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Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern

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Gottesdienst Christuskirche Dormagenvorletzter Sonntag im Kirchenjahr, 14.11.2010Lektor Michael HunzeUnter euch wohne Gnade und Friede <strong>von</strong> Gott, unserem Ursprung, und <strong>von</strong>Jesus Christus, dem wir gehören. Amen.Liebe Gemeinde,das Evangelium des heutigen Sonntages enthält – wie ich finde – einen derschönsten und kraftvollsten Sätze der Bibel: „<strong>Was</strong> <strong>ihr</strong> <strong>getan</strong> <strong>habt</strong> <strong>einem</strong> <strong>von</strong><strong>diesen</strong> <strong>meinen</strong> <strong>geringsten</strong> Brüdern, das <strong>habt</strong> <strong>ihr</strong> mir <strong>getan</strong>.“Dieser Satz enthält für mich zwei Kernpunkte christlichen Lebens. Einerseitsfordert er uns klar auf zu Barmherzigkeit, Wohltätigkeit, Hilfsbereitschaft undGüte. Der Satz ist eine deutliche Absage an die Suche nach demgrößtmöglichen eigenen Vorteil. Und der Umkehrschluß, nämlich: „was <strong>ihr</strong>nicht <strong>getan</strong> <strong>habt</strong> <strong>einem</strong> <strong>von</strong> diesem <strong>geringsten</strong>, das <strong>habt</strong> <strong>ihr</strong> mir nicht <strong>getan</strong>“,warnt uns davor, wegzusehen, mit den Schultern zu zucken und zu sagen:„das ist nicht mein Problem.“Andererseits kommt in dem Satz der Wert eines jeden einzelnenmenschlichen Lebens zu Ausdruck. Noch der geringste unter unsMenschenbrüdern ist es wert, daß man ihm Gutes tut. Gutes tun, das beziehtsich auf materielle Dinge (dem Hungrigen zu essen geben, den Nacktenkleiden), das bezieht sich auf menschliche Zuwendung (den Fremdenaufnehmen, den Kranken besuchen), das bezieht sich, wenn man denGedanken konsequent weiterführt, auch auf die Wertschätzung eines jedenMitmenschen. Daraus wiederum lassen sich völlig im Handumdrehensämtliche Menschenrechte ableiten, vom Recht auf Leben und körperlicheUnversehrtheit über die Gleichberechtigungsgrundsätze bis zu denFreiheitsrechten. Man kann es tatsächlich so hoch aufhängen, man muß es1


aber nicht – die Idee, auch der <strong>geringsten</strong> Schwester und dem <strong>geringsten</strong>Bruder etwas Gutes zu tun, ist universal verwendbar. Sie ist global, aber auchalltäglich im kleinen zu verwirklichen.„Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“. Diese Formulierung beschreibt diegleiche Idee, aber es gibt einen Haken: sie steht im Konjunktiv. Allzu oft sindwir eben nicht hilfreich und gut, und zwar auch und gerade in Situationen, woes problemlos möglich wäre. Von diesem erstaunlichen Phänomen haben wirschon in unserer alttestamentarischen Lesung gehört. Gott legt demPropheten Jeremia seine Klage in den Mund über die Einwohner <strong>von</strong>Jerusalem, die beharrlich lügen, böse und uneinsichtig sind. „Wenn man aufdem falschen Weg ist, kehrt man dann nicht um? Wenn man fällt, steht mandann nicht gern wieder auf?“ fragt Gott rhetorisch. Die Menschen <strong>von</strong>Jerusalem könnten umkehren, könnten wieder aufstehen, aber „sie laufenalle <strong>ihr</strong>en Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt.“Ich glaube, diese 2600 Jahre alte Bibelstelle mit dem Bild vomdahinstürmenden Hengst ist absolut aktuell und alltagsrelevant. Der Hengst,der in der Schlacht dahinstürmt, macht dies nicht aus freiem Willen oder mitgutem Grund. Er müßte ja völlig bescheuert sein, wenn er freiwillig in diefeindlichen Truppen sprengen würde, wo er gute Chancen hat, sichaufspießen oder niedertrampeln zu lassen. Das vernünftigste wäre, denReiter abzuwerfen und auf dem schnellsten Wege in friedlichere Gegendenda<strong>von</strong>zugaloppieren. Der Hengst kehrt trotzdem nicht um, aus allenmöglichen Gründen – er ist <strong>von</strong> s<strong>einem</strong> Reiter auf Gehorsam gedrillt, er istein Herdentier, das einen Sog fühlt, wenn seine Hengstkollegen rings umherin die gleiche Richtung galoppieren, undsoweiter.Genauso mag es mit uns sein, wenn unserem <strong>geringsten</strong> Bruder gegenübernicht hilfreich und gut sind, obwohl wir es könnten - unsere Beweggründekönnen genauso unsinnig und destruktiv sein wie die des galoppierenden2


Hengstes. Es kann sich um eine Unzufriedenheit mit den eigenenLebensumständen handeln, die es uns unmöglich macht, die Bedürftigkeiteines anderen zu sehen. Es können Vorurteile sein, die unseren Blick trüben.Vielleicht sind es verkorkste Wertvorstellungen, die wir entwickelt haben – dieForderung „edel sei der Mensch, hilfreich und gut“ stammt aus dem Jahr1783; sie ist inzwischen ersetzt worden durch die 2003 formulierteLebensauffassung: „Geiz ist geil.“Ich glaube jedenfalls nicht, daß das unbedingte Streben nach dem eigenenVorteil eine evolutionsbiologische Notwendigkeit ist. Im Gegenteil, gerade dieneuere Evolutionsforschung zeigt, daß Altruismus und das Bilden <strong>von</strong>Netzwerken ein Selektionsvorteil sein kann. Und ich will absolut nichtglauben, daß der Mensch <strong>von</strong> Natur aus böse ist. Das läßt nur den Schlußzu, daß es oft vordergründige Beweggründe sind, die uns daran hindern,edel, hilfreich und gut zu sein. Die beiden Texte, die wir heute gehört haben,fordern uns dazu auf, diese Beweggründe zu sehen, sie infrage zu stellenund zu schauen, wo wir uns selbst im Weg stehen bei unseren bestenAbsichten gegenüber dem <strong>geringsten</strong> unserer Brüder.Soweit ein möglicher Bezug der beiden Lesungen zu unserem diesseitigenLeben. Das Evangelium enthält aber auch noch einen wesentlichentheologischen Zankapfel, nämlich die Frage: Werkgerechtigkeit contraRechtfertigungslehre. Zur Erinnerung: Werkgerechtigkeit bezeichnet dieAuffassung, daß wir Menschen Gnade vor Gott finden durch unsere gutenTaten und durch die Bußleistungen, die wir für unsere Sünden erbringen. Esgeht also um das Tun, weniger um das Fühlen und Glauben.Die Rechtfertigungslehre, ein Kernpunkt oder möglicherweise der Kernpunktlutherischer Theologie, vertritt dagegen die Auffassung, daß wir eineRechtfertigung vor Gott nur erreichen können durch seine Gnade, durchunseren Glauben, durch die Schrift und durch das Leben und Sterben Jesu3


Christi, aber niemals durch eigenes Tun und Lassen.Die Streitfrage, die sich am heutigen Evangelium entzündet, ist also: muß ichtatsächlich rackern und schaffen, um einmal vor dem Weltenrichter zubestehen, oder bin ich allein aus Gnade und umsonst gerettet?Im ersten Augenblick scheint es so, als ob das heutige Evangelium dieAuffassung <strong>von</strong> der Werkgerechtigkeit stützt. Wir stoßen aber rasch aufWidersprüche.Im Gleichnis vom Großen Weltgericht ist überhaupt nicht <strong>von</strong> Verdiensten dieRede, mit denen man Gott gnädig stimmen und sich das Himmelreicherkaufen kann. Die hier zur Rechten gestellt werden, fragen doch selber ganzüberrascht: „Wann hätten wir dich in dieser oder jener Not gesehen und dirgeholfen?“, so dass jeder Gedanke an eigennützige Spekulationen fern lag,als sie sich um die Kranken oder Gefangenen gekümmert haben. Gerade diezur Rechten des Menschensohns wissen, wieviel sie schuldig geblieben undwie sehr sie auf die Gnade Gottes angewiesen sind. Und daran werden sieals Jüngerinnen und Jünger erkannt, dass sie sich nicht selbst zurechtfertigen und zu bestätigen suchen, sondern aus <strong>ihr</strong>en menschlichen undspirituellen Überzeugungen und Gefühlen gehandelt haben.Der zweite Widerspruch bezieht sich auf die Frage, wie ein Strafgericht, dasarme Seelen für irdische Sünden in die ewige Verdammnis schickt, vereinbarist mit dem sanften, liebenden Jesus <strong>von</strong> Nazareth, der die Wortegesprochen hat „wer <strong>von</strong> Euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“Ich nehme die Antwort vorweg: die Vorstellung vom Strafgericht ist überhauptnicht vereinbar dem Bild Jesu Christi, das die Evangelisten ansonstenzeichnen.Ich glaube, die Interpretation des Weltgerichts als Strafgericht beruht4


vielmehr auf einer reinen Fehlauffassung, die wir begreifen können, wenn wirzurückgehen zu den Ursprüngen der Vorstellung <strong>von</strong> <strong>einem</strong> göttlichenGericht. Diese Vorstellung ist keine ursprünglich christliche, nicht einmal einebiblische. Schon in vorbiblischer Zeit gab es in Babylon und in ÄgyptenKonzepte einer göttlichen Gerechtigkeit, die später Eingang in die Bibel unddarüber auch in den christlichen Glauben fanden.In Babylon war der König als Stellvertreter des Sonnengottes Samas auchder Vollstrecker dieser göttlichen Gerechtigkeit, die in der Vorstellung derBabylonier ein Teil der kosmischen Ordnung ist: mit der Sonne geht morgensdie göttliche Gerechtigkeit auf und führt das Land und das Volk auf rechtenWegen. Gerecht ist, wer recht handelt; gerecht ist, was gesund ist; gerechtist, wer rechtschaffen lebt. Richten hat hier den positiven Sinn <strong>von</strong> aufrichten,lebendig machen und heilen. Der König und Richter hat dafür zu sorgen,dass der Starke den Schwachen nicht schädigt und den Waisen und Witwenzu <strong>ihr</strong>em Recht verholfen wird. Er hat nicht nur den Schwachen vor demStarken zu schützen, sondern auch das Land vor der Ausbeutung durch dieMenschen. Er ist jedoch seinerseits <strong>von</strong> der kosmischen Ordnung abhängig.Entstehen Naturkatastrophen oder Hungersnöte, wird er verantwortlichgemacht, es kann ihn den Kopf kosten. Gerechtigkeit ist in diesem Weltbildeine Recht schaffende, rechtsschöpferische Tätigkeit.Der Gott Israels wird beim Propheten Maleachi als Sonne der Gerechtigkeitgepriesen, und es wird um seinen Aufgang gebetet. Hier übernimmt der Gottder Hebräer die Funktionen der heilenden, rettenden und zurechtbringendenGerechtigkeit der Sonne Samas. Hier finden wir eine biblische Vorläuferideezu einer göttlichen Gerechtigkeit.Die ägyptische Gerichtsvorstellung ist eine ganz andere. Das ägyptische5


Gottesgericht ist das Totengericht, der Übergang vom Diesseits zum Jenseits.Im Zentrum des Totengerichts steht die Waage mit dem Herzen des Toten aufder einen Schale und seinen Taten auf der anderen. Der Mensch ist imDiesseits die Summe seiner Taten. Diese werden im Jenseits mit Lohn undStrafe vergolten. Das Urteil wird auf Grund der Herzensabwägunggesprochen. Die Wägung wird durch den Gott Anubis vorgenommen, der imChristentum später zum Erzengel Michael mutierte, als Osiris durch Christusersetzt wurde.Vergleichen wir die Gerechtigkeitsvorstellungen in Babylon und Ägypten,dann finden wir auf der einen Seite den Begriff einer Gerechtigkeit, eineGerechtigkeit, die die Dinge in Ordnung bringt, auf der anderen Seite abereine feststellende und vergeltende Gerechtigkeit. In Babylon hat die göttlicheGerechtigkeit soziale, irdische und kosmische Dimensionen, in Ägypten aberist sie nur auf den Menschen und bei den Menschen nur auf <strong>ihr</strong>e Taten undUntaten bezogen, nicht aber auf <strong>ihr</strong>e Leiden und auch nicht auf <strong>ihr</strong>natürliches, körperliches Dasein als fehlbare Geschöpfe Gottes. In Babylonschützt die göttliche Gerechtigkeit die Schwachen und Opfer, in Ägyptenbestraft oder belohnt die Gerechtigkeit die Täter.Halten wir uns die christlichen Bilder vom Jüngsten Gericht in denmittelalterlichen Kirchen vor Augen, dann leuchtet unmittelbar ein, wie starkdas ägyptische Totengericht diese Bilder vom "Gericht nach den Werken"geprägt hat. Offenbar ist es diese Vorstellung einer Werkgerechtigkeit, dieüber Jahrhunderte die Interpretation des Gleichnisses vom Weltgerichtgeprägt hat. Aber ist diese Interpretation zulässig und sinnvoll?Ich meine, sie ist es nicht. Zum einen ist sie unlogisch undschöpfungsfeindlich. Soll denn Christus, der Richtergott, dem Schöpfergott6


widersprechen, indem er Teile der Schöpfung verwirft? Und wenn es sich umdenselben Gott handelt, dann zerstört der Richtergott die Treue desSchöpfers zu seinen Geschöpfen. Ob es sich um einen SelbstwiderspruchGottes oder um verschiedene Götter handelt, das biblische Gottvertrauenwäre zerstört.Zum anderen ist der Christus, der mit Lohn und Strafe vergeltendeGerechtigkeit an den Menschen ausübt, nicht wiederzuerkennen. Er hat mitdem krankenheilenden, sündenvergebenden Bergprediger Jesus <strong>von</strong>Nazareth nichts zu tun. Dieser vergeltende Richter kann nicht der für unsgekreuzigte Christus sein. Wenn Christus als Weltrichter wirklich Seelenverwerfen und in die ewige Verdammnis schicken würde, hätte er versagt,sein eigenes Konzept unbedingter Annahme und Liebe ad absurdum geführt.Deswegen brauchen wir einen anderen Zugang zur Vorstellung vom großenWeltgericht: Unrecht schreit zum Himmel, die Opfer verstummen nicht, dieMörder finden keine Ruhe. Der Hunger nach Gerechtigkeit ist das Resultateiner menschlichen Welt voller Konflikte. Die Erwartung des GerichtesGottes, das Gerechtigkeit bringt, ist ursprünglich die Hoffnung der Opfer <strong>von</strong>Unrecht und Gewalt. Das Gottesgericht ist die Gegengeschichte und dasGegenbild der Unterdrückten zur Welt der triumphierenden Gewalttäter. Doches geht nicht darum, Unrecht und Gewalt zu sühnen, es geht darum, dieVerstrickung der Welt in Unrecht und Gewalt zu lösen, und das Böse ganzaus der Welt zu tilgen. Die göttliche Gerechtigkeit führt dann nicht zurSpaltung der Menschen in Selige und Verdammte, sondern in den großenVersöhnungstag Gottes. An dem Tag des Gerichts werden "alle Tränen <strong>von</strong><strong>ihr</strong>en Augen abgewischt", die Tränen des Leids ebenso wie die Tränen derReue, denn es werden "weder Leid noch Schmerz noch Geschrei mehr sein",so heißt es in der Offenbarung des Johannes.Wenn wir also das Weltgericht begreifen als die Auslöschung des Unrechts,7


und nicht als die Verwerfung der Unrechten, dann wird aus dem StrafrichterChristus der Weltretter Christus, und wir können das Evangelium desheutigen Sonntags tatsächlich als Evangelium wahrnehmen, als froheBotschaft.Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahreunsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.8

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