12.07.2015 Aufrufe

Epidemiologie von Suizidalität im Alter. Zeitschrift für Gerontologie

Epidemiologie von Suizidalität im Alter. Zeitschrift für Gerontologie

Epidemiologie von Suizidalität im Alter. Zeitschrift für Gerontologie

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN
  • Keine Tags gefunden...

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Z Gerontol Geriat 41:3–13 (2008)DOI 10.1007/s00391-008-0517-zBEITRAG ZUM THEMENSCHWERPUNKTA. SchmidtkeR. SellC. Löhr<strong>Epidemiologie</strong> <strong>von</strong> Suizidalität <strong>im</strong> <strong>Alter</strong>Epidemiology of suicidein older persons" Zusammenfassung Mit zunehmendem<strong>Alter</strong> erhöht sich inDeutschland die Suizidgefährdung.Die Suizidraten folgen dem„ungarischen“ Muster. Insbesondereder Anteil älterer Frauen anallen Suiziden hat sich in denletzten Jahren überproportionalEingegangen: 30. Oktober 2007Akzeptiert: 10. Dezember 2007Die Arbeit ist zum Teil <strong>im</strong> Rahmender WHO/EURO Multicenter Studyon Suicidal Behaviour entstanden.Armin Schmidtke ()) · Roxane SellCordula LöhrKlinik für Psychiatrieund Psychotherapiedes Universitätsklinikums WürzburgFüchsleinstraße 1597080 Würzburg, Germanyerhöht. Jeder zweite Suizid einerFrau ist zur Zeit der einer Frauüber 60 Jahre. Hauptsuizidmethodeist das Erhängen. Suizidversuchesind <strong>im</strong> <strong>Alter</strong> seltener, die Ratensteigen aber bei den sehr altenMenschen wieder an. Suizidversuche<strong>im</strong> <strong>Alter</strong> werden mit einerhöheren Letalintensität durchgeführtund zeigen selten eine appellativeKomponente. Suizidversuchsmethodensind häufig Vergiftungenmit Psychopharmaka.Insgesamt werden die Suizid- undSuizidversuchsraten <strong>im</strong> <strong>Alter</strong> aberwahrscheinlich aufgrund eineshohen Anteils indirekter Methoden(passiver Unterlassungshandlungen)stark unterschätzt. Ursache<strong>von</strong> Suiziden und Suizidversuchen<strong>im</strong> <strong>Alter</strong> sind häufig psychischeErkrankungen (vor allemDepressionen), Motive häufigPartnerverlust, Verlust des sozialenNetzwerkes, Angst vor denFolgen physischer Erkrankungenund Verlust <strong>von</strong> Handlungsfreiheitsgraden.So ändert sich beiälteren Personen häufig die sozialeSituation vor dem Suizidversuch." Schlüsselwörter Suizid –Suizidversuch – Trends –Suizidmethoden – Risikofaktoren" Abstract The suicide risk inGermany increases with age. Thesuicide rates follow the so called“Hungarian” pattern. Especiallythe percentage of older femalesamong all suicides has increasedunproportionally in recent yearsin relation to their percentage inthe population. Every second suicideof a female is today a suicideof a female older than 60 years.The main suicide method amongolder persons is hanging. Suicideattempts are rare among olderpersons; however, the rates are increasingamong the oldest agegroups. The suicide attempts ofolder persons are committed witha higher lethality and show rarelyappellative components. Suicideattempt methods are often poisoningwith pharmaceuticals.In total the suicide and suicideattempt rates among elderly areunderest<strong>im</strong>ated due to indirectmethods (passive reactions, e.g.noneating). Reasons for suicidesand suicide attempts among olderpersons are often psychic illnesses(mostly depression), motives ofteninclude loss of partners, lossof the social network, fear of theconsequences of somatic illnessesand loss of freedom of action.Thus, often the social situation ofolder persons with suicide attemptschanged before suicidewas attempted." Key words suicide –suicide attempt – trends –suicide methods – risk factorsZ Gerontol Geriat 1 2008


4 A. Schmidtke et al.Begriffsbest<strong>im</strong>mung und KlassifikationIn der <strong>Epidemiologie</strong> werden als suizidale Verhaltensweisen<strong>im</strong> engeren Sinne meist Suizide und Suizidversuchebezeichnet. Häufig werden aber auch„Suizidgedanken“, „Suizidankündigungen“ und „Suiziddrohungen“dazu gezählt. Suizidalität wird definiertals Summe aller Denk- und Verhaltensweisen<strong>von</strong> Menschen oder Gruppen <strong>von</strong> Menschen, die inGedanken, durch aktives Handeln, passives Unterlassenoder durch Handeln lassen den eigenen Tod anstrebenbzw. als mögliches Ergebnis in Kauf nehmen([29], S. 251). Die WHO hat bisher noch keine einheitlicheDefinition <strong>von</strong> „Suizidalität“ publiziert.Unter Suizid wird eine <strong>von</strong> einer Person selbstdurchgeführte Handlung verstanden, nach der derTod eintritt. Nach neueren Definitionen wird darunteraber nur dann eine Handlung mit Todesfolge gezählt,wenn diese Handlung in bewusstem Denkenund Handeln und der bewussten Intention zu sterbenund dem Verständnis <strong>von</strong> Tod durchgeführtwurde.Unter Suizidversuch (<strong>im</strong> englischen Sprachraumoft auch noch „Parasuizid“) wird ein Verhalten subsummiert,das suizidale Intention zeigt. Die Handlungwird <strong>im</strong> Glauben durchgeführt, dass sie zumTod führt. Die WHO-Arbeitsdefinition [19] verstehtunter Suizidversuch eine Handlung mit nichttödlichemAusgang, bei der ein Individuum absichtlichein nicht-habituelles Verhalten beginnt, das ohne Intervention<strong>von</strong> dritter Seite eine Selbstschädigungbewirken würde, oder absichtlich eine Substanz ineiner Dosis einn<strong>im</strong>mt, die über die verschriebeneoder <strong>im</strong> Allgemeinen als therapeutisch angeseheneDosis hinausgeht, und die zum Ziel hat, durch dieaktuellen oder erwarteten Konsequenzen Veränderungenzu bewirken.Diese Definition bezieht auch Handlungen mitein, die unterbrochen wurden, bevor tatsächlich eineSchädigung eintrat. Berücksichtigt wird ferner dieIntention der Handlung. Handlungen, bei denen diePerson die Bedeutung des Verhaltens oder die Konsequenzennicht versteht, werden dagegen nicht alsSuizidversuch klassifiziert. Wolfersdorf & Schmidtke[29] differenzieren noch zwischen dem vorbereitetenSuizidversuch (begonnen und abgebrochen, durchFremdeinfluss oder eigene Entscheidung) und durchgeführtemSuizidversuch.Englische und amerikanische Autoren unterscheidenhier noch weiter zwischen „ernsthaften“ und„nicht-ernsthaften“ Suizidversuchen, wobei sich dieseUnterscheidung auf die Sterbeintention bezieht.Suizidgesten sind Handlungen, die keine ernsthafteLebensgefahr nach sich ziehen, Suiziddrohungen: alleverbalen Äußerungen oder Handlungen, die selbstdestruktivesVerhalten ankündigen, und Suizidideen(-absichten): Gedanken an suizidale Handlungen.Von einigen Autoren (z. B. [5]) wird hier noch eineweitere Unterteilung und Differenzierung für die Kategorieder Suiziddrohung und Suizidideen vorgeschlagen.Im Hinblick auf den Einschluss der Intention indie Definition suizidalen Verhaltens wird empfohlen,jeweils noch zwischen Suizid- und Suizidversuchsideenbzw. -drohungen zu unterscheiden.Im <strong>Alter</strong> kommt häufig auch indirektes suizidalesVerhalten vor: Hierunter versteht man „Hoch RisikoVerhalten“ und passive Unterlassungshandlungen(z. B. Verweigern der Nahrungsaufnahme und Medikamenteneinnahmesowie Nicht-Befolgen ärztlicherMaßnahmen). Bei diesen Handlungen muss der Sterbewunscherkennbar sein. Solche indirekten Suizidhandlungensollen in stationären Altenhilfeeinrichtungenrelativ häufig vorkommen [6].Psychogener Tod beschreibt ein Konzept, bei demangenommen wird, dass die Person eigentlich nochleben will, aufgrund der <strong>von</strong> ihr aber nicht mehr zumeisternden schwierigen Lebenslage glaubt, nichtmehr leben zu können und sich aufgibt. Es ist keindirekter Sterbewunsch und vor allem keine aktiveHandlung vorhanden. Ein solches Verhalten soll z.B.bei älteren Menschen nach dem Tod <strong>von</strong> Partnernauftreten. Mit solchen Erklärungsmodellen versuchtman auch die zeitliche Korrelation zum Todeszeitpunktdes Partners(in) zu erklären.Chronische Suizidalität: Hierbei sind zwei Untergruppenzu unterscheiden: Zum einen Personen mitchronisch vorhandenen Suizid- bzw. Parasuizidgedanken<strong>im</strong> Sinne des chronisch andauerndenAspektes; zum anderen Menschen mit rezidivierendensuizidalen bzw. parasuizidalen Handlungen <strong>im</strong>Sinne des chronisch repetierenden Aspektes. Vor diesemHintergrund lässt sich chronische Suizidalitätdefinieren als kontinuierlich vorhandene (Para-)Suizidgedankenmit oder ohne (para-)suizidale Handlungen<strong>im</strong> Sinne häufiger (rezidivierender) Parasuizide.Doppelsuizid(e) sind gemeinsame Suizide, diemanchmal bei alten Ehepaaren zu finden sind.Andere Formen selbstschädigenden Verhaltens,wie habituelle Selbstverletzungen, und „Suicide bypolice“ (Provokation sich töten zu lassen) kommenbei älteren Menschen kaum vor.<strong>Epidemiologie</strong>n DunkelzifferproblematikDa insbesondere indirekte suizidale Handlungen <strong>im</strong><strong>Alter</strong> schwer <strong>von</strong> Unfällen abzugrenzen und daherschwierig zu klassifizieren sind, ist die DunkelzifferZ Gerontol Geriat 1 2008


6 A. Schmidtke et al.Abb. 2 <strong>Alter</strong>sverteilung der Suizidziffern inDeutschland 2006. Datenquelle: StatistischesBundesamt, Berechnungen WHO-GruppeWürzburgSuizide/100.000353025201510MännerFrauen5090+85–8980–8475–7970–7465–6960–6455–5950–5445–4940–4435–3930–3425–2920–2415–1910–145–9<strong>Alter</strong> in JahrenAbb. 3 Veränderung der Anteile ältererMenschen (60 Jahre und älter) an derGesamtbevölkerung und an den Suiziden.Datenquelle: Statistisches Bundesamt,Berechnungen WHO-GruppeWürzburgProzent an allen Suiziden bzw.Bevölkerung60504030201001952−1956Frauen: % an Bev.Männer: % an Bev.1957−19611962−19661967−19711972−1976Frauen: % an Sui.Männer: % an Sui.1977−19811982−19861987−19911992−19961997−20012002−2006Aufgrund der <strong>Alter</strong>skovariation der Suizidgefährdungund der Veränderung der <strong>Alter</strong>spyramide hatsich der Anteil alter Menschen an den Suiziden insgesamtin den letzten Jahren überproportionalerhöht und zwar bei Frauen deutlicher als bei denMännern. So beträgt der Anteil der Männer über 60an der Gesamtbevölkerung 22,1%, an den Suizidenaber 40,2%, der Anteil der Frauen an der Gesamtbevölkerung27,8%, an den Suiziden sogar 49,3. Jederzweite Suizid einer Frau wird daher heute <strong>von</strong> einerFrau über 60 Jahre begangen. Die über 70-jährigenFrauen stellen 32,0% der Suizide, die Männerder entsprechenden <strong>Alter</strong>sgruppe 23,6%.Durch die weitere Veränderung der <strong>Alter</strong>spyramideund des dadurch zu erwartenden weiteren Ansteigensdes Anteils älterer <strong>Alter</strong>sgruppen werden daherauch die Absolutzahlen <strong>von</strong> Suiziden älterer Menschen(über 60 Jahre) aufgrund des „ungarischenMusters“ mit hoher Wahrscheinlichkeit zunehmen,auch wenn sich innerhalb der einzelnen <strong>Alter</strong>sgruppendas Suizidrisiko nicht wesentlich ändert (vgl.[22]). Dies gleicht Trends in anderen Ländern.Im europäischen Vergleich liegen die Raten für ältereMenschen in Deutschland unterhalb des Mittelwertes(Abb. 4).MethodenBei den Suizidmethoden unterscheidet man üblicherweisezwischen „harten“ und „weichen“ Suizidmethoden.Zu den „harten“ Suizidmethoden werden„Erhängen, Erdrosseln und Ersticken“, „Feuerwaffenund Explosivstoffe“, „Sturz aus der Höhe“, „Ertrinken“,„Verbrennen“, „Schneiden“ und „sich vor einbewegtes Objekt legen“, zu den „weichen“„Vergiftungenmit festen oder flüssigen Stoffen, „Vergiftungenmit <strong>im</strong> Haushalt verwendeten Gasen, sonstigen Gasenund Dämpfen“, gezählt.Als Suizidmethoden werden in den älteren <strong>Alter</strong>sgruppenab 60 Jahren überwiegend „harte“ Suizidmethodenangewandt, wobei sie bei den Männernprozentual häufiger vorkommen (vgl. Abb. 5). „Erhängen,Erdrosseln und Ersticken“: Männer 55%,Frauen 40%, „Feuerwaffen und Explosivstoffe“: Män-Z Gerontol Geriat 1 2008


<strong>Epidemiologie</strong> <strong>von</strong> Suizidalität7Abb. 4 Suizidraten alter Menschen (75 Jahreund älter) <strong>im</strong> europäischen Vergleich (EU-Länder).Datenquellen: Statistisches Bundesamt, WHO-Datenbank.Berechnungen WHO-Gruppe WürzburgUngarn (2002)Slovenien (2002)Österreich (2002)Bulgarien (2002)Belgien (1997)Frankreich (2000)Litauen (2002)Estland (2002)Tschechien (2002)Lettland (2002)Portugal (2002)Finnland (2002)Deutschland (2006)Dänemark (1999)Slovakei (2000)Schw eden (2001)Spanien (2001)Rumänien (2002)Italien (2001)Polen (2002)Niederlande (2003)Irland (2001)England (2001)Griechenland (2001)FrauenMänner150 100 50 0 50Abb. 5 Suizidmethoden älterer Menschen (60 Jahreund älter) in Deutschland 2006. Datenquelle:Statistisches Bundesamt, Berechnungen WHO-GruppeWürzburg% an allen Suizidmethoden6050403020100ErhängenVergiftungenFeuerwaffeSturz in die TiefeErtrinkenMännerFrauenSchneidenLegen vor bew. Obj.ner 15%, Frauen 1%, Sturz aus der Höhe“: Männer8%, Frauen 14%, „harte Gifte“ Männer 2%, Frauen2% und „weiche“ Gifte Männer 6%, Frauen 22%(Abb. 5).Im Vergleich zum Beginn der 80er Jahre(1980–1984) haben sich einige Suizidmethoden beialten Menschen (60 Jahre und älter) verändert. Soüberwiegt 2006 wie früher sowohl bei den Männern(55%) als auch bei den Frauen (39%) die Methode„Erhängen“. Die Suizidmethode „Vergiftung“ warfrüher häufiger feststellbar (2006: Männer 8%(früher 17%), Frauen 24% (früher 34%). 2006 ist <strong>im</strong>Vergleich zu früher bei Männern häufiger dieMethode „Feuerwaffen und Explosivstoffe“ (15%,früher 5%) und bei Frauen deutlich häufiger dieMethode „Sturz in die Tiefe“ festzustellen (14%;früher 8%).Verlauf der Suizidziffern über die ZeitÜber die Zeit ist für die offiziellen Suizidziffern <strong>im</strong>Durchschnitt ein Rückgang festzustellen, obwohl einelängere Lebenserwartung zu berücksichtigen ist(vgl. Abb. 6). Dies gilt sowohl für das Gesamtgebietder Bundesrepublik wie für die Gebiete der altenund neuen Bundesländer getrennt. Die Höhe derVeränderungen ist abhängig <strong>von</strong> den ausgewähltenVergleichszeiträumen. Sie sind jedoch statistisch sowohlfür die Gesamtsuizidziffern, wie für die meistender einzelnen <strong>Alter</strong>sgruppen signifikant, unabhängigwelche Methodik angewandt wird.Im Vergleich zum Ende der 70er Jahre (Durchschnitt1977–1981; Periode der höchsten Suizidratenin Deutschland) sind für Deutschland die „rohen“Suizidziffern in den letzten fünf Jahren (2002–2006)Z Gerontol Geriat 1 2008


8 A. Schmidtke et al.Abb. 6a, b a Verlauf der Suizidziffern für Männerin einzelnen <strong>Alter</strong>sgruppen (1952–2006).Datenquelle: Statistisches Bundesamt. BerechnungenWHO-Gruppe Würzburg. b Verlauf der Suizidziffernfür Frauen in einzelnen <strong>Alter</strong>sgruppen(1952–2006). Datenquelle: Statistisches Bundesamt.Berechnungen WHO-Gruppe Würzburgum insgesamt 47,1% zurückgegangen (Männer 41%,Frauen 60%). Dieser Rückgang gilt auch für diemeisten <strong>Alter</strong>sgruppen (Abb. 6 a und 6 b).Langfristiger zeigen lediglich die Raten der Männerüber 90 Jahren und der Frauen der <strong>Alter</strong>sgruppe85–90 noch einen steigenden Trend, allerdings nehmenauch hier in den letzten Jahren die Raten ab.SuizidversucheZur Abschätzung der Häufigkeit <strong>von</strong> Suizidversuchenliegen keine offiziellen statistischen Angaben vor(vgl. [20]). Zwar wurden früher in einigen BundesländernDaten <strong>von</strong> den Landeskr<strong>im</strong>inalämtern gesammelt,aufgrund der Dunkelziffern ist die Reliabilitätdieser Daten aber niedrig. Man musste sich daherauf Ergebnisse <strong>von</strong> Inanspruchnahmepopulationenstützen.Von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurdedaher 1985 <strong>im</strong> Rahmen des Gesundheitsprogramms„Health for All by the Year 2000“ ein Projektzur Erfassung möglichst wirklichkeitsgetreuer Suizidversuchsratenin Europa initiiert. Die WHO-Stichprobefür Deutschland wurde bisher in Würzburg (Stadtund Land) erfasst. Für einige Jahre liegen auch Datenaus Nürnberg, die <strong>im</strong> Rahmen der Studie zum„Nürnberger Bündnis“ [1, 8] erhoben wurden, vor.Da diese Daten aber zur Überprüfung der EffektivitätSuizide/100.000aSuizide/100.000b140120100806040200454035302520151050195219551952195560−70 Jahre 70−80 Jahre 80+195819611964196719701973197619791982198560−70 Jahre 70−80 Jahre 80+195819611964196719701973197619791982198519881991199419972000200320061988199119941997200020032006<strong>von</strong> Präventionsprogrammen erhoben wurden, gebensie kein Bild des „natürlichen“ Verlaufs wieder. DieEU fördert jetzt ein Projekt (MONSUE), bei dem mehreredeutsche Erfassungsgebiete (Würzburg, Leipzig,Nürnberg und Hamburg) vorgesehen sind. Von Hamburgund Leipzig liegen jedoch bisher noch keine Datenvor.In diesen Studie wird die WHO Arbeitsdefinition<strong>von</strong> Suizidversuch verwendet.Die <strong>Alter</strong>sverteilung der Personen mit Suizidversuchenist der der Suizide entgegengesetzt. Ältere <strong>Alter</strong>sgruppenweisen deutlich niedrigere Suizidversuchsratenauf (s. Abb. 7).Bei den Suizidversuchsmethoden überwiegen <strong>im</strong><strong>Alter</strong> „weiche“ Methoden (Vergiftungen) mit 59%bei den Männern und 78% bei den Frauen. An zweiterStelle steht die Methode „schneidende/stechendeGegenstände“ (Männer 23%; Frauen 14%).Von der Bundesapothekenkammer wurden für denZeitraum 2000–2005 die am häufigsten in Nürnbergund Würzburg als Suizidversuchsmittel benutzen Medikamenteaus den Daten der WHO-Studien berechnet[17]. Unter den drei am häufigsten gebrauchten Substanzensind Benzodiazepine, Nichtsteroidale Antiphlogistika(NSAIDs) und Antidepressiva zu finden.Eine altersbezogene Aufteilung liegt noch nicht vor.Wird vom Erstbehandler die Intention des Suizidversuchsbeurteilt, so kovariiert sie signifikant mitZ Gerontol Geriat 1 2008


<strong>Epidemiologie</strong> <strong>von</strong> Suizidalität9Abb. 7 Suizidversuchsziffern der einzelnen <strong>Alter</strong>sgruppenin der Bundesrepublik Deutschland.Aus Reliabilitätsgründen sind die Jahre2001–2005 zusammengefasst. Datenquelle:WHO Multicentre Study on Suicidal Behaviour,Berechnungen WHO-Gruppe WürzburgSuizidversuche/100.00035030025020015010050MännerFrauen080−8475−7970−7465−6960−6455−5950−5445−4940−4435−3930−3525−2920−2415−19<strong>Alter</strong> in JahrenAbb. 8 <strong>Alter</strong> und beurteilte Intention des Suizidversuchs.Aus Reliabilitätsgründen sind die Jahre2002–2005 zusammengefasst. Datenquelle:WHO Multicentre Study on Suicidal Behaviour.Berechnungen WHO-Gruppe Würzburg9080706050403020100Männer 15−25 Männer 70+ Frauen 15−25 Frauen 70+Pause Geste SV i. e. S.dem <strong>Alter</strong>. Während in den jüngeren <strong>Alter</strong>sgruppenbei beiden Geschlechtern mehr Suizidversuche als„parasuizidale Pause“ oder „Geste“ (nach der Klassifikation<strong>von</strong> Feuerlein), d.h. als Suizidversuche, dienicht unbedingt den Wunsch zu sterben beinhalten,beurteilt werden, werden bei den älteren Personenmehr suizidale Handlungen als Suizidversuch „<strong>im</strong>engeren Sinne“, d.h. „ernsthafte“ Suizidversuche beurteilt.Männer unternehmen dabei mehr Suizidversuche„<strong>im</strong> engeren Sinn“ als Frauen.Die Ergebnisse zeigen aber, dass die medizinische„Ernsthaftigkeit“ bzw. Gefährlichkeit der Methodenicht <strong>im</strong>mer mit der „Ernsthaftigkeit“ des Suizidversuchsübereinst<strong>im</strong>mt.Zu beachten ist bei retrospektiv erfassten Angabenzur Häufigkeit <strong>von</strong> Suizidversuchen auch, dassje älter eine Person wird, umso weniger häufig einefrühere selbstschädigende Handlung als „Suizidversuch“angegeben wird, da diese Handlungen umattribuiertwerden (d. h. nicht mehr als ernsthafterSuizidversuch beurteilt werden).Bei Personen mit „ernsthaften“ Suizidversuchenist <strong>im</strong> Vergleich zu Kontrollgruppen innerhalb <strong>von</strong> 5Jahren nach dem Suizidversuch eine erhöhte Mortalitäthauptsächlich durch Suizid festzustellen.Suizidideen, -gedankenDie Erfassung <strong>von</strong> Suizidideen ist ähnlich schwierigund noch inkonsistenter als die <strong>von</strong> Suizidversuchen.In der Regel wird zunächst nicht unterschieden, obes sich um Suizid- oder Suizidversuchsideen handelt,eine sinnvolle Unterscheidung, die <strong>von</strong> van Egmont& Diekstra [5] vorgeschlagen wurde. Die Art der Gedankenwird häufig auch ungenügend operationalisiert(z. B. „vage“, „ernsthaft“, mit „VorbereitungsundDurchführungsgedanken“ etc.). Ferner wirdhäufig die Prävalenzart (Lebenszeit- , Zeitraum oderPunktprävalenz) nicht unterschieden. Es liegen daherwenig Daten aus seriösen Populationsuntersuchungenvor. Meist werden auch hier Daten aus Inanspruchnahmepopulationenherangezogen.Bei älteren Personen werden zwar höhere Raten<strong>von</strong> Lebensüberdrussgedanken berichtet. Barnow &Linden [2] geben so für über 70-Jährige bei 15%Lebensüberdrussgedanken und in 5% „GedankenZ Gerontol Geriat 1 2008


10 A. Schmidtke et al.sterben zu wollen“ an, aber nur bei 1% Suizidideenoder -Gesten. Ganz alte <strong>Alter</strong>sgruppen hatten mehrSuizidgedanken (90 +: 1,7%). Ausländische Studienberichten deutlich höhere Raten <strong>von</strong> Suizidideen beiälteren Menschen ([25] 2002 bei über 65-Jährigen:9,5%) [30]. Für Personen in He<strong>im</strong>pflege geben ausländischeStudien für 10,6% „passive“ und für 1,2%„aktive“ Suizidideen an [15].RisikogruppenAls Risikogruppe für Suizid und suizidale Handlungenwird eine Gruppe bezeichnet, deren Suizid- oder Suizidversuchszifferdeutlich höher ist als die der Allgemeinbevölkerungbzw. einer entsprechenden <strong>Alter</strong>sundGeschlechtsvergleichsgruppe. Meist vergleichtman die standardisierten Sterbeziffern (SMR).Risikofaktoren werden definiert als „pathogeneBedingungen, die in Bevölkerungsstudien bei derUntersuchung der Entstehungsbedingungen best<strong>im</strong>mterKrankheiten statistisch gesichert wurden“.Diese Definition dient zur Unterscheidung <strong>von</strong> nichtabgesicherten Risiken und Begleit- bzw. Folgeerscheinungen<strong>von</strong> Krankheiten. Zwar handelt essich bei Suizid nicht um eine Krankheit, in Anlehnungan andere Modelle spricht man aber auch hier<strong>von</strong> Risikofaktoren.Alle internationalen und nationalen Untersuchungenst<strong>im</strong>men dahingehend überein, dass eine psychischeErkrankung das Risiko suizidaler Handlungendeutlich erhöht. Vor allem Patienten mit Suizidenoder tödlichen Suizidversuchsrezidiven befindenoder befanden sich meist in psychiatrischer Behandlung.In der weitaus überwiegenden Anzahl der Untersuchungenwerden daher auch hohe Prozentsätze<strong>von</strong> psychiatrischen Erkrankungen (meist affektivenPsychosen, Depressionen) bei Suizidenten berichtet:40–89% der Suizide sollen <strong>im</strong> Kontext affektiver Erkrankungenvollzogen werden [8]. Dies gilt insbesonderefür ältere Personen.Nach den bisher vorliegenden epidemiologischenBefunden werden als Gruppen mit einem besonderserhöhten Risiko für Suizide meist in der folgendenReihenfolge angeführt:• Depressive. Fast alle Untersuchungen st<strong>im</strong>men dahingehendüberein, dass die Subgruppe der affektivenPsychosen insgesamt das höchste Suizidrisikoaufweist. Die Angaben zur Häufigkeit affektiverPsychosen bei Suizidenten sind bei älteren Menschenam höchsten (75–90%). Ob auch <strong>im</strong> <strong>Alter</strong>das Überwiegen Frauen:Männer st<strong>im</strong>mt, ist dabeinach neuen Überlegungen zur Symptomatikmännlicher Depression allerdings fraglich.Nach einer Durchsicht <strong>von</strong> Untersuchungen anDepressiven ist zu vermuten, dass bis zum Todaller Patienten einer Stichprobe Depressiver dieSuizidrate etwa zwischen 2,2–6% liegen würde.Werden die Stichproben nach der Schwere derDepression unterschieden, so liegen die Raten beiklinisch behandelten Depressionen zwischen4–15% wobei die Raten der stationär (auch wegenSuizidalität) behandelten Patienten an der oberenGrenze (8,6–15%) liegen. Ältere Suizidenten wurdenhäufiger stationär wegen Depression behandelt,und es gibt häufig eine Kovariation mitkörperlichen Erkrankungen [12].25–50% behandelter depressiver Patienten habenin ihrer Krankheitsgeschichte einen Suizidversuchunternommen. Möglicherweise suizidierensich Männer früher (zusf. [4, 23]).Depressive haben auch mehr Suizidgedanken:Unipolar Depressive bis 4,5%, Bipolar Depressivebis 5,2%. Zu Beginn der stationären Behandlungsollen dabei keine wesentlichen Unterschiede hinsichtlichFrequenz und Art der Suizidgedanken zufinden sein. Bei den bipolaren Störungen nehmenmanche Autoren die höchste Gefährdung in derdepressiven Phase an, andere Autoren halten dagegendie Phase, in der sich manische und depressiveSymptome abwechseln, für am gefährlichstenbzw. für genauso risikoreich.• Alkoholiker. Der Durchschnitt der Angaben zuProzentsätzen <strong>von</strong> Alkoholikern, die sich suizidieren,beträgt etwa 14% (Bandbreite der Personenmit Abhängigkeitsdiagnose unter Suizidenten15–56%. Das Risiko, eine Suizidhandlung zu begehen,scheint <strong>im</strong> mittleren Lebensalter höher zusein als bei den jüngeren <strong>Alter</strong>sgruppen. Suchterkrankungenbei älteren Menschen werden aberseltener erkannt.• Medikamenten- und Drogenabhängige. Die SuizidgefährdungRauschmittelabhängiger wird insgesamt5- bis 50-mal höher als die der Durchschnittsbevölkerunggeschätzt. Bei älteren Menschenist hierzu wenig bekannt.• Alte und Vereinsamte. Wie das ungarische Musterder <strong>Alter</strong>sverteilung der Suizidraten schon zeigt,n<strong>im</strong>mt das Suizidrisiko mit dem <strong>Alter</strong> vor allemfür Männer deutlich zu. Insbesondere für vereinsamtealte Personen ist das Suizidrisiko sehr hoch(teilweise reichen die Angaben bis zu einem500fach erhöhten Risiko [7, 18]. Vor allem, wennalte, einsame Menschen Angst vor der Zukunft haben,steigt das Suizidrisiko [11]. Im <strong>Alter</strong> gibt esauch einen hohen Zusammenhang zwischen traumatischenLebensereignissen (meist Verlustereignissen)und Depression [9, 13].• Personen mit Suizidankündigungen.• Personen, die schon einen Suizidversuch unternommenhaben; die meisten Studien mit längerenKatamneseperioden (zwischen 8 und 20 Jahren)geben Prozentsätze zwischen 7 und 22 an.Z Gerontol Geriat 1 2008


<strong>Epidemiologie</strong> <strong>von</strong> Suizidalität11• Als besondere Risikogruppe werden auch Patientenmit Schizophrenieerkrankungen angesehen.Die Häufigkeit der Diagnose „Schizophrenie“ liegtbei durch Suizid Verstorbenen zwischen 2–19%.Der Anteil dieser Diagnosengruppe an Suizideninnerhalb psychiatrischer Anstalten ist relativhoch. Auch für diese Diagnosegruppe werden beiLängsschnittuntersuchungen deutlich erhöhte Suizidratenermittelt (bis zu 13%). Insgesamt ist derSuizid be<strong>im</strong> vorzeitigen Tod <strong>von</strong> Schizophrenendie häufigste Todesursache. Die Diagnose ist aberbei älteren Suizidenten und Personen mit Suizidversuchseltener zu finden als bei jungen Personen.• Persönlichkeitsstörungen. Nach der überwiegendenZahl der Untersuchungen bei älteren Suiziden istdiese Diagnose seltener als bei jüngeren zu findenauch weniger <strong>im</strong> Zusammenhang mit Depressionen.In der WHO-Multicenter-Studie wurden beiPersonen über 60 Jahren mit Suizidversuchen <strong>im</strong>Vergleich zu jüngeren Patienten signifikant wenigerPersönlichkeitsstörungen diagnostiziert (Männer4% vs. 17%, Frauen 9% vs. 29% [18, 19].• Körperlich Kranke. Vor allem bei älteren Menschenwird <strong>im</strong>mer wieder der Zusammenhangzwischen körperlicher Erkrankung und suizidalemVerhalten betont [12, 14]. Vor allem chronischKranke mit geringer oder fehlender Heilungsaussichtoder mit einem hohen Risiko eines letalenAusgangs können zu den Risikogruppen gezähltwerden. So soll etwa das Suizidrisiko <strong>von</strong> Dialysepatientennach verschiedenen Untersuchungenund je nach Einbezug verschiedener „Suizidarten“(etwa durch Nichtbefolgen ärztlicher Anweisungen)100- bis zu 400-mal größer als das der Normalbevölkerungsein. Bei HIV-Infektionen undAIDS-Erkrankungen soll das Suizidrisiko etwa7-mal über dem der Gesamtbevölkerung liegen.Auch Krebskranke weisen ein erhöhtes Suizidrisikoauf [14]. Suizidfälle nach Krebsaufklärung sindaber sehr viel seltener als vermutet. Nach derüberwiegenden Anzahl der Untersuchungen istauch das Suizidrisiko <strong>von</strong> Körperbehindertendeutlich erhöht. Von Querschnittsgelähmten gebenetwa 40% an, oft an Suizid zu denken, insbesonderedie ersten 6 Monate nach einem Unfall weiseneine hohe Gefährdung auf.• Bei Demenz scheinen Angehörige das Suizidrisikohäufig aufgrund <strong>von</strong> Äußerungen der Betroffenenhöher zu schätzen als es in der Realität ist. Eswird auch <strong>von</strong> Angehörigen mehr entsprechendeSymptomatik berichtet als <strong>von</strong> den Betroffenenselbst. In vielen Studien zur Mortalität bei Demenzfindet sich kein erhöhtes Risiko gegenüberder Allgemeinbevölkerung (z. B. bei 91- bis 104-Jährigen). In einer Metanalyse wurde sogar ein geringeresSuizidrisiko festgestellt [24]. Bei psychologischenAutopsien wurden auch kaum dementielleErkrankungen bei Suizidenten diagnostiziert[24]. Allerdings ist die Erfassung <strong>von</strong> Suizidgedankenund intentionalen Handlungen schwierig,vor allem wenn Alkohol beteiligt ist [16]. DieSchwankungsbreite der Angaben zu Todeswünschenund Lebensüberdrussgedanken bei Patientenmit dementiellen Erkrankungen ist daher auchsehr groß (1–42%). Besondere Risikofaktorenscheinen frühes Stadium, höherer Sozialstatus undgeringe subjektive Behandlungserfolge <strong>im</strong> Frühstadiumzu sein.• Auch Personen in Haft, insbesondere in den erstenTagen der Haft (Untersuchungshaft), könnenals besonders suizidgefährdet angesehen werden.Suizid ist die häufigste Todesursache in Gefängnissen.Allerdings betrifft dies weniger ältere Personen.Vor allem Suizidenten unter 35 Jahren waren<strong>im</strong> Vergleich zu Kontrollpersonen in den letztenMonaten vor ihrem Tod signifikant häufigerinhaftiert, angeklagt oder verurteilt worden.• Umstritten ist bisher noch, ob Homosexuelle einespezifische Risikogruppe darstellen. Während einerseitsrelativ hohe Prozentsätze <strong>von</strong> Homosexuellenund bisexuellen Männern und lesbischen Frauenmit Suizidversuchen wie Suiziden (insbesonderebei Jugendlichen) gefunden werden (4- bis 7facherhöht), zeigen andere Studien keine wesentlicheErhöhung der Suizidgefährdung. Spezifische Untersuchungenzu diesen Variablen <strong>im</strong> <strong>Alter</strong> liegen bishernoch nicht vor.Werden die Risikogruppen nach Zeit der Erkrankungund Krankheitsparametern differenziert, scheinenbei klinisch behandelten Patienten besonders gefährdetdie ersten Monate nach der Entlassung auseiner psychiatrischen Klinik zu sein.Bei alten Menschen sind auch noch best<strong>im</strong>mteZeit- und Ortsvariablen zu beachten. Ältere Personenwählen häufig spezifische Tage für ihre Suizide undSuizidversuche („Gedenktagssuizide“) und häufig Orte,an denen sie schöne Stunden verbracht haben [28].In der Zeit um das Ausscheiden aus dem Berufslebenscheinen auch finanzielle Faktoren bei Suizidideenund -handlungen älterer Menschen eine größereRolle zu spielen.Ökologische VerteilungDie Ergebnisse der epidemiologischen Untersuchungen,die sich mit der räumlichen Verteilung <strong>von</strong> Suizidenund generellen Korrelationen mit sozialen Variablenbeschäftigen, lassen sich dahingehend zu-Z Gerontol Geriat 1 2008


12 A. Schmidtke et al.sammenfassen, dass Korrelationen der Suizidhäufigkeitgefunden wurden mit Gebieten, die sich durcheine erhöhte Rate <strong>von</strong> Ein-Personen-Haushalten, derRate <strong>von</strong> Personen pro Wohngebäude, der Rate derGeschiedenen, der Rate der strukturell unvollständigenFamilien, der Rate der weiblichen Ein-Personen-Haushalte und der Rate alleinstehender Frauen, dienoch andere miternähren müssen, auszeichnen (z. B.[18]). Diese spezifischen Variablen könnte man vordergründigals Indikatoren sozialer Desintegrationansehen.Die Untersuchungen zu Schichtverteilungen sindzwar insgesamt noch relativ widersprüchlich, nachder Mehrzahl der Untersuchungen wäre aber anzunehmen,dass Suizide in den oberen wie in den niedrigstensozialen Schichten überrepräsentiert sind.Diese epidemiologischen Befunde bestätigen sichauch auf europäischer Ebene [18, 19]. Die Ergebnisseauf Makroebene zeigen auch hier übereinst<strong>im</strong>mend,dass Personen mit Suizidversuchen zu den unterprivilegiertenGruppen gehören.DiskussionWenn auch der prozentuale Anteil an den Gesamttodesursachenzurückgeht, sind in Deutschland Suizide<strong>im</strong> <strong>Alter</strong> wesentlich häufiger als in den jungen<strong>Alter</strong>sgruppen. Die Suizidziffern folgen nach wie vordem so genannten „ungarischen“ Muster, d. h. fürdie alten <strong>Alter</strong>sgruppen ist ein wesentlich höheresSuizidrisiko als für die jüngeren festzustellen.Durch die Veränderung der <strong>Alter</strong>spyramide unddas dadurch zu erwartende weitere Ansteigen desAnteils älterer <strong>Alter</strong>sgruppen werden die Absolutzahlen<strong>von</strong> Suiziden Älterer Menschen mit hoher Wahrscheinlichkeitzunehmen, auch wenn sich innerhalbder einzelnen <strong>Alter</strong>sgruppen das Suizidrisiko nichtändert. Es sollten daher entsprechende Suizidpräventionsmaßnahmenfür diese <strong>Alter</strong>sgruppe gefördertwerden.Im Vergleich zum Beginn der 70er Jahre sind dieoffiziellen Suizidziffern für die Gesamtbevölkerungund die meisten <strong>Alter</strong>sgruppen in den letzten Jahrendeutlich zurückgegangen, obwohl eine längere Lebenserwartungzu berücksichtigen ist. Dies wurdemittlerweile auch für kürzere Zeiträume bestätigt.Versucht man die Veränderungen der Suizidhäufigkeitenüber die Zeit zu interpretieren, ist vor allembei älteren Menschen eine Trendberechnung nursinnvoll, wenn die Fehlervarianz als stabil angenommenoder kontrolliert werden kann. Frühere Studienfür Deutschland ließen die Hypothese eines Austauschsder Todesursachenklassifikation zu, denn invielen älteren <strong>Alter</strong>sgruppen stieg die Zahl der unklarenTodesursachen an (z. B. [22]). Überprüft maneinen solchen Austausch der Todesursachenkategorienfür die letzten Jahre, wäre für Deutschland einemehr oder weniger große Konstanz der Fehlervarianzzu unterstellen. Lediglich für die <strong>Alter</strong>sgruppeder Männer zwischen 60 und 70 Jahren ist nocheine signifikante Korrelation zwischen dem Rückgangder „weichen“ Suizidmethoden und dem Ansteigen„unklarer“ Todesursachen festzustellen. DieHypothese des Ausgleichs der „Todesursachenklassifikation“wurde mittlerweile für den Zeitraumraum1991–2002 auch <strong>von</strong> einer anderen Arbeitsgruppeüberprüft und ausgeschlossen. Die Abnahmen derSuizidziffern scheinen daher real zu sein.Die <strong>Alter</strong>sverteilung der Personen mit Suizidversuchenist der der Suizide entgegengesetzt. ÄltereMenschen weisen geringere Suizidversuchsraten auf,diese scheinen aber <strong>im</strong> höchsten <strong>Alter</strong> wieder anzusteigen(vgl. z. B. [23]). Vergleicht man die Datenmit anderen europäischen Centers, so liegt das deutscheErfassungsgebiet <strong>im</strong> unteren Drittel [19].Die Suizidversuchsraten zeigen aufgrund der geringenAbsolutzahlen in den kleinen Erfassungsgebietenvermehrt Schwankungen, es zeigten sich jedochgenerell ansteigende Trends.Von den allgemeinen sozialen Faktoren sind sozialeInstabilität und Armut nach den vorliegendenBefunden <strong>im</strong>mer noch bedeutende Risikofaktorenfür suizidales Verhalten <strong>im</strong> <strong>Alter</strong> (vgl. z.B. [18, 21]).Personen, die einen Suizidversuch unternommen haben,leben <strong>im</strong> Vergleich zur Allgemeinbevölkerunghäufiger in der Stadt als auf dem Land. Die Suizidversuchsraten<strong>von</strong> geschiedenen und ledigen Personensind deutlich höher als die <strong>von</strong> verheirateten,gefährdet sind eher Personen mit niedriger SchulundBerufsausbildung [19]. Häufig wurde auch kurzvor dem Suizidversuch <strong>von</strong> familiären Verhältnissenin eine institutionelle Umgebung gewechselt [19, 21].Von den individuellen Faktoren ist wohl der bedeutendsteRisikofaktor für die Durchführung suizidalerHandlungen eine psychische Erkrankung, amhäufigsten sind Depressionen zu finden [4].Frühere suizidale Handlungen sind ebenfalls einwesentlicher Risikofaktor für weitere Suizidversucheund Suizid. Ein nicht unerheblicher Prozentsatz <strong>von</strong>Personen untern<strong>im</strong>mt mehr als einen Suizidversuch,bei etwa der Hälfte der Personen liegt die Zeitzwischen zwei Suizidversuchen unter zwölf Monaten.Ältere Menschen, insbesondere Männer, sind aber fürPräventionsmaßnahmen schlechter erreichbar [1, 8]." Interessenkonflikt Es besteht kein Interessenkonflikt. Der korrespondierendeAutor versichert, dass keine Verbindungen mit einerFirma, deren Produkt in dem Artikel genannt ist, oder einerFirma, die ein Konkurrenzprodukt vertreibt, bestehen. Die Präsentationdes Themas ist unabhängig und die Darstellung der Inhalteproduktneutral.Z Gerontol Geriat 1 2008


<strong>Epidemiologie</strong> <strong>von</strong> Suizidalität13Literatur1. Althaus D, Niklewski G, Schmidtke A,Hegerl U (2007) Veränderung derHäufigkeit suizidaler Handlungennach zwei Jahren „Bündnis gegen Depression“.Nervenarzt 78:3, S 272–2822. Barnow S, Linden M (2000) Epidemiologyand psychiatric morbidity ofsuicidal ideation among the elderly.Crisis 21:4, pp 171–1803. De Leo D, Cerin E, Spathonis K, BurgisS (2005) Lifet<strong>im</strong>e risk of suicideideation and attempts in an Australiancommunity: prevalence, suicidalprocess, and help-seeking behaviour.J Affect Disord 86:215–2344. Dennis MS, Wakefield P, Molloy C,Andrews H, Friedman T (2007) Astudy of self-harm in older people:mental disorder, social factors andmotives. Aging Ment Health 11:520–5255. Egmond van M, Diekstra RFW(1990) The predictability of suicidalbehavior: the results of a meta-analysisof published studies. Crisis 11:57–846. Erlemeier N (2006) Direkte und indirekteSuizidneigung bei Bewohnernstationärer Altenhilfeeinrichtungen.Suizidprophylaxe 33:79–837. Grek A (2007) Clinical managementof suicidality in the elderly: an opportunityin the live of older patients.Can J Psychiatry 52:47–578. Hegerl U, Althaus D, Schmidtke A, NiklewskiG (2006) The alliance againstdepression: 2-year evaluation of a community-basedintervention to reducesuicidality. Psychol Med 36:1225–12339. Katona C (1993) The aetiology of depressionin old age. Int Rev Psychiatr5:407–41610. Kessler R, Berglund P, Borges G,Nock M, Wang P (2005) Trends insuicide ideation, plans, gestures, andattempts in the United States, 1990–1992 to 2001–2003. Am Med Ass 293:2487–249511. Klostermann P, Schneider V (2004)„So ist kein Leben“ – Suizide alterund hochaltriger Menschen. Suizidprophylaxe31:35–4012. Koponen HJ, Viilo K, Hakko H,T<strong>im</strong>onen M, Meyer-Rochow VB,Särkioja T, Räsänen P (2007) Ratesand previous disease history in oldage suicide. Int J Geriatr Psychiatry22:38–4613. Kraaij V, Kremers I, Arensman E(1997) The relationship betweenstressful, and traumatic life eventsand depression in the elderly. Crisis18:6–814. Quan H, Arboleda-Florez J, Fick GH,Stuart HL, Love EJ (2002) Associationbetween physical illness and suicideamong elderly. Soc PsychiatryPsychiatr Epidemiol 37:190–19715. Raue PJ, Meyers BS, Rowe JL, Heo M,Bruce ML (2006) Suicidal ideationamong elderly homecare patients. IntJ Geriatr Psychiatry 22:32–3716. Rosenberg PB, Rosse R (2003) Impulsivesuicide attempts by a patient withalcoholic dementia. Psychosomatics44:415–41617. Schierhorn D, Schmidtke A, NiklewskiG (2007) Suizidversuche mit Arzne<strong>im</strong>itteln– Auswertung der Datenerfassungenaus Würzburg und Nürnberg.Vortrag auf der 6. Gesamttagungdes Nationalen Suizidpräventionsprogrammsfür Deutschland.Berlin18. Schmidtke A, Bille-Brahe U, DeLeo D,Kerkhof A, Löhr C, Weinacker B, BattA, Crepet P, Fekete S, Grad O, HaringC, Hawton K, van Heeringen C, HjelmelandH, Kelleher M, Lönnqvist J,Michel K, Pommereau I, Querejeta I,Salander-Renberg E, Temesvary B,Värnik A, Wasserman D, Rutz W(2004) Sociodemographic characteristicsof suicide attempters in Europe –combined results of the monitoringpart of the WHO/EURO multicentrestudy on suicidal behaviour. In:Schmidtke A, Bille-Brahe U, De LeoD, Kerkhof A (eds) Suicidal behaviourin Europe – Results from theWHO/EURO Multicentre Study onSuicidal Behaviour. Hogrefe, Göttingen,pp 29–4319. Schmidtke A, Bille-Brahe U, DeLeo D,Kerkhof A, Löhr C, Weinacker B, BattA, Crepet P, Fekete S, Grad O, HaringC, Hawton K, van Heeringen C, HjelmelandH, Lönnqvist J, Michel K,Pommereau I, Querejeta I, Salander-Renberg E, Temesvary B, Värnik A,Wasserman D, Rutz W (2004) Suicideand suicide attempt in Europe – anoverview. In: Schmidtke A, Bille-Brahe U, De Leo D, Kerkhof A (eds)Suicidal behaviour in Europe – Resultsfrom the WHO/EURO MulticentreStudy on Suicidal Behaviour. Hogrefe,Göttingen, pp 15–2820. Schmidtke A, Häfner H, Möller HJ,Wedler H, Böhme K (1988) Häufigkeitenund Trends <strong>von</strong> Suizidversuchenin der Bundesrepublik Deutschland:eine methodische Studie. OffentlGesundheitswes 50:272–27721. Schmidtke A, Löhr C (2004) Sociodemographicvariables of suicide attempters.In: De Leo D, Bille-Brahe U,Kerkhof A, Schmidtke A (eds) Suicidalbehaviour – Theories and researchfindings. Hogrefe & Huber,Göttingen, pp 81–9122. Schmidtke A, Weinacker B (1991)Covariation of suicides and undetermineddeaths among elderly persons:a methodological study. Crisis 12:44–5823. Schmidtke A, Weinacker B, Löhr C(2004) Suicidal behaviour in Germany.In: Schmidtke A, Bille-Brahe U,De Leo D, Kerkhof A (eds) Suicidalbehaviour in Europe – Results fromthe WHO/EURO Multicentre Studyon Suicidal Behaviour. Hogrefe, Göttingen,pp 147–15624. Schneider B, Maurer K, Frölich L(2001) Demenz und Suizid. FortschrNeurol Psychiatr 69:164–16925. Scocco P, De Leo D (2002) One-yearprevalence of death thoughts, suicideideation and behaviours in an elderlypopulation. Int J Geriatr Psychiatry17:842–84626. Vennemann MMT, Berger K, RichterD, Baune BT (2006) Unterschätzte Suizidratendurch unterschiedliche Erfassungin Gesundheitsämtern. DtschArztebl 103:A1222–A122627. Weisman M, Bland R, Canino G,Greenwald S, Hwu H-G, Joyce P, KaramE, Lee C-K, Lellouch J, Lepine J-P,Newman S, Rubio-Stipec M, Wells J,Wickramaratne P, Wittchen H-U, YehE-K (1999) Prevalence of suicideideation and suicide attemps in ninecountries. Psychol Med 29:9–1728. Wohner J, Schmidtke A, Sell R (2005)Ist die Verhinderung <strong>von</strong> Hot-Spotssuizidpräventiv? Suizidprophylaxe 32:114–11929. Wolfersdorf M, Schmidtke A (2005)Suizidalität. In: Vorderholzer U, HohagenF (Hrsg) Therapie psychischerErkrankungen – State of the art. Urban& Fischer, München, S 261–26730. Yip P, Chi I, Chiu H, Kwan Chi Wai,Conwell Y, Caine E (2003) A prevalencestudy of suicide ideation amongolder adults in Hong Kong SAR. Int JGeriatr Psychiatry 18:1056–1062Z Gerontol Geriat 1 2008

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!