> körperlichen Unversehrtheit, dem Elternrecht auf Erziehung sowie<strong>der</strong> Religionsfreiheit zu betrachten, würde die gesellschaftliche Reichweite dieserDiskussion verkennen. Die Debatte kann nur sachgemäß geführt werden, wenn anerkanntwird, welcher Stellenwert <strong>der</strong> Beschneidung im Judentum <strong>und</strong> im Islamhistorisch <strong>und</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwart beigemessen wird. Obgleich es Stimmen gibt, diedas Beschneidungsthema religions<strong>in</strong>tern aufgegriffen haben, bleibt für die über-4 | <strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> – <strong>Fakten</strong> <strong>und</strong> <strong>Mythen</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong>


große Mehrheit <strong>der</strong> Juden <strong>in</strong> Deutschland – ob sie dem orthodoxen o<strong>der</strong> dem Reformjudentumangehören – die Beschneidung identitätsstiften<strong>der</strong> <strong>und</strong> konstitutiverTeil des jüdischen Lebens. Die Schwierigkeiten <strong>der</strong> deutschen Gesellschaft, mitdiesem „An<strong>der</strong>s-se<strong>in</strong>“ umzugehen, konnte man <strong>in</strong> den antisemitischen <strong>und</strong> antimuslimischenStereotypen, die durch Karikaturen, Aufsätze, Leserbriefe <strong>und</strong> an<strong>der</strong>eSchriften Verbreitung fanden, erkennen.Angesichts des hohen Stellenwerts <strong>der</strong> Beschneidung für Juden ist es bemerkenswert,dass <strong>der</strong>en Bedeutung für das Judentum kaum thematisiert wird. Stattdessenwird die Beschneidung nicht selten als archaische Praxis bezeichnet. Von Kritikernwird versucht, unter Bezugnahme auf verme<strong>in</strong>tlich sachliche Argumente nachzuweisen,dass die Beschneidung aus mediz<strong>in</strong>ischer Sicht e<strong>in</strong>e Verletzung des K<strong>in</strong>deswohlsdarstelle. Zwar gibt es <strong>in</strong> <strong>in</strong>ternationalen mediz<strong>in</strong>ischen Fachkreisen e<strong>in</strong>eKontroverse zum Thema Beschneidung, doch kam nach umfangreicher wissenschaftlicherAuswertung vorhandener Studien die weltweit größte Vere<strong>in</strong>igung vonK<strong>in</strong><strong>der</strong>ärzten, die American Academy of Pediatrics (AAP) jüngst zu dem Schluss,dass die ges<strong>und</strong>heitlichen Vorteile <strong>der</strong> Beschneidung die sehr ger<strong>in</strong>gen Risiken beiweitem überwiegen. Auch die Weltges<strong>und</strong>heitsorganisation (WHO) kommt nacheigenen Langzeitstudien zu <strong>der</strong> Erkenntnis, dass die Beschneidung aus mediz<strong>in</strong>ischenGründen zu empfehlen ist.In dieser spannungsgeladenen Atmosphäre fällt es manchmal schwer, zwischen<strong>Fakten</strong> <strong>und</strong> <strong>Mythen</strong> zu unterscheiden. Dieser Bericht soll dabei helfen, <strong>in</strong> dieserkomplexen Materie Orientierung zu geben. Er bietet daher H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong><strong>in</strong>formationenzur Beschneidung als Bestandteil jüdischer Religion, weist auf den historischenKontext von <strong>Beschneidungsdebatte</strong>n h<strong>in</strong> <strong>und</strong> klärt über wesentliche mediz<strong>in</strong>ische<strong>und</strong> psychologische Argumente <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong> auf.Unser Dank gilt dabei den vielen <strong>in</strong>ternationalen Fachexperten, die uns geholfenhaben <strong>und</strong> nach <strong>der</strong> Erstveröffentlichung des <strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> <strong>Brief<strong>in</strong>g</strong> unser Anliegen gestärkthaben, Vorbehalte gegen die Beschneidung sorgfältig zu prüfen.Es bleibt zu hoffen, dass die lebhafte <strong>und</strong> emotionale Debatte um die Beschneidunge<strong>in</strong> positives Bekenntnis zur Religionsfreiheit als essenziellem Bestandteile<strong>in</strong>er demokratischen, pluralen Gesellschaft bekräftigen kann.<strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> – <strong>Fakten</strong> <strong>und</strong> <strong>Mythen</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong> | 5


eligiöseDimensionFrÜHerer DeBAttenDie Beschneidung (auch Zirkumzision genannt) ist Bestandteil <strong>der</strong> muslimischen<strong>und</strong> jüdischen Religionsausübung. Die Thora, das jüdische Religionsgesetz, for<strong>der</strong>te<strong>in</strong>deutig: „Das ist me<strong>in</strong> B<strong>und</strong>, den ihr bewahren sollt […] Und ihr sollt beschnittenwerden an eurem Gliede <strong>der</strong> Vorhaut, <strong>und</strong> das sei zum Zeichen des B<strong>und</strong>es zwischenmir <strong>und</strong> euch. Und acht Tage alt soll beschnitten werden bei euch jeglichesMännliche.“ (Gen. 17, 10–12). Trotz größtem Druck <strong>der</strong> Außenwelt hat das Judentum<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er langen Geschichte niemals Teile <strong>der</strong> Thora revidiert.Das Ritual <strong>der</strong> Beschneidung ist konstitutiv für die jüdische Identität. Es ist dieVoraussetzung für die vollständige Aufnahme <strong>in</strong> das jüdische Geme<strong>in</strong>deleben, wodas Judentum gelehrt <strong>und</strong> gelebt wird. Zum Beispiel dürfen unbeschnittene Jungennicht zur Thora aufgerufen werden <strong>und</strong> können zum 13. Geburtstag ke<strong>in</strong>e Bar Mitzwa-Zeremoniefeiern. Auch für e<strong>in</strong>e Konversion zum Judentum ist e<strong>in</strong>e Beschneidungunabd<strong>in</strong>gbar. Die Beschneidung markiert die Zugehörigkeit zur jüdischen Geme<strong>in</strong>schaft<strong>und</strong> stiftet somit Identität.Die Beschneidung wird von allen Strömungen des Judentums praktiziert, von liberalen<strong>und</strong> orthodoxen Juden. Das Judentum bildet eigene Experten zur Durchführung<strong>der</strong> Beschneidung aus – die Mohel. Sie werden für dieses Amt geschult<strong>und</strong> verfügen über die erfor<strong>der</strong>lichen mediz<strong>in</strong>ischen Kenntnisse. Bevor e<strong>in</strong> Mohelselbstständig amtieren kann, wird er <strong>in</strong>tensiv von e<strong>in</strong>em erfahrenen Kollegen vorbereitet.Daher kennt er die mediz<strong>in</strong>ischen <strong>und</strong> religiösen Dimensionen dieses Rituals<strong>und</strong> ist zugleich die Vertrauensperson <strong>der</strong> Eltern.6 | <strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> - <strong>Fakten</strong> <strong>und</strong> <strong>Mythen</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong>


BescHneiDung unDAntiJÜDiscHesVorurteilHistorisch wurde immer wie<strong>der</strong> versucht, die Beschneidung zu erschweren o<strong>der</strong> zuverbieten. Dies begann schon <strong>in</strong> <strong>der</strong> Antike. Der hellenistische Herrscher AntiochusIV. Epiphanes stellte die Beschneidung unter Todesstrafe. Auch <strong>der</strong> römische KaiserHadrian erließ e<strong>in</strong> Verbot <strong>der</strong> Beschneidung, das als e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Auslöser für denso genannten „Bar Kochba-Aufstand“ gegen die römische Herrschaft galt. Daranwird deutlich, dass dieser Erlass von den Juden als deutliche existenzielle Bedrohungwahrgenommen wurde. Auch das Christentum stellte sich explizit gegen dasjüdische Ritual <strong>der</strong> Beschneidung. Zwar waren Jesus <strong>und</strong> auch Paulus beschnitten,mit <strong>der</strong> Christianisierung heidnischer Völker wurde jedoch die jüdische Tradition alsüberholt dargestellt <strong>und</strong> die Taufe als Gegenmodell propagiert.Seit Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>und</strong> mit dem Aufkommen des mo<strong>der</strong>nen Antisemitismusgab es <strong>in</strong> Deutschland mehrere öffentliche Debatten zur staatlichen Regelungvon Beschneidungen. In ihrem Buch „Contested Rituals. Circumcision, KosherButcher<strong>in</strong>g, and Jewish Political Life <strong>in</strong> Germany. 1843–1933“ 1 geht die Historiker<strong>in</strong>Rob<strong>in</strong> Judd auf den Umstand e<strong>in</strong>, dass <strong>in</strong> diesen Debatten antisemitische Positionenwie die angebliche jüdische Brutalität, Blutrünstigkeit <strong>und</strong> Asozialität weitverbreitet waren. Auch die Beschneidung galt als Beleg für spätmittelalterlicheRitualmordlegenden. 2 Dabei mischte sich Unverständnis für die jüdische Traditionmit antijüdischem Hass. Die Beschneidungskritik diente dazu, e<strong>in</strong> verme<strong>in</strong>tlich archaischesJudentum, das sich <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Wertegeme<strong>in</strong>schaft entzog, zu denunzieren<strong>und</strong> das Judentum als rückständig <strong>und</strong> überholt zu brandmarken.Auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> gegenwärtigen Diskussion spielt dieser traditionelle Anti-Beschneidungsdiskurse<strong>in</strong>e wichtige Rolle. Die Kommentarspalten <strong>der</strong> Onl<strong>in</strong>emedien s<strong>in</strong>dvoller Beleidigungen gegen Juden <strong>und</strong> Muslime, die als grausam, abartig <strong>und</strong> verbohrtbeschrieben werden. Dämonisierende Bil<strong>der</strong> <strong>und</strong> Begriffe s<strong>in</strong>d fester Bestandteil<strong>der</strong> öffentlichen Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung. E<strong>in</strong>e Karikatur <strong>der</strong> Boulevardzeitung <strong>Berl<strong>in</strong></strong>erKurier, die e<strong>in</strong>en Mann mit Knollennase zeigt, <strong>der</strong> mit blutgetränktem Messerden Penis e<strong>in</strong>es Jungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hand hält 3 , zeigt Parallelen zu antisemitischen Hetzbil<strong>der</strong>n<strong>der</strong> Weimarer Republik auf. In e<strong>in</strong>er von <strong>der</strong> Giordano Bruno Stiftung veröffentlichtenKarikatur von Jacques Tilly wird <strong>in</strong> verschwörungstheoretischer Manierdie angebliche Macht <strong>der</strong> jüdischen <strong>und</strong> moslemischen Religionsvertreter dargestellt,die <strong>in</strong> stereotyper Darstellung im Deutschen B<strong>und</strong>estag den Abgeordneten1 Judd, Rob<strong>in</strong> (2007): Contested Rituals. Circumcision,Kosher Butcher<strong>in</strong>g, and JewishPolitical Life <strong>in</strong> Germany. 1843–1933, CornellUniversity Press, Ithaca and London.2 Judd, ebd., S. 113.3 Vgl. Bild auf: www.qpic.ws/images/berl<strong>in</strong>erkurier.png(08.10.2012).<strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> – <strong>Fakten</strong> <strong>und</strong> <strong>Mythen</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong> | 7


das Recht auf Beschneidung aufzw<strong>in</strong>gen: Die Karikatur zeigt e<strong>in</strong>en jüdischen <strong>und</strong>e<strong>in</strong>en islamischen Geistlichen mit Scheren, dazwischen steht <strong>in</strong> unterstützen<strong>der</strong>Position e<strong>in</strong> Priester. Zunächst hatte die Bruno Giordano Stiftung diese Karikaturmit Messern <strong>und</strong> Blutflecken veröffentlicht, sie später aber offenbar verän<strong>der</strong>t, <strong>in</strong>demdas Blut entfernt <strong>und</strong> die Messer durch Scheren ersetzt wurden. Die Parlamentarierwerden <strong>in</strong> unterwürfiger Pose illustriert. 4Der Antisemitismus <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong> ist auch Ergebnis e<strong>in</strong>er gesteuertenKampagne, u. a. von Seiten <strong>der</strong> Giordano Bruno Stiftung. Am 21. Juli 2012 veröffentlichtedie FAZ e<strong>in</strong>en offenen Brief mehrerer h<strong>und</strong>ert Mediz<strong>in</strong>er <strong>und</strong> Juristenan die B<strong>und</strong>esregierung, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die Beschneidung als „sexuelle Gewalt“ bezeichnetwurde. 5 Juden <strong>und</strong> Muslimen wurde implizit Strafverfolgung angedroht, sie wurdenals Verbrecher dargestellt.Am 21. August 2012 wurde <strong>der</strong> Hofer Rabb<strong>in</strong>er <strong>und</strong> Mohel Daniel Goldberg von e<strong>in</strong>emhessischen Arzt <strong>und</strong> Mitunterzeichner des offenen Briefes angezeigt. Am selbenTag läutete die Giordano Bruno Stiftung ihre Kampagne gegen die Beschneidunge<strong>in</strong>. In e<strong>in</strong>em Facebook-Post<strong>in</strong>g vom 21. August 2012 wurde die Strafanzeige gegenRabb<strong>in</strong>er Goldberg mit den Worten „Es geht los“ betitelt. E<strong>in</strong> paar Tage später wurdedie Website „Pro K<strong>in</strong><strong>der</strong>rechte“ onl<strong>in</strong>e gestellt, auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong> Junge abgebildet ist,<strong>der</strong> mit se<strong>in</strong>en Händen den Genitalbereich abdeckt. Der Kampagnenslogan „Me<strong>in</strong>Körper gehört mir“ knüpft unmittelbar an frühere Aktionen gegen sexuellen Missbrauchan <strong>und</strong> stellt die Beschneidung von Jungen erneut <strong>in</strong> diesen Zusammenhang.Der <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kampagne verwendete Begriff <strong>der</strong> „Zwangsbeschneidung“ ruftzudem sprachliche Parallelen zur Nazi-Praxis <strong>der</strong> „Zwangssterilisierung“ hervor.Die Reaktionen <strong>der</strong> Kampagnenunterstützer <strong>in</strong> den neuen sozialen Medien ließennicht lange auf sich warten. In e<strong>in</strong>em Post<strong>in</strong>g konnte e<strong>in</strong> User unwi<strong>der</strong>sprochenvon „homoerotischen pädophilen Neigungen“ <strong>der</strong> Juden sprechen. E<strong>in</strong> an<strong>der</strong>erFollower <strong>der</strong> Giordano Bruno Stiftung betitelte die Beschneidung als Schlachtung.E<strong>in</strong>e Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit diesem offenen Antisemitismus f<strong>in</strong>det <strong>in</strong> diesen Kreisenjedoch kaum statt.Am 20. Juli 2012 startete die Deutsche K<strong>in</strong><strong>der</strong>hilfe e<strong>in</strong>e Petition gegen die Beschneidung,mit <strong>der</strong> e<strong>in</strong> R<strong>und</strong>er Tisch zum Thema <strong>und</strong> e<strong>in</strong> Moratorium für e<strong>in</strong>e gesetzlicheRegelung gefor<strong>der</strong>t wurden. Neben dem B<strong>und</strong> katholischer Ärzte unterstütztauch Terre des Femmes die Anti-Beschneidungs-Petition. 6 Die Vorsitzende dieserOrganisation, Irm<strong>in</strong>gard Schewe-Gerigk, setzte die Beschneidung analog zurWitwenverbrennung, welche historisch überw<strong>und</strong>en wurde. 7 Auf <strong>der</strong> Website <strong>der</strong>SPD-Laizisten wird die Beschneidung implizit <strong>in</strong> die Reihe u.a. von Judenpogromen<strong>und</strong> Ste<strong>in</strong>igungen gestellt, die allesamt als „bizarrste Verirrungen“ bezeichnet, imLaufe <strong>der</strong> Geschichte e<strong>in</strong>gestellt wurden. 8 Die historischen Gleichnisse sollen ansche<strong>in</strong>enddie For<strong>der</strong>ung nach e<strong>in</strong>em Beschneidungsverbot legitimieren. Auch <strong>der</strong>emeritierte Strafrechtler Prof. Dr. Rolf Dietrich Herzberg, zu dessen 70. Geburtstage<strong>in</strong>e Festschrift gegen Beschneidung erschienen ist, äußert sich <strong>in</strong> ähnlicher Weise:So sei die Vorhaut, ebenso wie <strong>der</strong> Bl<strong>in</strong>ddarm e<strong>in</strong> „von <strong>der</strong> Evolution gewollte(r)Teil des Körpers“. Er vergleicht die Beschneidung mit dem Akt <strong>der</strong> Ste<strong>in</strong>igung, demSchächten von Tieren <strong>und</strong> rituellen Menschenopfern. 94 Vgl. Bild auf: www.giordano-bruno-stiftung.de/meldung/b<strong>und</strong>estag-will-k<strong>in</strong><strong>der</strong>rechte-beschneiden(08.10.2012).5 Vgl. www.faz.net/aktuell/politik/<strong>in</strong>land/offener-brief-zur-beschneidung-religionsfreiheit-kann-ke<strong>in</strong>-freibrief-fuer-gewaltse<strong>in</strong>-11827590.html(08.10.2012).6 Vgl. www.k<strong>in</strong><strong>der</strong>hilfe.de/blog/artikel/b<strong>und</strong>estagspetition-zu-beschneidungen/(08.10.2012).7 Vgl. www.fr-onl<strong>in</strong>e.de/politik/beschneidung-aerzte-sehen-<strong>in</strong>-tradition-ke<strong>in</strong>erechtfertigung,1472596,17238330.html(15.10.2012).8 Vgl. www.laizistische-sozis.eu/<strong>in</strong>haltemenu/me<strong>in</strong>ung/111-neun-thesen-zurbeschneidungsdebatte-aus-laizistischhumanistischer-sicht(08.10.2012).9 Rolf D. Herzberg: Steht dem biblischen Gebot<strong>der</strong> Beschneidung e<strong>in</strong> rechtliches Verbotentgegen? MedR 2012, S. 169 ff.8 | <strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> – <strong>Fakten</strong> <strong>und</strong> <strong>Mythen</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong>


Antisemitische VerschwörungstheorienIn <strong>der</strong> Debatte ist die Theorie aufgestellt worden, dass Beschneidungen wenigeraus religiösen o<strong>der</strong> mediz<strong>in</strong>ischen Gründen durchgeführt werden, als aus f<strong>in</strong>anziellenInteressen. Während <strong>der</strong> Berufsverband <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>- <strong>und</strong> Jugendärzte mutmaßte,die amerikanischen K<strong>in</strong><strong>der</strong>ärzte würden Beschneidungen nur aus Profit<strong>in</strong>teressedurchführen, behauptete die Giordano Bruno Stiftung: „Die Beschneidung ist <strong>in</strong>den USA e<strong>in</strong> 2-Milliarden-Dollar-Geschäft, von dem nicht nur Ärzte, son<strong>der</strong>n auchPharma- <strong>und</strong> Kosmetikfirmen profitieren, die aus ‚frisch geernteten‘ KnabenvorhäutenKunsthäute o<strong>der</strong> Antifaltencremes herstellen”. 10 Tatsächlich arbeiten Forschermit Zellkulturen, die e<strong>in</strong>malig aus Vorhäuten gewonnen wurden, sich überJahrzehnte selbst reproduziert haben <strong>und</strong> u. a. als Gr<strong>und</strong>lage für die Heilung vonBrandopfern Verwendung f<strong>in</strong>den.Mit dieser Aussage <strong>der</strong> Giordano Bruno Stiftung wird e<strong>in</strong>e angebliche profitorientierte<strong>in</strong>dustrielle Verwertung menschlicher Körperteile suggeriert, was Assoziationenzur alten antisemitischen Ritualmordlegende weckt, wonach Judenangeblich für religiöse Zwecke töten, um Blut zu gew<strong>in</strong>nen. Die Hartnäckigkeitdieser perfiden Unterstellung manifestiert sich auch <strong>in</strong> heutiger Zeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> immerwie<strong>der</strong>kehrenden Behauptung von <strong>der</strong> Existenz e<strong>in</strong>es angeblich systematischenjüdischen Organhandels. 2009 wurde etwa von e<strong>in</strong>em schwedischen Journalistenohne jeglichen Beweis die Behauptung aufgestellt, Israelis würden toten Paläst<strong>in</strong>ensernOrgane entwenden. 11 Auch im Jahr 2010, als Israel <strong>in</strong>ternational für se<strong>in</strong>enhumanitären E<strong>in</strong>satz <strong>in</strong> Haiti nach dem „Jahrh<strong>und</strong>erterdbeben“ gelobt wurde, bezichtigtenAntisemiten israelische Ärzte des Organhandels. Diese antisemitischeVerschwörungstheorie fand durch Filme wie etwa „Tal <strong>der</strong> Wölfe – Irak“ o<strong>der</strong> denvom Hisbollah-Fernsehen produzierten Film „Zahras blaue Augen“ auch ihren Wegnach Deutschland.E<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e antisemitische Verschwörungstherorie bezieht sich auf e<strong>in</strong>e verme<strong>in</strong>tlichgeheimnisvolle jüdische Weltmacht. In <strong>der</strong> Facebook-Gruppe <strong>der</strong> „SozialdemokratischenLaizist<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Laizisten“ konnte unwi<strong>der</strong>sprochen die F<strong>in</strong>anzkrafte<strong>in</strong>er jüdischen „Pro-Beschneidungslobby“ angeprangert werden. Dabei wirdsich auf e<strong>in</strong>en Exklusivartikel <strong>der</strong> F<strong>in</strong>ancial Times Deutschland bezogen, wonache<strong>in</strong> jüdischer Multimillionär <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schweiz alle<strong>in</strong> 10 Millionen Euro <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Fondsgezahlt haben soll, um gegen das Kölner Beschneidungsurteil vorzugehen. 12 DerSchweizerische Israelitische Geme<strong>in</strong>deb<strong>und</strong>, wie auch an<strong>der</strong>e europäisch-jüdischeOrganisationen, haben auf Anfrage bestätigt, ke<strong>in</strong>e Kenntnis über die Existenz diesesangeblichen Fonds zu haben.E<strong>in</strong>e weitere Behauptung über die angebliche jüdische Weltmacht lautet, dass unbekanntejüdische H<strong>in</strong>termänner Kontrolle über Medien <strong>und</strong> Wissen haben <strong>und</strong>e<strong>in</strong>e jüdische E<strong>in</strong>flussnahme auf wissenschaftliche Untersuchungen bestehe. DerBeschneidungsgegner Sami A. Aldeeb Abu-Sahlieh, e<strong>in</strong> Schweizer christlich-paläst<strong>in</strong>ensischerHerkunft, behauptete, dass aus bestimmten Interessen absichtlichke<strong>in</strong>e Studien zu den Komplikationsraten bei Beschneidungen durchgeführt würden,ohne diese näher zu spezifizieren. 1310 Vgl. Flyer <strong>der</strong> Giordano Bruno Stiftung zuihrer Kampagne „Me<strong>in</strong> Körper gehört mir“,S. 2. L<strong>in</strong>k: www.giordano-bruno-stiftung.de/sites/default/files/download/flyerbeschneidung.pdf(12.10.2012).11 Vgl. www.thecutt<strong>in</strong>gedgenews.com/<strong>in</strong>dex.php?article=11828&pageid=44&pagename=Slices (13.10.2012).12 F<strong>in</strong>ancial Times Deutschland (2012):Jüdische Organisationen gehen gegen dasBeschneidungsurteil vor: 12.07.2012: www.ftd.de/politik/deutschland/:religioes-motivierte-koerperverletzung-juedische-organisationen-gehen-gegen-beschneidungsurteil-vor/70062755.html(05.11.2012)13 Sami A. Aldeeb Abu-Sahlieh (2012):Male and Female Circumcision. Religious,medical, social and legal debate. L<strong>in</strong>k: www.sami-aldeeb.com/files/article/339/Circumcision.pdf(08.10.2012).<strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> – <strong>Fakten</strong> <strong>und</strong> <strong>Mythen</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong> | 9


Die Beschneidungsdiskussion als Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit dem HolocaustDie Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Beschneidung wird zugleich auch <strong>in</strong> Bezug zumHolocaust <strong>und</strong> <strong>der</strong> deutschen Schuld geführt. Der Beschneidungskritiker Prof. Dr.jur. Re<strong>in</strong>hard Merkel zum Beispiel gab im Ethikrat an, dass die Beschneidung aufGr<strong>und</strong> des Holocausts nicht verboten werden dürfe. Mit dieser Bezugnahme aufden Holocaust kann leicht das Stereotyp beför<strong>der</strong>t werden, wonach die Juden Profitaus dem Holocaust ziehen würden.Die K<strong>in</strong><strong>der</strong>beauftragte <strong>der</strong> SPD, Marlene Rupprecht, störte sich daran, dass von„jüdischen Kreisen“ die „Keule <strong>der</strong> Shoah <strong>und</strong> so weiter“ geschwungen werde, vor<strong>der</strong> selbst <strong>der</strong> SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Ste<strong>in</strong>meier angeblich e<strong>in</strong>geknicktsei. 14 Die „Antisemitismuskeule“ bzw. „Moralkeule“ f<strong>in</strong>det spätestens seit<strong>der</strong> Rede des Schriftsteller Mart<strong>in</strong> Walser bei <strong>der</strong> Verleihung des Friedenspreisesdes Deutschen Buchhandels 1998 argumentative Verwendung. Die „Antisemitismuskeule“dient als Codewort <strong>und</strong> me<strong>in</strong>t, dass angebliche Wahrheiten auf Gr<strong>und</strong><strong>der</strong> deutschen Geschichte bzw. des E<strong>in</strong>flusses e<strong>in</strong>er sogenannten jüdischen Lobbynicht angesprochen werden dürften.Ferner äußerte Rupprecht, dass die Juden <strong>in</strong> <strong>der</strong> Diaspora aufpassen müssten, sichnicht zu sehr zu verhärten. Rupprecht sagte im gleichen Atemzug, dass die Judene<strong>in</strong> lernfähiges Volk seien, das nicht an e<strong>in</strong>em überholten Ritual festhalten sollte. 15Sie gab an, ungern Zwang anwenden zu wollen <strong>und</strong> bekräftigte ihre Haltung, dassDeutschland ke<strong>in</strong> „Gottesstaat“ sei. 16 Diese Äußerungen wie<strong>der</strong>holen die historischechristliche Ablehnung <strong>der</strong> Beschneidung.14 Die Zeit (2012): Die Sache mit <strong>der</strong>Beschneidung (11.10.2012).15 Vgl. ebd.16 Vgl. ebd.Die Konstruktion <strong>der</strong> Juden als „Fremde“Rupprecht zeichnet darüber h<strong>in</strong>aus mit ihren Aussagen e<strong>in</strong> Bild <strong>der</strong> Juden als„Fremde“, die es angeblich ablehnen, sich an e<strong>in</strong> Normenverständnis <strong>der</strong> deutschenGesellschaft anzupassen.Am höchsten jüdischen Feiertag Yom Kippur wurde <strong>der</strong> Generalsekretär des Zentralrats<strong>der</strong> Juden, Stephan Kramer, auf offener Straße antisemitisch <strong>und</strong> fremdenfe<strong>in</strong>dlichu. a. mit <strong>der</strong> Auffor<strong>der</strong>ung „Gehen Sie zurück, woher Sie kommen!“ bedroht.Zwar s<strong>in</strong>d H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Motivation des Täters unklar, doch lässt sich spekulieren,<strong>in</strong>wieweit die Tat auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Zusammenhang mit <strong>der</strong> gesellschaftlichen Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungzum Thema Beschneidung gestellt werden kann, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die negativeDarstellung von Juden antisemitische Tendenzen beflügelt. E<strong>in</strong> User kündigt <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em Thread auf <strong>der</strong> Facebook Seite bei <strong>der</strong> Giordano Bruno Stiftung etwa an, denJuden <strong>und</strong> Muslimen beim Kofferpacken behilflich zu se<strong>in</strong>. Auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Brief andas <strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> Ramer Institute hat <strong>der</strong> Verfasser den Mitarbeitern nahegelegt, vomRitus <strong>der</strong> Beschneidung Abstand zu nehmen o<strong>der</strong> das Land zu verlassen.Wie Redakteure großer Tageszeitungen, Vertreter des Zentralrats <strong>der</strong> Juden <strong>in</strong>Deutschland <strong>und</strong> verschiedene B<strong>und</strong>estagsabgeordnete dem <strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> RamerInstitute übere<strong>in</strong>stimmend mitgeteilt haben, hat die <strong>Beschneidungsdebatte</strong> e<strong>in</strong>eWelle antisemitischer Hetzschriften ausgelöst. Auch die Kommentare <strong>in</strong> den Onl<strong>in</strong>emedien,die nicht selten gesperrt werden mussten, sowie die Äußerungen aufTwitter <strong>und</strong> Facebook sprechen e<strong>in</strong>e deutliche Sprache.10 | <strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> – <strong>Fakten</strong> <strong>und</strong> <strong>Mythen</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong>


meDiz<strong>in</strong>iscHeDimension DerDerzeitigen DeBAtteDie Beschneidung (Zirkumzision) ist e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> am meisten verbreiteten mediz<strong>in</strong>ischenE<strong>in</strong>griffe. Laut statistischen Angaben ist etwas mehr als e<strong>in</strong> Drittel allerMänner auf <strong>der</strong> Welt beschnitten. 17 Die Beschneidung gilt als komplikationsarmerE<strong>in</strong>griff. Immer wie<strong>der</strong> wird jedoch von Beschneidungsgegnern auf die mediz<strong>in</strong>ischnegativen Auswirkungen <strong>der</strong> Beschneidung verwiesen. Allerd<strong>in</strong>gs gibt es ke<strong>in</strong>etragfähigen Studien, die e<strong>in</strong>e Schädlichkeit <strong>der</strong> Beschneidung belegen.In <strong>der</strong> <strong>der</strong>zeitigen Debatte f<strong>in</strong>den sich mediz<strong>in</strong>ische Behauptungen <strong>und</strong> Zahlen, dieimmer wie<strong>der</strong>kehrend im öffentlichen Diskurs verwendet werden. Nach Überprüfungdieser Informationen ist festzustellen, dass diese Behauptungen erheblicheZweifel zulassen. Viele <strong>der</strong> gängigen Quellen stammen von e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Kreis vonRechtswissenschaftlern, Mediz<strong>in</strong>ern <strong>und</strong> Aktivisten, die sich gegenseitig zitieren,ohne belastbare Quellen vorzulegen. Im Ergebnis werden (E<strong>in</strong>zel-)Me<strong>in</strong>ungen alsTatsachen dargestellt.Dokumente, die die angebliche Gefährlichkeit <strong>der</strong> Beschneidung belegen sollten,s<strong>in</strong>d häufig aus dem Zusammenhang gerissen, liefern ke<strong>in</strong>e nachprüfbare wissenschaftlicheBasis, stammen aus Län<strong>der</strong>n, wo die Faktoren we<strong>der</strong> bekannt nochkonstant s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> ersche<strong>in</strong>en auf Webseiten von Beschneidungsgegnern o<strong>der</strong> <strong>in</strong>Journalen, die ke<strong>in</strong>er wissenschaftlichen Überprüfung unterliegen. Aus Israel gibtes zu Beschneidungen die größte Zahl an überprüfbaren Statistiken. Die Argumentationgegen Beschneidung von K<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>und</strong> Neugeborenen <strong>in</strong> Deutschland stütztsich bislang ausschließlich auf Studien aus dem Ausland, hauptsächlich aus Entwicklungslän<strong>der</strong>n.Allerd<strong>in</strong>gs trat zum Beispiel bei 5000 durchgeführten Beschneidungenim Jüdischen Krankenhaus <strong>Berl<strong>in</strong></strong> „nur e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Komplikation auf, e<strong>in</strong>eBlutung, die rasch gestillt werden konnte“. 18Langzeitstudien aus westlichen Län<strong>der</strong>n h<strong>in</strong>gegen empfehlen Beschneidungenaufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Vielzahl mediz<strong>in</strong>ischer Vorteile (z. B. Prävention von Harnleiter<strong>in</strong>fektionen,Peniskarz<strong>in</strong>omen, Schutz vor Infektion mit sexuell übertragbarenKrankheiten, e<strong>in</strong>schließlich HIV) o<strong>der</strong> verhalten sich mit H<strong>in</strong>weis auf die kulturelle<strong>und</strong> religiöse Bedeutung des Rituals neutral.Die bisher umfangreichste <strong>und</strong> über e<strong>in</strong>en längeren Zeitraum durchgeführte Untersuchungaus den USA, von <strong>der</strong> American Academy of Pediatrics (AAP), wurde <strong>in</strong> <strong>der</strong>Diskussion bislang kaum beachtet. Deutsche Mediz<strong>in</strong>erverbände sprechen <strong>der</strong> AAPdie Seriosität ab <strong>und</strong> unterstellen den amerikanischen Ärzten, f<strong>in</strong>anzielle Vorteilsnahmeaus <strong>der</strong> Beschneidung zu ziehen. Auch aus Australien gibt es e<strong>in</strong> Gr<strong>und</strong>satzpapier,das im Wesentlichen die Aussagen <strong>der</strong> AAP-Studie wie<strong>der</strong>gibt <strong>und</strong> stützt.Im Folgenden gehen wir näher auf e<strong>in</strong>ige Behauptungen aus dem mediz<strong>in</strong>ischenBereich e<strong>in</strong>, die im öffentlichen Diskurs an verschiedenen Stellen aufgegriffen wurden.17 Circumcision Independent Reference andCommentary Service (CIRCS) (2012): GlobalCircumcision Rates. L<strong>in</strong>k: www.circs.org/<strong>in</strong>dex.php/Reviews/Rates/Global(08.10.2012).18 Die Welt (2012): Absur<strong>der</strong> Zahlenstreit <strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong>. L<strong>in</strong>k: www.welt.de/politik/deutschland/article109579055/Absur<strong>der</strong>-Zahlenstreit-<strong>in</strong>-<strong>der</strong>-<strong>Beschneidungsdebatte</strong>.html(08.10.2012).<strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> – <strong>Fakten</strong> <strong>und</strong> <strong>Mythen</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong> | 11


1. Deutscher Ethikrat:Plenarsitzung zum Thema religiöse BeschneidungDer deutsche Ethikrat, e<strong>in</strong> unabhängiger Sachverständigenrat, tagte am 23. August2012 zum Thema Beschneidung. Die anwesenden Vertreter aus Mediz<strong>in</strong>,Rechtswissenschaft <strong>und</strong> Religion stellten jeweils e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuelle Präsentationzum Thema vor.Behauptung: E<strong>in</strong>e Studie des Department of Pediatrics <strong>der</strong> Stanford Universityvon 2009, im Ethikrat als wichtiges Beweismittel vorgeführt, beweist typischeKomplikationen <strong>der</strong> Beschneidung. 19Bei dieser Liste handelt es sich nicht um e<strong>in</strong>e Studie, son<strong>der</strong>n um e<strong>in</strong>e Auflistungmöglicher Risiken des mediz<strong>in</strong>ischen E<strong>in</strong>griffs, welche die Stanford UniversitySchool of Medic<strong>in</strong>e als Fach<strong>in</strong>formation für mediz<strong>in</strong>isches Personal vorbereitet hat.Wie Dr. Hugh O’Brodovich dem <strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> Ramer Institute <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Schreiben versicherthat, gibt diese Liste ke<strong>in</strong>erlei Auskunft über mögliche Komplikationsraten.„This web site <strong>in</strong>forms health care professionals and the lay public. One of its goalsis to assist caregivers <strong>in</strong> mak<strong>in</strong>g <strong>in</strong>formed decisions regard<strong>in</strong>g a surgical procedure,<strong>in</strong> this case circumcision. All procedures have potential benefits and potentialrisks” (zitiert aus e<strong>in</strong>em Schreiben an das <strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> Office).Diese Liste wurde von Prof. Dr. jur. Re<strong>in</strong>hard Merkel (Universität Hamburg) alswichtiger Beweis für angebliche Komplikationen <strong>der</strong> Beschneidung präsentiert,wobei drei Komplikationen („necrosis oft the penis, amputation oft the glans,death“) von ihm beson<strong>der</strong>s hervorgehoben wurden. 20Dr. Hugh O’Brodovich, Direktor <strong>der</strong> Pädiatrie an <strong>der</strong> Stanford University School ofMedic<strong>in</strong>e, erklärte gegenüber dem <strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> Office, dass die drei von Prof. Dr. jur.Merkel hervorgehobenen Komplikationen bei Beschneidungen zwar bekannt s<strong>in</strong>d,jedoch außerordentlich selten auftreten. Weiter verwies O‘Brodovich auf die Empfehlung<strong>der</strong> American Academy of Pediatrics (AAP), wonach die Vorteile e<strong>in</strong>er Beschneidungan Neugeborenen die Risiken überwiegen.Behauptung: In den USA kommt es jährlich zu 117 Todesfällen von Jungen, die <strong>in</strong>direktem Zusammenhang mit Zirkumzisionen stehen. 21Die Vertreter dieser Behauptung, wie Prof. Dr. jur. Re<strong>in</strong>hard Merkel, berufen sichauf e<strong>in</strong>e verme<strong>in</strong>tliche Studie, die mit dem Titel „Lost Boys: An Estimate of U. S.Circumcision-Related Infant Deaths“ im Jahr 2010 im Journal of Boyhood Studies vonDan Boll<strong>in</strong>ger veröffentlicht wurde. Dar<strong>in</strong> gibt Boll<strong>in</strong>ger an, dass er im Ergebnisse<strong>in</strong>er statistischen Schätzungen annimmt, dass <strong>in</strong> den USA jährlich 117 K<strong>in</strong><strong>der</strong> imZusammenhang mit Beschneidungen versterben würden. Dan Boll<strong>in</strong>ger ist selbstals Aktivist gegen Beschneidungen tätig. Se<strong>in</strong>e Annahmen wurden von Prof Dr. jur.Merkel während <strong>der</strong> Sitzung des Ethikrates präsentiert. Merkel erachtet sie als„beson<strong>der</strong>s wichtig“ <strong>und</strong> me<strong>in</strong>t, dies sei „e<strong>in</strong>e ausführliche Studie, die e<strong>in</strong> komplexesstatistisches Modell entwickelt“. 22Die Zahlen Boll<strong>in</strong>gers fußen jedoch auf re<strong>in</strong>en Schätzungen des Autors. Boll<strong>in</strong>gernennt als Quelle e<strong>in</strong>e Auswertung von Krankenhausentlassungsberichten e<strong>in</strong>erunbekannten Anzahl von Krankenhäusern <strong>in</strong> den USA durch den MarktbeobachterThomson Reuters (heute: Truven Health Analytics) aus den Jahren 1991 bis 2000.19 Vgl. Präsentation von Prof. Dr. jur.Re<strong>in</strong>hard Merkel zur Tagung des DeutschenEthikrates am 23. August 2012:Zur religiös motivierten früh-k<strong>in</strong>dlichenKnabenbeschneidung – Strafrechtliche<strong>und</strong> rechtspr<strong>in</strong>zipielle Probleme, Folie11. L<strong>in</strong>k: www.ethikrat.org/dateien/pdf/plenarsitzung-23-08-2012-merkel-ppt.pdf(08.10.2012).20 Vgl. Präsentation von Prof. Dr. jur.Re<strong>in</strong>hard Merkel zur Tagung des DeutschenEthikrates am 23. August 2012:Zur religiös motivierten früh-k<strong>in</strong>dlichenKnabenbeschneidung – Strafrechtliche<strong>und</strong> rechtspr<strong>in</strong>zipielle Probleme, Folie11. L<strong>in</strong>k: www.ethikrat.org/dateien/pdf/plenarsitzung-23-08-2012-merkel-ppt.pdf(08.10.2012).21 Studie erschienen <strong>in</strong>: Thymos: Journalof Boyhood Studies, Volume 4, Number 1/Spr<strong>in</strong>g 2010 (nicht kostenfrei zugänglich):www.mensstudies.com/content/b64n267w47m333x0/?p=0e70a9fdd43643dc821f2dfcc072b9d9&pi=3 (08.10.2012).22 Simultanmitschrift <strong>der</strong> Plenarsitzung desDeutschen Ethikrats am 23.08.2012, S. 8.L<strong>in</strong>k: www.ethikrat.org/dateien/pdf/plenarsitzung-23-08-2012-simultanmitschrift.pdf(08.10.2012).12 | <strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> – <strong>Fakten</strong> <strong>und</strong> <strong>Mythen</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong>


Thomson Reuters hatte dar<strong>in</strong>, basierend auf <strong>der</strong> Auswertung von Schlüsselzahlen,festgestellt, dass nach den Entlassungsberichten <strong>der</strong> Krankenhäuser nach e<strong>in</strong>emdurchschnittlich 2,4-tägigen Krankenhausaufenthalt e<strong>in</strong>e Todesrate bei männlichenSäugl<strong>in</strong>gen von jährlich durchschnittlich 35,9 Jungen verzeichnet sei. Die Todesursachenwaren dar<strong>in</strong> jedoch nicht vermerkt („35.9 boys died from all causeseach year dur<strong>in</strong>g their stay“ 23 ).E<strong>in</strong>ziges Übere<strong>in</strong>stimmungsmerkmal <strong>der</strong> <strong>in</strong> Thomson Reuters gelisteten Todesfällewar, dass die verstorbenen K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> demselben Krankenhaus starben, <strong>in</strong> dem siegeboren <strong>und</strong> beschnitten wurden, unabhängig davon, woran sie tatsächlich starben.E<strong>in</strong> tatsächlicher Zusammenhang zwischen dem Tod <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>und</strong> den Beschneidungenwird <strong>in</strong> <strong>der</strong> statistischen Auswertung von Thomson Reuters nirgendsbehauptet.Im gleichen Zeitraum wurden laut Boll<strong>in</strong>ger <strong>in</strong> den USA 1.243.392 Knaben beschnitten.Boll<strong>in</strong>ger führt sodann auf, dass laut den statistischen Erhebungen von ThomsonReuters <strong>in</strong> den USA männliche Säugl<strong>in</strong>ge gr<strong>und</strong>sätzlich e<strong>in</strong> 40,4 Prozent höheresRisiko als weibliche Säugl<strong>in</strong>ge haben, <strong>in</strong> den ersten Lebenstagen an Infektioneno<strong>der</strong> Blutungen zu versterben.Aus dem Umstand, dass diese allgeme<strong>in</strong> höhere Sterblichkeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zeitfenstervon e<strong>in</strong>er St<strong>und</strong>e nach <strong>der</strong> Geburt bis zur Krankenhausentlassung nach 2,4 Tagenauftritt, schlussfolgert Boll<strong>in</strong>ger, dass diese höhere Todesrate männlicher Säugl<strong>in</strong>geim Zusammenhang mit den Beschneidungen stehen müsse, weil die Todesfälle<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zeitraum aufträten, <strong>in</strong> dem typischer Weise beschnitten würde („the timeframe <strong>in</strong> which circumcisions are typically performed“ 24 ).Auf <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>lage dieser Spekulation nimmt Boll<strong>in</strong>ger dann an, dass auch 40,4 Prozent<strong>der</strong> o. g. durchschnittlich 35,9 Knaben, die <strong>in</strong>nerhalb ihrer 2,4 ersten Lebenstage<strong>in</strong> demselben Krankenhaus starben, <strong>in</strong> dem sie geboren <strong>und</strong> beschnitten wurden,ebenfalls im Zusammenhang mit ihrer Beschneidung verstorben se<strong>in</strong> müssten.Daraus ermittelt Boll<strong>in</strong>ger e<strong>in</strong>e Spekulationszahl von 14,5 beschneidungsbed<strong>in</strong>gtenTodesfällen bis zur Krankenhausentlassung pro Jahr für den Zeitraum 1991 bis 2000.Aus dem Umstand, dass unabhängig von <strong>der</strong> Todesursache e<strong>in</strong> um 772 Prozent höheresRisiko für e<strong>in</strong>en Säugl<strong>in</strong>g besteht, nach <strong>der</strong> Krankenhausentlassung zu versterben,schlussfolgert Boll<strong>in</strong>ger sodann, dass dies hochgerechnet auf die von ihmerrechneten 14,5 beschneidungsbed<strong>in</strong>gten Todesfälle e<strong>in</strong>e Todesrate von 112 K<strong>in</strong><strong>der</strong>nergibt, die von 1991 bis 2000 an Folgen <strong>der</strong> Beschneidung <strong>in</strong> den USA jährlichverstorben se<strong>in</strong> sollen.Auf die Zahl <strong>der</strong> Beschneidungen <strong>in</strong> den USA im Jahr 2007 bezogen, müssten danachlaut Boll<strong>in</strong>gers Spekulationen im Jahr 2007 dort etwa 117 K<strong>in</strong><strong>der</strong> an Beschneidungsfolgengestorben se<strong>in</strong>.Die <strong>in</strong> die deutsche Debatte e<strong>in</strong>gebrachte Zahl von angeblich 117 beschneidungsbed<strong>in</strong>gtenTodesfällen pro Jahr <strong>in</strong> den USA basiert mith<strong>in</strong> auf E<strong>in</strong>schätzungen desAutors <strong>und</strong> Informationen, die <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em direkten Zusammenhang mit Zirkumzisionenstehen.Daher stellen Boll<strong>in</strong>gers Vermutungen auch ke<strong>in</strong>e belastbare Datenlage dar. Derunterschiedlichen Sterblichkeitsrate von männlichen <strong>und</strong> weiblichen Säugl<strong>in</strong>genliegen an<strong>der</strong>e mediz<strong>in</strong>ische Faktoren zugr<strong>und</strong>e. Zudem s<strong>in</strong>d die geschlechtsspezifischenunterschiedlichen Säugl<strong>in</strong>gssterblichkeitsraten auch für Län<strong>der</strong> nachgewiesen,<strong>in</strong> denen die Beschneidungsrate von Säugl<strong>in</strong>gen sehr niedrig ist. 25 Auchdie New York Times berichtigte kürzlich e<strong>in</strong>en Artikel zum Thema Beschneidung,<strong>der</strong> sich zuvor auf die besagte Studie bezog <strong>und</strong> distanzierte sich vom Ergebnis23 Boll<strong>in</strong>ger, Dan (2010): Lost Boys: An Estimateof U.S. Circumcision-Related InfantDeaths. Erschienen <strong>in</strong>: Thymos: Journalof Boyhood Studies, Volume 4, Number 1/Spr<strong>in</strong>g 2010, S. 81. L<strong>in</strong>k: www.mensstudies.com/content/b64n267w47m333x0/?p=0e70a9fdd43643dc821f2dfcc072b9d9&pi=3(08.10.2012).24 Boll<strong>in</strong>ger ebd., S. 82.25 Morris, Brian J., Bailey, Robert C., Klausner,Jeffrey D., Leibowitz, Arleen, Wamai,Richard G., Waskett, Jake H., Banerjee, Joya,Halper<strong>in</strong>, Daniel T., Zoloth, Laurie, Weiss,Helen A., and Hank<strong>in</strong>s, Cather<strong>in</strong>e A. (2012):Review: A critical evaluation of argumentsoppos<strong>in</strong>g male circumcision for HIV prevention<strong>in</strong> developed countries, AIDS Care:Psychological and Socio-medical Aspects ofAIDS/HIV, p. 4. L<strong>in</strong>k: www.ph.ucla.edu/epi/faculty/detels/epi227/rea<strong>der</strong>/Morris_AIDS-Care_2012.pdf (08.10.2012).<strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> – <strong>Fakten</strong> <strong>und</strong> <strong>Mythen</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong> | 13


Boll<strong>in</strong>gers. So würden laut Aussage des Centers for Disease Control and Prevention(Atlanta) Todesfälle von Säugl<strong>in</strong>gsbeschneidungen nicht dokumentiert, da sie außerordentlichselten vorkommen. Der letzte Bericht des Centers for Disease Controlaus dem Jahr 2010 zeigt zudem, dass ke<strong>in</strong>e Todesfälle im Zusammenhang mitBeschneidungen gef<strong>und</strong>en wurden. 26Behauptung: Es gibt Belege aus den USA <strong>und</strong> Kanada, dass immer wie<strong>der</strong> Todesfälleals Folge von Beschneidungen auftreten. 27Prof. Dr. jur. Re<strong>in</strong>hard Merkel erwähnte während <strong>der</strong> Plenarsitzung des Ethikratesam 23. August 2012 unter dem Punkt „Todesfälle“ <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Präsentation e<strong>in</strong>enBericht des Fernsehsen<strong>der</strong>s ABC aus den USA, <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Zeile „Brooklyn ToddlerDies After Circumcision“ überschrieben war. Während <strong>der</strong> Präsentation sagteProf. Dr. jur. Merkel dazu, dass er auf die gravierenden Komplikationen e<strong>in</strong>er Beschneidungh<strong>in</strong>weisen wolle, darunter den „Tod als Folge <strong>der</strong> Beschneidung“. Esgebe „immer wie<strong>der</strong> Berichte über Todesfälle“ <strong>und</strong> er verwies auf den geschil<strong>der</strong>tenFall aus Brooklyn als „Fall aus dem letzten Jahr“. 28 Dabei geht es um den Tod e<strong>in</strong>eszweijährigen Jungen, <strong>der</strong> verme<strong>in</strong>tlich an den Folgen e<strong>in</strong>er Beschneidung verstorbenwar. Als Beleg verwendete Prof. Dr. jur. Merkel die E<strong>in</strong>leitung e<strong>in</strong>es Artikels von<strong>der</strong> Website des Sen<strong>der</strong>s ABC, <strong>in</strong> dem über die mysteriösen Umstände des Fallsberichtet wurde. Betrachtet man den vollständigen Artikel, fällt auf, dass folgendeerklärende Aussagen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Präsentation von Prof. Dr. jur. Re<strong>in</strong>hard Merkel im Ethikratnicht angeführt wurden:„The case, which has been reported as an accidental death to the New York State Departmentof Health, highlights the extremely rare complications of the procedure performedwidely throughout the United States.„Circumcision is a surgical procedure and so with that there are certa<strong>in</strong> risks, althoughthe risks are quite small,“ said Dr. Ari Brown, a pediatrician <strong>in</strong> Aust<strong>in</strong>, Texas, and authorof „Baby 411.“The most common complications are local <strong>in</strong>fections and bleed<strong>in</strong>g, but Brown says therisks are about one <strong>in</strong> 1,000 and one <strong>in</strong> 3,000 respectively.„Both are easily treatable and not usually life-threaten<strong>in</strong>g,“ she said.”So gebe es bei jedem E<strong>in</strong>griff Risiken, diese seien bei <strong>der</strong> Beschneidung jedoch ger<strong>in</strong>g.Auf Basis <strong>der</strong> Information aus dem Artikel kann nicht festgestellt werden, ob<strong>der</strong> E<strong>in</strong>griff aus mediz<strong>in</strong>ischen o<strong>der</strong> religiösen Gründen unternommen wurde. Indem von Prof. Dr. jur. Merkel präsentierten Fall wurde das K<strong>in</strong>d unter Vollnarkosebeschnitten, was allgeme<strong>in</strong> e<strong>in</strong> höheres Komplikationsrisiko mit sich br<strong>in</strong>gen kannals Beschneidungen unter Lokalanästhesie o<strong>der</strong> ohne jede Narkose, wenngleich<strong>der</strong> E<strong>in</strong>griff trotzdem risikoarm bleibt. 29 Im Artikel wird darauf h<strong>in</strong>gewiesen, dassdie Todesursache noch geprüft werde (zum Zeitpunkt <strong>der</strong> Veröffentlichung des Artikels).Die Aussage von Prof. Dr. jur. Merkel, <strong>der</strong> Todesfall des zweijährigen K<strong>in</strong>des sei e<strong>in</strong>Beispiel für den „Tod als Folge <strong>der</strong> Beschneidung“ ist daher unhaltbar – es handeltsich nicht um e<strong>in</strong>e Folge <strong>der</strong> Beschneidung, son<strong>der</strong>n vielmehr um e<strong>in</strong>en Todals Folge <strong>der</strong> Anästhesie. Auch die Behauptung, dass solche Todesfälle „als Folge<strong>der</strong> Beschneidung“ „immer wie<strong>der</strong>“ aufträten, ist nicht haltbar, denn es gibt dazuke<strong>in</strong>erlei gesichertes Datenmaterial.26 New York Times (2012): Corrections:September 24, 2012. L<strong>in</strong>k: www.nytimes.com/2012/09/24/pageoneplus/correctionsseptember-24-2012.html(08.10.2012).27 Merkel, Re<strong>in</strong>hard (2012): Präsentation zurTagung des Deutschen Ethikrates am 23.August 2012: Zur religiös motivierten frühk<strong>in</strong>dlichenKnabenbeschneidung – Strafrechtliche<strong>und</strong> rechtspr<strong>in</strong>zipielle Probleme,Folie 14. L<strong>in</strong>k: www.ethikrat.org/dateien/pdf/plenarsitzung-23-08-2012-merkel-ppt.pdf (08.10.2012).28 Simultanmitschrift <strong>der</strong> Plenarsitzung desDeutschen Ethikrats am 23.08.2012, S.16.L<strong>in</strong>k: www.ethikrat.org/dateien/pdf/plenarsitzung-23-08-2012-simultanmitschrift.pdf(08.10.2012).29 Vgl. hierzu die Aussagen e<strong>in</strong>es texanischenK<strong>in</strong><strong>der</strong>arztes <strong>in</strong> ABC News (2011):Brooklyn Toddler Dies After Circumcision.L<strong>in</strong>k: http://abcnews.go.com/Health/Wellness/brooklyn-toddler-dies-circumcision/story?id=13544632. (08.10.2012)14 | <strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> – <strong>Fakten</strong> <strong>und</strong> <strong>Mythen</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong>


In ähnlicher Art <strong>und</strong> Weise wird von Prof. Dr. jur. Re<strong>in</strong>hard Merkel auch über e<strong>in</strong>enFall aus Kanada berichtet, bei dem e<strong>in</strong> fünf Wochen alter Junge kurz nach se<strong>in</strong>erBeschneidung gestorben ist. In <strong>der</strong> Berichterstattung wird jedoch ebenfalls auf dieUngewöhnlichkeit dieses ansonsten risikoarmen E<strong>in</strong>griffs <strong>und</strong> die unklare Todesursacheh<strong>in</strong>gewiesen. Die Canadian Paediatric Society (CPS) prüft <strong>in</strong>des die amerikanischenEmpfehlungen zur Beschneidung. Es wird erwartet, dass diese vom kanadischenÄrzteverband übernommen werden. 30Behauptung: Es gibt Belege aus Kurdistan, dass schwere Komplikationen wie Nekroseprozesse<strong>und</strong> Amputationen des Penis als Folge <strong>der</strong> Beschneidung auftreten.Während <strong>der</strong> Plenarsitzung des Ethikrats am 23. August 2012 präsentierte Prof. Dr.jur. Re<strong>in</strong>hard Merkel unter dem Punkt „Schwere Folgen: Penisamputation“ e<strong>in</strong>enFall aus dem Irak/Kurdistan 31 , <strong>der</strong> ihm e<strong>in</strong>en Tag zuvor „von e<strong>in</strong>er Gruppe muslimischerFrauen“ 32 zugespielt worden sei. Genauere Informationen zu dieser Quellegibt es nicht.Prof. Dr. jur. Merkel schil<strong>der</strong>te hier e<strong>in</strong>en Fall von zwei Jungen, wobei sich die W<strong>und</strong>enbei<strong>der</strong> entzündeten. „[…] Das ist <strong>der</strong> Beg<strong>in</strong>n des Nekroseprozesses am Penis,<strong>der</strong> gelegentlich auf genetische Dispositionen <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> zurückgeht, die man vorhernicht kennt – <strong>und</strong> die Ärzte entfernten daraufh<strong>in</strong> von beiden restlos den ganzenPenis.“ 33 In dem Schreiben <strong>der</strong> Gruppe an Prof. Dr. jur. Merkel wird darauf verwiesen,dass die Beschneidung nicht so harmlos sei „wie es Imame <strong>und</strong> auch Rabb<strong>in</strong>erversuchen uns glaubhaft zu machen.“ 34 Der H<strong>in</strong>weis auf Rabb<strong>in</strong>er, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Region,<strong>in</strong> <strong>der</strong> es kaum Juden gibt, ist auffällig.Laut eigener Recherche ereigneten sich die beiden Vorfälle <strong>in</strong> <strong>der</strong> Region Khanak<strong>in</strong>,<strong>in</strong> <strong>der</strong> sich die Informationsbeschaffung schwierig gestaltet, denn Khanak<strong>in</strong> liegtnicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kurdischen Autonomieregion, son<strong>der</strong>n im e<strong>in</strong>em Gebiet, das zwischen<strong>der</strong> Kurdischen Regionalregierung <strong>und</strong> <strong>der</strong> irakischen Zentralregierung umstrittenist. Informationen des Kurdischen Ges<strong>und</strong>heitsm<strong>in</strong>isteriums zufolge warendie entstandenen Komplikationen bei<strong>der</strong> Jungen das Ergebnis e<strong>in</strong>es Ärztefehlersdurch Mängel bei <strong>der</strong> Durchführung <strong>der</strong> Beschneidung. Der Fall wird <strong>der</strong>zeit nochvom Kurdischen Ges<strong>und</strong>heitsm<strong>in</strong>isterium untersucht. Es sche<strong>in</strong>t sich hierbei jedochum e<strong>in</strong>en unglücklichen E<strong>in</strong>zelfall zu handeln, <strong>der</strong> nicht als allgeme<strong>in</strong>er Beweisfür Probleme <strong>in</strong> Folge von Beschneidungen gelten kann. Auch ist zu sagen,dass die Bed<strong>in</strong>gungen (hygienisch, technisch etc.), unter denen Beschneidungendurchgeführt werden, <strong>in</strong> dieser konkreten Region nicht mit den Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>esLandes wie Deutschland verglichen werden können.30 Vgl. hierzu Vancouver News (2012) L<strong>in</strong>k:www.vancouversun.com/health/Rout<strong>in</strong>e+circumcision+boys+advisable+study+says/7152805/story.html (08.10.2012)31 Merkel, Re<strong>in</strong>hard (2012): Präsentation zurTagung des Deutschen Ethikrates am 23.August 2012: Zur religiös motivierten frühk<strong>in</strong>dlichenKnabenbeschneidung – Strafrechtliche<strong>und</strong> rechtspr<strong>in</strong>zipielle Probleme,Folie 12. L<strong>in</strong>k: www.ethikrat.org/dateien/pdf/plenarsitzung-23-08-2012-merkel-ppt.pdf (08.10.2012).32 Simultanmitschrift <strong>der</strong> Plenarsitzung desDeutschen Ethikrats am 23.08.2012, S. 16.L<strong>in</strong>k: www.ethikrat.org/dateien/pdf/plenarsitzung-23-08-2012-simultanmitschrift.pdf(08.10.2012).33 Vgl. Simultanmitschrift <strong>der</strong> Plearsitzungdes Deutschen Ethikrats ebd.34 Vgl. Simultanmitschrift <strong>der</strong> Plearsitzungdes Deutschen Ethikrats ebd.2. B<strong>und</strong>espressekonferenz:<strong>Beschneidungsdebatte</strong> aus Perspektive des K<strong>in</strong><strong>der</strong>schutzesAm 12. September 2012 fanden sich Georg Ehrmann, Vorstandsvorsitzen<strong>der</strong> <strong>der</strong>Deutschen K<strong>in</strong><strong>der</strong>hilfe, Dr. Ulrich Fegeler, Pressesprecher des Berufsverbandes<strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>- <strong>und</strong> Jugendärzte (BVKJ), Prof. Dr. Matthias Franz, Stellv. Direktor desKl<strong>in</strong>ischen Instituts für Psychosomatische Mediz<strong>in</strong> <strong>und</strong> Psychotherapie am Universitätskl<strong>in</strong>ikumDüsseldorf, Eran Sadeh, Grün<strong>der</strong> von Protect the Child <strong>in</strong> Israel<strong>und</strong> Irm<strong>in</strong>gard Schewe-Ger<strong>in</strong>gk, Vorstandsvorsitzende von Terre des Femmes, <strong>in</strong> <strong>der</strong>B<strong>und</strong>espressekonferenz zusammen, um die Petition <strong>der</strong> Organisationen für e<strong>in</strong> Be-<strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> – <strong>Fakten</strong> <strong>und</strong> <strong>Mythen</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong> | 15


schneidungs-Moratorium vorzustellen <strong>und</strong> die Beschneidung unter dem Gesichtspunktdes K<strong>in</strong><strong>der</strong>schutzes zu diskutieren.Behauptung: Beschneidungen lösen Traumata aus <strong>und</strong> br<strong>in</strong>gen psychosomatischeLangzeitfolgen für die Betroffenen mit sich.Aussagen über durch Beschneidung ausgelöste Traumata bzw. traumatische Spätfolgenbeziehen sich u. a. auf die Behauptung von Prof. Dr. Matthias Franz, Stellv.Direktor des Kl<strong>in</strong>ischen Instituts für Psychosomatische Mediz<strong>in</strong> <strong>und</strong> Psychotherapieam Universitätskl<strong>in</strong>ikum Düsseldorf, wonach die Beschneidung zu Traumata<strong>und</strong> traumatischen Spätfolgen führen soll. Professor Franz äußerte sich dazu <strong>in</strong> <strong>der</strong>B<strong>und</strong>espressekonferenz am 12. September 2012 wie folgt: „Als Arzt <strong>und</strong> Psychoanalytikerhabe ich von me<strong>in</strong>en Patienten <strong>in</strong> den letzten zehn Jahren gelernt, welchedramatischen traumatischen, psychotraumatischen Langzeitfolgen, von denenjetzt noch gar nicht die Rede war, die traumatische Genitalbeschneidung von Jungenhaben kann.“ 35Tatsächlich gibt es ke<strong>in</strong>e wissenschaftliche Studie, auch nicht von Professor Franz,die e<strong>in</strong>en Zusammenhang von Trauma <strong>und</strong> Beschneidung (zudem im Säugl<strong>in</strong>gsalter)nachweisen könnte. Bisher liegen lediglich E<strong>in</strong>zelme<strong>in</strong>ungen dazu vor, die sichteilweise auch auf Beschneidungen beziehen, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em späteren Lebensalter<strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Phimose (Vorhautverengung) mediz<strong>in</strong>isch notwendig waren.Aufsätze des Aktivisten Prof. Dr. Holm Putzke 36 <strong>und</strong> weitere geme<strong>in</strong>schaftlich mitan<strong>der</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong>ärzten <strong>und</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>chirurgen verfasste Artikel <strong>in</strong> mediz<strong>in</strong>ischen Zeitschriften,<strong>in</strong> denen auf die psychischen Auswirkungen <strong>der</strong> Beschneidung e<strong>in</strong>gegangenwird 37 , beziehen sich argumentativ auf e<strong>in</strong>en Aufsatz e<strong>in</strong>er Ärztegruppe <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>chirurgischenKl<strong>in</strong>ik München aus dem Jahr 2001 (verfasst von Prof. Dr. Stehr, Dr.Schuster, Prof. Dietz <strong>und</strong> Prof. Joppich). In diesem Aufsatz heißt es: „Die Zirkumzision,<strong>in</strong> welchem Alter auch durchgeführt, wirkt unbestritten als Trauma“. 38 Gr<strong>und</strong>lagefür diese Behauptung ist laut Quellenangabe <strong>der</strong> Verfasser e<strong>in</strong> Aufsatz von Dr.Ronald Goldman, e<strong>in</strong>em Psychologen <strong>und</strong> ausgesprochenen Beschneidungsgegneraus den USA. 39 Goldman präsentiert für se<strong>in</strong>e Behauptung von Beschneidungstraumatajedoch selbst ebenfalls ke<strong>in</strong>e eigenen empirischen Belege.Die Behauptung, dass jüdische o<strong>der</strong> muslimische Männer <strong>in</strong>folge ihrer Beschneidungentraumatisiert seien o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> beschränktes sexuelles Empf<strong>in</strong>den hätten(dazu weiter unten), ist wissenschaftlich nicht belegt. Prof. Dr. Leo Latasch, u. a.Vorstandsmitglied <strong>der</strong> Jüdischen Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> Frankfurt, bestätigte dies <strong>in</strong> se<strong>in</strong>emVortrag während <strong>der</strong> Plenarsitzung des Deutschen Ethikrates: „Es gibt bis heute –<strong>und</strong> den Beweis trete ich gerne an – ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Untersuchung, die vernünftig zudiskutieren wäre, woraus zu schließen ist, dass jemand, <strong>der</strong> mit 40 Jahren befragto<strong>der</strong> untersucht wird, e<strong>in</strong> Trauma davon zurückbehält, dass er am achten Tag beschnittenwurde, <strong>und</strong> vor allem, wie man das feststellen will […].“ 40Bisher s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e wissenschaftlichen Untersuchungen bekannt, die sich mit demVerhältnis <strong>der</strong> Gesamtzahl beschnittener Männer <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt (nach WHO-Angabene<strong>in</strong> Drittel <strong>der</strong> männlichen Weltbevölkerung) zum Auftreten <strong>und</strong> <strong>der</strong> Verbreitungvon Traumata, die im Zusammenhang mit <strong>der</strong> vorgenommenen Säugl<strong>in</strong>gsbeschneidungstehen sollen, befasst hätten; das Verhältnis „beschneidungstraumatisierter“Männer im Verhältnis zu allen beschnittenen Männern weltweit ist nichtuntersucht.Mit Bezug auf Deutschland ist darauf h<strong>in</strong>zuweisen, dass die nicht mediz<strong>in</strong>isch <strong>in</strong>-35 B<strong>und</strong>eskonferenz, ebd.36 Putzke, Holm (2008): Rechtliche Grenzen<strong>der</strong> Zirkumzision bei M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährigen. ZurFrage <strong>der</strong> Strafbarkeit des Operateurs nach§ 223 des Strafgesetzbuches“, S. 269 sowie„Die strafrechtliche Relevanz <strong>der</strong> Beschneidungvon Knaben“, S. 678.37 Putzke, Holm, Stehr, Maximilian <strong>und</strong>Dietz, Hans-Georg: Strafbarkeit <strong>der</strong> Zirkumzisionvon Jungen. Mediz<strong>in</strong>rechtlicheAspekte e<strong>in</strong>es umstrittenen ärztlichenE<strong>in</strong>griffs, S. 3. L<strong>in</strong>k: www.holmputzke.de/images/stories/pdf/2008_mschr_k<strong>in</strong><strong>der</strong>heilk<strong>und</strong>e_zirkumzision.pdf(08.10.2012) <strong>und</strong>Stehr, Maximilian, Putzke, Holm <strong>und</strong> Dietz,Hans-Georg (2008): Strafrechtliche Konsequenzenauch bei religiöser Begründung,S. 2. L<strong>in</strong>k: www.aerzteblatt.de/pdf/105/34/a1778.pdf (08.10.2012).38 Stehr, Maximilian, Dietz, Hans-Georg,Joppich, Ingolf <strong>und</strong> Schuster, Tobias (2001):Die Zirkumzision – Kritik an <strong>der</strong> Rout<strong>in</strong>eIn: Kl<strong>in</strong>ische Pädiatrie. Stuttgart: ThiemeVol. 213, No. 02 (3. 2001), S. 54. L<strong>in</strong>k: http://f<strong>in</strong>den.nationallizenzen.de/Record/ZDB-1-TCE@NLZ226932907 (08.10.2012) (nichtkostenlos abrufbar).39 Goldman, Ronald (1999): The psychologicalimpact of circumcision. In:British Journal of Urology, January 1999,Volume 83, Issue S1, p. 1–113. L<strong>in</strong>k: http://onl<strong>in</strong>elibrary.wiley.com/doi/10.1046/j.1464-410x.1999.0830s1093.x/pdf (08.10.2012).40 Simultanmitschrift <strong>der</strong> Plenarsitzung desDeutschen Ethikrats am 23.08.2012, S. 8.L<strong>in</strong>k: www.ethikrat.org/dateien/pdf/plenarsitzung-23-08-2012-simultanmitschrift.pdf(08.10.2012).16 | <strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> – <strong>Fakten</strong> <strong>und</strong> <strong>Mythen</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong>


dizierten Beschneidungen vorwiegend jüdische <strong>und</strong> muslimische Jungen betreffen,während wegen des fehlenden Ritus bei nichtjüdischen <strong>und</strong> nichtmuslimischenDeutschen überwiegend mediz<strong>in</strong>isch <strong>in</strong>dizierte Beschneidungen wegen Phimose<strong>und</strong> an<strong>der</strong>en Gründen vorgenommen werden.Bisher gibt es ke<strong>in</strong>e wissenschaftlichen Studien über das Auftreten <strong>und</strong> die Ausprägungvon Traumata bei jüdischen bzw. muslimischen Jungen o<strong>der</strong> jungen Männern<strong>in</strong> Deutschland im Vergleich zu unbeschnittenen bzw. aus mediz<strong>in</strong>ischen Gründenbeschnittenen nichtjüdischen/nichtmuslimischen Deutschen.Behauptung: Beschneidungen rufen bei Säugl<strong>in</strong>gen Schmerztraumata hervor,ältere K<strong>in</strong><strong>der</strong> nehmen die Beschneidung als e<strong>in</strong>en traumatischen Angriff wahr. 41Ob <strong>und</strong> <strong>in</strong>wiefern Säugl<strong>in</strong>ge e<strong>in</strong>en erheblichen Schmerz bei <strong>der</strong> Beschneidungempf<strong>in</strong>den o<strong>der</strong> nicht, lässt sich nur schwerlich nachweisen. Prof. Dr. Holm Putzkeverweist dazu auf „aktuelle Forschungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mediz<strong>in</strong>“ durch Prof. Dr. MatthiasFranz, die belegen sollen, dass sich bei <strong>der</strong> Beschneidung e<strong>in</strong> Schmerzgedächtnisentwickelt. „K<strong>in</strong><strong>der</strong>, die Schmerzen ausgesetzt werden, s<strong>in</strong>d später schmerzempf<strong>in</strong>dlicher<strong>und</strong> erleiden Schmerztraumata.“ 42Professor Franz macht se<strong>in</strong>e Aussagen daran fest, dass bei <strong>der</strong> Beschneidung e<strong>in</strong>esNeugeborenen die Herzfrequenz höher sei, das K<strong>in</strong>d womöglich schreie, e<strong>in</strong>eschmerzverzerrte Mimik zeige <strong>und</strong> dazu Stresshormone ausgeschüttet würden.„Es s<strong>in</strong>d auch anhaltende Stressfolgen nachweisbar. Wenn man den Säugl<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>halbes Jahr später impft, dann reagiert er mit e<strong>in</strong>er sehr viel heftigeren Schmerzreaktion.Außerdem fällt die Beschneidung des Neugeborenen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e hochsensiblePhase, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sich die Mutter-K<strong>in</strong>d-B<strong>in</strong>dung entwickelt. Dieser komplexe Vorgangkann empf<strong>in</strong>dlich gestört werden.“ 43 So seien solche „überschießenden Schmerzreaktionenauf Impfungen“ noch nach e<strong>in</strong>em Jahr im Körpergedächtnis nachweisbar44 <strong>und</strong> damit e<strong>in</strong> Beleg für e<strong>in</strong> erlittenes Schmerztrauma durch die Beschneidung<strong>und</strong> weitere Auswirkungen auf den Körper.Dies kann jedoch ke<strong>in</strong> Beweis für die traumatische Auswirkung von Zirkumzisionense<strong>in</strong>, da hierzu ke<strong>in</strong>e bekannten wissenschaftlichen Langzeitstudien vorliegen, diedies e<strong>in</strong>wandfrei belegen. Allgeme<strong>in</strong>e Feststellungen über differierendes Schmerzempf<strong>in</strong>denbei K<strong>in</strong><strong>der</strong>n lassen sich nicht ausschließlich <strong>und</strong> generalisierend aufe<strong>in</strong>e bestimmte, im Säugl<strong>in</strong>gsalter vorgenommene Prozedur zurückführen.Behauptung: Beschneidungen haben für das spätere Leben psychosexuelle Störungenzur Folge. 45Die Me<strong>in</strong>ungen hierzu gehen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wissenschaft sehr weit ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>. Prof. Dr.Matthias Franz gab während <strong>der</strong> B<strong>und</strong>espressekonferenz am 12. September 2012an, selbst zahlreiche beschnittene Patienten behandelt zu haben, die nur untergrößten Ängsten <strong>und</strong> Unsicherheiten sexuelle Beziehungen e<strong>in</strong>gehen konnten.Ihnen sei geme<strong>in</strong> gewesen, dass sie über Sensibilitätsverlust im Bereich <strong>der</strong> Eichelo<strong>der</strong> des Gliedes, Schmerzen, Verwachsungen, schmerzhafte o<strong>der</strong> erschwerteErektionen <strong>und</strong> schließlich im Zusammense<strong>in</strong> mit ihrer Partner<strong>in</strong> über sexuelleStörungen klagten. „E<strong>in</strong>e ganz neu erschienene dänische Studie bestätigt auf epidemiologischerBasis, <strong>in</strong> welchem Umfang dies e<strong>in</strong> Problem für viele Beschnittene<strong>und</strong> beschneidungstraumatisierte Männer ist“ 46 (Zitat Prof. Dr. Matthias Franz bei<strong>der</strong> B<strong>und</strong>espressekonferenz).41 Vgl. u. a. Putzke, Holm, Dietz, Hans-Georg <strong>und</strong> Stehr, Maximilian: ReligiöseBeschneidungen. In: Deutsches Ärzteblatt,Jg.109, Heft 31, 06.08.2012, L<strong>in</strong>k: www.aerzteblatt.de/down.asp?id=9526(08.10.2012)sowie Putzke, Holm, Stehr, Maximilian<strong>und</strong> Dietz, Hans-Georg: Strafbarkeit <strong>der</strong>Zirkumzision von Jungen. Mediz<strong>in</strong>rechtlicheAspekte e<strong>in</strong>es umstrittenen ärztlichenE<strong>in</strong>griffs, S. 3. L<strong>in</strong>k: www.holmputzke.de/images/stories/pdf/2008_mschr_k<strong>in</strong><strong>der</strong>heilk<strong>und</strong>e_zirkumzision.pdf(08.10.2012).42 Talkr<strong>und</strong>e Anne Will (ARD): „Streit umdas Beschneidungsurteil: Religionsfreiheitade?“ vom 12.07.2012. (0:30:28 ff.) L<strong>in</strong>k:www.youtube.com/watch?v=bL2jTkS0k_U(08.10.2012).43 Vgl. taz onl<strong>in</strong>e (2012): „Es ist e<strong>in</strong> genitalesTrauma“. L<strong>in</strong>k: www.taz.de/!97961/(08.10.2012)44 Vgl. Pressemitteilung <strong>der</strong> He<strong>in</strong>rich He<strong>in</strong>eUniversität Düsseldorf: PsychosomatischeMediz<strong>in</strong> <strong>und</strong> Psychosomatik: Genitalbeschneidungbei Jungen. L<strong>in</strong>k: www.uniduesseldorf.de/home/universitaet/weiterfuehrend/pressebereich/pressemeldungen/news-detailansicht/article/genitalbeschneidung-bei-jungen.html(08.10.2012).45 Mitschnitt <strong>der</strong> B<strong>und</strong>espressekonferenz„<strong>Beschneidungsdebatte</strong> aus Perspektive desK<strong>in</strong><strong>der</strong>schutzes“ vom 12.09.2012. (0:21:35ff.).46 B<strong>und</strong>espressekonferenz, ebd.<strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> – <strong>Fakten</strong> <strong>und</strong> <strong>Mythen</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong> | 17


In dieser Studie, e<strong>in</strong>er nationalen Ges<strong>und</strong>heitsumfrage aus dem Jahr 2011, wurde <strong>in</strong>Befragungsbögen <strong>und</strong> Interviews nach möglichen Auswirkungen von Zirkumzisionenauf das Sexualleben gefragt. Von den an <strong>der</strong> Befragung teilnehmenden 2.573Männern gaben lediglich fünf Prozent (= 125 Männer) an, beschnitten zu se<strong>in</strong> (141machten ke<strong>in</strong>e Angaben). Für die weitere Durchführung <strong>der</strong> Analyse waren aufgr<strong>und</strong>von Auswahlkriterien (Alter <strong>und</strong> sexuelle Erfahrung) lediglich 1996 (davon103 beschnittene) Männer relevant. Somit basieren alle f<strong>in</strong>alen Studienergebnisseauf den Antworten von 103 beschnittenen Männern. Nur 15 <strong>der</strong> 103 beschnittenenMänner wurden vor dem sechsten Lebensmonat beschnitten.Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass es <strong>in</strong> Bezug auf gelegentliche Schwankungen<strong>der</strong> sexuellen Bedürfnisse o<strong>der</strong> auftretende sexuelle Störungen ke<strong>in</strong>e Unterschiedezwischen beschnittenen <strong>und</strong> unbeschnittenen Männern gab. 47 Die Thesevon Professor Stehr <strong>und</strong> Professor Franz, dass „[…] <strong>in</strong> dieser Studie beschnitteneMänner dreimal häufiger von Orgasmusschwierigkeiten als nicht beschnittene“berichteten, 48 basieren auf Antworten von zehn beschnittenen Befragungsteilnehmern(elf Prozent). Bereits hier stellt sich die Frage nach <strong>der</strong> wissenschaftlichenRepräsentativität. Maßgeblich dürfte jedoch die Feststellung <strong>der</strong> Studienverfasserse<strong>in</strong>, dass es ke<strong>in</strong>e Unterschiede gibt. Die Ergebnisse <strong>der</strong> Studie belegen, dass sexuelleStörungen sowohl bei beschnittenen als auch nicht beschnittenen Männerngleichermaßen vorzuf<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d. 49Auch Behauptungen zu angeblichen psychischen Auswirkungen <strong>der</strong> Beschneidungens<strong>in</strong>d Teil <strong>der</strong> Debatte. Prof. Dr. jur. Re<strong>in</strong>hard Merkel sagte im Rahmen <strong>der</strong>Phoenix-R<strong>und</strong>e „Religiöse Beschneidung – erlauben o<strong>der</strong> verbieten?“ vom 5. September2012, dass zwischen 38 <strong>und</strong> 45 Prozent <strong>der</strong> Männer sagen würden: „Ichhabe e<strong>in</strong> Problem [mit <strong>der</strong> Beschneidung], […]<strong>und</strong> ich habe signifikante […] psychosexuelleKonsequenzen“. 50Auf Anfrage zu den Quellen se<strong>in</strong>er Aussage verwies Prof. Dr. jur. Merkel auf e<strong>in</strong>eamerikanische Studie aus dem Jahr 2002 mit dem Titel „Adult Circumcision OutcomesStudy: Effect On Erectile Function, Penile Sensitivity, Sexual Activity and Satisfaction“.51 Dar<strong>in</strong> wurden mögliche Auswirkungen <strong>der</strong> Zirkumzision auf die sexuellenFunktionen, wie zum Beispiel Erektion <strong>und</strong> Sensitivität des Gliedes von Männern,untersucht.Für diese Studie wurden 40 heterosexuelle Männer, die als Erwachsene beschnittenwurden, befragt beteiligt. Sexuelle Erfahrungen von Männern, die frühk<strong>in</strong>dlichbeschnitten wurden, standen nicht zur Disposition.Die Forscher kamen ke<strong>in</strong>esfalls zu dem Ergebnis, dass beschnittene Männer e<strong>in</strong>eviel größere Quote an sexuellen Störungen aufweisen würden. Im Ergebnis gaben38 Prozent <strong>der</strong> Befragten (= 15 Männer) an, nach ihrer (mehrheitlich mediz<strong>in</strong>ischnotwendigen) Beschneidung Probleme o<strong>der</strong> Schwierigkeiten zu erfahren, 50 Prozent(= 20 Männer) verspürten e<strong>in</strong>en Vorteil o<strong>der</strong> Verbesserung ihres Sexuallebensnach <strong>der</strong> Beschneidung. Insgesamt gaben 62 Prozent <strong>der</strong> Befragten an, mit ihrerBeschneidung zufrieden zu se<strong>in</strong>.Die Befragungsergebnisse begründen sich mith<strong>in</strong> auf e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>ge Zahl von auswertbarenFragebögen, was bereits die Repräsentativität <strong>der</strong> Befragung im Verhältniszu allen beschnittenen Männern <strong>in</strong> Frage stellt. Die Forscher selbst bestätigtendies: „Our small sample size reduces the power of the study and, therefore,the ability to detect small but significant change and […] generalizability may belimited.“ 52Der von Prof. Dr. jur. Merkel dargestellte Zusammenhang zwischen dem Beschnei-47 Frisch, Morten, L<strong>in</strong>dholm, Morten, andGrønbæk, Morten (2011): Male circumcisionand sexual function <strong>in</strong> men and women:a survey-based, cross-sectional study <strong>in</strong>Denmark, p. 3. L<strong>in</strong>k: www.davidwilton.com/files/mc-and-sexual-function---denmark-2011.pdf(08.10.2012).48 Frankfurter Allgeme<strong>in</strong>e Zeitung (2012):Auch die Seele leidet. L<strong>in</strong>k: http://m.faz.net/aktuell/politik/<strong>in</strong>land/beschneidungsdebatte-auch-die-seele-leidet-11827698.html (08.10.2012).49 Frisch, Morten, L<strong>in</strong>dholm, Morten, andGrønbæk, Morten (2011): Male circumcisionand sexual function <strong>in</strong> men and women:a survey-based, cross-sectional study <strong>in</strong>Denmark a. a. O.50 Zitiert aus dem Mitschnitt <strong>der</strong> Phoenix-R<strong>und</strong>e „Religiöse Beschneidung – Erlaubeno<strong>der</strong> verbieten?“ vom 05.09.2012(0:30:00 ff.). L<strong>in</strong>k: www.youtube.com/watch?v=iYolHK9afWg0 (08.10.2012).51 F<strong>in</strong>k, Kenneth/ Carson, Culley/ DeVellis,Robert (2002): Adult Circumcision OutcomesStudy: Effect on Erectile Function,Penile Sensitivity, Sexual Activity andSatisfaction. Journal of Urology, Volume167, Number 5. L<strong>in</strong>k: www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/11956453 (30.10.2012).52 Vgl. F<strong>in</strong>k, Kenneth/ Carson, Culley/DeVellis, Robert, ebd., S.7.18 | <strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> – <strong>Fakten</strong> <strong>und</strong> <strong>Mythen</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong>


dungsstatus e<strong>in</strong>es Mannes <strong>und</strong> dem Ausbleiben von sexuellem Vergnügen o<strong>der</strong>dem Auftreten von Störungen lässt sich deshalb aus dieser von ihm genanntenStudie nicht belegen.Weiter wurde auf e<strong>in</strong>e Studie aus Südkorea mit dem Titel „The effect of male circumcisionon sexuality“ 53 verwiesen, die 1999 veröffentlicht wurde. Die Studiehatte sich zum Ziel gesetzt zu klären, welchen positiven o<strong>der</strong> negativen Effekt dieBeschneidung auf die Qualität des Sexuallebens haben kann. Der Untersuchungsgegenstandwurde dann jedoch weitestgehend auf die Masturbation beschränkt.Positive o<strong>der</strong> negative Effekte <strong>der</strong> Beschneidung auf den Geschlechtsverkehr imAllgeme<strong>in</strong>en fanden <strong>in</strong> <strong>der</strong> Auswertung ke<strong>in</strong>e weitere Berücksichtigung.Unter an<strong>der</strong>em die Giordano Bruno Stiftung führte diese Studie als Beweismittelfür e<strong>in</strong>e angebliche „qualitative Verschlechterung <strong>der</strong> sexuellen Befriedigung <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>ebei <strong>der</strong> Masturbation“ an. 54Die Autoren <strong>der</strong> Studie kommen zu e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Ergebnis: „There were no statisticallysignificant differences <strong>in</strong> sexual drive, erection, ejaculation, and ejaculationlatency time between circumcised and uncircumcised men.“ 55Auch bei <strong>der</strong> südkoreanischen Untersuchung von 138 beschnittenen Männern bestehtdie Frage nach <strong>der</strong> Repräsentativität.Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass 66 Männer (48 Prozent <strong>der</strong> Befragten) wenigerBefriedigung bei <strong>der</strong> Masturbation verspüren als vor ihrer Beschneidung. 56Zugleich gaben jedoch 74 Prozent <strong>der</strong> Befragten an, die Beschneidung habe ke<strong>in</strong>erleiE<strong>in</strong>fluss auf ihr Sexualleben. Insoweit ist <strong>der</strong> Studie nicht zu entnehmen,ob die vergleichende E<strong>in</strong>schätzung des Masturbationserlebnisses e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong>des Erlebnisses beim Geschlechtsverkehr an<strong>der</strong>erseits jeweils vor <strong>und</strong> nach e<strong>in</strong>erBeschneidung im sexuell aktiven Alter überhaupt Vergleichbarkeitswert hat. Aussagenzur sexuellen Befriedigungsfähigkeit von Männern, die bereits im frühk<strong>in</strong>dlichenAlter beschnitten wurden, lassen sich damit nicht treffen.53 Kim, DaiSik/ Pang, Myung-Geol (2006):The effect of male circumcision on sexuality,BJU International. L<strong>in</strong>k: www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/17155977 (30.10.2012).54 Vgl. Giordano Bruno Stiftung, AK K<strong>in</strong><strong>der</strong>rechte:Fragen <strong>und</strong> Antworten zur Knabenbeschneidung,S. 6. L<strong>in</strong>k: http://pro-k<strong>in</strong><strong>der</strong>rechte.de/wp-content/uploads/2012/08/faq_beschneidung.pdf (30.10.2012).55 Kim, DaiSik/ Pang, Myung-Geol (2006):The effect of male circumcision on sexuality,BJU International., p. 2. L<strong>in</strong>k: www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/17155977 (30.10.2012).56 Willcourt, Rob<strong>in</strong> (2007): The effect ofmale circumcision on sexuality. Letters tothe editor, BJU International. L<strong>in</strong>k: http://onl<strong>in</strong>elibrary.wiley.com/doi/10.1111/j.1464-410X.2007.06895_3.x/full (30.10.2012).Behauptung: Ersatzriten, wie zum Beispiel die symbolische Beschneidung könnenals adäquater Ersatz für die Beschneidung gelten <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d beispielsweise <strong>in</strong> Großbritannienweit verbreitet. 57Dr. Ulrich Fegeler, B<strong>und</strong>espressesprecher des Berufsverbandes <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>- <strong>und</strong> Jugendärzte,gab während <strong>der</strong> B<strong>und</strong>espressekonferenz an, dass Beispiele aus an<strong>der</strong>enLän<strong>der</strong>n zeigten, dass sich nicht alle religiösen Juden beschneiden lassen. „Esgibt <strong>in</strong> England e<strong>in</strong>e große Bewegung, wo symbolische Beschneidungen am 8. Tagstattf<strong>in</strong>den <strong>und</strong> die eigentliche Beschneidung <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Alter verlegt wird, wo die K<strong>in</strong><strong>der</strong>entscheidungsfähig s<strong>in</strong>d.“ 58 Auch <strong>der</strong> Wissenschaftliche Dienst des DeutschenB<strong>und</strong>estages hatte bereits am 29. Juni 2012 <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Bericht geschrieben, dassvon „Vertretern <strong>der</strong> herrschenden Me<strong>in</strong>ung im Strafrechtsschrifttum […] unterdessenunter Verweis auf entsprechende Praktiken <strong>in</strong> Großbritannien dafür geworben[wird]“ 59 , das schmerzlose symbolische Ritual zu etablieren.Festzustellen ist, dass die Beschneidung durch e<strong>in</strong>e sogenannte symbolischeHandlung, da <strong>in</strong> <strong>der</strong> Jüdischen Welt auch weitgehend unbekannt, nicht ersetztwerden kann. Die Behauptung, dass beispielsweise <strong>in</strong> Großbritannien „symbolischschmerzfreie Beschneidungen“ weit verbreitet seien, wurde von den dortigenHauptverbänden, wie dem British Board of Deputies, dem zentralen Organ für jüdischesLeben <strong>in</strong> Großbritannien, auf Anfrage des <strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> Ramer Institute zurückgewiesen.„Symbolische Beschneidungen“ s<strong>in</strong>d als Alternative zur Beschneidung57 Mitschnitt <strong>der</strong> B<strong>und</strong>espressekonferenz„<strong>Beschneidungsdebatte</strong> aus Perspektivedes K<strong>in</strong><strong>der</strong>schutzes“ vom 12.09.2012(0:32:00). L<strong>in</strong>k: www.youtube.com/watch?v=kPq8KrCDo88 (08.10.2012).58 B<strong>und</strong>espressekonferenz, ebd.59 Wissenschaftliche Dienste, DeutscherB<strong>und</strong>estag (2012): Aktueller Begriff.Beschneidung <strong>und</strong> Strafrecht, S. 2. L<strong>in</strong>k:www.b<strong>und</strong>estag.de/dokumente/analysen/2012/Beschneidung_<strong>und</strong>_Strafrecht.pdf(08.10.2012).<strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> – <strong>Fakten</strong> <strong>und</strong> <strong>Mythen</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong> | 19


<strong>in</strong> allen Strömungen des Judentums, vom orthodoxen bis zum Reformjudentum,nicht akzeptiert.Zur Durchführung <strong>der</strong> symbolischen Beschneidung gibt es <strong>der</strong>zeit ke<strong>in</strong>e verlässlichenZahlen, da dieses Ritual offensichtlich nur von e<strong>in</strong>zelnen Eltern praktiziertwird. Auch <strong>AJC</strong>-Religionsexperten haben ke<strong>in</strong>e Kenntnis über dieses alternativeRitual, das offensichtlich außerhalb <strong>der</strong> Hauptströmungen des Judentums praktiziertwird. Informationen hierzu werden ohne Zusammenhang präsentiert <strong>und</strong>verschweigen, dass zum Beispiel <strong>in</strong> Israel nahezu alle K<strong>in</strong><strong>der</strong> beschnitten werden. 60Die Information des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen B<strong>und</strong>estagesentstammt e<strong>in</strong>em Text von Prof. Dr. Rolf Dietrich Herzberg, <strong>der</strong> die Frage nach e<strong>in</strong>erVerschiebung <strong>der</strong> Beschneidung <strong>in</strong>s „Unblutig-Symbolische“ stellt. 61 ProfessorHerzberg bezieht sich hierbei auf Thomas Exner, <strong>der</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch Sozialadäquanzim Strafrecht. Zur Knabenbeschneidung „auf solche <strong>in</strong> England verbreiteten ‚alternativenRituale‘ 62 (bris shalom)“ h<strong>in</strong>weist. Exner weist zwar darauf h<strong>in</strong>, dass „von Elternjüdischen Glaubens <strong>in</strong>zwischen alternative Rituale etabliert [werden], welchedie Beschneidung <strong>der</strong> Vorhaut durch die Beschneidung symbolischer Gegenständesubstituieren sollen“ 63 , ohne allerd<strong>in</strong>gs zugleich klarzustellen, dass dies nur e<strong>in</strong>everschw<strong>in</strong>dend kle<strong>in</strong>e M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit im Judentum betrifft. Er bezieht sich wie<strong>der</strong>umauf e<strong>in</strong> Buch <strong>und</strong> e<strong>in</strong>en Aufsatz von 1999, beide von erklärten Bescheidungsgegnernverfasst. 64Die Informationen über die Akzeptanz symbolischer Handlungsweisen im Judentumals e<strong>in</strong>e Alternative zur Beschneidung sche<strong>in</strong>en bislang nicht geprüft wordenzu se<strong>in</strong> <strong>und</strong> wurden <strong>in</strong> <strong>der</strong> Debatte <strong>in</strong> Deutschland kritiklos übernommen. Zwar gabes im Zusammenhang mit <strong>der</strong> jüdischen Aufklärung im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert e<strong>in</strong>e lebhafteDiskussion über die Bedeutung jüdischer Traditionen <strong>und</strong> auch <strong>der</strong> Beschneidung,sofern sie zur Distanzierung von Juden <strong>und</strong> christlicher Mehrheitsgesellschaft führten.Dazu gehörte auch <strong>der</strong> Vorschlag, auf die Beschneidung zu verzichten. Diesersetzte sich jedoch zu ke<strong>in</strong>er Zeit durch; auch das Reformjudentum hat sich mitse<strong>in</strong>em allergrößten Teil für die Beibehaltung <strong>der</strong> Beschneidung <strong>und</strong> gegen <strong>der</strong>enWegfall o<strong>der</strong> Ersatzhandlungen entschieden. 65 So blieb immer Konsens, dass dieBeschneidung als zentrales Merkmal des Judentums <strong>in</strong> <strong>der</strong> traditionellen Form beibehaltenwerden sollte.60 Chaim, Jacob Ben, Livne, P<strong>in</strong>has M., B<strong>in</strong>yam<strong>in</strong>i,Joseph, Hardak, Benyam<strong>in</strong>, Ben-Meir,David, and Mor, Yoram (2005): Complicationsof Circumcision <strong>in</strong> Israel: A One Year MulticenterSurvey. L<strong>in</strong>k: www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/15984378 (08.10.2012).61 Herzberg schreibt hierzu: „Die rhetorischeFrage for<strong>der</strong>t ja ke<strong>in</strong>eswegs, dass man das Ritual<strong>der</strong> Beschneidung preisgibt. Sie verlangtnur, dass man es beim K<strong>in</strong>d <strong>in</strong>s Unblutig-Symbolische sublimiert (etwa durch bloßeBerührung <strong>der</strong> Vorhaut mit e<strong>in</strong>em Messero<strong>der</strong> durch ‚stellvertretendes‘ Beschneidentoter Gegenstände). In: Herzberg (2012): Stehtdem biblischen Gebot <strong>der</strong> Beschneidung e<strong>in</strong>rechtliches Verbot entgegen? In: Zeitschrift fürMediz<strong>in</strong>recht (MedR) (2012) 30: 169–175, S. 174.62 In e<strong>in</strong>er Fußnote gibt Herzberg hierzu an:„Exner, Sozialadäquanz im Strafrecht – ZurKnabenbeschneidung […], weist h<strong>in</strong> aufsolche <strong>in</strong> England verbreiteten ‚alternativenRituale‘ (bris shalom).“ In: Herzberg (2012):Steht dem biblischen Gebot <strong>der</strong> Beschneidunge<strong>in</strong> rechtliches Verbot entgegen? In: Zeitschriftfür Mediz<strong>in</strong>recht (MedR) (2012) 30: 169–175,S. 174.63 Exner, Thomas (2011): Sozialadäquanz imStrafrecht – Zur Knabenbeschneidung, Duncker& Humblot GmbH, <strong>Berl<strong>in</strong></strong>, S. 171.3. Ärzteverbände <strong>und</strong> humanistische Vere<strong>in</strong>igungenE<strong>in</strong>ige Verbände <strong>und</strong> Aktivisten, wie die Deutsche Akademie für K<strong>in</strong><strong>der</strong>- <strong>und</strong> Jugendmediz<strong>in</strong>e. V., <strong>der</strong> Berufsverband <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>- <strong>und</strong> Jugendärzte sowie die GiordanoBruno Stiftung äußerten sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit wie<strong>der</strong>holt kritisch zurBeschneidung von Jungen <strong>und</strong> verbreiteten mit „<strong>Fakten</strong>katalogen“ Thesen <strong>und</strong>Behauptungen, die anschließend ungeprüft von e<strong>in</strong>er Vielzahl von Medien <strong>und</strong> Informationsportalenübernommen <strong>und</strong> weiterverbreitet wurden.Behauptung: Bei jedem fünften Säugl<strong>in</strong>g treten nach <strong>der</strong> Beschneidung Problemeauf, die mitunter nachoperiert werden müssen. Unter an<strong>der</strong>em wird diese Aussagevon K<strong>in</strong><strong>der</strong>rechtsverbänden <strong>und</strong> Ärzten vertreten. 66Der Urheber dieser Behauptung, Prof. Dr. Maximilian Stehr, K<strong>in</strong><strong>der</strong>chirurg aus München,hat auf Anfrage des <strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> Ramer Institute ke<strong>in</strong>en konkreten H<strong>in</strong>weis auf64 Vgl. Goodman, Jenny (1999): JewishCircumcision: An Alternative Perspective.In: British Journal of Urology, January 1999,Volume 83, Issue S1, p. 1–113, <strong>und</strong> Goldman,Ronald (1998): Question<strong>in</strong>g Circumcision.A Jewish Perspective, S. 65 ff. L<strong>in</strong>k: http://onl<strong>in</strong>elibrary.wiley.com/doi/10.1046/j.1464-410x.1999.0830s1022.x/abstract (11.10.2012)65 Zitiert von Prof. Dr. Michael Brumlik imInterview mit Deutschlandradio Kultur am27.07.2012. L<strong>in</strong>k: www.dradio.de/dkultur/sendungen/aus<strong>der</strong>juedischenwelt/1823866/(08.10.2012).66 Vgl. Giordano Bruno Stiftung, AK K<strong>in</strong><strong>der</strong>rechte:Fragen <strong>und</strong> Antworten zur Knaben-20 | <strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> – <strong>Fakten</strong> <strong>und</strong> <strong>Mythen</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong>


e<strong>in</strong>e belastbare Datenbasis für diese behauptete Quote benannt. Stattdessen verwieser auf e<strong>in</strong>e Ausgabe des British Journal of Urology aus dem Jahr 1999. 67 Dar<strong>in</strong>befassen sich Befürworter <strong>und</strong> Gegner <strong>der</strong> Beschneidung <strong>in</strong>haltlich mit verschiedenenThemenkomplexen. Die von Professor Stehr behauptete Quote ergibt sich ausdieser Quelle allerd<strong>in</strong>gs nicht.Weiterh<strong>in</strong> nennt Professor Stehr als Erkenntnisquelle e<strong>in</strong> Gutachten des Zentrumsfür arabisches <strong>und</strong> islamisches Recht <strong>in</strong> Genf 68 , das Sami A. Aldeeb Abu-Sahlieh, e<strong>in</strong>Schweizer christlich-paläst<strong>in</strong>ensischer Herkunft, verfasst hat. Abu-Sahlieh, Religionsaktivist<strong>und</strong> Beschneidungsgegner, ist Grün<strong>der</strong> <strong>und</strong> Direktor des Zentrums. Se<strong>in</strong>ausführlich dokumentiertes, aber e<strong>in</strong>seitiges Gutachten belegt die von ProfessorStehr genannte Quote nicht, son<strong>der</strong>n stellt sogar fest, dass es ke<strong>in</strong>e zuverlässigenZahlen zu Komplikationsraten von Zirkumzisionen gibt. 69Um die tatsächliche Relation von Komplikationen bei Beschneidungen e<strong>in</strong>schätzenzu können, kann jedoch auf die zuverlässigen Zahlen aus Israel verwiesen werden.Laut vorliegenden Informationen von Rabbi Moshe Morsenau, Leiter des Referatsfür Beschneidungen (Brit Mila) im Büro des Oberrabb<strong>in</strong>ers <strong>in</strong> Israel, wurden beispielsweise<strong>in</strong> Israel im Jahr 2011 <strong>in</strong>sgesamt etwa 60.000 Beschneidungen durchgeführt,von denen 54 ger<strong>in</strong>gfügige Komplikationen hatten. In drei dieser Fälle warenzusätzliche Behandlungen o<strong>der</strong> chirurgische E<strong>in</strong>griffe notwendig. Angesichts vergleichbarermediz<strong>in</strong>ischer <strong>und</strong> hygienischer Standards <strong>in</strong> Deutschland <strong>und</strong> Israelkann die Komplikationsrate nach <strong>der</strong> Beschneidung bei Säugl<strong>in</strong>gen – entgegen <strong>der</strong>verbreiteten Behauptungen <strong>in</strong> Deutschland – nicht <strong>in</strong> solch gravierendem Maßehöher se<strong>in</strong> als <strong>in</strong> Israel.Belege für e<strong>in</strong>e 20-prozentige Problemrate nach Beschneidungen s<strong>in</strong>d bislang we<strong>der</strong>für Deutschland noch für irgende<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Land zu f<strong>in</strong>den.Behauptung: Zirkumzisionen führen zu e<strong>in</strong>er großen Zahl von Komplikationen.Verschiedene Verbände wie zum Beispiel die Deutsche Akademie für K<strong>in</strong><strong>der</strong>- <strong>und</strong>Jugendmediz<strong>in</strong> e. V. 70 sowie <strong>der</strong> B<strong>und</strong>espressesprecher des Berufsverbandes <strong>der</strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong>- <strong>und</strong> Jugendärzte Dr. Ulrich Fegeler 71 geben hierfür e<strong>in</strong>e angebliche Komplikationsratevon sechs Prozent an.beschneidung, S. 5. L<strong>in</strong>k: http://pro-k<strong>in</strong><strong>der</strong>rechte.de/wp-content/uploads/2012/08/faq_beschneidung.pdf (08.10.2012) <strong>und</strong>Äußerungen von Prof. Dr. Maximilian Stehr,Universitätskl<strong>in</strong>ik München, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emInterview mit <strong>der</strong> Frankfurter R<strong>und</strong>schau„Das Wohl des K<strong>in</strong>des ist nicht verhandelbar“.L<strong>in</strong>k: www.fr-onl<strong>in</strong>e.de/politik/beschneidung--das-wohl-des-k<strong>in</strong>des-ist-nicht-verhandelbar-,1472596,16659000.html(08.10.2012).67 Alle Kapitel dieser Ausgabe des British Journalof Urology befassen sich mit dem ThemaBeschneidung <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d hier kostenfrei abrufbar:http://onl<strong>in</strong>elibrary.wiley.com/doi/10.1111/bju.1999.83.issue-S1/issuetoc (08.10.2012).68 Sami A. Aldeeb Abu-Sahlieh (2012): Maleand Female Circumcision. Religious, medical,social and legal debate. L<strong>in</strong>k: www.samialdeeb.com/files/article/339/Circumcision.pdf(08.10.2012).69 Abu-Sahlieh, ebd., p. 250: “One can saytherefore that reliable figures on complicationsdo not exist.”70 Stellungnahme <strong>der</strong> DAKJ:http://dakj.de/media/stellungnahmen/ethische-fragen/2012_Stellungnahme_Beschneidung.pdf(08.10.2012).Die Zahl e<strong>in</strong>er angeblich sechsprozentigen Komplikationsrate entstammt <strong>der</strong> Metaanalysee<strong>in</strong>er Gruppe von britischen Wissenschaftlern, die 2010 veröffentlichtwurde. 72 Die Metaanalyse stützt die deutschen Behauptungen jedoch ke<strong>in</strong>esfalls.In <strong>der</strong> Untersuchung wurden 16 verschiedene Studien zum Vergleich herangezogen,um e<strong>in</strong>e Zusammenfassung über auftretende Komplikationen nach Zirkumzisionenbei K<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>und</strong> Neugeborenen geben zu können. E<strong>in</strong> Fokus dieser Studielag auf Entwicklungslän<strong>der</strong>n.Bei näherer Betrachtung <strong>der</strong> zum Vergleich herangezogenen E<strong>in</strong>zelstudien <strong>und</strong> <strong>der</strong>enZusammenfassung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Metaanalyse lässt sich sagen, dass <strong>in</strong> den meisten <strong>der</strong>zugänglichen beigezogenen Studien festgestellt wird, dass ke<strong>in</strong>e nennenswertenKomplikationen auftraten („Most studies reported no severe adverse events“ 73 ),wobei die traditionelle Beschneidung nach <strong>der</strong> Geburt zu den Arten <strong>der</strong> Beschneidungmit dem ger<strong>in</strong>gsten Risiko gehört. 74Dr. Helen Weiss, Hauptautor<strong>in</strong> <strong>der</strong> Analyse, bezog auf Anfrage des <strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> RamerInstitute hierzu nochmals wie folgt Stellung: „Der Mittelwert <strong>der</strong> Komplikationsrisikenbei Neugeborenen <strong>und</strong> Säugl<strong>in</strong>gen (bis zu e<strong>in</strong>em Jahr alt) liegt bei 1,5Prozent. Der Mittelwert für das Risiko schwerer Komplikationen (ernste Risiken,71 E<strong>in</strong>e Zusammenfassung <strong>der</strong> DeutschenK<strong>in</strong><strong>der</strong>hilfe zur B<strong>und</strong>espressekonferenz„<strong>Beschneidungsdebatte</strong> aus Sichtdes K<strong>in</strong><strong>der</strong>schutzes“ am 12.09.2012.L<strong>in</strong>k: www.k<strong>in</strong><strong>der</strong>hilfe.de/blog/artikel/verbaende-<strong>und</strong>-experten-for<strong>der</strong>n-moratorium-<strong>und</strong>-e<strong>in</strong>richtung-e<strong>in</strong>es-r<strong>und</strong>entisches-<strong>in</strong>-<strong>der</strong>-diskussion-um-beschneidungen-von-e<strong>in</strong>willigungsunfaehigen-jungen/(08.10.2012).72 Vollständige Fassung <strong>der</strong> Studie mit demTitel „Complications of circumcision <strong>in</strong> maleneonates, <strong>in</strong>fants and children: a systematicreview“: www.biomedcentral.com/1471-2490/10/2 (08.10.2012).<strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> – <strong>Fakten</strong> <strong>und</strong> <strong>Mythen</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong> | 21


die mit langfristigen o<strong>der</strong> lebensbedrohlichen Komplikationen e<strong>in</strong>hergehen) betrugnull Prozent. Das Komplikationsrisiko von sechs Prozent bezieht sich auf K<strong>in</strong><strong>der</strong>,die zum Zeitpunkt ihrer Zirkumzision älter als e<strong>in</strong> Jahr waren. Auch hier lag<strong>der</strong> Mittelwert für das Risiko schwerer Komplikationen bei null Prozent. Hierbei istes wichtig anzumerken, dass diese Daten auch Fälle von mediz<strong>in</strong>isch notwendigenZirkumzisionen (zum Beispiel bei e<strong>in</strong>er Phimose) mit e<strong>in</strong>beziehen <strong>und</strong> ohneh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>höheres Risiko für Komplikationen haben können.“ Auf Gr<strong>und</strong>lage verschiedenerStudien schätzt Dr. Helen Weiss das Komplikationsrisiko <strong>in</strong>sgesamt auf 0,1 bis 0,2Prozent.Die tatsächlichen Aussagen <strong>der</strong> Studie <strong>und</strong> ihrer Verfasser, aber auch die E<strong>in</strong>beziehungmediz<strong>in</strong>isch notwendiger Beschneidungen <strong>in</strong> die Untersuchung, wi<strong>der</strong>sprechenden Behauptungen von Dr. Fegeler e<strong>in</strong>deutig, vielmehr verzerren sie dieErgebnisse <strong>der</strong> britischen Untersuchung sogar.Behauptung: Die Beschneidung br<strong>in</strong>gt ke<strong>in</strong>e ges<strong>und</strong>heitlichen Vorteile, so zumBeispiel ke<strong>in</strong>en zusätzlichen Schutz vor <strong>der</strong> Infektion mit HIV. Studien, die diesbehaupten, gelten als wi<strong>der</strong>legt. 75In e<strong>in</strong>em Flyer zur Unterstützung ihrer Kampagne „Me<strong>in</strong> Körper gehört mir!“ sowiee<strong>in</strong>em Fragen- <strong>und</strong> Antworten-Katalog geht die Giordano Bruno Stiftung aufdie Beschneidung im Zusammenhang mit HIV-Infektionen e<strong>in</strong>. Ihrer Auffassungnach sei e<strong>in</strong>e Studie <strong>der</strong> Weltges<strong>und</strong>heitsorganisation (WHO) mittlerweile wi<strong>der</strong>legt.Auch sei durch Überblicksstudien bewiesen, „dass beschnittene Männer <strong>in</strong>den meisten Län<strong>der</strong>n sogar e<strong>in</strong> höheres Risiko haben, sich mit HIV zu <strong>in</strong>fizieren, alsMänner mit <strong>in</strong>takter Vorhaut.“ 76Die WHO veröffentlichte <strong>in</strong> Kooperation mit dem geme<strong>in</strong>samen UN-Programmzu HIV/AIDS (UNAIDS) e<strong>in</strong>en Bericht, <strong>in</strong> dem sie die Beschneidung als präventiveMaßnahme zum Schutz vor <strong>der</strong> Infektion mit dem HI-Virus empfiehlt. In dreidurchgeführten Versuchsreihen fand man heraus, dass die Beschneidung die Übertragungvon HIV von Frauen auf Männer um ungefähr 60 Prozent senkt. 77 Folgestudienhaben gezeigt, dass die Beschneidung zu 73 Prozent e<strong>in</strong>en nachweislichschützenden Effekt für die Männer hatte. Auch wurden die Ergebnisse durch systematischeÜbersichtsarbeiten bestätigt. Vor allem für Län<strong>der</strong>, <strong>in</strong> denen die Infektionmit dem HI-Virus beson<strong>der</strong>s hoch ist, wird die Beschneidung von Männern durchdie WHO <strong>und</strong> UNAIDS empfohlen.Fakt ist, dass we<strong>der</strong> die Ergebnisse <strong>der</strong> drei Untersuchungsreihen <strong>der</strong> Weltges<strong>und</strong>heitsorganisationnoch die folgenden Übersichtsarbeiten bisher wi<strong>der</strong>legt wurden.Demnach ist entgegen <strong>der</strong> Behauptung <strong>der</strong> Vorteil <strong>der</strong> Beschneidung wissenschaftlichvon <strong>der</strong> WHO e<strong>in</strong>deutig belegt.E<strong>in</strong> von <strong>der</strong> Giordano Bruno Stiftung angeführter Bericht <strong>der</strong> US-Hilfsorganisation(USAID) aus dem Jahr 2009 belegt nach Ansicht <strong>der</strong> Stiftung jedoch, dass <strong>in</strong> „10von 18 afrikanischen Län<strong>der</strong>n [beschnittene Männer] häufiger HIV-Träger s<strong>in</strong>d alsMänner mit <strong>in</strong>takter Vorhaut“ 78 . Der Bericht mit dem Titel “Levels and Spread ofHIV Seroprevalence and Associated Factors: Evidence from National HouseholdSurveys” fasst u. a. die Verbreitung von HIV <strong>in</strong> 22 Entwicklungslän<strong>der</strong>n, vornehmlich<strong>in</strong> den subsaharischen Län<strong>der</strong>n Afrikas, zusammen.Die Problematik bei <strong>der</strong> Auswertung des Berichts liegt laut Me<strong>in</strong>ungen von Experten <strong>in</strong>genau diesen Daten, denen die genannten Umfragen zugr<strong>und</strong>e liegen. Sie erfassen nurselbstberichtete Angaben, die mitunter verfälschte Aussagen <strong>der</strong> Studie zulassen. 7973 Weiss, Helen, Larke, Natasha, Halper<strong>in</strong>,Daniel and Schenker, Inon (2010): „Complicationsof circumcision <strong>in</strong> male neonates,<strong>in</strong>fants and children: a systematic review“,BMC Urology, p. 6. L<strong>in</strong>k: www.biomedcentral.com/1471-2490/10/2 (08.10.2012).74 ebd., S. 8: „However, as noted <strong>in</strong> ourreview, neonatal circumcision follow<strong>in</strong>gtraditional circumcision <strong>in</strong> Israel has lowcomplication rates overall.”75 Vgl. Flyer des Arbeitskreises K<strong>in</strong><strong>der</strong>rechte<strong>der</strong> Giordano Bruno Stiftung „Me<strong>in</strong> Körpergehört mir! Warum ZwangsbeschneidungUnrecht ist – auch bei Jungen“. L<strong>in</strong>k: www.giordano-bruno-stiftung.de/sites/default/files/download/flyer-beschneidung.pdf(01.11.2012) <strong>und</strong> Giordano Bruno Stiftung,AK K<strong>in</strong><strong>der</strong>rechte: Fragen <strong>und</strong> Antworten zurKnabenbeschneidung, L<strong>in</strong>k: http://pro-k<strong>in</strong><strong>der</strong>rechte.de/wp-content/uploads/2012/08/faq_beschneidung.pdf (08.10.2012).76 Vgl. Flyer des Arbeitskreises K<strong>in</strong><strong>der</strong>rechte<strong>der</strong> Giordano Bruno Stiftung „Me<strong>in</strong> Körpergehört mir! Warum ZwangsbeschneidungUnrecht ist – auch bei Jungen“. L<strong>in</strong>k: www.giordano-bruno-stiftung.de/sites/default/files/download/flyer-beschneidung.pdf(01.11.2012).77 Die Studien wurden <strong>in</strong> Kisumu, Kenia,Rakai District, Uganda <strong>und</strong> Südafrika durchgeführt.Voluntary medical male circumcisionfor HIV prevention. Fact Sheet July 2012:www.who.<strong>in</strong>t/hiv/topics/malecircumcision/fact_sheet/en/<strong>in</strong>dex.html# (01.11.2012).78 Vgl. Giordano Bruno Stiftung, AK K<strong>in</strong><strong>der</strong>rechte:Fragen <strong>und</strong> Antworten zur Knabenbeschneidung,S. 12. L<strong>in</strong>k: http://pro-k<strong>in</strong><strong>der</strong>rechte.de/wp-content/uploads/2012/08/faq_beschneidung.pdf (08.10.2012)79 Hewett,Paul/ Haberland, Nicole/Apicella, Lous/ Mensch, Barbara (2012):The (Mis)Report<strong>in</strong>g of Male CircumcisionStatus among Men and Women <strong>in</strong>Zambia and Swaziland: A Randomized22 | <strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> – <strong>Fakten</strong> <strong>und</strong> <strong>Mythen</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong>


Auch die Verfasser des USAID-Berichts räumen das Problem <strong>der</strong> Studie e<strong>in</strong>: „Becausethe analysis is based on self-reported behaviors, f<strong>in</strong>d<strong>in</strong>gs may be biased tothe extent that respondents may misreport these behaviors.” 80 Für die Untersuchungdes Zusammenhangs von Beschneidungen <strong>und</strong> die Ansteckung mit demHI-Virus s<strong>in</strong>d selbst berichtete Angaben nicht ausreichend. Verlässlicher s<strong>in</strong>d h<strong>in</strong>gegensogenannte RCT-Studien (randomised controlled trials), die das Auftretenvon HIV über e<strong>in</strong>en längeren Zeitraum untersuchen <strong>und</strong> nicht nur die Prävalenz vonHIV zu e<strong>in</strong>em bestimmten Zeitpunkt, an dem beispielsweise die Daten des DHS(Demographic Health Surveys) erhoben werden.Zu bemerken ist, dass das Risiko, sich mit Geschlechtskrankheiten aller Art (z. B.Tripper, Syphillis) zu <strong>in</strong>fizieren, <strong>in</strong> Län<strong>der</strong>n mit ungenügendem Verhütungsschutzdurch Kondome unabhängig von <strong>der</strong> Beschneidung gr<strong>und</strong>sätzlich höher ist. Weiterh<strong>in</strong>muss erwähnt bleiben, dass sowohl die Nutzung von Kondomen (sie könnenke<strong>in</strong>en 100-prozentigen Schutz gewährleisten) neben <strong>der</strong> Beschneidung als Schutzvor HIV-Infektionen gleichermaßen von Wissenschaftlern <strong>und</strong> <strong>der</strong> WHO empfohlenwird. 81Die Aussage, dass <strong>in</strong> bestimmten Län<strong>der</strong>n beschnittene Männer häufiger <strong>in</strong>fizierts<strong>in</strong>d als unbeschnittene Männer, resultiert laut Expertenme<strong>in</strong>ung gegenüber dem<strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> Ramer Institute auch aus an<strong>der</strong>en Gegebenheiten: Vor allem <strong>in</strong> Län<strong>der</strong>nwie Zimbabwe wird die Mehrheit <strong>der</strong> Männer, meist im späteren Alter, aus mediz<strong>in</strong>ischen<strong>und</strong> nicht aus Traditionsgründen beschnitten. Mit an<strong>der</strong>en Worten: In <strong>der</strong>Regel handelt es sich hierbei um Männer mit e<strong>in</strong>er hohen Anzahl wechseln<strong>der</strong> Geschlechtspartner,die wahrsche<strong>in</strong>lich nach ihrer HIV-Infektion beschnitten wurden.4. MedienMediz<strong>in</strong>ische Behauptungen über die angebliche Gefährlichkeit von Beschneidungens<strong>in</strong>d auch <strong>in</strong> Debatten diverser Talkshows im Fernsehen sowie <strong>in</strong> die Presse <strong>und</strong><strong>in</strong>s Internet e<strong>in</strong>geflossen, e<strong>in</strong>zelne dieser Behauptungen werden hier exemplarischaufgegriffen.Behauptung: Beschneidungen werden von <strong>der</strong> American Academy of Pediatricsnur deshalb empfohlen, weil ökonomische Aspekte im Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong> stehen. 82Im August 2012 veröffentlichte die renommierte American Academy of Pediatrics(AAP) e<strong>in</strong> Positionspapier, <strong>in</strong> dem sie e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige Klarstellung ihrer zuvor eherneutralen Position gegenüber Beschneidungen aus dem Jahr 1999 vornahm. DerÄrzteverband AAP (er vertritt 60.000 K<strong>in</strong><strong>der</strong>ärzte <strong>in</strong> den USA) äußert sich zu wissenschaftlichen<strong>und</strong> mediz<strong>in</strong>ischen Themen, die se<strong>in</strong>e Mitglie<strong>der</strong> bewegen, <strong>und</strong>formuliert die ärztlichen Positionen.Bereits im Jahr 2007 gründete sich e<strong>in</strong>e fachübergreifende Arbeitsgruppe (TaskForce On Circumcision), bestehend aus Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> AAP, u.a. aus den Fachbereichen<strong>der</strong> Anästhesiologie, Schmerzbehandlung, Pädiatrie, NeugeborenenMediz<strong>in</strong> <strong>und</strong> Infektionskrankheiten sowie weiteren Interessenvertretern wie zumBeispiel des Center for Disease Control (CDC) <strong>und</strong> <strong>der</strong> American Academy of FamilyPhysicians (AAFP). Aufgabe war es, wissenschaftliche Materialien über dieBeschneidung auszuwerten <strong>und</strong> damit e<strong>in</strong>e Neue<strong>in</strong>schätzung <strong>der</strong> AAP-Positionaus dem Jahr 1999 vorzunehmen. Diese wissenschaftlich außerordentlich umfang-Evaluation of Interview Methods. PLoSONE 7(5): e36251. L<strong>in</strong>k: www.plosone.org/article/<strong>in</strong>fo%3Adoi%2F10.1371%2Fjournal.pone.0036251#s3 (01.11.2012). Vgl. Auch Wamai,Richard/ Morris, Brian/ Bailis, Stefan/Sokal, David/ Klausner, Jeffrey/ Appleton,Ross/ Sewankambo, Nelson/ Cooper, David/Bongaarts, John/ deBruyn, Guy/ Wodak,Alex/ Banerjee, Joya (2011): Male circumcisionfor HIV prevention: current evidence andimplementation <strong>in</strong> sub-Saharan Africa, S. 5:„S<strong>in</strong>ce DHS data <strong>in</strong>volve self-reported surveys,multiple factors have to be consi<strong>der</strong>edwhen exam<strong>in</strong><strong>in</strong>g the relationship betweenMC and HIV prevalence. These <strong>in</strong>clu<strong>der</strong>isky sexual behavior, time of MC, whethercircumcision was complete, partial orperformed at all, marital status, education,wealth and patterns of residence (urban vs.rural).” L<strong>in</strong>k: http://www.biomedcentral.com/1758-2652/14/49 (01.11.2012).80 USAID (2009): Levels and Spread of HIVSeroprevalence and Associated Factors:Evidence from National Household Surveys.DHS Comparative Reports 22, p.15. L<strong>in</strong>k:www.measuredhs.com/pubs/pdf/CR22/CR22.pdf (01.11.2012).81 Morris, Brian/ Bailey, Robert/ Klausner,Jeffrey/ Leibowitz, Arleen/ Wamai, Richard/Waskett, Jake/ Banerjee, Joya/ Halper<strong>in</strong>,Daniel/ Laurie Zoloth/ Weiss, Helen/Hank<strong>in</strong>s, Cather<strong>in</strong>e (2012): Review: A criticalevaluation of arguments oppos<strong>in</strong>g male circumcisionfor HIV prevention <strong>in</strong> developedcountries, AIDS Care: Psychological andSocio-medical Aspects of AIDS/HIV. p. 4.L<strong>in</strong>k: http://fogarty.ph.ucla.edu/AIDS%20Care%20Male%20Circumcision%20%204.2012.pdf (05.11.2012).82 Vgl. Giordano Bruno Stiftung, AKK<strong>in</strong><strong>der</strong>rechte (2012): Fragen <strong>und</strong> Antwortenzur Knabenbeschneidung, S. 12. L<strong>in</strong>k:http://pro-k<strong>in</strong><strong>der</strong>rechte.de/wp-content/uploads/2012/08/faq_beschneidung.pdf(08.10.2012).<strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> – <strong>Fakten</strong> <strong>und</strong> <strong>Mythen</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong> | 23


eiche Literaturrecherche wurde im Zeitraum von 1995 bis 2010 mittels e<strong>in</strong>er mediz<strong>in</strong>ischenDatenbank durchgeführt; <strong>in</strong>sgesamt wurden 1031 Studien <strong>und</strong> Artikele<strong>in</strong>gesehen <strong>und</strong> bewertet. Hieraus ergaben sich die letztendlichen Empfehlungenim Positionspapier <strong>der</strong> AAP zur Beschneidungsthematik. 83Die AAP weist dar<strong>in</strong> auf den mediz<strong>in</strong>ischen Nutzen von Beschneidungen im Säugl<strong>in</strong>gsalterh<strong>in</strong> <strong>und</strong> empfiehlt, sie so früh wie möglich durchführen zu lassen, da siedann komplikationsärmer s<strong>in</strong>d. 84 Die Me<strong>in</strong>ung <strong>der</strong> amerikanischen K<strong>in</strong><strong>der</strong>ärztewurde <strong>in</strong> Deutschland bisher jedoch noch nicht berücksichtigt, vielmehr unterstellte<strong>der</strong> Vorsitzende des Berufsverbandes <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>- <strong>und</strong> Jugendärzte, Dr. WolframHartmann, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Phoenix-R<strong>und</strong>e vom 5. September 2012: „Sie haben gerade dieAAP, die American Association of Pediatrics, angesprochen. Die haben ja unterschiedlicheÄußerungen gemacht. Und die jüngste Äußerung, die jetzt immer gernzitiert wird, ist durch Studien nicht belegt. Und wir wissen, Herr Merkel hat dasauch nochmal recherchiert aus Amerika, dass hier offensichtlich ganz wesentlichwirtschaftliche Interessen e<strong>in</strong>e Rolle spielen, weil die Beschneidung Geld kostet.Und nicht umsonst haben sich die Gynäkologen <strong>in</strong> Amerika dieser Stellungnahme<strong>der</strong> AAP angeschlossen, weil sie eben auch mit <strong>der</strong> Beschneidung Geld verdienen.“ 85Die Giordano Bruno Stiftung schloss sich <strong>in</strong> ihrem zusammengestellten Fragen-Antworten-Katalog <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung an, dass die „Knabenbeschneidung <strong>in</strong> den USAe<strong>in</strong> 2-Milliarden-Dollar-Geschäft [sei], von dem viele profitieren.“ 86 So würden zumBeispiel auch Pharma- <strong>und</strong> Kosmetikfirmen von <strong>der</strong> Beschneidung profitieren, weilsie „[…] aus ‚frisch geernteten‘ Vorhäuten Hauttransplantate o<strong>der</strong> Antifaltencremesherstellen.“ 87In <strong>der</strong> Tat wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> Forschung Vorhautgewebe verwendet. Die Zellen aus <strong>der</strong> Vorhauts<strong>in</strong>d für die Forschung deshalb so geeignet, „weil sie sehr stoffwechselaktiv s<strong>in</strong>d.Außerdem ist das Risiko von Infektionen noch relativ ger<strong>in</strong>g.“ 88 Auch <strong>in</strong> Deutschlandwird mithilfe dieser humanen Vorhautfibroblasten auf verschiedenen Gebieten geforscht.Es ist möglich, aus den gewonnenen Zellen künstliche Hautschichten alsAlternative zur Eigenhaut zu entwickeln, die für Transplatationszwecken verwendetwerden. Auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Krebsforschung kommt dieses Verfahren zur Anwendung.. Dieaus e<strong>in</strong>er Vorhaut gewonnenen Zellkultur-L<strong>in</strong>ien können reproduziert werden bzw.auf e<strong>in</strong>em Nährmedium wachsen. Die amerikanischen Biotech-Unternehmen wieAdvanced BioHeal<strong>in</strong>g (mittlerweile Shire) <strong>und</strong> Sk<strong>in</strong>Medica haben letztmalig vor 20Jahren die Zelll<strong>in</strong>ien auf basis e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zelnen Vorhaut entwickelt. 89 An<strong>der</strong>s als behauptet,handelt es sich also nicht um e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dustrielle Verwertung von Vorhäuten.Zudem ist bei <strong>der</strong> frühk<strong>in</strong>dlichen Beschneidung (wie bei jedem E<strong>in</strong>griff <strong>in</strong> den USA)das Unterzeichnen e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>willigungserklärung, hier durch die Eltern, notwendig.Sie werden damit über Durchführung <strong>und</strong> Risiken <strong>der</strong> Beschneidung aufgeklärt.Auch für e<strong>in</strong>e eventuelle wissenschaftlich-mediz<strong>in</strong>ische (Weiter-)Nutzung <strong>der</strong>abgetrennten Vorhaut nach dem E<strong>in</strong>griff müssen die Eltern ihre ausdrückliche Zustimmungerteilen.Die Unterstellungen zu den AAP-Empfehlungen s<strong>in</strong>d nicht haltbar. So stärkt zumBeispiel e<strong>in</strong>e aktuelle Gr<strong>und</strong>satzerklärung von Wissenschaftlern des Royal AustralianCollege of Physicians <strong>und</strong> an<strong>der</strong>er mediz<strong>in</strong>ischer Hochschulen unabhängig von<strong>der</strong> AAP <strong>der</strong>en Empfehlung: “The current scientific evidence is more than adequateto support a recommendation of MC [male circumcision] <strong>in</strong> Australia and other developedcountries as a low-risk, highly beneficial procedure that is best performed83 Vgl. American Academy of Pediatrics(2012): AAP Technical Report on MaleCircumcision. L<strong>in</strong>k: http://pediatrics.aappublications.org/content/130/3/e756.full.pdf+html (12.10.2012).84 American Academy of Pediatrics (AAP)(2012): Circumcision Policy Statement. L<strong>in</strong>k:http://pediatrics.aappublications.org/content/130/3/585.full.pdf+html(08.10.2012).82 Vgl. American Academy of Pediatrics(2012): AAP Technical Report on MaleCircumcision. L<strong>in</strong>k: http://pediatrics.aappublications.org/content/130/3/e756.full.pdf+html (12.10.2012).85 Phoenix-R<strong>und</strong>e am 05.09.2012: ReligiöseBeschneidung – Erlauben o<strong>der</strong>verbieten? (0:31:16) www.youtube.com/watch?v=iYolHK9afWg0 (08.10.2012).86 Vgl. Giordano Bruno Stiftung, AK K<strong>in</strong><strong>der</strong>rechte:Fragen <strong>und</strong> Antworten zur Knabenbeschneidung,S. 12. L<strong>in</strong>k: http://pro-k<strong>in</strong><strong>der</strong>rechte.de/wp-content/uploads/2012/08/faq_beschneidung.pdf (08.10.2012).87 Vgl. Flyer des Arbeitskreises K<strong>in</strong><strong>der</strong>rechte<strong>der</strong> Giordano Bruno Stiftung „Me<strong>in</strong> Körpergehört mir! Warum ZwangsbeschneidungUnrecht ist – auch bei Jungen“. L<strong>in</strong>k: www.giordano-bruno-stiftung.de/sites/default/files/download/flyer-beschneidung.pdf(01.11.2012).88 Ärztezeitung onl<strong>in</strong>e (2005): Baby-Vorhaut-Gewebe regeneriert verbrannteHaut narbenfrei. L<strong>in</strong>k: www.aerztezeitung.de/mediz<strong>in</strong>/krankheiten/haut-krankheiten/article/348430/baby-vorhaut-geweberegeneriert-verbrannte-haut-narbenfrei.html (05.11.2012).89 Vgl. San Diego CityBeat onl<strong>in</strong>e (2010):The $140-million foresk<strong>in</strong>. L<strong>in</strong>k: www.sdcitybeat.com/sandiego/pr<strong>in</strong>t-article-7356-pr<strong>in</strong>t.html (01.11.2012).90 Morris, Brian, Wodak, Alex, M<strong>in</strong>del,24 | <strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> – <strong>Fakten</strong> <strong>und</strong> <strong>Mythen</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong>


<strong>in</strong> <strong>in</strong>fancy us<strong>in</strong>g a local anesthetic. Infant MC should appear on the check-list ofdecisions responsible parents need to make for their children.” 90 Diese Erklärungbasiert auf e<strong>in</strong>er angefertigten Risiko-Nutzen-Analyse, die aufzeigt, dass die Vorteilee<strong>in</strong>er Beschneidung die Risiken 100 zu 1 übersteigen.Behauptung: E<strong>in</strong>e Studie des Massachusetts General Hospital von 2007 legtnahe, dass Beschneidungen mit e<strong>in</strong>er hohen Komplikationsrate behaftet s<strong>in</strong>d. Sof<strong>in</strong>den beispielsweise 7,4 Prozent aller ambulanten Besuche <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kl<strong>in</strong>ik aufgr<strong>und</strong>schwerer Spätkomplikationen <strong>der</strong> neonatalen Beschneidung statt. 91Adrian, Schrieber, Leslie, Duggan, KarenA., Dilley, Anthony, Willcourt, Rob<strong>in</strong> J.,Lowy, Michael, Cooper, David A., Lumbers,Eugenie, Russell, Terry, and Lee<strong>der</strong>,Stephen (2012): Infant male circumcision:An evidence-based policy statement. OpenJournal of Preventive Medic<strong>in</strong>e, 2, p. 79–92.L<strong>in</strong>k: www.scirp.org/journal/PaperInformation.aspx?paperID=17415(08.10.2012).Diese Behauptung entstammt <strong>der</strong> Webseite des Beschneidungsgegners SebastianGuevara Kamm aus Pohlheim, <strong>der</strong> den Rabb<strong>in</strong>er Goldberg <strong>der</strong> Jüdischen Geme<strong>in</strong>deHof wegen Körperverletzung durch Beschneidung im August 2012 anzeigte. BeiKamms Behauptung handelt es sich um e<strong>in</strong>e klare Fehl<strong>in</strong>terpretation <strong>der</strong> besagtenStudie.So stellte Dr. Laurence Bask<strong>in</strong>, Professor <strong>der</strong> Urologie <strong>und</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>mediz<strong>in</strong> an <strong>der</strong>Universität San Francisco gegenüber dem <strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> Ramer Institute klar, dass essich bei <strong>der</strong> angegebenen Zahl von 7,4 Prozent aller Arztvorstellungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kl<strong>in</strong>ikke<strong>in</strong>esfalls um e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Komplikationsrate <strong>in</strong>folge von Beschneidungenhandelt, wie Kamm behauptet. Aus dieser Zahl <strong>der</strong> ärztlichen Konsultationen vonEltern kann nämlich nicht geschlossen werden, dass tatsächlich e<strong>in</strong> behandlungsdürftigerGr<strong>und</strong> vorlag. Ob sich aus <strong>der</strong> statistisch erfassten Konsultation e<strong>in</strong>e Behandlungsmaßnahmeergab o<strong>der</strong> nicht, ist nicht festgehalten.Erläuternd ist zu bemerken, dass im Studienzeitraum <strong>in</strong>nerhalb von fünf Jahren amMassachusetts General Hospital 8.967 chirurgische E<strong>in</strong>griffe vorgenommen wurden.4,7 Prozent dieser E<strong>in</strong>griffe entfielen auf E<strong>in</strong>griffe wegen Komplikationen nachBeschneidungen. Wie viele Fälle davon auf die Nachsorge von risikogeneigterenmediz<strong>in</strong>isch <strong>in</strong>dizierten Beschneidungen entfielen, war nicht Gegenstand <strong>der</strong> Studie.Wie viele Beschneidungen <strong>in</strong> den untersuchten fünf Jahren am MassachusettsGeneral Hospital <strong>in</strong>sgesamt durchgeführt wurden, war ebenfalls nicht Gegenstand<strong>der</strong> Studie. Insofern liegt für das Hospital ke<strong>in</strong>e Komplikationsquote für alle vorgenommenenBeschneidungen vor.Somit handelt es sich bei dieser Studie eher um e<strong>in</strong>e kl<strong>in</strong>ische Berichterstattung,die darlegt, welche <strong>und</strong> vor allem wie viele chirurgische Fälle <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kl<strong>in</strong>ik behandeltwurden. Die Darstellung von Herrn Kamm ist daher unhaltbar.91 Internetpräsenz von Sebastian GuevaraKamm, <strong>der</strong> Informationen über die Beschneidung<strong>und</strong> Studien zusammengetragenhat. L<strong>in</strong>k: www.gegen-beschneidung.de/mydownloads,s<strong>in</strong>glefile,lid,15.html(08.10.2012).<strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> – <strong>Fakten</strong> <strong>und</strong> <strong>Mythen</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong> | 25


FAzitDie Debatte über die Rechtmäßigkeit <strong>der</strong> Beschneidung wirft gr<strong>und</strong>legende juristische,mediz<strong>in</strong>ische <strong>und</strong> gesellschaftliche Fragen auf, die im <strong>Brief<strong>in</strong>g</strong> „<strong>Fakten</strong> <strong>und</strong><strong>Mythen</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong>“ vertieft werden. Insbeson<strong>der</strong>e s<strong>in</strong>d wir aufBehauptungen über die ges<strong>und</strong>heitlichen Folgen <strong>der</strong> Beschneidungspraxis e<strong>in</strong>gegangen.In gründlicher Recherchearbeit hat das <strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> Ramer Institute e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>deutigesErgebnis hervorgebracht: E<strong>in</strong>e Vielzahl an Behauptungen zu Risiken <strong>der</strong>Beschneidung stützen sich auf Studien, die ke<strong>in</strong>en ernsthaften wissenschaftlichenKontrollkriterien standhalten, auf e<strong>in</strong>er ungenügenden empirischen Basis beruheno<strong>der</strong> ke<strong>in</strong>em wissenschaftlichen Peer-Review-Verfahren unterliegenNicht selten werden Aussagen aus dem wissenschaftlichen Zusammenhang gerissen.Zudem werden <strong>in</strong> die Argumentationsl<strong>in</strong>ien auch Zeitungsartikel o<strong>der</strong>Aufsätze ohne wissenschaftliche Verifizierung e<strong>in</strong>bezogen. Dass e<strong>in</strong>ige häufig zitierteStudien nicht als Basis für universale Behauptungen dienen, wird von vielenStudienautoren oftmals selbst unterstrichen. Es fällt auch auf, dass nicht seltenwissenschaftliche Aussagen getroffen werden, die Schriften entnommen s<strong>in</strong>d, dievon entschiedenen Beschneidungsgegnern verfasst s<strong>in</strong>d. Wichtige wissenschaftlicheUntersuchungen aus westlichen Län<strong>der</strong>n werden bisher nicht h<strong>in</strong>reichendberücksichtigt. Häufig werden beispielsweise die amerikanischen K<strong>in</strong><strong>der</strong>ärzte <strong>und</strong>Gynäkologen dem Vorwurf ausgesetzt, aus nie<strong>der</strong>en f<strong>in</strong>anziellen Motiven herausdie Beschneidung durchzuführen.Insgesamt wird deutlich, dass sich die Kritik an <strong>der</strong> Beschneidung eher von Me<strong>in</strong>ungengeprägt ist, als von soliden wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Diskussionleidet unter dem mangelnden Bewusstse<strong>in</strong> für die historischen, kulturellen<strong>und</strong> religiösen Zusammenhänge <strong>der</strong> Beschneidungspraxis.In Anbetracht dessen ist es vielleicht nicht verw<strong>und</strong>erlich, dass <strong>der</strong> Beschneidungs-Diskurs antisemitische Stereotype begünstigt hat. Dies wird deutlich <strong>in</strong> zahlreichenMedienberichten, Leserkommentaren <strong>und</strong> <strong>in</strong> Karikaturen. Juden werden wegendieses Jahrtausende alten Ritus als primitiv, archaisch <strong>und</strong> blutrünstig dargestellt;die religiöse Beschneidung <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Befürworter passten angeblich nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emo<strong>der</strong>ne Zeit <strong>und</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong> demokratisches Geme<strong>in</strong>wesen. Diese Ansichten reproduzierene<strong>in</strong> altes Stereotyp von Juden als Fremde, die sich angeblich nicht <strong>in</strong> diebestehende Kultur assimilieren wollen. Die Diskussion wird mit historischen Analogienauch <strong>in</strong> Bezug auf den Holocaust geführt. Es kann vermutet werden, dasses e<strong>in</strong> Mechanismus <strong>der</strong> Schuldabwehr ist, die Opfer des Holocausts dem Vorwurfauszusetzen, die Rechte ihrer K<strong>in</strong><strong>der</strong> zu verletzen <strong>und</strong> dabei die demokratischenGr<strong>und</strong>werte zu missachten.Es wäre wünschenswert, dass die <strong>Beschneidungsdebatte</strong>, bei <strong>der</strong> hauptsächlichM<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten betroffen s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>en baldigen Abschluss f<strong>in</strong>det <strong>und</strong> <strong>der</strong> Blick wie<strong>der</strong>26 | <strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> – <strong>Fakten</strong> <strong>und</strong> <strong>Mythen</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong>


auf die übergreifenden gesellschaftlichen Themen, wie die Rechte aller K<strong>in</strong><strong>der</strong>, geöffnetwird. Von daher ist es zu begrüßen, dass das B<strong>und</strong>esm<strong>in</strong>isterium <strong>der</strong> Justizunter B<strong>und</strong>esm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong> Sab<strong>in</strong>e Leutheusser-Schnarrenberger zu diesem Themenkomplexe<strong>in</strong>en umfangreichen <strong>und</strong> ausgewogenen Gesetzentwurf zur Lösung <strong>der</strong>Rechtsfragen durch Än<strong>der</strong>ung des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) <strong>und</strong> Klarstellungim Abschnitt <strong>der</strong> Personensorge vorgelegt hat <strong>und</strong> damit die persönlichkeitsbildendeIdentitätsstiftung religiöser Erziehung für das K<strong>in</strong>d anerkennt.Es ist wichtig, die <strong>der</strong>zeitige Debatte, wie durch den Gesetzentwurf beabsichtigt,weg von <strong>der</strong> Strafdebatte <strong>in</strong> den Blickw<strong>in</strong>kel <strong>der</strong> Religionsfreiheit <strong>und</strong> <strong>der</strong> Rechtevon M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten zu rücken. Denn die Entfaltungsfreiheit religiöser <strong>und</strong> kulturellerM<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten <strong>und</strong> die Akzeptanz <strong>der</strong> Bevölkerungsmehrheit für die empf<strong>und</strong>eneAn<strong>der</strong>sartigkeit <strong>und</strong> unterschiedliche Lebensweise von M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten ist <strong>der</strong> Gradmesserfür e<strong>in</strong>e demokratische Gesellschaft.Foto: Jonathan Weckerle<strong>AJC</strong> <strong>Berl<strong>in</strong></strong> – <strong>Fakten</strong> <strong>und</strong> <strong>Mythen</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Beschneidungsdebatte</strong> | 27

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!