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Brief an Waldemar Paulsen - Waldemar Paulsen – Meine Davidwache

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17.Februar 2013Lieber Herr <strong>Paulsen</strong>!Ihr Buch „<strong>Meine</strong> <strong>Davidwache</strong>“ hat mich sehr interessiert, denn „Ihre <strong>Davidwache</strong>“ warzeitweilig auch mal „<strong>Meine</strong> <strong>Davidwache</strong>“, als ich Mitte der 60er Jahre dort im ärztlichenNotdienst tätig war. Viele Erinnerungen wurden wachgerufen, von denen ich mir erlaubenmöchte, einige von diesen in Kürze hier wiederzugeben.Der damalige ärztliche Obm<strong>an</strong>n für den Bezirk, Herr Dr. Gottschalk in der Annenstraße,sagte mir bei meinem Antrittsbesuch: „Wissen Sie, Kollegin, hier wohnen eigentlich g<strong>an</strong>zbürgerliche Leute. Sicher kommt auch mal ein Fall aus dem Rotlichtmilieu, aber selten,wirklich selten.“Als ich mich d<strong>an</strong>n <strong>an</strong> einem schönen Sommerabend 1963 zu meinem ersten Einsatz auf derWache meldete, wurde ich gleich mit den Worten empf<strong>an</strong>gen: „Gut, dass Sie da sind, esliegen schon zwei Meldungen vor: Eine Wirtschafterin von der Herbertstraße hat schonmehrfach <strong>an</strong>gerufen und dringend einen Arzt verl<strong>an</strong>gt. Der zweite Fall ist in der Hein-Hoyer-Straße.“ Also habe ich meinen Mut zusammen genommen und bin um die Ecke zurbek<strong>an</strong>nten Herbertstraße gefahren. Vor der diese Straße absperrende Barriere st<strong>an</strong>d einM<strong>an</strong>n, von dem ich <strong>an</strong>nahm, dass er ein Lude, in jedem Fall ein Insider sei. Dem erklärte ich,dass ich als Ärztin zu einer Kr<strong>an</strong>ken gerufen worden sei. Unter seinem Sichtschutz gel<strong>an</strong>gteich zu dem betreffenden Haus. Die nicht sehr <strong>an</strong>genehme Wirtschafterin befahl mir barsch,die Kr<strong>an</strong>ke in ein Kr<strong>an</strong>kenhaus einzuweisen, da diese nicht mehr arbeiten könne. Esh<strong>an</strong>delte sich bei der Kr<strong>an</strong>ken um eine ältere Hure, die offenbar unter Halluzinationen litt. Ichuntersuchte sie und wollte <strong>an</strong>schließend erneut mit der Wirtschafterin sprechen, doch erhieltdie Auskunft: „Das geht jetzt nicht, die ist gerade selber einen bedienen.“ Beim<strong>an</strong>schließenden Telefongespräch auf der Wache mit der diensthabenden Ärztin imKr<strong>an</strong>kenhaus Ochsenzoll zwecks eventueller Einweisung klärte diese mich auf, dass die vonmir geschilderten Symptome typisch für Patienten aus dem „Milieu“ seien, hervorgerufendurch gleichzeitige Einnahme von Pervitin (ein Metamphetamin) und Alkohol. Anstelle einerEinweisung erhielt ich nützliche Therapievorschläge.Der zweite Besuch in der Hein-Hoyer-Straße führte mich in den vierten Stock einesWohnhauses zu einer Frau, die auch nicht unbedingt als „gut-bürgerlich“ zu bezeichnen war.Ich wurde von einem halbwüchsigen Jungen empf<strong>an</strong>gen, der ebenfalls energisch forderte,seine Mutter müsse sofort in ein Kr<strong>an</strong>kenhaus eingewiesen werden - oder er würde sich vonder Treppe stürzen! Irgendwie habe ich es geschafft, beiden Forderungen zu widerstehen,wollte ich doch nicht gleich die Kr<strong>an</strong>kenhäuser mit schwierigen Patienten beglücken undselbst in den Ruf geraten, allzu leicht für derartige Einweisungen zu haben zu sein.Später bin ich allerdings einmal diesem Vorsatz untreu geworden, als mich mitten in derNacht ein Notruf zu einer kleinen Gasse, die damals vom H<strong>an</strong>s-Albers-Platz abging,bestellte. Der Platz selbst war menschenleer bis auf einen einigermaßenvertrauenerweckend wirkenden Pass<strong>an</strong>ten. Diesen bat ich um Auskunft. Er wirkte etwasüberrascht und <strong>an</strong>twortete: „Da wollen Sie rein? Das ist der Blutg<strong>an</strong>g!“ Er wies auf eineschmale Gasse zwischen zwei düsteren Häuserzeilen, von dem ein dunkler Zug<strong>an</strong>g in einenschwach beleuchteten Raum führte, wo mehrere Männer um einen Tisch saßen und mich,nachdem ich mich vorgestellt hatte, aufforderten, einen von ihnen ins Kr<strong>an</strong>kenhauseinzuweisen. Als ich mich nach seinen Beschwerden erkundigte, wurde recht aggressiv die


gewünschte Einweisung ohne weitere Erklärung wiederholt. Da mir in dieser Situation etwasungemütlich wurde, habe ich widerwillig nachgegeben und eine Einweisung mit allgemeingehaltener Verdachtsdiagnose ausgestellt, allerdings hinterher den Vorg<strong>an</strong>g in der Wacheberichtet.Ein weiterer Fall - den geschilderten Symptomen nach möglicherweise eine Nierenkolik -brachte mich in die Talstraße, wo mir schon auf der Treppe eine ältere, hutzlige Frau mit denWorten entgegen eilte: „Ach Jott, ach Jott, hätte ich das doch gewusst, hätte ich doch schonkaufen können Hemdchen und Jäckchen! Aber nun hat sie doch später wenigstens einenBeschützer!“ Da lag d<strong>an</strong>n in einem unglaublich primitiven Raum auf einer ungepflegtenBettstatt die Kr<strong>an</strong>ke. Aus der Nierenkolik war eine plötzliche Niederkunft geworden, dererhoffte Beschützer entpuppte sich jedoch bei näherer Betrachtung als „zukünftigeBeschützerin“. Dieses „freudige“ Ereignis musste nun erstmal ärztlich betreut werden, wasbei den sehr engen Wohnverhältnissen nicht g<strong>an</strong>z einfach war. Nach dem Abnabeln mussteich zunächst schnell zur Nachtapotheke fahren, um ein entsprechendes Medikament zurEntsorgung der Nachgeburt zu holen. Die nicht mehr g<strong>an</strong>z junge Mutter hatte seit längererZeit über „Magenbeschwerden“ geklagt, aber nicht geahnt, dass sie schw<strong>an</strong>ger war. Als ichspäter auf die Wache zurückkehrte, wurde ich etwas besorgt empf<strong>an</strong>gen, wo ich denn sol<strong>an</strong>ge geblieben sei. Ich berichtete, dass der Nierenstein lebendig gewesen sei und eineneue St.Pauli<strong>an</strong>erin den Stadtteil bevölkern würde - da war alles klar.Beim Lesen Ihres lebendig geschriebenen Buches ist mir vieles aus meiner dort tätigen Zeitwieder eingefallen. Viel habe ich dort erlebt und auch gelernt, nicht nur im medizinischenSinn. Die <strong>Davidwache</strong> selbst wurde mir zunehmend vertraut. Ich empf<strong>an</strong>d sogar so etwaswie eine gewisse Geborgenheit in meinem kleinen Dienstzimmer, wo ich auch gelegentlichPatienten ambul<strong>an</strong>t beh<strong>an</strong>delte. Die „Besatzung“ kam mir stets hilfsbereit und verständnisvollentgegen. Es tat gut, gelegentlich nach einem schwierigen oder unerfreulichen Einsatz beieinem freundlichen Zuhörer auf dem Revier ein offenes Ohr zu finden. Ich denke sehr gerne<strong>an</strong> diese Zeit zurück und d<strong>an</strong>ke Ihnen für die Reise in die Verg<strong>an</strong>genheit, auch in meineeigene, auf die mich Ihr Buch mitgenommen hat.Mit herzlichen GrüßenDr. Elfriede Torneberg

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