Alexander Platz - Andi Leuthe - André Kudernatsch - Andrew ...
Alexander Platz - Andi Leuthe - André Kudernatsch - Andrew ...
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<strong>Alexander</strong> <strong>Platz</strong> - <strong>Andi</strong> <strong>Leuthe</strong> - <strong>André</strong> <strong>Kudernatsch</strong> - <strong>Andrew</strong> Gledhill - Beate Kister<br />
Bernhard Dittmar - Daniel Tanner - Franziska Wilhelm - Ina Hermann - Janek el<br />
Cäsard - Maik Lippert - Paolo Fusi - Paulina Schulz - Peter Raulfs - Stefan<br />
DIE RAMPENSAU WINTER 03<br />
Schütz - Sid Eisengurrer - Thomas Zimmermann - Tobias Sichert - Ulf Salzmann
2<br />
Comic: Ulf Salzmann<br />
IMPRESSUM:<br />
DIE RAMPENSAU – Literatur, Kunst, Alltag in Erfurt<br />
erscheint vierteljährlich zum Jahreszeitenbeginn,<br />
Auflage: 1.000 Stück, kostenlos,<br />
Herausgeber: Kulturrausch e.V., Brühler Str. 50,<br />
99084 Erfurt, Tel.: 0361 - 2 11 59 66,<br />
E-Mail: die.rampensau@gmx.de<br />
Bankverbindung Kulturrausch e.V.: Deutsche Bank 24,<br />
BLZ: 820 700 24, Konto: 165 430 000<br />
Redaktion: Thomas Putz (V.i.S.d.P.), Sid Eisengurrer,<br />
Peter Raulfs, Janek el Cäsard,<br />
Satz und Layout: Daniel Tanner<br />
Druck: Fehldruck Erfurt<br />
Texte (max. 2 Schreibmaschinenseiten) und Kurzvita<br />
bitte auf Datenträger oder per E-Mail. Bildbeiträge bis<br />
A4-Format können in Originalgröße zugesandt oder gemailt<br />
werden, größere Formate nur verkleinert, als Foto<br />
oder auf Datenträger. Für Manuskripte jeglicher Art<br />
wird keine Haftung übernommen. Alle Rechte bleiben<br />
bei den Autorinnen und Autoren. Die in der Zeitung vertretenen<br />
Meinungen spiegeln nicht unbedingt die Meinung<br />
der Redaktion wider.<br />
A N N A K R A M<br />
Ram|pen|sau, die: (1) manisch-egozentrisch<br />
veranlagte Charaktere, die<br />
nichts unversucht lassen, ihr klägliches<br />
Talent ihren Mitmenschen auf der Bühne<br />
aufzunötigen; (2) Personen, die den Bühnenauftritt<br />
von Schauspielern, Musikern<br />
und Literaten durch einfältiges Verhalten<br />
und ihnen nicht zustehende Anwesenheit<br />
auf der Bühne sabotieren; (3) Zeitung für<br />
Literatur, Kunst und Alltag in Erfurt<br />
DIE RAMPENSAU WINTER 03
vorneweg<br />
»Wenn's Zeit ist, soll man melken«,<br />
sagten wir uns vor einigen Monaten am<br />
Kneipentisch und gingen die langgehegte<br />
Idee einer Literatur- und Kulturzeitung<br />
für Erfurt an. Ein Name wurde schnell<br />
gefunden, waren doch auf der in Sichtweite<br />
stehenden Bühne ein, zwei sogenannte<br />
»Rampensäue« am Werk. Jetzt ist<br />
die erste Ausgabe da – mit Beiträgen von<br />
19 Leuten aus dieser Stadt.<br />
»Die Rampensau« ist ein Projekt des<br />
Erfurter Kulturrausch e.V., der einigen<br />
durch das alljährlich stattfindende<br />
Bittstädt-Open-Air oder durch die Theaterstücke<br />
der kleinkunstbrigade ANNA<br />
KRAM bekannt sein dürfte. Die Idee der<br />
Zeitung ist eigentlich ganz einfach: Sie<br />
soll Bühne und Spiegel sein. Für Erfurt.<br />
Sie soll Leuten, die schreiben, malen,<br />
fotografieren oder was auch immer tun,<br />
die Möglichkeit geben, ihre Arbeiten zu<br />
veröffentlichen, auf sie hinzuweisen, sie<br />
und sich vorzustellen. Und sie soll den<br />
Alltag und die verschiedenen Diskussionen<br />
in der Stadt widerspiegeln.<br />
Hier also schon mal der ernstgemeinte<br />
Aufruf an Euch: Schreibt, kritzelt, fotografiert<br />
was das Zeug hält und schickt<br />
es uns!<br />
Da sich eine Zeitung – noch dazu eine<br />
kostenlose – finanzieren muß, geht ein<br />
zweiter Aufruf an die vielen Menschen,<br />
Firmen und Organisationen in dieser<br />
Stadt, die gerade gemerkt haben, daß sie<br />
zu viel Geld haben und die ein junges<br />
aufstrebendes Projekt unterstützen<br />
möchten. Denen sei gesagt: Übernehmt<br />
eine Patenschaft für »Die Rampensau«!<br />
Sie ist nicht auf Lebenszeit, sondern nur<br />
für ein Jahr, als Spende für vier Ausga-<br />
ben. Als Gegenleistung gibt’s das Logo<br />
in der Zeitung und für die Spende eine<br />
Quittung.<br />
In dieser Ausgabe, in diesen Kriegszeiten,<br />
in denen alle möglichen Fronten auf allen<br />
möglichen Ebenen eröffnet werden, gibt<br />
es Beiträge zu diversen Kriegsschauplätzen.<br />
Das Titelbild gehört genauso dazu<br />
wie die Texte auf Seite 4 und anderswo.<br />
Im ersten Teil gibt es rückblickende und<br />
vorausschauende Stadt-Beiträge mit<br />
mehr oder weniger aktuellem Bezug (soweit<br />
dies ein Saison-Blatt leisten kann),<br />
später hochkarätige Prosa und Lyrik von<br />
aufstrebenden und schon etablierten<br />
Erfurter Autorinnen und Autoren. Und<br />
am Ende huldigen wir hoffnungsvoll<br />
einem Erfurter Fußballclub.<br />
Die Grafiken und Comics der Ausgabe<br />
kommen – neben Janek el Cäsard – von<br />
Beate Kister, Ina Hermann, Ulf Salzmann<br />
und Peter Raulfs.<br />
Wir wünschen Freude beim Lesen und<br />
hoffen auf Kritik, Anregungen und Beiträge<br />
für die nächste Ausgabe. Auf daß<br />
»Die Rampensau« fett und kräftig werde<br />
und zufrieden grunzen möge.<br />
Unser Titel<br />
Janek el Cäsard:<br />
»Viva la muerte« (Es lebe der Tod)<br />
Acryl auf Leinwand, 1.20 m x 1.20 m<br />
Daniel Tanner<br />
Jg. 1967, Elektromonteur, Dipl. Soz.-Päd., seit<br />
1990 in verschiedenen Bereichen der Behinderten-,<br />
Kinder- und Jugendarbeit tätig, seit 2002<br />
freiberuflich; Ausstellungen in Erfurt, Weimar,<br />
Siegen; Bühnenbilder für die kleinkunstbrigade<br />
ANNA KRAM u.a.<br />
Kontakt: www.andreas-jaeckel.net<br />
Inhalt<br />
4 Kriegskunst vs. Kunstkrieg<br />
<strong>Alexander</strong> <strong>Platz</strong>, <strong>Andrew</strong> Gledhill,<br />
Sid Eisengurrer<br />
5 Schreibwettbewerb, Kino,<br />
Puppentheater<br />
6 Erfurt ist gefährlich<br />
<strong>Andi</strong> <strong>Leuthe</strong><br />
7 <strong>Kudernatsch</strong>s Kautsch<br />
Daniel Tanner<br />
8 Erfurt – die schönste Zeit<br />
meines Lebens<br />
Paolo Fusi<br />
11 Am Arsch die Kinderstube<br />
Peter Raulfs<br />
11 Mein Heizkörper erzählt<br />
<strong>André</strong> <strong>Kudernatsch</strong><br />
12 Tramspotting<br />
<strong>Andrew</strong> Gledhill<br />
12 El Egoiste<br />
Ulf Salzmann<br />
13 Der Winter<br />
Paulina Schulz<br />
15 Innere Werte<br />
<strong>Alexander</strong> <strong>Platz</strong><br />
16 Simons Geheimnis<br />
Franziska Wilhelm<br />
16 Unwissenschaftliches<br />
Divisionsmanöver<br />
Ina Hermann<br />
17 Vernehmung<br />
Sid Eisengurrer<br />
19 Dreimal Lyrik<br />
Stefan Schütz, Maik Lippert,<br />
Tobias Sichert<br />
22 Vater, wie tief ist das Wasser?<br />
Bernhard Dittmar<br />
23 Wieder eine Nacht<br />
Thomas Zimmermann<br />
24 Buchrezensionen<br />
Peter Raulfs, Daniel Tanner<br />
25 Ächte Fans<br />
Sid Eisengurrer<br />
25 Berufsverbot<br />
Peter Raulfs<br />
DIE RAMPENSAU WINTER 03 3
4<br />
KRIEGSKUNST<br />
VS. KUNSTKRIEG?<br />
Es ist ja leider nicht so, daß die Tatsache, daß Krieg<br />
geführt wird, nun unbedingt etwas Neues darstellt.<br />
Kriege werden seit Jahrtausenden geführt. Somit<br />
auch in den letzten Jahren. Und auch das hat sich<br />
seit Jahrtausenden nicht verändert: Es geht dabei<br />
zuvorderst um Macht bzw. ökonomische Interessen.<br />
Ganz gleich ob dieser Krieg nun im Namen der<br />
Kirche, des Vaterlandes, der Freiheit oder der Menschrechte<br />
geführt wird. Wobei der Krieg im Namen<br />
von Freiheit und Menschenrechten sicherlich kaum<br />
an Heuchelei und Zynismus zu überbieten ist. Ähnlich<br />
dem Vater, der sein Kind regelmäßig halb tot<br />
schlägt und ihm nachher stets erklärt, daß es ihm<br />
später einmal dankbar dafür sein wird. So wurde<br />
und wird auch im Irak Krieg geführt. Seit dem sogenannten<br />
ersten Golfkrieg 1991 beinahe ununterbrochen.<br />
Von den US-Amerikanern, den Briten und<br />
natürlich den Türken. Und auch uns versucht man<br />
seitdem zu erklären, daß wir gefälligst dankbar dafür<br />
zu sein haben. Insofern ist also die gegenwärtig<br />
angesagte, wenngleich ehrliche, Empörung nur<br />
bedingt zu verstehen, gerade so, als ob das nun<br />
der erste Krieg der freiheitlich-demokratischen<br />
Grundordnung wäre.<br />
Was aber ist in diesem Zusammenhang von der<br />
Kunst zu erwarten? Ist überhaupt etwas zu erwarten?<br />
Gibt es eine Möglichkeit, Stellung zu beziehen,<br />
jenseits von Agit-Prop und Erweckungslyrik? Kann,<br />
muß oder darf Kunst politisch sein? Nun, Kunst<br />
ist natürlich in dem Sinne immer politisch, daß sie<br />
nicht im luftleeren Raum passiert bzw. entsteht,<br />
sondern unter ganz konkreten gesellschaftlichen<br />
Bedingungen. Kann, muß bzw. darf das genügen?<br />
Hat nicht der Künstler/die Künstlerin als quasi öffentliche<br />
Person die moralische Pflicht, sich zu äußern?<br />
Diese und andere Fragen sollen in loser Folge<br />
demnächst an dieser Stelle etwas näher beleuchtet<br />
werden. (aplatz)<br />
Foto: Archiv Die Rampensau<br />
Dulce et<br />
decorum est, pro<br />
USA more*<br />
Von <strong>Andrew</strong> Gledhill<br />
Rotes Blut für schwarzes!<br />
Milliarde Fässer,<br />
ein Groschen pro Tropfen,<br />
ein Pfifferling wert.<br />
Unsere nickenden Esel stimmen träg zu,<br />
Singen den Unrefrain.<br />
Olé, olé, olé, oléeeeee<br />
Deutschland, Deutschland<br />
Herr Dax reibt die Hände vor Freude,<br />
Während seine Bomben in der Wüste vor<br />
staubiger Wut platzen,<br />
Sehen nur schwarz.<br />
Wehen nur schwarz.<br />
Der Feind wird verdammt,<br />
wir sind so frei,<br />
Demokratie! der Schrei.<br />
Jetzt trauern wir<br />
vor der Glotze.<br />
Wir tauschen unsere Tränen am Zwiebelmarkt.<br />
Lass uns flennen Hand in Hand,<br />
vor der brennenden Feuerwerksfahne,<br />
Die uns CNN-Freiheit schlendernd verspricht,<br />
Eingeblendet vor den trümmernden Türmen,<br />
Die den räudigen, öligen Reich,<br />
zu dem wir schon längst gehören<br />
Bis zum Todessturz stützten.<br />
Zusammen sind wir von den brennenden<br />
Türmen gefallen,<br />
Zusammen werden wir Phönixe zu den<br />
USAschen verdammt.<br />
Lassen wir zusammen unsere anständigen,<br />
leeren Köpfe nicken,<br />
Während dürstige Blutquellen in der Wüste<br />
brennen.<br />
Lass uns das einzige Lied singen,<br />
zu dem wir den Text noch kennen.<br />
Olé, olé, olé, oléeeeee<br />
Deutschland, Deutschland.<br />
Olé, olé, olé, oléeeeee<br />
Deutschland, Deutschland<br />
* Es ist süß und ehrenvoll, für die USA zu sterben.<br />
Red blood for black.<br />
Billions of barrels,<br />
a dime per drop.<br />
Our nodding donkeys agree in UN unison,<br />
Mr. D. Jones rubs his hands in glee,<br />
as his bombs scatter the sand<br />
in deserts of black damnation.<br />
The foe is damned,<br />
but we are so free.<br />
Democracy, democracy.<br />
Now we grieve together,<br />
on TV.<br />
Let us sell our souls to buy onions,<br />
let us weep together hand-in-hand<br />
before star-spangled-firework banners,<br />
superimposed over crumbling towers,<br />
that propped up the vile and oily empire,<br />
to which we have long belonged,<br />
together we fell, together we are damned.<br />
Let us nod our righteous, empty heads,<br />
as the blood wells burn on desert horizons.<br />
Let us sing the only song we remember the<br />
words to,<br />
In - ger - lernd, In - ger - lernd, In - ger - lernd,<br />
In - ger - lernd, In - ger - lernd, In - ger - ler - end,<br />
In - ger - lernd, In - ger - lernd, In - ger - lernd<br />
In - ger - lernd, In - ger - lernd!<br />
Sieh doch nur, sieh!<br />
Die Nacht hat unsre Träume geschwärzt,<br />
Sonntag ist Alltag ist Kompromiß,<br />
wir büßen mit dem Faustrecht und das beherzt,<br />
und es trifft – dich und mich – das ist gewiß.<br />
Sieh doch nur, sieh!<br />
Es ist Krieg.<br />
Die Umwelt verhungert an unsrer Kultur,<br />
wie sie lähmt diese Wut im Bauch,<br />
ein Atom dreht durch, dreht an der Uhr,<br />
und es trifft – dich und mich – natürlich auch.<br />
Sieh doch nur, sieh!<br />
Es ist Krieg.<br />
Der Fortschritt hat uns den Durchblick gestohlen,<br />
der Schein ist real ist visuell,<br />
heute wird umworben und nicht befohlen,<br />
und es trifft – dich und mich – sicher schnell<br />
Sieh doch nur, sieh!<br />
Es ist Krieg.<br />
Der Holocaust ist Unterhaltungsprogramm,<br />
sie hängen im Sessel und nicht am Pfahl,<br />
die Tobsucht krönt ein Opferlamm,<br />
und es trifft – dich und mich – seicht und brutal<br />
Sieh doch nur, sieh!<br />
Schalt doch ab!<br />
Sid Eisengurrer<br />
DIE RAMPENSAU WINTER 03
Eobanus-Hessus-Schreibwettbewerb<br />
Bereits zum dritten Mal wird der Schreibwettbewerb<br />
ausgeschrieben. Am Wettbewerb<br />
können Bewerberinnen und Bewerber<br />
aus ganz Thüringen teilnehmen, die<br />
zwischen 15 und 35 Jahre alt sind und sich<br />
mit literarischen Projekten beschäftigen.<br />
Es können Texte aller literarischen<br />
Genres eingesandt werden. Der Umfang<br />
für Prosatexte soll fünf Schreibmaschinenseiten<br />
bzw. für Lyrik drei Gedichte<br />
nicht überschreiten. Die Texte sollten in<br />
5-facher Ausführung (ohne Namenskennzeichnung)<br />
eingesandt werden. Den Einsendungen<br />
bitte eine kurze Darstellung<br />
der Lebensdaten anfügen, aus der das Alter<br />
und die bisherigen literarischen Aktivitäten<br />
ersichtlich werden. Einsendeschluß<br />
ist der 14. März 2003.<br />
Die eingegangenen Ergebnisse werden<br />
von einer Jury durchgesehen und bewertet.<br />
Neben dem 1.-3. Preis (á 250,-/200,-/150,-<br />
EUR) wird aus den sechs nachplazierten<br />
Texten am Abend der Preisverleihung vom<br />
Publikum der 4. Preis (150,- EUR) gewählt.<br />
Außerdem wird von der Jury ein Förderpreis<br />
(á 200,-/175,-/150,-/100,-/50,- EUR)<br />
für Schülerinnen und Schüler der Thüringer<br />
Regelschulen und Gymnasien der Klassenstufen<br />
9 bis 12 vergeben, die sich bereits<br />
mit eigenen literarischen Projekten<br />
beschäftigen. Die Texte sind an das jeweilige<br />
staatliche Schulamt einzureichen. Die<br />
E-Burg-Kino mit neuem Programm<br />
Auch im neuen Jahr wird das wöchentlich<br />
jeweils Mittwoch stattfindende Kino in der<br />
E-Burg wieder ein ebenso anregendes wie<br />
kurzweiliges Programm bieten. Dabei wird<br />
die im letzten Jahren begonnene Tradition<br />
weiter gepflegt, monatliche Zyklen zu bestimmten<br />
Themen zu zeigen. Vorzugsweise<br />
zu sehen sind Filme, die sonst eher zum<br />
Repertoire von Programmkinos gehören;<br />
aber auch Klassiker und »Kultfilme« finden<br />
sich darunter.<br />
So startet im Februar die Reihe<br />
»Schwarzes & Skurriles aus Deutschland«.<br />
Zu sehen ist eine Auswahl deutscher Produktionen<br />
der letzten zwei Jahre, die beweisen,<br />
daß schwarzer, schräger und skurriler<br />
Humor auch hierzulande zu finden ist<br />
und nicht allein in Großbritannien. Höhepunkt<br />
der Reihe ist sicherlich »Bang Boom<br />
Bang – Ein todsicheres Ding«: eine originelle<br />
Kleinganoven-Komödie aus Unna,<br />
in der eine Handvoll halbkrimineller Dösköppe<br />
dem Traum vom großen Geld hinterherstolpert.<br />
Der Regisseur Peter Thorwart<br />
bewies vor allem bei der Besetzung<br />
eine glückliche Hand – einfach wunderbar<br />
DIE RAMPENSAU WINTER 03<br />
Preisverleihung findet am 8. Mai 2003 in<br />
der Erfurter Engelsburg statt. Veranstalter<br />
sind Studentenzentrum Engelsburg, Kulturdirektion,<br />
Thüringer Kultusministerium<br />
sowie Universitätsgesellschaft Erfurt. Unterstützt<br />
wird der Wettbewerb durch die<br />
Sparkasse Erfurt.<br />
Einsendungen bitte bis zum 14. 03. 2003 an:<br />
Studentenzentrum Engelsburg<br />
Eobanus-Hessus-Schreibwettbewerb<br />
Allerheiligenstraße 20/21, 99084 Erfurt<br />
oder: hessus@eburg.de<br />
Diether Krebs in seiner letzten Rolle als<br />
fieser Spediteur Kampmann und Martin<br />
Semmelrogge als sein Faktotum Schlucke,<br />
ferner Oliver Korittke als stets bekiffter<br />
Kleinganove Keek.<br />
Weiterhin in dem Zyklus sind zu sehen:<br />
»Ein göttlicher Job«, eine skurrile<br />
Komödie um einen Gott, der einen Amtsnachfolger<br />
sucht; mit viel Situationskomik<br />
und temporeichem Witz, wobei nebenbei<br />
auch so manche Vorstellung von überirdischen<br />
Mächten auf die Schippe genommen<br />
wird. Ferner »Der tote Taucher im Wald«,<br />
ein rabenschwarzer Provinzkrimi, im dem<br />
mysteriöse Todesfälle die Idylle des mecklenburgischen<br />
Kaffs Ganzlin auf den Kopf<br />
stellen. Zu guter Letzt: »Drei Chinesen mit<br />
dem Kontrabaß«, eine ebenso makabere<br />
wie heitere Variante des fast klassisch zu<br />
nennenden Themas »Wie man eine Leiche<br />
entsorgt und welche Schwierigkeiten dabei<br />
auftreten könnten.«<br />
Der März schließlich steht ganz im Zeichen<br />
des dänischen Films, unter anderem<br />
mit »In China essen sie Hunde« und »Italienisch<br />
für Anfänger«.<br />
Guten Morgen!<br />
Vor dem Aufstehen noch<br />
schnell ins Puppentheater<br />
Sonntag morgen um zehn sind die Straßen<br />
der Stadt verschlafen. Einzelne Touristen<br />
schlendern über den Domplatz, ein paar Fahrradfahrer<br />
mit Brötchentüten rattern über das<br />
Pflaster. Die Türen vom Puppentheater Waidspeicher<br />
sind offen. Von drinnen: gedämpftes<br />
Kindergeschrei. Es riecht nach Kaffee. Guten<br />
Morgen! Die Treppe hoch. Frühstück für vier<br />
Euro. Einige Familien sind schon vor uns da.<br />
Doch es schmeckt auch an der Theke.<br />
Zufrieden wieder nach unten und in die<br />
Vorstellung: »Giraffe ist die Größte«. Ausverkauft.<br />
Die Erwachsenen sind wohl in der<br />
Überzahl. Vereinzelte Begrüßungen – »Ach,<br />
du auch hier?« Die Sitzreihen etwas eng, die<br />
Stimmung klasse. Auf der Bühne: die charmant<br />
gespielte und inszenierte Liebesgeschichte<br />
von Krokodil und Giraffe. Die Pointe<br />
ist so schlicht wie genial. Danke. Applaus.<br />
Wieder an der Luft. Noch auf einen Kaffee<br />
ins Hilgenfeld. Es ist um zwölf und man bekommt<br />
nach Jahren plötzlich Appetit auf Roulade<br />
mit Klößen ... (tan)<br />
»Giraffe ist die Größte« Puppentheater<br />
Waidspeicher mit Janine Bohn<br />
Nächste Vorstellungen: Fr. 07. 02., Mo.<br />
10. 02. jeweils 10 Uhr<br />
Nächste Sonntagmorgenvorstellungen: So.<br />
02. 02., 11 Uhr: »Der Wolf und die sieben<br />
jungen Geislein«, So. 09. 02., 11 Uhr »Die<br />
Königin der Farben«<br />
So. 10-11 Uhr Frühstück<br />
Gezeigt wird das Programm im Vortragsraums<br />
des Café DUCKDICH, Allerheiligenstr.<br />
20/21, Beginn ist jeweils um 21 Uhr,<br />
wobei das Café schon ab 20 Uhr geöffnet<br />
ist, aufkommenden Durst vor, während<br />
und nach dem Film zu stillen. (prs)<br />
Film-Reihe: Schwarzes & Skurriles aus<br />
Deutschland<br />
Mi 05.02. »Ein göttlicher Job«<br />
Mi 12.02. »Der tote Taucher im Wald«<br />
Mi 19.02. »Bang Boom Bang«<br />
Mi 26.02. »Drei Chinesen mit dem Kontrabaß«<br />
Film-Reihe: Dänemark<br />
Mi 05.03. »In China essen sie Hunde«<br />
Mi 12.03. »Nightwatch«<br />
Mi 19.03. »Italienisch für Anfänger«<br />
Mi 26.03. »Zusammen«<br />
jeweils 21 Uhr im Café DUCKDICH, Allerheiligenstr.<br />
20/21, geöffnet ab 20 Uhr<br />
5
W<br />
6<br />
• W A R N U N G •<br />
immer! Erfurt ist in Gefahr.<br />
Erfurt selbst ist die Gefahr.<br />
Die Beweise sind gut versteckt<br />
– in einem kleinen unscheinbaren Hexenhäuschen<br />
hinter großen, sehr scheinbaren<br />
Wohnblocks. Dort ist es verborgen: das<br />
Erfurter Aquarium.<br />
Der äußere Eindruck trübt. Hier wird<br />
tatsächlich das große Geheimnis gehütet.<br />
Die Tarnung ist perfekt. Die Hütte mutet<br />
absolut harmlos an – wie ein Fahrradschuppen<br />
oder eine<br />
Unterstelle für die<br />
Häcksler der Nachbarn.<br />
Omas gucken von den<br />
angrenzenden Balkons<br />
und werfen mit Essensresten.<br />
Doch nur Mut &<br />
Zuversicht, und eingetreten!<br />
Das Grauen ist<br />
nicht mehr fern. Bei einer<br />
Frau, die es vor Jahren<br />
in einen Verschlag<br />
mit Fensterchen verschlagen hat, erwirbt<br />
man Eintrittskarten und tritt ein ins geflieste<br />
Reich lauter superlativer Fische.<br />
Denn fachmännisch schief an die Fliesen<br />
geklebte Zettel verraten: Hier sieht man<br />
die kleinsten, die seltensten und die<br />
gefräßigsten Fische der Welt. Gern auch<br />
die räudigsten: schwimmende Gräten. In<br />
einem Kinderplanschbecken in der Mitte<br />
ziehen Haie ihre Bahnen, aber das ist noch<br />
nicht die große Offenbarung der großen<br />
Gefahr. Dafür muß man erst wieder an<br />
der Frau mit dem Kniffel-Heft vorbei, die<br />
nur scheinbar am Kuli knabbert, aber alles<br />
genauestens beobachtet.<br />
Denn an das Aquarium kuschelt sich<br />
noch eine kleine Freifläche, und dort hausen<br />
ganz unfischige Fische. Die Reste, die<br />
Aussätzigen, die Altlasten. Pinseläffchen<br />
Erfurt ist gefährlich<br />
Wenn einer eine Reise tut, dann muß sie nicht nach Erfurt gehen.<br />
<strong>Andi</strong> <strong>Leuthe</strong> mit brisanten Enthüllungen.<br />
und Schildkröten und ... ein Waran. Ein<br />
Waran ist so was wie eine fette Eidechse,<br />
die lieber ein Krokodil wäre und deshalb<br />
auch so groß ist und ein bißchen so aussieht.<br />
Und hier verrät es nun der Zettel des<br />
Fachpersonals: Dieser Waran kommt nicht<br />
von irgendeinem Zoo und einem netten<br />
Stifter aus Afrika. Nein, dieser Waran wurde<br />
in einer Erfurter Baugrube gefunden!<br />
Aha! Deshalb tragen Bauarbeiter Helme<br />
– daß ihnen der Kopf nicht abgebissen wird,<br />
wenn sie Fundamen-<br />
»Omas gucken von den<br />
angrenzenden Balkons und<br />
werfen mit Essensresten.<br />
Doch nur Mut & Zuversicht,<br />
und eingetreten! Das Grauen<br />
ist nicht mehr fern.«<br />
te schachten!!! Wie<br />
viele werden schon<br />
ein Bein auf Arbeit<br />
gelassen haben oder<br />
einen Arm oder »Meine<br />
Hand für mein<br />
Produkt«? Wie viele<br />
Unglücksfälle im<br />
Bau werden in Erfurt<br />
schon verschleiert<br />
worden sein?<br />
Erschüttert taumelt man zurück ins<br />
Aquarium, wieder hinein in die Wärme,<br />
die Brille beschlägt ... und als man wieder<br />
sehen kann, steht man zwischen all<br />
den Fisch-Käfigen direkt vor einem Glas<br />
mit einer Vogelspinne drin. Riesengroß<br />
krabbelt sie einem entgegen und reckt die<br />
Taranteln, um auf den Zettel zu zeigen, der<br />
ihr Gehege beschriftet. Wir lesen: »Diese<br />
Vogelspinne wurde in einem Erfurter Blumenladen<br />
entdeckt.«<br />
Was ist hier los? Wie viele Blumenhändlerinnen<br />
sind schon tot neben ihren<br />
Vasen zusammengebrochen? Wie viele<br />
Muttis und Freundinnen, bei denen im<br />
Frauentagsblumenstrauß eben nicht nur<br />
manche welke Nelke steckte? Was haust<br />
im tiefen Dickicht der Adventskränze?<br />
Echsen in Baugruben, Killerspinnen in<br />
den Blumenläden – wo führt das in Erfurt<br />
noch hin? Was ist das nächste?<br />
Schweine in der Presse, Pilze in der Pizza,<br />
Ratten im Landtag? Seid wachsam, Ihr,<br />
die in Erfurt wohnt, oder Ihr, die diese gefährliche<br />
Stadt bereist. Meidet Baugruben<br />
und Blumenläden, denn es könnten Eure<br />
letzten sein!<br />
Zu Risiken und Nebenwirkungen lest die<br />
nächste »Rampensau« oder flieht mit Eurem<br />
Arzt oder Apotheker!<br />
<strong>Andi</strong> <strong>Leuthe</strong><br />
Kick ass!<br />
Schön und auflockernd sind die Momente,<br />
wenn unfreiwillige Alltagskomik<br />
unerwartet das graue Einerlei des<br />
Tages aufpeppt. Neulich waren es ein<br />
Auto mit der Aufschrift »ASS-Team«,<br />
das an einem abgestandenen Dezembermorgen<br />
Heiterkeit und Frohsinn<br />
herbeizauberte. Was heißt »ASS-<br />
Team«? Athletic Sport Sponsoring,<br />
erfahre ich von der nämlichen Internet-Adresse.<br />
Nun ist natürlich immer<br />
wieder lustig, daß zu Zeiten, da sich<br />
die Zeitgenossen gerne viel auf ihre<br />
anglophone Sprachkompetenz zugute<br />
halten, es sich noch nicht herumgesprochen<br />
hat, daß »Ass« die korrekte<br />
englische Vokabel für »Arsch«<br />
ist. Das Ass-Team – die Arsch-Mannschaft!<br />
Ich habs doch seit den Aufenthalten<br />
in schuleigenen Folterkellern,<br />
auch Turnhallen genannt, immer gewußt:<br />
Sport ist fürn Arsch.<br />
(prs)<br />
DIE RAMPENSAU WINTER 03
<strong>André</strong> <strong>Kudernatsch</strong> (32), Showmaster<br />
(»<strong>Kudernatsch</strong>s Kautsch«)<br />
und Autor (»Suffis Welt«) hatte<br />
sich am 5. Dezember zu seiner Show in<br />
der Erfurter Engelsburg viel vorgenommen:<br />
Er wollte den »größten lebenden<br />
Musiker« küren. Angetreten waren zwei<br />
Großmeister ihres Fachs: »Spreewaldgurke«<br />
und Volksmusik-Mutant Achim Mentzel<br />
und King Roman Pastuschka von den<br />
Erfurter Agit-Poppern »Acoustica«.<br />
Doch was zunächst wie ein netter<br />
vorweihnachtlicher Plausch aussah, entpuppte<br />
sich im Verlauf des Abends als<br />
Farce. Gleich in der ersten Talk-Runde<br />
wurde Roman vom »Showmaster« mit<br />
billigen Witzen und ohne ernsthafte Gesprächsbemühungen<br />
abgefertigt. Ganz<br />
anders bei Achim Mentzel: Hier buckelte<br />
Herr <strong>Kudernatsch</strong>, was das Zeug hielt<br />
und brachte damit den Volksmusikanten<br />
schon in eine leichte optische Überlegenheit.<br />
Roman reagierte prompt und goß<br />
ein Glas Spreewaldgurken über den auf<br />
der Bühne drapierten Kunstweihnachtsbaum<br />
und hatte damit eigentlich schon<br />
gewonnen. Aber <strong>Kudernatsch</strong> blieb hart:<br />
In den darauffolgenden drei Runden, in<br />
denen beide je ein Lied zum besten geben<br />
Konnte nur durch die Gunst des Schowmasters<br />
gewinnen: »Spreewaldgurke« Achim Mentzel<br />
DIE RAMPENSAU WINTER 03<br />
• S K A N D A L •<br />
<strong>Kudernatsch</strong> lügt:<br />
Der »größte lebende Musiker« ist nicht etwa<br />
Achim Mentzel, sondern King Roman von<br />
Acoustica!<br />
mußten, hatte Roman eindeutig die Nase<br />
vorn (mit Unterstützung seiner großartigen<br />
Acoustica-Musiker), doch <strong>Kudernatsch</strong><br />
verteilte Strafpunkt um Strafpunkt<br />
für jeden noch so harmlosen Roman-Witz.<br />
Am Ende blieb der Publikums-Applaus<br />
als einziges objektives Kriterium des<br />
Wettstreits. Und der war ausgeglichen.<br />
Also verteilte Herr <strong>Kudernatsch</strong> weiter<br />
einseitig zotige Witze und Strafpunkte,<br />
so daß er am Ende Achim Mentzel über<br />
eine schier unüberschaubare Punkt-Rechnung<br />
den Vorteil zuschanzte und schnell<br />
den Pokal übergab – noch bevor jemand<br />
im Publikum reagieren konnte. Anschlie-<br />
ßend hatte <strong>Kudernatsch</strong> offenbar noch<br />
seine Claqueure bestellt, die Achim Mentzel<br />
die Autogrammkarten aus der Hand<br />
rissen.<br />
Da uns solche Machenschaften seit der<br />
Blütezeit des BFC Dynamo nicht mehr begegnet<br />
sind, ist für uns selbstverständlich<br />
King Roman der »größte lebende Musiker«<br />
und wir verleihen ihm noch dazu den<br />
neu geschaffenen Ehren-Titel »Rampensau<br />
des Quartals«! Und wer <strong>Kudernatsch</strong><br />
mal Strafpunkte verpassen will, kann<br />
dies tun unter www.klappkautsch.de oder<br />
zur nächsten Kautsch am 13. März in der<br />
Engelsburg. D. Tanner<br />
Hintergangen und ausgetrickst, aber ab heute »größter lebender Musiker« und »Rampensau des<br />
Quartals« in einem: King Roman Pastuschka von Acoustica mit seinem neuen Pokal.<br />
7<br />
Fotos: Jelzin + Harry
Erfurt – die schönste<br />
Zeit meines Lebens<br />
8<br />
•<br />
Von Paolo Fusi<br />
Das Regen erwischte mich und L. in einem kleinen süßen Restaurant<br />
in Bischleben. Von dort aus bis nach Erfurt war es mindestens<br />
eine halbe Stunde Wanderweg. Sie guckte sich mit ihren hellblauen<br />
Katzenaugen unsicher um, dann schnappte sie die Decke von einem<br />
Tisch und rannte aus dem Restaurant hinaus.<br />
I<br />
ch blieb einige Sekunden versteinert,<br />
dann rief mich ihre Stimme fröhlich<br />
aus dem Wald: »Komm, du Trottel!«<br />
Binnen Sekunden waren wir unter der<br />
Decke umarmt und hüpften glücklich unter<br />
dem Gewitter. »Noch eine Frau, die genau<br />
wie Paola aussieht«, dachte ich überschwenglich.<br />
Sie zerrte mich an sich. Wir<br />
blabberten verlegenen Unfug bis in die<br />
Stadt. Dann plötzlich mußte sie sich wieder<br />
zusammenreißen. Dort wohnten ihre<br />
FreundInnen – und also auch jene ihres<br />
Mannes. Der arme Teufel holte sie in einer<br />
Bar ein paar Stunden später. Ich und L. hatten<br />
uns bereits für eine Woche später neu<br />
verabredet. Ihm konnte das Glänzen ihrer<br />
Augen sicher nicht entgangen sein. Glücklich<br />
war er nicht.<br />
Ich lief gut gelaunt bis zum Anger und<br />
nahm wie üblich ein warmes Baguette<br />
mit Gorgonzola im Anger-Meier zu mir,<br />
dann lief ich pfeifend über den Juri-Gagarin-Ring<br />
bis zum Bahnhof und wartete auf<br />
meinen Zug unter dem Balkon, aus dem zuerst<br />
Gagarin und viel später Helmut Kohl<br />
eine neue wunderschöne Zeit für Erfurt<br />
und Ostdeutschland versprochen hatten.<br />
Unter dem Balkon deuteten die versperrte<br />
Gardinen darauf hin, daß die beiden gelogen<br />
hatten. Dort bleibt die Hotelschule,<br />
wo »meine« Christiane auch einen Teil ihrer<br />
Jugend verbracht hatte, für die neue<br />
Welt geschlossen.<br />
Ich nahm meinen Zug nach Leipzig zurück.<br />
Meine Laune verschlechterte sich blitzartig.<br />
Denn Erfurt war bereits in jenem Frühling<br />
1998 die Stadt meiner Träume: die Stadt<br />
der schönsten und neurotischen Frauen,<br />
das Märchenland der ungeahnten Freiheit,<br />
die Stadt der unverkennbar sympathischsten<br />
Musikszene, die Stadt, wo jeder<br />
Stein als Symbol für etwas Grandioses und<br />
gleichzeitig Vergebliches da steht, wo der<br />
»poppige Oberbürgermeister« und ehemaliger<br />
»Easy-Rider-Motorradfahrer« Manfred<br />
Ruge einer der wenigen Christdemokraten<br />
Deutschlands ist, bei dem man/frau sich<br />
nicht ekeln muß, die Hand zu reichen. Erfurt,<br />
vom Krieg unberührtes mittelalterlichen<br />
Juwel, Grafschaft der Liebe und der<br />
Begeisterung ...<br />
In Leipzig wartete auf mich eine unmögliche<br />
feste Unbeziehung mit einem Mädchen<br />
aus dem polnischen Grenzgebiet, das den<br />
Skalp von (fast) allen Männern des Connewitzer<br />
Viertels gesammelt hatte und mit<br />
einem lieben demütigten Computerfreak<br />
tagsüber lebte,<br />
bevor sie sich in<br />
die Nacht herein-<br />
und herumtollte.<br />
Ich verbrachte<br />
hingegen meinen<br />
Tag in der<br />
Deutschen Bücherei<br />
und sammelte<br />
Beweise<br />
für die Tarnung<br />
des Industrievermögens<br />
von<br />
Nazideutschland während und nach dem<br />
Zweiten Weltkrieg. Ich wollte ein Buch<br />
schreiben, scheiterte aber an den Unmenge<br />
der Angaben, in denen ich mich verloren<br />
hatte. Sonst versuchte ich mich in der<br />
lokalen Pogo-Szene einzunisten, fiel aber<br />
ziemlich auf – ich trank kein Bier, trug keine<br />
Rastahaare, lebte nicht von der Sozialhilfe,<br />
konnte nicht sächseln und fand mit<br />
der Zeit Hardcore-Musik langweilig. Meine<br />
Versuche, die öden Text- und Musiklinien<br />
in Heavy-Twist und Schlager-Core unterzuordnen,<br />
stießen nur auf empörte Mißbilligung<br />
bei den ConnewitzerInnen. Nostalgiker<br />
... Die meisten von ihnen empfinden<br />
Humor immer noch als eine gefährliche<br />
Eigenschaft des Kapitalismus.<br />
Carsten und Evi hatten die Lösung. Evi war<br />
die Chefin des Erfurter Stadtjugendringes,<br />
Carsten der Chef von Radio FREI, das gerade<br />
vor dem Sendestart war. Die ganze<br />
Stadt wirkte wie in Aufruhr, die Erfurter<br />
Szene freute sich auf Neues, es sprudelte<br />
vor Möglichkeiten. Im September zog ich<br />
neben das Krankenhaus in der Nordhäuser<br />
Straße ein. Zwei kaputte Zimmer, ein<br />
nie fertiggestelltes Bad, eine Matratze am<br />
Boden vor einem Fenster, in das ein Baum<br />
seine Äste hineingab. 140 Mark pro Monat<br />
warm. Ein Traum. Und binnen Stunden<br />
legten wir los. Wir wollten im Juni 1999<br />
einen Musikfestival organisieren, das kein<br />
Mensch in Thüringen je wieder vergessen<br />
hätte. Das Beste vom Besten: Blumfeld, Tocotronic,<br />
Motorpsycho, Nebula, Unida, The<br />
Earthlings, Sans Secours, Blackmail, The<br />
Bear Quartett, Cäsar und die Spieler ... Als<br />
wir es vorschlugen, schüttelten die städtischen<br />
Vertreter der Politik und der Kultur<br />
ungläubig ihren Kopf. Sie irrten sich. Evi<br />
zeigte sich als die zuverlässigste, zielstrebigste<br />
und effizienteste Person, der ich je<br />
begegnet bin. Sie pflegte ihre Karriere,<br />
half sämtlichen verschrotteten Jugend-<br />
und Sozialarbeitervereinen der Stadt aus<br />
dem Schlamassel, betreute einige Welpen<br />
und einen nervigen und kindischen<br />
Ex-Ehemann und fuhr eine sehr romantische<br />
und abenteuerliche Liebesbeziehung<br />
zu einem Mann, dessen Namen allein ein<br />
Programm ist: der Yeti.<br />
Was Evi bei der Organisation war, wa-<br />
»Erfurt war die Stadt meiner Träume: die Stadt<br />
der schönsten und neurotischen Frauen, das Märchenland<br />
der ungeahnten Freiheit, die Stadt der<br />
unverkennbar sympathischsten Musikszene, die<br />
Stadt, wo jeder Stein als Symbol für etwas Grandioses<br />
und gleichzeitig Vergebliches da steht.«<br />
ren Yeti als Techniker und Carsten als<br />
Führungskraft. Die drei zusammen waren<br />
eine Neutronenbombe, die kurz vor<br />
dem Aufgehen auf einen kleine, bislang<br />
verschlafene Stadt war. Ich wurde zum<br />
Zünder – der Engel des Chaos, wie mich<br />
L. einmal nannte.<br />
L. war nicht froh, das ich hergezogen war.<br />
Schade, denn ich hätte mich allzu gern wieder<br />
in Paola verliebt. Plötzlich wurde es<br />
ihr aber zu eng. Nach einem letzten traurigen<br />
Spaziergang auf einem Hügel hinter<br />
der Universität und einem noch traurigeren<br />
Konzert der Aeronauten in Jena nahm<br />
sie von mir Abschied. Zu spät. Inzwischen<br />
hatte ich mich bereits wie die Pest in ihrer<br />
Doppelkopfrunde eingenistet. Jeder Donnerstag<br />
im Museumskeller. Stulle mit einer<br />
Tasse Soljanka oder mit Käse überbacken,<br />
Kartenspiel bis mindestens um Mitternacht.<br />
Und Tratschen bis zum geht nicht<br />
mehr über so viele Leute, die ich noch nicht<br />
DIE RAMPENSAU WINTER 03
kannte, daß es mir später immer wieder<br />
peinlich wurde, wenn ich jene Personen<br />
plötzlich vorgestellt bekam und ein Kneifen<br />
der Belustigung unterdrücken mußte.<br />
Was Erfurt schön macht: Sie unterlagen<br />
demselben Gefühl, denn sie hatten mindestens<br />
genau so viel Klatsch über mich<br />
gehört, wie ich über sie. Und keiner wurde<br />
je böse. Im schlimmsten Fall ging man<br />
zusammen zum Heartbeat (es laufen rund<br />
um die Uhr kultige und seltene Videoclips<br />
aus den 60ern und 70ern!!!), um was zu<br />
klären und weiteren Tratsch aus Friedenversiegelung<br />
auszutauschen. Binnen drei<br />
Wochen kannte ich jede und jeden in der<br />
Szene. Und jede und jeder kannte mich.<br />
Ein unglaubliches Gefühl: Irgendwo in<br />
eine fast fremde Stadt hinzugehen, und<br />
von Dutzenden Menschen per Namen und<br />
mit einem Komplizen-Lächeln begrüßt zu<br />
werden ...<br />
Ich wollte alles sofort und war ständig<br />
wie berauscht. Evi und Carsten brauchten<br />
mich nicht zu motivieren ... Meine<br />
Rolle: Ich mußte sämtliche Musikanbieter<br />
der Stadt überzeugen, gemeinsam an<br />
einer Strippe zu ziehen. Die Blueser vom<br />
Museumskeller, den Univerein, und dann<br />
die Engelsburg, wo unbekannte Bands zur<br />
Stadtberühmtheit gemacht wurden, und<br />
das Domizil, der Heimat der Punker und<br />
der mythischen Trunkenboldenband DRK<br />
(welche mit einem politischen Spektakel<br />
Namens »Ficken verbindet« herumtourte).<br />
Dazu viele viele andere Clubs, die entweder<br />
in Techno oder Dance oder Pianobar<br />
oder Kabarett oder Folk spezialisiert sind<br />
– denn Erfurt hat eben die schönste Szene,<br />
die ich je gesehen habe. Es ist an jedem<br />
Tag was los. Die lokalen Bands unterstützen<br />
sich gegenseitig. Neid ist sehr selten,<br />
Foto: Archiv Die Rampensau<br />
Arroganz etwas Unbekanntes, am Abend<br />
in der Liederlich-Bar trafen sich nach Mitternacht<br />
Mitglieder von Rock-, Cover- und<br />
Technocombos und trällerten zusammen<br />
mit verfügbarem Klavier, Congas und Gitarre<br />
unvergeßliche Versionen von Stadthits<br />
wie »Vielleicht« von Anger 77, »Schiff<br />
Erde« von Fast Food Cannibals, »Friday<br />
Afternoon« von Burning Flowers. Dabei<br />
stritten wir uns über die Definition der<br />
Erfurter Schule und des Erfurter Sounds.<br />
Oder über Helden wie Steffen Ritter, der<br />
»Die Konzerte, die wir organisierten,<br />
schossen Tausende von Mark in den Sand.<br />
Erfurt hatte noch nie mit europäischer<br />
Untergrundmusik zu tun gehabt.<br />
Die Thüringenhalle war ausverkauft bei<br />
Wolfgang Petry und Jethro Tull ...«<br />
in seiner Schule eine neue geile Band pro<br />
Jahr, zusammengestellt aus Teenies, herausbrachte<br />
– oder Jule, die Sängerin von<br />
Red Nice Leech, die bereits mit 16 von Zuhause<br />
abgehauen und zur Szene-Ikone<br />
avanciert war.<br />
Radio FREI gab der Szene auch eine öffentliche<br />
Stimme außerhalb des Nachtlebens:<br />
unsere tägliche Tratsch- und Musiksendung<br />
»Die böse Banane«. Moderatoren:<br />
ich, eben die Banane, und <strong>André</strong> aus der<br />
Ukraine, »die rauhe Pflaume«. Erfundene<br />
Liebes- und Haßgeschichte, gefälschte<br />
Rockgeschichten, verworrene politische<br />
Aussagen ... und die Musiker kamen<br />
ins Studio, ließen sich feiern und verspotten<br />
und bestätigten allen möglichen Mist,<br />
den wir erfanden. Unter den beliebtesten<br />
Gästen: »Die liebliche Kilsche«, ein Japanel<br />
aus Basselsdolf Schweiz, del sich ständig<br />
empölt übel Helbelt Glönemeyer ausdluckte:<br />
»del Sängel, del lülpst!« Oder King<br />
Roman, der Blutsauger aus Transsilvanien,<br />
der Blut der Reichen »aus politischer Solidarität<br />
mit dem unterdrückten Proletariat<br />
meiner Gasse« abzog und sich für »die<br />
Erhöhung der Alkoholpromille im städtischen<br />
Hahnwasser« aussprach, »um die Betäubung<br />
des Volkes rapider und schmerzlos<br />
durchzuführen.« Oder Atze, der sein Leben<br />
»der Emanzipation des weiblichen Gefühlslebens«<br />
verschworen hatte: »Mein Rezept<br />
ist ganz einfach: Jede Frau soll behaupten,<br />
sie sei mit mir liiert, und sofort ins Bett mit<br />
einem anderen gehen. So ist sie Betrügerin<br />
und kein Opfer des männlichen Charmes.<br />
Die böseste und rücksichtsloseste Täterin<br />
ist immer faszinierender als das liebste Opfer.«<br />
Somit hatte Atze eine Beziehung mit<br />
jeder Frau in der Stadt gehabt und durfte<br />
sich trotzdem als Abstinent bezeichnen, in<br />
ewiger Trauer dem Alkohol und der Musik<br />
verdonnert.<br />
Die Konzerte, die wir organisierten, schossen<br />
Tausende von Mark in den Sand. Erfurt<br />
hatte noch nie mit europäischer Untergrundmusik<br />
zu tun gehabt. Die Thüringenhalle<br />
war ausverkauft bei Wolfgang Petry<br />
und Jethro Tull, die Clubs waren voll bei<br />
ganz unbekannten Bands, die gegen Eintritt<br />
(5 Mark pro Nase) spielten. Doch für<br />
gute Produkte aus der<br />
Indie-Szene fehlte jede<br />
Kultur. Es kam die Szene,<br />
zirka 300 Leute, und<br />
wir gingen jedes Mal baden<br />
– zum Glück vor allem<br />
mit Geld der Stadt.<br />
Und doch bewegte sich<br />
was. Plötzlich lernten<br />
die Ostdeutschen, daß<br />
Erfurt etwas anbot, was<br />
in die neue Bundesländer<br />
sonst selten zu sehen<br />
war. Beim Konzert von Motorpsycho hatten<br />
wir 400 Leute, davon knapp 50 aus Erfurt.<br />
Und dann erfanden wir die Idee der Krimi-<br />
Nacht und der Stadt-Session.<br />
In einer Nacht ließen sich Prominente<br />
aus der Musik- und Politszene der Stadt<br />
vor allen ZuschauerInnen umbringen. Die<br />
Türe wurden verriegelt, die Ermittlungen<br />
liefen auf Hochtour, viele im Publikum<br />
wurden festgenommen und wieder freigelassen.<br />
Erst um 3 Uhr Morgens wurde<br />
der Fall aufgeklärt. Davon sprach man bis<br />
in Halle, Jena und Leipzig enthusiastisch.<br />
Bei der Stadt-Session bekamen wir sämtliche<br />
Bands der Stadt kostenlos zusammen<br />
auf die Bühne. Meine Sternenstunde. Ich<br />
sang »Das Tier«, »Crocodile Rock« und<br />
»Rebel Yell«, spielte mit Profigitarristen<br />
zusammen »Layla« und »I Shot The Sheriff«,<br />
durfte halbnackt Affengeräusche bei<br />
»Kung-Fu Fighting« machen und im Schwulenchor<br />
hinter Jule bei »Waterloo« trällern.<br />
Ich war so glücklich wie nie davor.<br />
Denn dieser Erfurter Rausch nahm mit<br />
sich eine Explosion in meinem Sentimentalleben.<br />
L. hatte seit Stunden Adieu gesagt,<br />
schon rollten neue Würfel auf dem<br />
grünen Tisch meines Alltags. Beim dritten<br />
Wurf kam SIE heraus. Denn Gott weiß immer,<br />
seine Lieblingssöhne mit demselben<br />
Schicksalsschlag zu begünstigen und zu<br />
strafen.<br />
SIE ist die perfekte Neurosenbombe. SIE<br />
bellte wie ein kokainabhängiger Dobermann<br />
bei jenem Detail, das IHR nicht paßte.<br />
Und IHR paßte nie ein einziges Detail<br />
von dem, was ich tat. Man kann nicht sagen,<br />
daß wir uns ständig stritten, denn wir<br />
DIE RAMPENSAU WINTER 03 9
haben uns dazwischen nur für unglaubliche<br />
Zärtlichkeitsstunden (kaum) versöhnt.<br />
Unsere Beziehung war eine Achterbahn,<br />
die die Doppelkopfrunde, die Musikveranstaltungen<br />
und meine Arbeit bei Radio<br />
FREI mit einbezog, denn SIE bekämpfte als<br />
Chefin eines Jugendvereins sämtliche meiner<br />
Initiativen mit der Begründung, daß ich<br />
diktaturmäßige Züge im Kulturleben der<br />
Stadt eingeführt habe. Lustigerweise lebte<br />
SIE neben jenem Restaurant in Bischleben,<br />
wo ich meine Halbromanze mit L. angefangen<br />
hatte. So wurde jener Wanderweg im<br />
Wald ein Bestandteil meines Alltags – oder<br />
besser, meiner Allnacht. Denn meistens lief<br />
ich wütend und frustriert 4 Uhr morgens<br />
von IHREM Haus in die Stadt zurück. Nicht<br />
ohne Gefahr, wie, als ich in einer Nacht<br />
von einem Hund angegriffen, gebissen<br />
und in den Fluß Gera vertrieben wurde,<br />
wobei ich nach einer Stunde der Verhandlung<br />
mit dem überheizten Tier endlich barfuß<br />
nach Hause gehen durfte, denn meine<br />
Schuhe hatten sich im Wasser aufgelöst.<br />
Immerhin hatte ich immer mehr Tratsch<br />
über mich selbst in »Die Böse Banane« zu<br />
erzählen. SIE ist eine der wichtigsten Liebesgeschichten<br />
meines Lebens geblieben.<br />
Doch es klappte nicht, sämtliche äußeren<br />
Umstände verschworen sich dagegen. Das<br />
macht mich heute noch sehr traurig. Daß es<br />
nicht klappte, ist ein entscheidender Grund<br />
gewesen, Erfurt zu verlassen.<br />
10<br />
Meine Eitelkeit wurde geschmiert wie<br />
sonst nie. Ich kam in fast jeden Club der<br />
Stadt umsonst herein, denn ich wurde<br />
selbst zur Szene-Ikone. Die Jugendlichen<br />
erkannten mich auf die Straße und gingen<br />
in die Locations, in denen ich mit meiner<br />
Clique hinging. Für die besten<br />
drei Bands der Stadt ohne Vertrag<br />
(Burning Flowers, Stoned<br />
Fish und Risse – die Eisenacher<br />
Band, welche den Kula-Shaker-<br />
Sound vor Crispian Mills erfand)<br />
organisierte ich ein Konzert mit<br />
Musiklabels. Es war eine einmalige<br />
Nacht, denn sie spielten so<br />
gut wie nie und die ganze Szene kam hin,<br />
um sie dabei hochzupushen. Junge Mädchen<br />
und Buben unterbreiteten mir Angebote<br />
für eine heiße Nacht. KünstlerInnen<br />
aus ganz Deutschland schrieben mir.<br />
Der Sänger einer Weimarer Band brach in<br />
meiner Wohnung ein und hinterließ eine<br />
selbstgebrannte CD mit einer Karte: »Ich<br />
weiß, daß Du so viel zu tun hast. Aber wir<br />
sind besonders. Gib uns eine Chance und<br />
wir werden Dich wieder überraschen wie<br />
heute!« Die Musik war beschissen. Ich rief<br />
sie nie an und genoß mein Machtgefühl.<br />
Ich war plötzlich per du mit jenen Musikern,<br />
die ich vor kurzem aus der Ferne vergöttert<br />
hatte. Ich versuchte sogar Paul Mc-<br />
Cartney zu überzeugen, allein mit einem<br />
Klavier in Erfurt aufzutreten. Er wollte eine<br />
horrende Summe. Im Nachhinein denke<br />
ich, daß wir es hätten machen sollen, denn<br />
er hätte doch auch die Thüringenhalle für<br />
teures Eintrittsgeld ausgefüllt.<br />
Nach sechs Monaten diesen Lebens begann<br />
ich plötzlich mein Wochenende in Leipzig<br />
zu verbringen, um wieder Kraft aufzutanken,<br />
bevor ich mich wieder in die Erfurter<br />
Schwimmhalle wagte. Und verliebte mich<br />
in eine ruhige Frau, die Paola nicht im geringsten<br />
ähnelte. Ich nahm es als ein Zeichen<br />
der Vernunft und der Reifung wahr.<br />
Und plötzlich war Erfurt kein Paradies<br />
mehr. Christiane hatte recht: »Du bist wie<br />
ein Komet. Schön zu sehen, wenn er sich<br />
annähert, verliert er mit dem Vorbeifliegen<br />
nach und nach an Licht und Strahlung<br />
und muß weiter ziehen, um bewundert zu<br />
werden ...« Ich stellte fest, daß ich allmählich<br />
überdreht und unsympathisch wirkte.<br />
Daß ich von der Menge zunehmend ange-<br />
»Ich rief die WoZ an. In einer Nacht im<br />
September 1999 kamen sie wie Diebe<br />
aus Zürich und holten den Inhalt meiner<br />
Wohnung samt mir.«<br />
strengt war und sie von mir. Daß ich die<br />
Hände durch tausende Verpflichtungen gebunden<br />
hatte. Daß sich eine Partei meiner<br />
Gegner aufbaute, die furchterregend zahlreiche<br />
Mitglieder anzog. Sogar im Radio<br />
wollten sie mir meine Stelle wegnehmen.<br />
Ich hatte Nierensteine und war einen Monat<br />
lang wie gelähmt. Ich rief die WoZ an.<br />
In einer Nacht im September 1999 kamen<br />
sie wie Diebe aus Zürich und holten den<br />
Inhalt meiner Wohnung samt mir. Nur Wochen<br />
später merkte die Stadt, daß ich weg<br />
war. Carsten erzählt heute immer noch von<br />
Sitzungen, in denen erstaunte, schockierte<br />
und empörte Personen wissen wollten,<br />
wie zum Teufel es nun weitergehen soll.<br />
Ich war gerade richtig abgesprungen – am<br />
Höhepunkt meines Ruhmes, kurz bevor es<br />
wieder rapid bergab gegangen wäre. Und<br />
ich bereue es schmerzhaft fast jede Nacht,<br />
immer noch heute.<br />
Paolo Fusi<br />
43, Römer, lebte überall auf der Welt, wo<br />
es von Bedeutung war, also in Spanien, in<br />
Holland, in Frankreich, in der Schweiz, in der<br />
Elfenbeinküste und in Erfurt, wo er Gitarre<br />
schrummelte, sich vergeblich verliebte und<br />
Radio machte. Heute wohnt er am Comersee<br />
und ist Wirtschaftsreporter für die Zeitschriften<br />
der Schweizer Gruppe TA-Media und für<br />
die größte Tageszeitung Italiens Il Corriere<br />
Della Sera.<br />
• G E F Ä H R L I C H E O R T E •<br />
Vorsicht: Schwarzer Kanal – Der BdV informiert<br />
Wer öfter mal vom Benediktsplatz<br />
in die Michaelisstraße<br />
einbiegt, der wird die Geschäftsstelle<br />
des »Bundes der Vertriebenen«<br />
(BdV) sicher schon bemerkt haben:<br />
In einem großen Schaufenster wird da<br />
versucht, uns ein diffuses »Heimatgefühl«<br />
für die »deutschen Siedlungsgebiete im<br />
Osten« einzureden und das »Unrecht der<br />
Vertreibung« klarzumachen. Es wimmelt<br />
nur so von alten Schlesienkarten, Wappen<br />
Foto: Archiv Die Rampensau<br />
und allerlei Trachtenschnickschnack. Unter<br />
dem Titel »Meer der Hoffnung und des<br />
Todes« wird uns der Untergang der »Wilhelm<br />
Gustloff« auf einer Schautafel mit<br />
allerlei Material und Spiegel-Titelblättern<br />
nahegebracht.<br />
»Flucht und Vertreibung in die Lehrpläne<br />
der Schulen!« heißt es an anderer Stelle.<br />
Man sieht: Der BdV läßt nichts unversucht,<br />
der nachwachsenden Generation sein revanchistisches<br />
Weltbild einzuverleiben.<br />
In einer Zeit des medialen »Vertriebenen«-Hypes<br />
und der bevorstehenden Eingemeindung<br />
von Polen und Tschechien<br />
in die »europäische Familie« kommt uns<br />
dieser Ort in zentraler Altstadtlage gerade<br />
recht.<br />
Schließlich hätten da ja die einen oder<br />
anderen Großeltern von uns auch noch ein<br />
Häuschen im ehemaligen »Sudeten-Gau«<br />
oder im schönen »Memel-Land« ...<br />
(tan)<br />
DIE RAMPENSAU WINTER 03
Am Arsch die Kinderstube<br />
• Von Peter Raulfs<br />
Sonnabend, morgens um halb elf. Gerade zwei<br />
Tassen leckeren Cuba-Kaffee eingeschlürft und<br />
den Verdauungstrakt zur weiteren Bearbeitung<br />
zweier Croissants beauftragt, liege ich auf dem Teppich,<br />
den Blick auf die Zimmerdecke gerichtet, als wäre<br />
sie dreitausend Meter entfernt wie die Wolken, die das<br />
obere Drittel des Wohnzimmerfensters passieren. Aus<br />
den Löchern meiner Lautsprecherboxen durchtobt die<br />
Stimme von Cristina Llanos meine Behausung und<br />
bringt den Rauminhalt wie mich selbst zum Vibrieren,<br />
Beben, Schweben. Alles ist klasse, alles ist toll.<br />
»Tüüöööütt« unterbricht ein elektronisch erzeugter<br />
Mißton die Andacht. Er kommt von der Türklingel.<br />
Ich gehe hin. Kaum geöffnet, schon bereut – vor<br />
mir steht ein Kerl mit Goldkettchen, in Feinrippunterhemd<br />
und Adidas-Schnellfickerhose. Ich weiß,<br />
das klingt jetzt wie ein Klischee, entspricht aber,<br />
so widerwärtig es ist, vollends der Wahrheit. Der<br />
Typ wohnt über mir, nimmt im Hause Hausmeisteraufgaben<br />
war und sieht tatsächlich so aus wie eben<br />
beschrieben. Und ich weiß auch schon, was sein Anliegen<br />
ist: vorletzte Nacht stand verwerflicherweise<br />
und entgegen seiner sorgsamst aufgehängten, in<br />
Klarsichtfolie eingezogenen Verbotsschilder morgens<br />
um halb vier mein Fahrrad im Hausflur. Ob er<br />
deswegen wohl nicht schlafen konnte, der Ärmste?<br />
Ich bin zu höflich. Zu gut erzogen. Übersozialisiert.<br />
Ein bedauernswertes Übermaß dessen, was landläufig<br />
als »Kinderstube« gilt. Das äußert sich beispielsweise<br />
so, daß ich in Fällen wie diesem glatt noch versuche,<br />
mit solch penetrantem Zeitgenossen zu diskutieren, obwohl<br />
ich längst um die Sinnlosigkeit solcher Versuche<br />
weiß, und anstatt ihm die einzige Antwort zu geben,<br />
die er dafür verdient: »Ey! Fick dich ins Knie, Sackgesicht!«<br />
Oder dem Blockwart ohne einleitende Debatte<br />
einfach was aufs Maul hauen – das wäre der wahre<br />
Jakob. Allein schon, um zu sehen, was dann passiert,<br />
habe ich doch schließlich keinerlei Erfahrung mit solcher<br />
Art der Diskussionseröffnung. Aber gut, was soll<br />
schon passieren – dann kommt halt der Staatsbüttel.<br />
Wenn ich an der Ampel vom Autofahrer angepöbelt<br />
werde, weil ich ihm beim beabsichtigten Gaspedaldurchtreten<br />
im Wege bin, so erkläre ich ihm allen<br />
Ernstes, warum die Benutzung des Radweges nicht<br />
möglich ist, da zugeparkt. Warum mache ich so was,<br />
anstatt ihm einfach kommentarlos eine Beule in die<br />
Tür seines Pöbelwagens zu treten?<br />
Oder eine andere, wohlvertraute Situation: Wo ich<br />
denn herkomme? fragt dieser Troglodyt, der mir ob seines<br />
morgendlichen Bieratems ebenso wenig gefällt die<br />
der mißtrauische Was-willst-du-denn-hier-Ton seiner<br />
Frage, nur weil ich nicht denselben schrägen Dialekt<br />
rede, wie er ortsüblich zu sein scheint. Und was sage<br />
ich blödes Kamel? Die Wahrheit! Das gibt‘s doch wohl<br />
nicht! Bin ich nicht recht bei Trost? Noch zu retten?<br />
Wieso erzähle ich dem Hominiden nicht einfach, ich<br />
sei aus Timbuktu, aus Lappland oder Ulan Bator oder<br />
Zamonien? Wieder die Gelegenheit vergeigt, durch<br />
eine kühne und gewandte Lüge das Toleranzpotential<br />
meiner geschätzten Mitidioten auszutesten und somit<br />
das Leben ein bißchen aufregender zu gestalten. Ich<br />
könnte mich in den Arsch beißen!<br />
So fasse ich denn feierlich den Beschluß: Den Leuten<br />
stets das ihnen angemessene Maß an Unhöflichkeit<br />
zu kommen lassen. Lügen, bis ich es mit Käpt‘n<br />
Blaubär im Duell aufnehmen kann. Und jeden Morgen,<br />
noch vor dem Zähneputzen, eine halbe Stunde<br />
vor dem Badezimmerspiegel das Ausstrecken des Mittelfingers<br />
üben.<br />
Mein Heizkörper erzählt*<br />
• Von <strong>André</strong> <strong>Kudernatsch</strong><br />
Neulich sprach ich mit meinem Heizkörper<br />
über Frauen. Er fing freilich an.<br />
»<strong>André</strong>«, sagte er und winkte ab, »<strong>André</strong>,<br />
hör bloß auf! Die Frauen!«<br />
Ich nickte und schwieg, wollte ich ihm doch nicht<br />
diese dramatische Einleitung verpatzen.<br />
»<strong>André</strong>«, fuhr er fort, »<strong>André</strong>, die Frauen, da kannst<br />
du nicht mit rechnen, daß die rein rational sind. Die<br />
machen das alles aus dem Gefühl heraus.«<br />
Ich guckte ihn groß an.<br />
»<strong>André</strong>«, erklärte er, »<strong>André</strong>, Mensch, du weißt<br />
doch. Das kann man als Mann einfach nicht logisch<br />
nachvollziehen.«<br />
»Wie logisch?« fragte ich.<br />
»Na, weißt du nicht, was Logik ist? Paß auf, wenn<br />
zum Beispiel Zeit Geld ist und Geld nicht stinkt, so<br />
ist Zeit geruchlos. Das ist Logik.«<br />
»Und was hat das mit Frauen zu tun?« klinkte ich<br />
mich ein.<br />
»Das weiß ich auch nicht«, antwortete mein Heizkörper<br />
und schwieg.<br />
Dieses Gespräch fand im Sommer statt. Was soll das<br />
erst im Winter werden, wenn ich heize?<br />
* nach einem Gedächtnisprotokoll<br />
Peter Raulfs<br />
Herkunftsniedersachse,<br />
Wahlerfurter, Mittdreißiger,<br />
Gott- und<br />
vaterlandsloser Geselle,<br />
Überzeugungstäter,<br />
Hobbyverhaltensforscher,Gelegenheitsschreiber,Vollzeitagitator,Gewohnheitseskapist,Möchtegernrevolutionär<br />
<strong>André</strong> <strong>Kudernatsch</strong><br />
Jg. 1970, Journalist<br />
(u. a. Feuilletonist bei<br />
MDR Kultur), lebt in<br />
Leipzig und Erfurt<br />
und veranstaltet seit<br />
1998 seine eigene<br />
Literaturtrashshow<br />
»<strong>Kudernatsch</strong>s<br />
Kautsch«, letzte Veröffentlichungen:<br />
CD<br />
»Die Kautsch-Liedermacher-Parade«<br />
(KK<br />
2002), »Generation<br />
Goldi« (Rum Records<br />
2002), »Suffis Welt.<br />
Ulli und ich und Onkel<br />
Hansi« (Fünf Finger<br />
Ferlag Leipzig 2000)<br />
aus: <strong>Kudernatsch</strong>:<br />
Gift im Tee. Schlimme<br />
Geschichten.<br />
Dessau 1997<br />
DIE RAMPENSAU WINTER 03 11
Tramspotting •<br />
<strong>Andrew</strong> Gledhill<br />
Jg. 1969 in Huddersfield,<br />
England,<br />
1988-1991 Fremdsprachenkoresspondent,<br />
1991-1994 Germanistikstudium<br />
University<br />
of Portsmouth,<br />
1994-1997 Übersetzer<br />
bei Financial Times,<br />
1997-1998 Lektor FH<br />
Schmalkalden,<br />
1999 Übersetzer bei<br />
MDR, seit Anfang<br />
2000 freiberuflich als<br />
Lehrer und Übersetzer<br />
Veröffentlichungen<br />
2000-2002:<br />
The Woodcutter<br />
(Übersetzung) BBC;<br />
New Wine (Gedicht)<br />
BBC, GB; Desert<br />
Storms (Gedicht)<br />
BBC; This Ring (Gedicht)<br />
Anchor Books A<br />
Journey of Discovery;<br />
The Goons (Gedicht)<br />
Anchor Books Broad<br />
Horizons<br />
Ulf Salzmann<br />
Jg. 1976 ist angehender<br />
Architekt und<br />
wohnt in Weimar;<br />
Veröffentlichungen in<br />
diversen Comic-Zines<br />
(»Tremor«, »Nichts für<br />
ungut« u.a.)<br />
12<br />
T<br />
od?!? Nein, noch nicht. Wach? Auch noch<br />
nicht. Ist es Tag oder Nacht? Es sieht wie<br />
Tag aus. Scheiße, es wurde wieder geträumt.<br />
Das Lebewesen schläft aber allein in meinem Bett.<br />
Es berührt seinen Ehering mit dem Daumen.<br />
Panik!! Hat es einen Termin verpaßt? Gibt es<br />
heute Englischunterricht? Nein – Gott sei Dank – es<br />
ist wieder das Wochenende. Kein Schwein will heute<br />
Englisch lernen.<br />
Dann fängt der Alkoholismus wieder an. Der<br />
Körper ist jetzt wach. Der Kopf nicht so ganz. Der<br />
Arm streckt sich aus und reicht nach dem Bier, das<br />
gestern Abend beim Döner – Gott sei Dank – gekauft<br />
wurde. Das Bier gibt dem Mund einen Guten-<br />
Morgen-Kuß und nimmt einen Schluck vom Leben<br />
weg, von dem das Lebewesen schon lang genug belastet<br />
wurde. Es will ein bißchen weitersterben. Die<br />
Hand sucht eine Zigarette. Die Zigaretten werden<br />
ganz selten lange gesucht. Sie schlafen immer neben<br />
dem Körper in dem alten Bett. Das Feuerzeug wurde<br />
gestern Abend – Gott sei Dank – nicht geklaut.<br />
Der Rauch atmet tief in die Lungen hinein. Noch ein<br />
Seufzchen Leben weg – Gott sei Dank. Das Bier verlangt<br />
einen Schluck.<br />
Das Lebewesen rülpst und hustet. Scheiße, der<br />
Kopf wird aufgeweckt. Das Scheißding bringt nur<br />
Unglück, da es immer die blödsten Fragen stellt.<br />
Ohne Kopf wäre es gelegentlich schön aufzuwachen.<br />
Die Fernbedienung wurde schon längst verloren.<br />
Irgendwie muß der Fernseher angeschaltet<br />
werden, so daß der Kopf nicht mehr auf den Geist<br />
gehen kann. Aber das Bier will erst mal noch einen<br />
Schluck vom Lebewesen trinken. Die Zigarette will<br />
auch wieder atmen.<br />
Der Körper schleppt sich durch den Schutt und<br />
Asche zum Fernseher und der Finger drückt eine Taste.<br />
Gott sei Dank – wird das Lebewesen vom Körper<br />
wieder ins alte Bett geschleppt. Es gibt Stimmen,<br />
aber – ach du Scheiße! – keine menschlichen Stimmen,<br />
sondern die von Lehrern gehaßten Kinderstimmen.<br />
Aber Samstags quälen sie die sensiblen Ohren<br />
noch weiter. Der Körper hat aber keinen Bock, wieder<br />
zum Fernseher zu tappen, also versucht das Lebewesen<br />
weiterzuschlafen. Der Körper hat genug<br />
Arbeit für heute geleistet. Der Scheißkopf wird aber<br />
hellwach und gibt dem Wesen keine Ruhe. Das Bier<br />
will noch einen Schluck.<br />
OK, Körper – sorry – Du mußt wieder zum Fernseher,<br />
sonst dreht das Lebewesen durch. Nach einer<br />
halben Stunde Quälerei macht er mit, schürft durch<br />
den Schmutz und Räude und findet einen Nachrichtensender.<br />
Dann bringt er das ganze Ding wieder ins<br />
Bett. Börseninformation – nur Schrott – die Ohren<br />
müssen nicht zuhören und der Kopf muß nicht denken.<br />
Die dürfen alle noch eine Stunde schlafen.<br />
Nach einer Stunde geht es Ihnen doch viel besser.<br />
Körper und Kopf haben sich – Gott sei Dank – geeinigt<br />
und sind zum Schluß gekommen, daß sie bald<br />
in die Kneipe gehen sollten, da die Büchse Bier fast<br />
satt ist.<br />
Von <strong>Andrew</strong> Gledhill<br />
New Wine<br />
It is my turn to tell the Truth.<br />
The Truth that flows from new wine<br />
From the warmth of tongues of fire-<br />
Tongues thirsting for new wine.<br />
The fires embers glisten in the half light,<br />
Waiting to listen to the music of Heaven,<br />
Wuthered by the wonderful wind;<br />
Giving voice to the flames,<br />
Igniting this night with Pentecostal fires<br />
That steep us all in the new wine of the light-<br />
Warming our blood and freeing our tongues<br />
To speak the red-blooded Truth.<br />
Ich bin daran, die Wahrheit zu sagen,<br />
Die Wahrheit, die vom neuen Wein fließt,<br />
Von der Wärme Feuerzungen,<br />
die nach neuem Wein dürsten.<br />
Die Glutasche glitzert im Halblicht,<br />
und wartet auf die Musik des Himmels,<br />
verwuchert vom wundervollen Wind,<br />
der die Flammen Stimmen verleiht.<br />
Diese Nacht wird durch die Pfingstenfeuern angezündet,<br />
die uns im neuen Wein des Lichtes durchtränken,<br />
um unser Blut zu erwärmen und unsere Zungen zu befreien,<br />
um die rotblutige Wahrheit zu sagen.<br />
Comic: Ulf Salzmann<br />
DIE RAMPENSAU WINTER 03
Der Winter<br />
• Von Paulina Schulz<br />
I<br />
na sitzt in der Küche, zwingt sich zur Ruhe, hält<br />
sich an der Tischkante fest, verschränkt die Beine,<br />
fährt sich durchs Haar, atmet immer wieder<br />
tief durch.<br />
Es klingelt. Sie geht an die Tür, zählt die Schritte,<br />
macht langsam die Tür auf, ordnet dabei Mund und Augen<br />
zu einem coolen, gelassenen Gesichtsausdruck.<br />
Er grinst sein altes Grinsen, macht einen Riesenschritt<br />
hinein in die Wohnung, legt einen Arm um Ina,<br />
küßt sie auf den Mund. »Früher hat er mich nie zur Begrüßung<br />
geküßt«, denkt Ina und räuspert sich.<br />
Sie sitzen in der Küche, er hat sich einen türkischen<br />
Kaffee gemacht, dreht sich eine Zigarette, seine Finger<br />
sind schnell und braun und aufregend. »Laß uns<br />
rausgehen«, sagt Ina. Sie will nicht alleine mit ihm in<br />
der Wohnung sein; springt gleich auf und geht ins Bad.<br />
Sie sitzt auf dem Klo und zählt bis zehn, dann weiter<br />
bis zwanzig. »Wenn ich rauskomme, ist er nicht mehr<br />
da«, denkt sie und hat plötzlich Angst, daß er genauso<br />
schnell wieder wegsein könnte, wie er zurückgekommen<br />
ist. Nach anderthalb Jahren ein Anruf, seine<br />
verrauchte Stimme, das Inhalieren und langsame Ausatmen<br />
durch die Leitung; fast konnte sie den billigen<br />
Tabak riechen, sagte »Ja, morgen.«<br />
Eines Tages stand er einfach so vor dem Seminarraum,<br />
zwei Wochen nach Semesteranfang. Niemand kannte<br />
ihn. Er war groß, bestimmt über eins neunzig, rauchte<br />
Kette und schaute mit zusammengekniffenen Augen in<br />
die Runde. Er hatte einen kahlrasierten Kopf und ein<br />
hartes, fast brutales Gesicht, mit eingefallenen Wangen<br />
und einer großen Nase über dem breiten Mund.<br />
Die erste Woche saß er nur da und beobachtete alles,<br />
sprach mit niemanden und verschwand gleich nach<br />
den Veranstaltungen. Und Ina interessierte sich nicht<br />
für ihn, fand ihn arrogant und war von seinem ständigen<br />
Gequalme irritiert. Bis er eines Tages bei einer<br />
Textbesprechung einen einzigen, durchdachten Satz<br />
sagte, mit dieser Stimme, bei deren Klang Ina zusammenzuckte<br />
und dachte »Ich will.«<br />
Bei ihrer Einzugsparty Anfang Oktober saßen sie<br />
zusammen in einer Zimmerecke, sie fütterte ihn mit<br />
Kartoffelsalat, er rauchte Kette, bis ihm der Tabak<br />
ausgegangen ist und er fragte »Wollen wir laufen?«<br />
Sie gingen los, zur Tankstelle, er in einer dicken Jakke,<br />
sie in einem samtenen Gehrock über dem schwarzen<br />
Kleid; nach ein paar Schritten drehte er sich um,<br />
zog die Jacke aus und legte sie Ina über die Schultern.<br />
Den Rest des Weges sprachen sie nicht, und als sie in<br />
Inas Wohnung zurückkamen wurde sie gleich von ihrem<br />
Freund abgefangen, der sie irgendwelchen Leuten<br />
vorstellen wollte.<br />
Später, irgendwann gegen vier bekam Ina nur noch<br />
mit, daß er mit einer Bekannten ihres Freundes, einer<br />
kleinen Französin, verschwunden ist; kurze Zeit später<br />
lag sie todmüde und betrunken neben ihrem Freund,<br />
die letzten Gäste legten sich im Gästezimmer auf die<br />
Matratzen, jemand rumorte auf dem Klo. Plötzlich<br />
hörte sie lautes Lachen und Gebrüll von der Straße.<br />
Sie ging ans Fenster und sah ihn und die Französin<br />
zwischen den geparkten Autos Fußball mit einem Eistee-Karton<br />
spielen.<br />
Marie oder Sophie, oder wie sie auch immer hieß<br />
lief quietschend hin und her und machte Anstalten, ihn<br />
anzufassen. Ina wurde wütend, fast wäre sie auf die<br />
Straße hinausgerannt, um die beiden zu unterbrechen,<br />
dieser albernen Charlotte den Hals umzudrehen... –<br />
»Wölfchen, kommst du«, schnurrte es vom Bett, und<br />
da gab sie es auf und schlief ein, mit der Hand ihres<br />
Freundes zwischen den Beinen.<br />
Er raucht jetzt Javaanse Jongens, keinen Penny-Markt-<br />
Tabak mehr – aber immer noch krümelt er überall herum,<br />
unter dem Küchentisch liegen lauter kleine braune<br />
Teilchen –, er hat auch neue Schuhe an, nicht mehr<br />
diese ausgelatschten Armeestiefel ohne Schnürsenkel,<br />
die seinen Bewegungen diese verdammte Lässigkeit<br />
gaben. Wenn er lief, lief sie oft einen Schritt hinterher,<br />
um seine Hüften zu beobachten, wie sie den ganzen<br />
Körper wippen und schwingen ließen. Er lief langsam,<br />
entspannt wie ein großer starker Hund, der sich von<br />
niemandem einschüchtern läßt.<br />
»Niemand kannte ihn. Er war groß,<br />
bestimmt über eins neunzig,<br />
rauchte Kette und schaute mit zusammengekniffenen<br />
Augen in die<br />
Runde.«<br />
Sie stehen auf, er hilft Ina in ihren Lammfellmantel,<br />
stets der vollkommene »Gentleman mit dem Gesicht<br />
eines Mörders«, wie sie ihn einmal scherzhaft nannte.<br />
Sie muß grinsen, geht schon vor, schaut unten im<br />
Briefkasten nach, ob jemand geschrieben hat, läßt sich<br />
Zeit. Sie will den Moment des Hinausgehens auf die<br />
Straße hinauszögern, will ihren Körper auf die kommende<br />
Erkenntnis vorbereiten, die irgendwo unter der<br />
Haut jetzt schon da ist – schließlich treten sie auf die<br />
Straße, laufen die ersten Schritte – und wieder ist es,<br />
als gäbe es zwischen ihren Körpern keinen Raum, als<br />
gingen sie als ein Mensch, mit vollkommen aufeinander<br />
abgestimmten Bewegungen, in dieser perfekten<br />
Sicherheit, die Ina weder vor, noch nach ihm jemals<br />
gespürt hat. Sie schaut hoch und sieht, daß er mit geschlossenen<br />
Augen läuft. Sein Gesicht ist entspannt<br />
und ruhig; auf einmal würde sie am liebsten weglaufen,<br />
oder für immer weitergehen. Sie schließt die Augen<br />
und greift nach seiner Hand.<br />
Irgendwann im Herbst meinten Arndt, Ivo, Manuel<br />
und wohl auch Simone, daß es schön wäre, regelmäßig<br />
zusammen zu kochen, an langen Winterabenden<br />
zusammen zu sitzen, Gewagtes wie Huhn mit Mandarinensoße<br />
auszuprobieren und bis in die Morgenstunden<br />
gegen die Kälte anzutrinken. Manchmal kam<br />
Tanja dazu, oder Manuels Freundin Susu, ab und zu<br />
auch Michael. »»<br />
Paulina Schulz<br />
Jg. 1973, polnischdeutsch-tatarischschottischerAbstammung,<br />
lebt in Erfurt,<br />
arbeitet an der Erziehung<br />
ihrer 3-jährigen<br />
Tochter und an ihrem<br />
ersten Erzählband,<br />
zahlreiche Veröffentlichungen<br />
und<br />
Literaturpreise (u.a.<br />
Preisträgerin Eobanus-<br />
Hessus-Schreibwettbewerb<br />
2001)<br />
DIE RAMPENSAU WINTER 03 13
14<br />
Er kam immer. Nach einigen Wochen, in denen<br />
jeden Freitag jemand anderes Einkaufsdienst hatte,<br />
was nicht immer klappen wollte, erklärten sich Ina<br />
und er bereit, es vollständig zu übernehmen – noch<br />
eine schweigende Übereinkunft, noch eine Möglichkeit,<br />
sich unter jedem beliebigen Vorwand noch öfter<br />
zu sehen. Inas Freund war so mit sich selbst und den<br />
Problemen seiner Exfreundinnen beschäftigt, daß er<br />
irgendwann aufhörte zu fragen.<br />
Rückblickend kam es ihr vor, als wären sie den<br />
ganzen Winter lang zusammen gelaufen, als wären sie<br />
ständig in Bewegung, stets im gleichen Schritt: nach<br />
der Uni gingen sie zuerst mittagessen, dann in die Cafeteria<br />
der Hochschule für Grafik, danach in den Park,<br />
wo sie stundenlang Hunde und ihre Besitzer beobach-<br />
»Freitags gingen sie einkaufen, was<br />
immer über zwei Stunden dauerte,<br />
hauptsächlich, weil sie zwischen<br />
den Regalen und Tiefkühltruhen Verstecken<br />
spielten, oder sich mit Salatköpfen<br />
bewarfen.«<br />
teten, oft kam er auf einen Kaffee mit, blieb dann noch,<br />
bis sie ihn schließlich zur Haltestelle brachte. Freitags<br />
gingen sie einkaufen, was immer über zwei Stunden<br />
dauerte, hauptsächlich, weil sie zwischen den Regalen<br />
und Tiefkühltruhen Verstecken spielten, oder sich mit<br />
Salatköpfen bewarfen.<br />
Eines Nachmittags überquerten sie eine große<br />
Straße, Ina erzählte lachend irgendwas und achtete<br />
nicht auf den Verkehr, bis er sie blitzschnell an sich zog<br />
und mit einem Sprung den Bürgersteig erreichte. Dann<br />
nahm er ihre Hand; seitdem war es selbstverständlich,<br />
daß sie sich berührten, daß sie ein Recht auf den anderen<br />
hatten, das über das gewöhnliche Umarmen zur<br />
Begrüßung und zum Abschied hinausging.<br />
Sie sitzen sich in der Moritzbastei gegenüber, Ina<br />
schaut auf ihren Teller, weil sie nicht will, daß er in ihrem<br />
Blick lesen kann, (sie weiß noch, daß er es kann),<br />
sie hört ihn atmen, ruhig und regelmäßig; plötzlich<br />
macht er einen langen Atemzug, als er sich zurücklehnt<br />
– und sie weiß, wie er jetzt aussieht, daß sich<br />
sein Brustkorb langsam hebt, daß er die Luft wie ein<br />
witterndes Tier durch die Nüstern einzieht und sie<br />
dann langsam, sehr langsam wieder durch die Nase<br />
ausatmet, mit geschlossenen Augen. In dem Moment<br />
erinnert sie sich schlagartig an alles und möchte am<br />
liebsten sofort aufstehen und gehen, irgendwohin, wo<br />
man nackt sein kann.<br />
Sie schaut ihm ins Gesicht, er hat die Augen offen,<br />
seine Hände spielen mit der Tabakpackung. »Ich<br />
habe jetzt eine Badewanne«, sagt er und legt den Kopf<br />
schief, um ihre Reaktion zu beobachten, legt den Hals<br />
frei, um sie an noch mehr zu erinnern.<br />
Als sie das erste Mal miteinander schliefen, steckte er<br />
die Nase unter ihre Haare und schnupperte an ihrem<br />
Hals, versteckte sich an ihr, blieb bis zum Schluß an<br />
ihrem Schlüsselbein vergraben; beim nächsten Mal<br />
zwang sie ihn, sie beim Sex anzusehen, und er schaute<br />
ihr in die Augen und schrie, und gleich danach drehte<br />
er Ina auf den Bauch und fickte sie von hinten, stellte<br />
das Gleichgewicht ihres Ausgeliefertseins wieder her.<br />
So war es immer – alles was sie machte, fand eine Antwort,<br />
alles, was sie von ihm wollte, bekam er zurück.<br />
Sie wußten, wie weit sie gehen konnten, sie gingen<br />
nebeneinander, ineinander über, bewegten sich wie<br />
ein Körper.<br />
Einmal kamen sie völlig durchnäßt bei Ina an;<br />
der Regen erwischte sie draußen am Kanal, von wo<br />
sie noch eine Stunde bis Lindenau laufen mußten. Sie<br />
standen unter einem Baum und küßten sich, dabei<br />
rutschten ihre nassen Münder fast unter dem Wasser<br />
weg, sie lachten so darüber, daß sie ineinandergeklammert<br />
umgefallen sind. Sie lagen in dem nassen Gras,<br />
Ina steckte ihre klammen Hände unter seinen Pullover,<br />
den weißen mit den dunkelblauen Streifen, und streichelte<br />
seine Schulterblätter, fühlte dann sein Gesicht<br />
an ihrem Bauch, als er sich im Gras hinkniete und ihre<br />
Jacke öffnete. »Nein, nicht jetzt, laß uns nach Hause<br />
gehen, laß uns völlig im Wasser sein, du sollst in mir<br />
schwimmen.« Und trotzdem, es hätte ihr nichts ausgemacht,<br />
da draußen im Regen mit ihm zu vögeln.<br />
Zu Hause ließ er das Badewasser ein, sie machte<br />
eine Flasche Wein in der Küche auf, als sich der Schlüssel<br />
im Schloß drehte. »Hey Babe, ich bin wieder da«,<br />
rief es und Ina fiel ein, daß ihre Mitbewohnerin heute<br />
schon von ihrem Kurzurlaub im Allgäu zurückkam.<br />
Sie tat, als ob die Flasche Rioja eine Überraschung gewesen<br />
wäre, drückte sie Nadja in die Hand und verschwand<br />
im Bad. Er stand nackt in der Mitte des Badezimmers,<br />
das fahle Licht fiel gegen seinen Körper. Sie<br />
sah, daß er irgendwo im Hängeschränkchen Nadjas<br />
alte Badeente ausgegraben hat, die jetzt auf dem heißen<br />
Wasser vor sich hin dümpelte. »Sie ist da«, flüsterte<br />
Ina. Er nickte und stieg ins Wasser – »Kommst du<br />
bald?« – aber als Ina anderthalb Stunden später alles<br />
über Nadjas neue Männerbekanntschaften erfahren<br />
hat, schlief er schon. Es war früh am Abend; im Zimmer<br />
roch es nach Zigarettenrauch und nassen Sachen,<br />
die auf dem Heizkörper hingen.<br />
Er erzählt von sich, von den anderthalb Jahren, die<br />
er in Berlin verbracht hat. Ina lächelt benommen,<br />
fragt nach, versteht die Hälfte, will ihn endlich küssen.<br />
»Und was hast du als Gärtner gemacht?« »Mir<br />
ein Baumhaus gebaut, und ich habe eine Band gegründet,<br />
hmm«, er nickt, wie um sich selbst zu<br />
bestätigen und grinst, er ist wie immer, er ist nie<br />
weggewesen. »Bist du noch mit deinem Liebsten zusammen?«<br />
»Wen meinst du?« fragt sie und erinnert<br />
sich erst hinterher, wen er wohl meint – den Journalisten,<br />
der mit seinen Exfreundinnen zu Frauenärzten<br />
gegangen ist. »Neinnein«, lacht sie und macht eine<br />
ausholende Geste. Das Teeglas landet auf dem Boden,<br />
die Kellnerin kommt und schaut Ina unverschämt an,<br />
dann erst sieht sie ihn und flötet: »Ist ja überhaupt<br />
nicht schlimm!«<br />
»Pussi«, denkt Ina, steht auf, er zahlt, sie gehen.<br />
»Ich würde dir gerne meine neue Wohnung zeigen«,<br />
sagt er, und: »Hast du heute noch viel vor?«<br />
»Nein, – denkt Ina – »nein, nur dein Gesicht zu<br />
berühren.«<br />
»Ja, – sagt sie – »ist aber nicht so wichtig.«<br />
DIE RAMPENSAU WINTER 03
DIE RAMPENSAU WINTER 03<br />
Innere Werte •<br />
Neulich hat mich mal wieder eine gefragt,<br />
wie das eigentlich bei mir sei. Was? – fragte<br />
ich sie daraufhin. Nun, das mit den Frauen<br />
– antwortete sie. Das sei doch gar nicht so einfach<br />
für mich, in Anbetracht der Tatsache und überhaupt.<br />
Unter den gegebenen Umständen und in der<br />
heutigen Zeit, wo es doch nur allzu oft und allzu<br />
sehr aufs Erscheinungsbild und so gar nicht auf die<br />
inneren Werte ... nun ja, und so weiter. Sie selbst sei<br />
gar nicht und das alles so furchtbar. Leider gerade<br />
in einer glücklichen Beziehung und unter anderen<br />
Umständen. Nun ja, mal nur nicht den Kopf hängen<br />
lassen. Ja, sagte ich, schlimm sei sie schon diese eisige,<br />
kalte Zeit, in der nur noch der schöne Schein und<br />
wie sie sehr richtig bemerkte, nur allzu wenig die inneren<br />
Werte. Ich erzählte vom alltäglichen Leidens-<br />
ICH WÄR` SO GERN DEIN<br />
ROSTBRÄTEL<br />
ein rostbrätel wär` ich so gerne<br />
braungebrannt mit zwiebel drauf<br />
nicht zu durchwachsen, insoferne<br />
genau das richt`ge zum verkauf<br />
käm ein alter mann mit schrammen<br />
hungrig und mit silberblick<br />
zög ich mich erst mal zusammen<br />
und wäre nur noch klein und dick<br />
käm eine, zart wie palisander<br />
die sich mal was gönnt`, ach nett<br />
streckt` ich mich wieder auseinander<br />
und wäre plötzlich groß und fett<br />
doch kämst du, dann würde ich<br />
mir das schönste brötchen suchen<br />
und ich schrie flehentlich:<br />
`holdes weib, ich bin ein kuchen<br />
verwunschen zwar, doch mit geschick<br />
kann vom zauber mich erlösen<br />
wer den rechten überblick<br />
ach bitt, befrei mich von dem bösen`<br />
doch kaufen müßtest du mich nicht<br />
spräng dir von selber in die hand<br />
oder vielleicht gleich ins gesicht<br />
obwohl, das wär` wohl nicht galant<br />
und du würdest mich einpacken<br />
in silberfolie – abwaschbar<br />
mit bändchen dran und roten zacken<br />
ja, das wäre wunderbar<br />
letztlich in die büsche schmeißen<br />
über uns nur nacht und sterne<br />
ganz hefig würd`st du an mir beißen<br />
dein rostbrätel wär` ich so gerne<br />
Von <strong>Alexander</strong> <strong>Platz</strong><br />
druck den sich die »Normalen« (aber was sei schon<br />
normal – fügte ich locker nebenbei hinzu) gar nicht<br />
vorstellen könnten. Sie gefiel mir, und ich machte<br />
genau das, was ich an solchen Stellen immer tue.<br />
Über vierunddreißig wäre ich inzwischen schon, erzählte<br />
ich weiter, ach und ein Kreuz sei das, vierunddreißig<br />
und noch kein einziges Mal, kein einziges<br />
Mal hätte es geklappt. Woraufhin ich aufrichtiges<br />
Beileid erntete. Und daß ich doch allzu gern wüßte,<br />
wie das sei und ich wäre doch auch nur ein Mensch<br />
(ein Mann noch dazu), und jeder Mensch hätte doch<br />
schließlich ein Recht darauf. Ich legte mich ordentlich<br />
ins Zeug, war den Tränen nahe, kurz vor dem<br />
Zusammenbruch, redete von Liebebedürftigkeit und<br />
Verlangen nach Nähe und Zärtlichkeit. Dann gingen<br />
wir zu mir.<br />
MONTAG, 26. AUGUST<br />
kalt und gepreßt<br />
liegt`s zwischen uns.<br />
ich verstecke meine müdigkeit vor dir,<br />
um nicht der nacht zu schenken,<br />
was der tag entreißen wird.<br />
das bißchen, das mir noch bleibt.<br />
ICH SCHLAFE. Sie liegt<br />
im Zimmer<br />
nebenan.<br />
Alles ist still.<br />
Ich träume sie kommt.<br />
Nackt.<br />
Alles ist still –<br />
alles ist wahr.<br />
<strong>Alexander</strong> <strong>Platz</strong><br />
Jg. 1975, erhielt<br />
1999 den Förderpreis<br />
des »Hessisch-ThüringischenLiteraturforums«,<br />
Veröffentlichung:<br />
Gedichtband »Der<br />
Trompetenkäfer in<br />
Feodosija«, Autor div.<br />
Theaterstücke mit<br />
dem kollektiv_nina_<br />
machts (u.a. »Die<br />
Glasoberen« 2002)<br />
TIP!<br />
<strong>Alexander</strong> <strong>Platz</strong><br />
liest gemeinsam mit<br />
Franziska Wilhelm<br />
am 21. Februar im<br />
Café DUCKDICH der<br />
E-Burg.<br />
Diese erste Gedichtsammlung von<br />
<strong>Alexander</strong> <strong>Platz</strong> bietet floristische,<br />
faunische und andere Großtaten<br />
auf dem Gebiet der verstiegenen<br />
Impertinenz.<br />
"Gedichte, die jeder Beschreibung<br />
spotten." (Jessika)<br />
"Einer, der tief in seine Muse geschaut<br />
hat." (René Lieu)<br />
Zu bestellen über: ploschad@gmx.de<br />
15
Simons Geheimnis •<br />
Franziska Wilhelm<br />
geb. 1981 in Erfurt,<br />
Studiert derzeit<br />
Kommunikations- und<br />
Medienwissenschaften<br />
in Leipzig, erhielt<br />
1999, 2000, 2001 und<br />
2002 den Förderpreise<br />
des Hessisch-Thüringischen<br />
Literaturforums,<br />
Gewinnerin des 1.<br />
Brigitte Young Miss<br />
Kreativwettbewerbs in<br />
der Kategorie Kurzgeschichte,<br />
Preisträgerin<br />
Eobanus-Hessus-<br />
Schreibwettbewerb<br />
2002, Veröffentlichungen<br />
in Zeitschriften<br />
und Anthologien<br />
TIP!<br />
Franziska Wilhelm<br />
liest gemeinsam<br />
mit <strong>Alexander</strong> <strong>Platz</strong><br />
am 21. Februar im<br />
Café DUCKDICH der<br />
E-Burg.<br />
Ina Hermann<br />
Jg. 1964, Buchhändlerin<br />
und Antiquarin,<br />
seit 1997 Kursleiterin<br />
Malerei/Grafik an der<br />
Erfurter Malschule,<br />
seit 1997 div. Ausstellungen,<br />
Mitglied<br />
der Künstlergruppe<br />
»CHIFFRE 4«<br />
Ina Hermann: »Unwissenschaftliches<br />
Divisionsmanöver«,<br />
Serie, 3 Linolschnitte,<br />
Blatt 42,8 x 62,5<br />
16<br />
Er roch gelb. Lästig gelb. Nicht, daß er gestunken<br />
hätte, doch sein Geruch schob sich aufdringlich<br />
wie ein dünnes Stück Metalldraht<br />
in meine Nase. Er bemerkte nicht, daß ich ihm nicht<br />
mehr zuhörte. Er sprach laut und die Leute an den<br />
Nachbartischen konnten über seine Witze lachen. Ich<br />
floß auf meinem abwaschbaren Plastikstuhl in mich<br />
zusammen, rutschte von der orangen Sitzfläche auf<br />
das Kopfsteinpflaster und versuchte die Rillen zu füllen.<br />
Nach anderthalb Stunden war mein rechter Fuß<br />
eingeschlafen und meine Ohren fühlten sich taub an.<br />
Er kaute noch immer an seinen Muscheln, die er auf<br />
Französisch hatte bestellen wollen, aber da hatte ihn<br />
die Kellnerin dann nicht mehr verstanden.<br />
»Ich muß jetzt«, sagte ich und da war auch schon<br />
die Straßenbahn.<br />
Als ich vor unserem Haus stand, wurde es endlich<br />
Nacht. Bis dahin war es nur Abend gewesen. Ein sinnloser<br />
Abend. Im Dunkeln fand ich das Schlüsselloch<br />
nicht gleich. Hinter der Tür hörte ich ihn schon. Er hatte<br />
Aida aufgelegt. Ich sog die Musik in mich ein wie<br />
einen Geruch, Simons Geruch.<br />
Das Wohnzimmer war hell erleuchtet und die Fenster<br />
weit geöffnet. »Bin da«, sagte ich zu Simon und<br />
blieb im Türrahmen stehen. »Hallo«, sagte er nur und<br />
nahm einen Schluck Saft. Ich wußte, daß er bei seinen<br />
Freunden fast immer nur Rotwein trank. Er mochte<br />
das tiefe, schwere Rot. Wenn er hier war, trank er<br />
Apfelsaft.<br />
»Diese Wohnung braucht nicht noch mehr Schwere«,<br />
hatte er mir einmal gesagt, als er noch hier wohnte.<br />
Ich fand Simon schon immer zu melodramatisch.<br />
Wenn er früher mit halb offenen Augen auf dem Sofa<br />
saß und seinen Arien lauschte, dann sprang ich vor<br />
ihm auf den Tisch und mimte mit zwei Kissen unterm<br />
Nachthemd, die vollbusige Opern-Walküre. Er ließ sich<br />
dadurch jedoch meistens nicht beirren und blieb solange<br />
regungslos sitzen, bis ich die Geduld verlor und ihn<br />
mit meinen Kissen bewarf. Dann lächelte er, zog mich<br />
vom Tisch und drückte mich aufs Sofa. Man sah ihm<br />
nicht an wie stark er war. Ich hätte wohl kaum eine<br />
Chance gegen ihn gehabt, wenn er in der Kniekehle<br />
nicht so furchtbar kitzelig gewesen wäre.<br />
»Echte Helden dürfen einfach nicht kitzelig sein«,<br />
sagte ich einmal zu Simon, als wir nach einem unserer<br />
Kämpfe völlig außer Atem, nebeneinander<br />
auf der Couch lagen.<br />
»Was kann der Held dafür, wenn ihm das Lindenblatt<br />
auf die Kniekehle fällt?« antwortete er<br />
und wir mußten beide lachen, weil wir uns ausmalten<br />
wie einer in einer Badewanne voll Drachenblut<br />
sitzen muß, damit ihm unbemerkt ein<br />
Lindenblatt in die Kniekehle fallen kann.<br />
Aber das war früher. Jetzt saß Simon hier<br />
auf dem Sofa, wo er immer gesessen hatte und<br />
war zu Besuch da.<br />
»Na, wie war dein Rendez-vous?« fragte er<br />
trocken und führte sein Glas wieder zum Mund.<br />
»Ganz O.K.«, sagte ich, »er sieht wirklich nicht<br />
schlecht aus. Er hat gefragt, ob ich mal mit ihm<br />
ins Kino gehe.« »Und gehste?« »Mal sehen«, sagte<br />
ich und verschwand in meinem Zimmer um<br />
Von Franziska Wilhelm<br />
mir mein Nachthemd anzuziehen, dann ging ich zurück<br />
zu Simon. Ich legte mich zu ihm auf das Sofa,<br />
meinen Kopf neben seinem Schoß, die nackten Beine<br />
lehnte ich nach oben an die Wand. »Du siehst hübscher<br />
aus, wenn du barfuß bist«, hatte er einmal zu<br />
mir gesagt.<br />
Von unten herauf betrachtete ich sein Profil. Er<br />
hatte etwas von einem Vogel, sehr schmale, filigrane<br />
Linien, seine Knochen stießen spitz und gebrechlich<br />
unter seiner Haut hervor und es schien als ob sie kein<br />
Gewicht hätten und schon mit der nächsten Windböe<br />
davonfliegen könnten. Ich stand auf um das Fenster<br />
zu schließen. Plötzlich erinnerte ich mich wieder an<br />
einen Traum, den ich einmal gehabt hatte. Ich sah Simons<br />
Kopf mit zwei Vogelschwingen, vor mir, die aus<br />
seinen Ohren wuchsen. Das war kurz bevor er nach<br />
Zürich gegangen war. Was er an Zürich fand, hatte ich<br />
nie begreifen können. Ich hätte ihn mir in Rom vorstellen<br />
können, in Verona oder Neapel, doch jetzt lebte<br />
er in dieser kalten Stadt in irgendeiner WG mit einem<br />
Mädchen von dem er nichts erzählen wollte.<br />
Er schaute mir in die Augen und ich schaute weg.<br />
»Sie hat bestimmt lockige, lange Haare«, sagte ich und<br />
schaute aus dem Fenster. »Wer?« fragte Simon. »Na das<br />
Mädchen aus deiner WG.« »Ach, sie hat gar nix«, antwortete<br />
er genervt. »Glatze etwa?« fragte ich. Simon<br />
antwortete nicht. Ich wußte, daß ich ihn nicht nach<br />
dem Mädchen aus seiner WG fragen durfte. Ich ärgerte<br />
mich. Wir hatten uns so lange nicht gesehen und jetzt<br />
war er stumm und starrte vor sich hin. Ich ging zurück<br />
zur Couch, setzte mich und zog die Beine an. Simon<br />
wollte noch immer nichts sagen. Vorsichtig fuhr ich<br />
ihm mit meinen Zehenspitzen über seine Knie.<br />
»Noch Apfelsaft?« Er schüttelte den Kopf. »Wieso<br />
bist du heute Abend weggegangen«, fragte er, »du<br />
wußtest doch, daß ich komme«. Ich wußte nicht, was<br />
ich darauf antworten sollte. Schweigend zog ich mir<br />
das Nachthemd über die Knie und legte meinen Kopf<br />
darauf. »Schon gut«, sagte Simon und streichelte mir<br />
meinen Nacken, daß ich Gänsehaut bekam. Aida hatte,<br />
ohne daß wir es bemerkt hatten zu Ende gespielt. In<br />
die Stille hinein wurde die Wohnungstür aufgeschlossen.<br />
Simon zog seine Hand zurück. »Wir sind’s«, hörte<br />
ich und Schlüsselgeklimper. Ich setzte mich gerade hin.<br />
Im Flur legten unsere Eltern ihre Mäntel ab.<br />
DIE RAMPENSAU WINTER 03
Sie hatten sich kurz in ihrer Wohnung umgesehen.<br />
Sie hatten ihr gesagt, sie müsse mit aufs<br />
Revier zu einer Vernehmung kommen. Sie hatten<br />
es mit Nachdruck gesagt, obwohl sie das Gefühl<br />
hatten, daß sie bereits auf sie gewartet hätte.<br />
Sie hatte sie, ohne etwas zu sagen, hereingelassen.<br />
Sie hatte ihre Handtasche gegriffen. Sie hatte gesagt,<br />
es tue ihr leid. Sie war mitgegangen, ohne sich noch<br />
einmal umzuschauen.<br />
Sie hatten ihr einen Stuhl angeboten. Sie hatten ihr<br />
eine Zigarette angeboten.<br />
Sie hatte gesagt, sie rauche nicht. Sie hatte sich gesetzt.<br />
Sie hatte unwillkürlich zu erzählen begonnen.<br />
Sie hatte ihnen gesagt, daß es ihr leid tue, daß sie<br />
ihn geliebt hatte. Sie hatte ihnen erzählt, daß sie es<br />
nicht mehr ertragen konnte, wenn er ihr sagte, daß<br />
das alles doch sinnlos sei mit diesem Körper, der nur<br />
noch dem Schmerz gehorchte, mit dieser Aussicht auf<br />
ein Vegetieren zwischen quälenden Nächten und diesem<br />
Es-wird-schon-irgendwie-Gerede.<br />
Sie erzählte ihnen, wie sie ihn kennenlernte, nachdem<br />
sie mit den Eltern in die Stadt gezogen war, wie<br />
sie kurz darauf zu ihm zog und daß sie sich zum ersten<br />
Mal nicht mehr einsam fühlte, wie zu Hause, wo<br />
alle irgendwie einsam waren und daß das die Eltern<br />
nie verstanden und dann sagte sie, sie kennen ja sicher<br />
diese Geschichten.<br />
Sie erzählte ihnen, wie er sich das Auto kaufte, auf<br />
das er so stolz war, und daß er ein guter Fahrer gewesen<br />
war, daß er ihr das Fahren beigebracht hatte, und<br />
DIE RAMPENSAU WINTER 03 17<br />
•<br />
Von Sid Eisengurrer<br />
daß sie es nie verstand, wie es zu diesem Unfall kam,<br />
wo er doch immer so umsichtig fuhr.<br />
Sie sagten ihr, daß das Gespräch aufgezeichnet werde<br />
und daß sie nicht weiterreden müsse und daß,<br />
wenn sie möchte, sie sich einen Anwalt rufen könne.<br />
Sie hatte gesagt, daß es schon in Ordnung ginge<br />
und dann hatte sie ihnen erzählt, daß sie seitdem oft<br />
unter Kopfschmerzen leide und daß dies aber nichts<br />
dagegen sei, was er durchgemacht hatte. Sie erzählte<br />
ihnen, wie sie ihn nach ihrem Krankenhausaufenthalt<br />
in der Rehaklinik besuchte, wie er ihr damals an einer<br />
Gehhilfe entgegenkam, wie er ihr freudig zurief, daß<br />
das zweite Mal laufen lernen ein Klacks sei und wie<br />
sie ihn nach ein paar Wochen später abholte, wie sie<br />
sich zum ersten Mal wieder liebten und daß seitdem<br />
nichts mehr war wie vorher.<br />
Sie erzählte ihnen, wie ihn nachts plötzlich die<br />
Schmerzen heimsuchten, wie er weinte und schrie<br />
und daß sie nie einen Mann vorher weinen sah und<br />
dann erzählte sie ihnen, daß er sich dieses Zeug besorgte<br />
und daß sie später ihm dieses Zeug besorgte.<br />
Ja, sie wisse, sagte sie, daß sie damit gegen das Gesetz<br />
verstoßen hatte.<br />
Sie sagten ihr, daß das Gespräch aufgezeichnet werde<br />
und daß sie nicht weiter reden müsse und daß,<br />
wenn sie möchte, sie sich einen Anwalt rufen könne.<br />
Sie hatte gesagt, daß es schon in<br />
Ordnung ginge und dann erzählte<br />
sie ihnen, daß sie ihn zu pflegen<br />
begann, wie man jemand pflegt, der<br />
hilflos ist, total hilflos und den man<br />
liebt und daß sich einige Nachbarn<br />
beschwerten, warum er nachts immer<br />
so schreien müsse. Und dann erzählte<br />
sie ihnen, daß er sie bat, ihn in<br />
ein Heim zu geben, er könne es nicht<br />
mehr ertragen, wie er ihr eine Last<br />
ist und wie sie letztendlich nachgab.<br />
Und sie erzählte ihnen, daß es ihr leid<br />
tat, daß er ihr leid tat und daß sie ihm<br />
versprach, ihm weiter dieses Zeug zu<br />
besorgen.<br />
Ja, sie hatte gewußt, sagte sie, daß<br />
dieses Zeug, ihn umbringen würde.<br />
Sie fragten sie, wer ihr die Drogen<br />
verkauft hätte und woher sie<br />
das Geld genommen hätte und daß<br />
sie nicht weiterreden müsse, daß das<br />
Gespräch aufgezeichnet würde und<br />
daß, wenn sie möchte, sie sich einen<br />
Anwalt rufen könne.<br />
Sie sagte, daß das schon in Ordnung<br />
ginge, doch sie sollten verstehen,<br />
daß sie den Namen des Mannes,<br />
der ihr das Zeug verkaufte, nicht sagen<br />
möchte. Das Geld jedenfalls hatte<br />
sie von ihrem Sparbuch genommen,<br />
das Sparbuch, das die Großmutter ihr<br />
vermacht hatte. Und dann erzählte sie<br />
ihnen, wie hilflos sie sich fühlte, als<br />
das Sparbuch aufgebraucht war und<br />
sie kein Geld mehr hatte, ihm dieses<br />
VERNEHMUNG<br />
VERNEHMUNG
Sid Eisengurrer<br />
Jg. 1963, KFZ-Mechaniker,<br />
Holzfäller,<br />
Altenpfleger, Berufsschullehrer,<br />
Theaterstücke:<br />
»Babsi«, »Triskaidekaphobie«,<br />
»Stall<br />
voll Säue«, »Lausige<br />
Zeiten« u.a.<br />
18<br />
Zeug zu besorgen. Und dann erzählte sie ihnen, daß<br />
es ihm immer schlechter ging und daß er bei jedem<br />
Besuch flehte, sie möge ihm doch dieses Zeug besorgen<br />
und sie erzählte ihnen wie sie sich schämte, weil<br />
sie es nicht mehr ertragen konnte.<br />
Und dann erzählte sie ihnen, wie er sich während<br />
eines Besuchs schreiend im Bett aufbäumte und wie<br />
sie seinen Kopf an ihre<br />
»Ja, sie hatte gewußt,<br />
sagte sie, daß dieses Zeug,<br />
ihn umbringen würde.«<br />
Brust drückte und daß<br />
ihr der Atem dabei immer<br />
schneller ging,<br />
weil sie Angst bekam,<br />
ihn zu verlieren, weil<br />
sie seinen Tod herbeisehnte.<br />
Und sie erzählte ihnen, als ihn dann seine<br />
Stimme verließ und er heißer nach Luft rang, als er<br />
seine Schmerzen nicht mehr herausschreien konnte,<br />
daß dann seine Augen, um so flehender, um so fordernder<br />
schrien. Sie konnte es nicht mehr ertragen,<br />
hatte sie gesagt. Sie hatte ihn in diesem Moment verlassen,<br />
aber diese Augen hatten sie verfolgt, sie begegnete<br />
ihnen in den Blicken Vorübergehender, sie<br />
warfen sich von Plakaten und Aushängen auf sie, sie<br />
zwangen sich in ihre Träume, nirgendwo ließen sie<br />
diese Augen allein.<br />
Ja, sagte sie, sie wußte, was sie tat.<br />
Sie hatte ihm noch einmal dieses Zeug verschafft,<br />
erzählte sie ihnen, wie sie es bezahlte, darüber wollte<br />
sie nicht reden, sie hatte es doch für ihn getan, nur für<br />
ihn. Sie erzählte ihnen, daß es ihm dann einige Tage<br />
besser ging und daß er bei ihrem Besuch gestern, sogar<br />
versucht hatte, zu lächeln.<br />
Sie hatte sie dann gefragt, was jetzt mit ihr geschehen<br />
würde. Sie hatte sie gefragt, ob sie denn wieder<br />
nach Hause gehen könne.<br />
Sie hatten ihr gesagt, daß das noch nicht alles ist.<br />
Sie hatten ihr gesagt, daß ihr Freund einen Brief hinterlassen<br />
hat. Sie hatten ihr gesagt, daß er sie in diesem<br />
Brief beschuldigt, in jener Nacht das Auto gefahren<br />
zu haben. Sie hatten ihr gesagt, daß er schrieb, daß<br />
er es auf sich nahm, weil er hoffte, alles würde wie<br />
früher werden, aber er kann es nicht mehr ertragen,<br />
ihr zu verzeihen. Und dann hatten sie sie gefragt, ob<br />
sie etwas dazu sagen möchte, und daß das Gespräch<br />
aufgezeichnet würde und daß, wenn sie möchte, sie<br />
sich einen Anwalt rufen kann.<br />
Sie hatte ihnen gesagt, daß sie ihn geliebt hatte. Sie<br />
hatte den Kopf gesenkt und gefragt, ob sie vielleicht<br />
eine Zigarette haben könnte.<br />
»Auf und davon«<br />
Kinderbuch von Sid Eisengurrer<br />
& Janek el Cäsard<br />
»mit links aufstehn ist die regel,<br />
eigentlich«<br />
Gedichte und Bilder von<br />
Sid Eisengurrer & Janek el Cäsard<br />
Verlag Anna Kram Erfurt 2003<br />
Erhältlich im »Kaffee Hilgenfeld« am Domplatz<br />
oder über sigurd_reisener@web.de<br />
NEU: Erfurts frische Texte!<br />
Anthologie zum Eobanus-Hessus-Schreibwettbewerb<br />
Unter dem Titel »Fantasterei gleich hoch zwei« gibt es endlich die Anthologie des<br />
Erfurter Schreibwettbewerbs der Jahre 2001 und 2002. Die Anthologie enthält die<br />
18 prämierten Texte – exklusiv und in Originallänge!<br />
Mit einem Nachwort von Otto Kruse und Fritz-Wilhelm Neumann.<br />
Die Wettbewerbsausschreibung für 2003 findet ihr auf Seite 5 dieser Ausgabe.<br />
Die Anthologie kann gegen eine Spende von 3,00 EUR über die Buchhandlung<br />
Peterknecht oder direkt über das Studentenzentrum Engelsburg, Allerheiligenstr.<br />
20/21, 99084 Erfurt bezogen werden. Online könnt Ihr sie über hessus@eburg.de<br />
bestellen.<br />
DIE RAMPENSAU WINTER 03
neunter<br />
ich habe den november<br />
satt wie den hunger<br />
im süden. es glimmt<br />
in den verfaulten jahrestagen<br />
noch das alte freudenfeuer.<br />
durchmarschierte jungstiefeltritte<br />
treffen mich noch hart<br />
beim gedenkenspagat, immer<br />
bleibt was am knochen<br />
beim fressen, töten, vergessen.<br />
es lebe der verlorene schnee<br />
mit den namenlosen spuren<br />
der verlierer. schauerkriege<br />
benehmen sich wie abkommandierte<br />
besucher. sie stehen geduldig<br />
in der presse wie geschenke<br />
des sterbens.<br />
es ist viermal herbst im jahr.<br />
ich habe den neunten<br />
hängen lassen wie einen<br />
deserteur. nicht abgerissen<br />
ist vielleicht wie es passiert<br />
nicht mehr. ich nehme mich<br />
nicht mehr mit in die leuchtende<br />
zukunft. ich kann mich nicht<br />
selbst zerfleischen, weiterkleben<br />
wie eine flüchtige notiz.<br />
die hunde werden bissiger,<br />
die mit ihnen gehn, gerissener ...<br />
Auf Stadtrundgang<br />
Die Bettler haben<br />
die Preise erhöht.<br />
Sie knien unter<br />
einer Gewitterfront,<br />
machen ihren Job,<br />
eingeprügelt am<br />
Vormittag<br />
ins Schweigen.<br />
Lebensanzeige<br />
Ich schaffe mich raus, täglich<br />
wie Müll, schleppe mich<br />
in die unbezahlte Freiheit, schnappe<br />
Luft auf und Gerüche, gehe<br />
meine Runde nach dem Hund.<br />
Ich spare mir mein abgeschnürtes<br />
Schreien für die Meute<br />
auf, die heult bestellt vor meiner Tür<br />
wie Sturm. Ich bin<br />
vorübergehend tot.<br />
Faterlant<br />
fatale taube du treibst voll mit vergifteten<br />
weißbrotwürfeln als leiche an die fahne<br />
die im wasser treibt. in aller herren länder<br />
landen landser. gespickt in der presse sind<br />
wir wer unter uns verbrecher<br />
lyrik eins<br />
• von Stefan Schütz<br />
Jg. 1964, Lyriker, lebt in Erfurt<br />
DIE RAMPENSAU WINTER 03 19<br />
Petersberg Erfurt - Foto: Archiv Die Rampensau
lyrik zwei<br />
• von Maik Lippert<br />
20<br />
»... als wären es die Beine einer göttlichen, ganz<br />
in die Kluft meines Brustkastens zutiefst versunkenen<br />
Frau.«<br />
Pablo Neruda, Liturgie meiner Beine<br />
mannschaftsbilder<br />
tauschte ich gegen hefte<br />
über stöchiometrie<br />
diese abgegriffen klassenfotos<br />
zu großer jungens in trikots<br />
aus dem duploriegel<br />
gab ich gern<br />
für das wissen um die wertigkeit der elemente<br />
ich kannte nicht die verhältnisse<br />
von tausch und umtauschsatz<br />
nicht den weg<br />
der westpakete<br />
ich wußte nichts<br />
von der schönheit der welt<br />
männlicher waden<br />
erst heute da ich mit gestrecktem bein<br />
vorm laufenden fernseher liege<br />
weiß ich<br />
nichts geht über<br />
wadenliebe wadenliebe<br />
und männer mit körperbeherrschung<br />
die eiskalt abdrücken können<br />
wenn du ausgestreckt liegst<br />
nichts geht über<br />
wadenliebe<br />
männer<br />
die ihre beine lieben wie in sie<br />
verwachsene frauenkörper<br />
eine zerrung ein muskelfaserriß<br />
und sie lassen sich vereisen<br />
für die restspielzeit<br />
zuhause streichen sie dann<br />
zärtlich am stützverband entlang<br />
liegen vorm fernseher wie du<br />
über die linke wade streichst<br />
und weißt um die aussicht<br />
auf stützstrümpfe<br />
aus beige-braunen nylongewebe<br />
(am rand innen gummiert<br />
außen verziert mit floralen spitzenmuster<br />
wie tischdeckchenränder)<br />
denn nichts geht über<br />
wadenliebe wadenliebe<br />
Jg. 1966, pendelt mit seinem Leben zwischen Kleinfahner (bei Erfurt) und Frankfurt/M.<br />
1986-1991 Ökonomiestudium in Moskau. Seit 1994 kaufmännisch beschäftigt unter<br />
Ausbeutung erworbener Russischkenntnisse. Preis der Zeitschrift »Das Magazin« beim<br />
MDR- Literaturwettbewerb 2000 in Leipzig. Wolfgang-Weyrauch-Förderpreis beim<br />
Lyrik-Wettbewerb »Literarischer März 2001« in Darmstadt. Stipendiat des Klagenfurter<br />
Literaturkurses im Juni/Juli 2001.<br />
SCHICHTARBEIT<br />
gefühllose tiere in der u-bahn<br />
so siehst du sie<br />
im durchzug<br />
wie zur blanken<br />
fahrt<br />
sie haben dieses stück tag<br />
sich längst vom leib<br />
geschnitten<br />
sediment ist schon jetzt<br />
jede stunde<br />
um die augen<br />
rotliegendes<br />
äderung<br />
wie gingko und bärlappgewächs<br />
versteinert<br />
so fühlst du dich<br />
durchstrahlt<br />
tier unter tieren<br />
im halbschlaf<br />
von fossilien<br />
so fahr ins sediment<br />
krepieren gelingt<br />
nicht<br />
WER SPRICHT BEI SCHNEE SCHON<br />
von fraktalen<br />
da steht ein bauzaun<br />
jetzt<br />
so bald die augen aber blinzeln<br />
vor flockensaum<br />
belügst du dich<br />
siehst die alte telefonzelle wieder<br />
sprichst muschelgetuschel<br />
ins leere<br />
liebesgezeter<br />
wie einst an die blechwand gelehnt<br />
da war noch platz<br />
zwischen bordstein und gelben gehäuse<br />
für moos und mäusegerste<br />
so verwahrt vor unkrautex und dioron<br />
zog es nachts die nager dahin<br />
doch nun ziehst du schweigend davon<br />
und in der tasche klingelt leise<br />
dein mobiltelefon<br />
DIE RAMPENSAU WINTER 03
und drei<br />
• von Tobias Sichert<br />
Täglich Brot<br />
Rotz von tausend Zungen<br />
auf kaltem Asphalt:<br />
dampfig und friert;<br />
hungrige Katze leckt<br />
krank,<br />
nährt ihre Jungen<br />
und wird nicht alt.<br />
UND ICH SCHNITT DIE KUPPE JENES<br />
Fingers ab, bis lautlosrot ein<br />
Tropfen<br />
die kalten Blätter benetzt,<br />
das allein durch mich der weichen<br />
Erde<br />
entgegenhetzt; – – –<br />
und in einer warmen Krume<br />
nährt der Tropfenstrom<br />
den Samen einer Mutterblume<br />
Versuch eines<br />
Liebesgedichtes II<br />
Arabische Lichter strahlen schwarz<br />
über den rothellen Lippen der warmen<br />
Mondscheibe;<br />
deren zartes Haar wölkt sich sanft<br />
auf meinem Schoß.<br />
Leise sinken die Lippen, Lieder<br />
verschwimmen in rauschen Tagtränen –<br />
und überall verbrauchte Luft.<br />
Im Mondhimmel tanzt meine Hand<br />
für die schlafenden Lichter<br />
ein Spiel, und ein Finger<br />
streicht heimlich den weißen Mondsand<br />
unvorstellbar rot.<br />
Jg. 1980, studiert Literaturwissenschaft und Erziehungswissenschaft in Erfurt;<br />
schreibt Lyrik und Prosa<br />
DIE RAMPENSAU WINTER 03 21<br />
Petersberg Erfurt - Foto: Archiv Die Rampensau
Bernhard Dittmar<br />
freischaffender<br />
Theaterregisseur,<br />
Erfurt, Gründer des<br />
freien Theaters »Der<br />
Rabe« Erfurt, mehrere<br />
Inszenierungen (u.a.<br />
»Der komische Alte«,<br />
2001)<br />
22<br />
D<br />
VATER, WIE TIEF IST DAS WASSER?<br />
ODER DER MUT DER BÄCKER<br />
AUSZUG • Von Bernhard Dittmar<br />
1 . T e i l<br />
I .<br />
ER MUT DER BÄCKER BESTEHT AUCH NUR<br />
NOCH DARIN: IN DEN TEIG ZU SPUCKEN!<br />
Höre ich mich sagen.<br />
Freund, kannst du dich noch erinnern: Wir arbeiteten<br />
in den Ferien, damals 1965, bei ELMI in Erfurt. Wir<br />
taten es den alten Bäckern nach. Wir spuckten in den<br />
Teig, in die Sahne ohne nachzudenken oder in die sowieso<br />
schon eklige Magarinecreme.<br />
Da hatte unser Mut noch die Kraft der Jugend.<br />
Da bravi, via, ballate!<br />
Sie tanzen.<br />
Die Schläppchen hängen rosa neben der Tür, abgenutzt,<br />
staubig.<br />
Dann schreit sie. Ausgleich zu ihrem stummen Beruf.<br />
Da bravi ...<br />
Und sie schreit laut. Ihr weniges Deitsch geht unter in<br />
slawischen Fäkalien. Es ist eine Chaossprache. Hysterie<br />
liegt darin: Verachtung.<br />
Ich antworte aus Gewohnheit nicht.<br />
Mir fehlt einfach jede Möglichkeit über die Unmöglichkeit<br />
ihres Denkens nachzudenken.<br />
Ich bin der geborene Dulder und meine Duldung wird<br />
als Mißachtung ausgelegt.<br />
Scheißkerl. Mistsau. Versager.<br />
Das ist noch harmlos.<br />
Huppdohle, denke ich, und gehe. Sechste von links.<br />
Gehe. Gehe. Gehe.<br />
Die Tür schlägt hinter mir ins Schloß.<br />
I I .<br />
Wohin?<br />
Wer weiß schon allabendlich eine Antwort auf diese<br />
Frage. Also: keine Antwort.<br />
Irgendwohin, wo es genug Wodka gibt oder Wein, wo<br />
die Flaschen in Reih und Glied aufmarschiert sind, alle<br />
um zu betäuben. Der Lärm, der mir entgegenschlägt,<br />
wird in zwei Stunden mein Lärm sein. Man wird eben<br />
lauter.<br />
Und besoffen krakeelt es sich gut. Alle um mich tun<br />
es.<br />
Die waren schon den ganzen Abend um mich und werden<br />
den Tag um mich sein und morgen und den nächsten<br />
Tag, die Nächte und so fort.<br />
Laßt sie uns verbrennen: Diese Tage.<br />
Die Fingerspuren unserer fettigen Seelen, die Zeitungsdeutschreden,<br />
all diese schrecklichen Gleich =<br />
Gültigkeiten.<br />
Ich sage es jetzt nur hier und nur einmal: Warum<br />
schlagt ihr unsereins nicht tot.<br />
Endlich die Schnauze einschlagen, das fehlte noch,<br />
Amen. Bring ein neues Glas!<br />
Bring‘n neues!<br />
Bring‘neues Glas ...<br />
Man sollte sein Leben auf diesen Satz reduzieren, den<br />
wichtigsten Satz.<br />
Mein Satz! In dem das Vergessen eingeschlossen ist.<br />
I I I .<br />
Krankheit.<br />
Ja, ja, ich kann mich erinnern.<br />
Ja, ja, du warst krank, du lagst im Hotel, das Pfeiffrösche<br />
Drüsenfieber. Du lagst keuchend wie eine asthmatische<br />
alte Matrone in deinem Bett, zwischen den<br />
Federtürmen, deiner unbesiegbaren Festung.<br />
Ich hatte dich gerade erst kennengelernt und habe<br />
deshalb Blumen mitgebracht, sag nicht, daß du dich<br />
nicht gefreut hättest.<br />
Mir fallen deine Worte wieder ein.<br />
Du hast meine Freundlichkeit mit dem Wort CHAR-<br />
ME bedacht. Etwas, ein Begriff, der in unseren kalten<br />
Breiten so unbekannt ist, so erledigt.<br />
Was ist Charme?<br />
Tänzerin?<br />
Sechste von links?<br />
Ich weiß, jetzt hast du es verloren, vertan; seit du<br />
schwanger bist ist dein Zustand diabolisch. Rosmarie's<br />
Baby.<br />
Diese Schwangerschaft und dein biblisches Alter sind<br />
deine eigentliche Krankheit, auch sie ist ansteckend,<br />
vergiftend, tötend. So werde auch ich krank davon.<br />
Und du liegst und liegst in deinem Hotelzimmer. Ein<br />
Meer von Blumen umgibt dich, Orangen pfundweise<br />
und die edlen Goldschnittausgaben. Bücher. Gedichte.<br />
Klassiker.<br />
Die tägliche Romantik deiner anstrengenden Lebenskunst.<br />
Du weißt jedoch nicht alles.<br />
DA GIBT ES NOCH MARIE:<br />
Und die zieht jeden Abend ihr Pariser Kleid aus kleinen<br />
Metallringen über ihren nackten Körper, übersät mit<br />
Sommersprossen, die ihr wahres Gesicht verbergen,<br />
verfängt sich ihr langes rotes Haar in den Stahlösen.<br />
Und mein Schwanz ruht nicht nur den ganzen Abend<br />
in ihrer Hand. Er bewegt sich in ihrer Wahrheit und<br />
ihre Wahrheit ist einfach, ohne Absicht, ist nur Haut<br />
auf Haut und Geschlecht an Geschlecht. Da ist kein<br />
Kranzmysterium. Nicht der blutige Schleier durchtanzter<br />
Nächte im monogamischen Bett.<br />
Es ist so einfach nicht von deinem Bauch = Mysterium<br />
eingekreist zu werden.<br />
Nur du allein ziehst Vorteile aus deinen satanischen<br />
Mutterfreuden.<br />
DIE RAMPENSAU WINTER 03
DIE RAMPENSAU WINTER 03<br />
I V.<br />
K i n d h e i t .<br />
Ich weiß meine Geburt nicht mehr. Es heißt, wir alle<br />
behalten davon ein Trauma, es verfolgt uns ein Leben<br />
lang.<br />
Außer der absonderlichen embryonalen Einschlafstellung<br />
berührt mich mein uterales Gefängnis nicht mehr.<br />
Auch die mütterlichen Milchbrüste sind mir aus dem<br />
Hirn subtrahiert.<br />
Ich versuche sie nicht zu finden, stelle mir keinen befriedigten<br />
Zug, keinen schmatzenden Schluck mehr<br />
vor.<br />
Über so etwas redet man nicht, sagst du.<br />
Ich sehe, in Träumen, sehr früh ein Haus am Rande<br />
der Stadt. Dieses Haus ist gefüllt mit Menschen. Sie<br />
stehen dicht an dicht. Sie wachsen übereinander her.<br />
Die Hände verlieren sich in fremden Hosen und unter<br />
fremden Röcken.<br />
Großeltern. Tanten. Onkels. Kusinen. Das frische<br />
Fleisch.<br />
Eine Artistin.<br />
Zigeuner.<br />
Und da sind noch zwei kleine Mädchen, der erste erotische<br />
Genuß.<br />
Hinterm Haus - da war ein Holzschuppen in dem sich<br />
zwei Dutzend Tauben über unslustig machten.<br />
Ringeltauben.<br />
Felsentauben.<br />
Gurrende Lachsäcke.<br />
Gemeine Turteltauben turtelten über uns hinweg.<br />
Girrvögel. Mädchen die beim Vögeln girren.<br />
Lachtauben.<br />
Turtur risotus Swains.<br />
Isabellenfarbig.<br />
Isabellinisches Lachen.<br />
L a c h e n :<br />
Risus. Lautes, stoßweises Ausatmen mit Zusammenziehung<br />
gewisser Gesichtsmuskeln<br />
(Lachmuskeln), die die Mundwinkel nach außen ziehen,<br />
auch krank = haft (Lach = Krampf) bei sogenannten<br />
Hysterischen.<br />
Meine Mutter wurde hysterisch als sie uns das erste<br />
Mal in der Gemeinschaftstoilette des Hauses beim Vorzeigen<br />
erwischte. Da durfte ich nicht mehr mit Elvi<br />
spielen, sie nicht mehr ansehen, auch im vorübergehen<br />
nicht, geschweige denn ihre vom Pissen noch feuchte<br />
Spalte berühren.<br />
V.<br />
Wir trafen uns heimlich.<br />
Da war dieser Holzschuppen, der alles verbergende<br />
Zaun, nachbarliches Grundstück.<br />
Das war unser zu Hause. Der stille Winkel unserer<br />
Freude. Hier konnte uns keines der Vätermonster<br />
treffen. Hier war Ausland. Der Zaun, die Demarkationslinie.<br />
Die Mütterdrachen verbannen.<br />
Bambino, der Zigeunerjunge, Abenteurer aus Gewohnheit,<br />
will sich nicht verstecken. Der hat ja Angst. O die<br />
Angst vor dem alten, lahmen Madjore.<br />
Bambino prustet los, läßt seine Hose runter und zeigt<br />
uns seinen kleinen festen braunen Arsch.<br />
Ihr könnt mich mal, da waren die Zungen der Mädchen<br />
schnell dabei.<br />
Wir spielen Verstecken, oder VATER WIE TIEF IST DAS<br />
WASSER. Solche Spiele auch. So viele Spiele.<br />
(...)<br />
Wieder eine<br />
Nacht<br />
•<br />
(für Tom Waits)<br />
Von Thomas Zimmermann<br />
Es ist fünf Uhr morgens. Betrunken, müde und<br />
traurig irrt Henry durch die Straßen. Die ganze<br />
Stadt schläft. Die meisten sind schon vor<br />
mehreren Stunden ins Bett gegangen. Nur er kann<br />
nicht schlafen, hat die ganze Nacht getrunken. Allein.<br />
Nur der Mond. Keine Frau, die auf ihn wartet, es gibt<br />
nicht eine Frau, von der es sich lohnt zu träumen. Er<br />
ist total einsam, hat endgültig die Schnauze voll. Kein<br />
vernünftiger Job in Aussicht. Nur noch eine halbe Flasche<br />
Whisky, die in seiner Wohnung wartet. 26 Jahre<br />
und eine halbe Flasche Whisky, die ihm bleibt. Er hat<br />
jetzt endgültig die Schnauze voll. Heute Nacht macht<br />
er Schluß. Entschlossen läuft er nach Hause. Er wird<br />
sich in die Küche setzen, den Gasherd aufdrehen und<br />
ein letztes Glas Whisky trinken. Und er wird sich zum<br />
letzten Mal die Musik von Tom Waits anhören.<br />
Zu Hause schenkt er sich ein Glas Whisky ein und<br />
legt die »Raindogs«-Kassette in den Recorder. Der<br />
Mond scheint in sein Zimmer. Er steht am Fenster, das<br />
Glas mit Whisky. Tom Waits singt. Hang down your<br />
head for sorrow ... Die Musik ist zu schön. Er spult<br />
nochmal zurück, hört sich das Lied noch ein paar mal<br />
an, dann die ganze Kassette, trinkt weiter Whisky. Er<br />
fühlt sich wohl. Langsam wird es hell. Die Stadt erwacht.<br />
Die Flasche ist leer. Müde fällt er in sein Bett,<br />
wieder eine Nacht überstanden.<br />
Thomas<br />
Zimmermann<br />
Jg. 1970, Maschinen-<br />
und Anlagenmonteur,<br />
Dipl.-Sozialpädagoge,<br />
verschiedene Jobs,<br />
Gelegenheits-DJ, z.Zt.<br />
Barrista in einem Café;<br />
Roman »Heißer<br />
Sommer«, 2001<br />
Zuschauerpreis beim<br />
Eobanus-Hessus-<br />
Schreibwettbewerb;<br />
moderiert donnerstags<br />
ab Mitternacht<br />
Sendung »Nightswimming«<br />
auf Radio<br />
F.R.E.I.<br />
23
• R E Z E N S I O N E N •<br />
Überall und Erfurt<br />
Ein Buch über unbefugte<br />
Jugendgewalt<br />
Wer einmal einen unfrisierten Blick auf<br />
den Geist, der einst in deutschen Bildungsanstalten<br />
wehte, werfen möchte, dem sei<br />
die Erzählung »Der Vater eines Mörders«<br />
von Alfred Andersch empfohlen. Darin<br />
beschreibt der Erzähler eine Schulstunde<br />
– ach was: eine Folterung – in der er ob<br />
seines mangelnden Eifers in dem so nützlichen<br />
Fach Altgriechisch vom Schulleiter<br />
systematisch psychisch unterm Absatz zertreten<br />
und schließlich von der Schule gefeuert<br />
wird. Ein extremer Fall, zugegeben,<br />
zumal es sich bei besagtem Schulleiter um<br />
den Vater von Heinrich Himmler, einen angesehenen<br />
und geehrten Münchner Oberschulkommandanten<br />
handelte. Allerdings<br />
ist weder die Verwandtschaft zum Reichsführer<br />
SS von Interesse, sondern das Allgemeine,<br />
das in der Szene deutlich zutage<br />
tritt: Der Charakter der Schule als einer<br />
Einrichtung, deren Ziel und Daseinszweck<br />
nicht wirklich die Vermittlung von Wissen<br />
ist, sondern eher die Aufspaltung der heranwachsenden<br />
Gesellschaft in Gewinner<br />
und Verlierer.<br />
Hat sich daran eigentlich was geändert?<br />
Zur Beantwortung dieser Frage sei<br />
auf das Geschrei verwiesen, das kürzlich<br />
von Seiten sogenannter konservativer Bildungspolitiker<br />
anhub, als aus gar nicht<br />
ganz abwegigen Gründen der Vorschlag<br />
gemacht wurde, das »Sitzenbleiben« abzuschaffen.<br />
Wie dem auch sei, Herr Andersch<br />
hat seinen Frust in sozial akzeptierten<br />
Bahnen abreagiert, ist Schriftsteller ge-<br />
24<br />
Freerk Huisken:<br />
»z.B. Erfurt – Was<br />
das bürgerliche<br />
Bildungs- und Einbildungswesen<br />
so<br />
alles anrichtet«<br />
VSA-Verlag Hamburg<br />
2002, 128 S.,<br />
EUR 8,00<br />
worden, und hat aus seinem Erlebnis ein<br />
Buch gemacht.<br />
Nun ist bekannt: In Erfurt gab es einen<br />
Schüler namens Robert S., der hat seine<br />
Demütigung, von der Schule auf die Verliererseite<br />
gestellt worden zu sein, in ganz<br />
und gar nicht sozialkonformer Weise verarbeitet.<br />
Hätte er es wie seine »normalen«<br />
Mitschüler beim Videospiel belassen, nie<br />
hätte die Öffentlichkeit von ihm Notiz genommen.<br />
Doch da er tat, was er tat, scheint<br />
ein Blick auf die Mechanismen, die dazu<br />
führten, dingend geboten. Lag damit nicht<br />
etwas in argen? Schon möglich, denn wenig<br />
hilfreich im Sinne einer vorhaltlosen<br />
Erforschung der Beweggründe war das Anliegen,<br />
die Tat als die eines Irren und Geistesgestörten,<br />
als »unbegreiflich« und nicht<br />
erklärbar hinzustellen – so beispielsweise<br />
der Bundespräsident höchstselbst in seinen<br />
sermonierenden Auslassungen darüber.<br />
Immerhin tauchte am Rande der medial<br />
ausgelebten Hilflosigkeit schon mal der<br />
Gedanke auf, das Schulsystem als solches<br />
könne etwas damit zu tun haben – ohne indessen<br />
konsequent bis zum Schluß gedacht<br />
zu werden. Nahe lagen natürlich auch die<br />
üblichen wohlfeilen Erklärungsmuster,<br />
die flugs in polizeistaatliche Forderungen<br />
nach mehr Zensur und mehr Überwachung<br />
mündeten. Doch hat es wirklich etwas damit<br />
zu tun, daß einer gerne am Computer<br />
Leute umlegt? Klar, die Tat eines Verrückten.<br />
Es muß so sein.<br />
Es muß so sein. Aber ist es so? Mit dieser<br />
Frage beschäftigt sich das Buch »z.B.<br />
Erfurt« von Freerk Huisken. Geht man der<br />
Frage nach, ohne auf die fadenscheinige<br />
und darin den Ereignissen vom 11. September<br />
2001 sehr ähnliche Masche, in der<br />
Erklärung zugleich eine Funken Verständnis<br />
für die Tat aufleuchten zu sehen, abfährt,<br />
so wirbelt schon einiger Staub auf.<br />
Und das wird hier allemal getan. Der Autor<br />
liefert hier eine im besten Sinne radikale,<br />
also an die Wurzeln gehende psychologische<br />
Analyse des Amoklaufs von Erfurt,<br />
die nicht vor der Kritik des bürgerlichen<br />
Bildungssystems halt macht. Robert S., so<br />
lautet das Ergebnis, war keineswegs der<br />
»singuläre« Irre – nein, er war das genaue<br />
und typische Ergebnis eines Schulwesens,<br />
welches das Prinzip der Auslese »schlechter«<br />
von »guten« Schülern, das Prinzip der<br />
Konkurrenz und des Leistungskults bis ins<br />
Mark verinnerlicht hat. So galt als der Gegenstand<br />
der zaghaft geäußerten Kritik am<br />
Schulsystem auch keineswegs die Hervorbringung<br />
von Verlierern an sich, sondern,<br />
daß jenes Schulsystem es nicht geschafft<br />
hat, einen Verlierer am Ausrasten zu hindern,<br />
bzw. das bevorstehende Ausrasten<br />
nicht rechtzeitig erkannt und in sozial akzeptierte<br />
Bahnen gelenkt zu haben.<br />
Ähnlich verhält es sich auch mit der geäußerten<br />
Kritik an Waffenrecht und Killerspielen,<br />
die als Konsequenz nur eine Verschärfung<br />
der staatlichen Sanktionen sehen<br />
will und die tieferen Ursachen außen<br />
vor lässt. »Wo ab sofort der Zugriff auf Waffen<br />
härteren Vorschriften unterliegen soll«,<br />
führt Huisken aus, »da wird gerade nicht<br />
das Interesse, zu ihnen zu greifen, angegriffen,<br />
sondern allein die Ausführung der<br />
geplanten Tat erschwert.« So auch hinsicht-<br />
lich der Ballerspiele: in diesen eine Ursache<br />
zu sehen, sei nicht plausibel, da bei<br />
jemanden, der von deren Inhalten etwas<br />
imitiert, der Entschluß zur Tat vorangegangen<br />
sein muß. Allerdings, so stellt der<br />
Autor heraus, heißt das noch lange nicht,<br />
daß es an Waffenbesitz und Gewaltspielen,<br />
nichts zu diskutieren gäbe – nur als<br />
Erklärungsmuster für das Ausrasten des<br />
Robert S. taugen sie nicht.<br />
Insgesamt stellt das Buch »z.B. Erfurt«<br />
von Freerk Huisken einen wichtigen und<br />
diskussionswürdigen Beitrag dar, eben<br />
weil er gängige Erklärungen aufdeckt und<br />
für das Selbstverständnis deutscher Erziehungsstätten<br />
unbequeme Schlüsse zieht.<br />
So riet die Staatliche Schulberatungsstelle<br />
München in einem (im Anhang wiedergegebenen)<br />
Rundschreiben, mit den Schülern<br />
nicht über die Motive des Täters zu<br />
diskutieren. Ja, warum das wohl?<br />
Peter Raulfs<br />
Rechtsaußen? –<br />
Mittelfeld!<br />
Ein Buch über den ganz<br />
normalen Fußball<br />
Rassismus und Sexismus sind im Fußball<br />
allgegenwärtig. (Man muß nur einmal ins<br />
Steigerwaldstadion gehen oder die Plakate<br />
vom SSV Erfurt-Nord ansehen.) Meist jedoch<br />
beschränkt sich die öffentliche Diskussion<br />
auf das Handeln der Fangruppen<br />
– auf die rassistischen und fremdenfeindlichen<br />
Sprüche, Gesänge und Transparente<br />
in der Stadionkurve und das Auftreten<br />
vor und nach dem Spiel. Die rassistischen<br />
Tendenzen in den Vorständen der Fußballclubs<br />
oder in der medialen Fußball-<br />
Berichterstattung werden dabei meist<br />
ausgeblendet.<br />
Der Sammelband »Tatort Stadion« ist<br />
der Versuch eines Gegenentwurfes. Er<br />
zeigt, wie sich in allen Bereichen des Fußballmilieus<br />
rassistische, antisemitische<br />
und sexistische Tendenzen ausprägen.<br />
Die Autor/innen, fast alle selbst in Fan-<br />
Projekten verschiedener Vereine tätig, tun<br />
dies mit praxisgesättigten Detailkenntnissen<br />
und Erfahrungen über Struktur und<br />
Funktionsweise des Profi- und Amateurfußballs<br />
auf nationaler und internationaler<br />
Ebene.<br />
Der erste Teil des Buches umreißt in<br />
elf Beiträgen Facetten und Varianten von<br />
Rassismus, Antisemitismus und Sexismus<br />
in den verschiedenen Bereichen des Fußballmilieus.<br />
U.a.: Nationalismus und Antisemitismus<br />
bei Länderspielen und im<br />
DIE RAMPENSAU WINTER 03
... und auch noch ausgerechnet Heiligenstadt<br />
DFB, rassistische Tendenzen in der medialen<br />
Berichterstattung, die Diskussion<br />
um die Begrenzung ausländischer Spieler<br />
bei Proficlubs, Stadionbefragung zu Ausländerfeindlichkeit<br />
und Rassismus in Bielefeld,<br />
die rechte Fußballszene in Italien,<br />
Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus<br />
im Amateurfußball, Sexismus im Stadion,<br />
Schwulenfeindlichkeit im Fußballmilieu.<br />
Der zweite Teil beschäftigt sich mit Möglichkeiten<br />
der Gegenbewegung gegen Rassismus<br />
im Fußball. Es werden vier Fan-Initiativen<br />
vorgestellt: das »Bündnis aktiver<br />
Fußballfans« (BAFF), die Schalker Fan-Initiative,<br />
»Roter Stern Leipzig« und die interdisziplinäre<br />
Arbeitsgruppe zur Bekämpfung<br />
rechter Umtriebe im Fußballumfeld.<br />
Das Buch zeigt am Beispiel des Massenphänomens<br />
Fußball, wie weit rassistische<br />
und antisemitische Vorurteile in<br />
der vielbeschworenen ›Mitte der Gesellschaft‹<br />
vorhanden sind und daß man die<br />
Fußballszene durchaus als »Seismografen<br />
für gesellschaftliche Tendenzen« verstehen<br />
kann. Ein interessanter und lesenswerter<br />
Band nicht nur für Fußball-Fans, sondern<br />
auch für alle, die einen kritischen Blick hinter<br />
das »salonfähige Fußballbild der Kommerzindustrie«<br />
werfen wollen.<br />
D. Tanner<br />
DIE RAMPENSAU WINTER 03<br />
Gerd Dembowski/<br />
Jürgen Scheidle<br />
(Hg.): Tatort Stadion.<br />
Rassismus,<br />
Antisemitismus<br />
und Sexismus im<br />
Fußball. Mit einem<br />
Vorwort von Michael<br />
Preez. PapyRossa<br />
Verlag Köln 2002,<br />
216 S., EUR 12,90<br />
Foto: Archiv Die Rampensau<br />
Ächte Fans<br />
• Von Sid Eisengurrer<br />
Die folgende Geschichte ist eine Geschichte, will sagen, daß all das<br />
Geschreibsel Hirngespinst des Autors ist. Falls dennoch jemand Personen<br />
oder Begebenheiten bekannt vorkommen, so würde mich das<br />
zu tiefst erstaunen. Das war nicht gewollt. Ich schwöre, beim Aufstieg<br />
des FC Rot-Weiß Erfurt.<br />
Ich hatte noch einmal geschüttelt und<br />
meine Individualität im Hosenschlitz<br />
verschwinden lassen, als vor mir eine<br />
gänzlich andere Individualität erschien.<br />
Aus circa einem Meter neunzig musterte<br />
mich ein Augenpaar, rot-weiß glänzte das<br />
Weiße, ein Grienen, das einer rohen Thüringer<br />
Bratwurst in Nichts nachstand, warf<br />
sich mir entgegen. Sein überaus wuchtiger<br />
Körper war eingehüllt in ein Allerlei aus<br />
Schärpen und Tüchern, das dem FC Rot-<br />
Weiß Erfurt lobpreiste.<br />
»Un Aldar?« antwortete ich geistesgegenwärtig<br />
auf sein: »Un Aldar?«<br />
Indes war seine Hand, mein rechtes Ohr<br />
streifend, auf meine Schulter gefallen. Ich<br />
fing mich mit einem Schritt zur Seite ab<br />
und drückte die Knie durch. Bezüglich meines<br />
Ohrs hatte er anscheinend Schlimmeres<br />
befürchtet, jedenfalls begann er unverzüglich,<br />
es tatkräftig zu untersuchen. Nach<br />
einigem hin und her gelang es mir, ihn zu<br />
überzeugen, daß es mein Ohr ist. Einsichtig<br />
beklopfte er es noch einmal mit der<br />
flachen Hand. Dabei hatte er seinen Bratwurstmund<br />
an mein Ohr gedrückt. Und<br />
da war es wieder dieses, dieses Geräusch.<br />
Als Dreizehnjähriger krabbelte ich einmal<br />
im Georgi-Dimitroff-Stadion an einem<br />
Lautsprechermast hoch, um besser<br />
sehen zu können. Sie mußten die Anlage<br />
repariert haben. Wie sollte das ein Dreizehnjähriger<br />
ahnen. Als der Stadionsprecher<br />
sich zu Wort meldete, bemühten<br />
sich meine Hände unwillkürlich um Schadensbegrenzung.<br />
Den Aufschlag spürte ich<br />
kaum. Das Dröhnen in meinen Ohren hatte<br />
mein Gehirn mit einer Gänsehaut überzogen,<br />
die meine ganze Konzentration vereinnahmte.<br />
Gleichsam wie in alten Zeiten blieb mir<br />
die Bedeutung der Worte versagt. Im Gegensatz<br />
zu alten Zeiten hatte ich mich jedoch<br />
gefangen. »Häh!« erbat ich mir eine<br />
Wiederholung des Gesagten.<br />
»Aldar!« dröhnte er erneut. Es war auszuhalten.<br />
Es war mir gelungen, einige Zentimeter<br />
Distanz zu annektieren. Ich fühlte<br />
mich im Recht. »Aldar!« fuhr er fort. »Isch<br />
mene nur, isch freu misch immar, wennch<br />
ä ächtn Är-Weh-Ä-Fan seh. Wisste? Nisch<br />
die Wichsar, die nur kommn, wennsn Glub<br />
gut geht. Wisste?« Obwohl sich mein Mund<br />
Grafik: Janek el Cäsard<br />
daraufhin ruckartig öffnete, blieb ich nonverbal.<br />
Ich war gerührt. Dann quirlten die<br />
Zweifel: Wieso wurde gerade ich in den<br />
Adelsstand der echten Rot-Weiß-Fans aufgenommen?<br />
Wie hat er mich erkannt?<br />
Kann man sich schützen?<br />
Neben der Körperfülle und dem rohen<br />
Bratwurstgrienen hatte auch sein Zeigefinger<br />
eine Besonderheit: Er war spitz.<br />
Und trotzdem konnte er, scheinbar mühelos,<br />
sein ganzes Gewicht darauf verlagern,<br />
was er mir eindrucksvoll bewies. Die klitzekleine<br />
Fläche, die er so berührte, eine<br />
Handbreit über meinem Herz, erinnerte<br />
mich noch lange an unsere Begegnung<br />
und an seine Worte: »Das alde Ämmblem<br />
heßt Treue. Ge!«<br />
Nachdem er seinen Zeigefinger wieder<br />
aus meiner Brust gezogen hatte, sang er<br />
den Refrain der offiziellen Hymne unseres<br />
Vereins: »Rot-Weiß! Rot-Weiß! Auch wenn<br />
es dir ma Scheiße gehd. Wir stehn zu dir,<br />
weil`s weida gehd.« Währenddessen hoppelte<br />
er ans Urinal. Der Weg war frei. Ich<br />
war hin und weg.<br />
Vor dem Fan-Haus bzw. vor der Fan-<br />
Baracke beguckte ich zunächst die kleine<br />
Anstecknadel mit dem »alden Ämmblehm«<br />
an meiner Jacke. Diesem Kleinod hatte ich<br />
es also zu verdanken, daß man mich als<br />
25
echten Rot-Weiß-Erfurt-Fan identifizierte.<br />
Daß dies infolge einer Notdurft auf der Toilette<br />
der Fan-Baracke geschah, impliziert<br />
natürlich einen gewissen Interpretationsspielraum.<br />
Doch ich bekenne mich dazu,<br />
Toiletten zu benutzen. Wer die Tatsache<br />
meiner Ehrung auf die Örtlichkeit des Geschehens<br />
reduzieren versucht, ist entweder<br />
Nestbeschmutzer oder eine Gefahr für unser<br />
Trinkwasser.<br />
»Die circa vierhundert Trainer und Spielerberater,<br />
die um unser kleines Grüppchen<br />
Stellung bezogen hatten, verschafften ihren<br />
angestauten Fachkenntnissen gehörig<br />
Ausdruck.«<br />
Doch zurück zum »alden Ämmblem«.<br />
Es hatte mich drei Euro gekostet, sicher<br />
ein bescheidener Preis, um fortan den Titel<br />
»ächtar Fan« zuerkannt zu bekommen.<br />
Und außerdem ist Geld nicht alles, die wesentlichen<br />
Dinge im Leben sind bekanntlich<br />
eh nicht zu finanzieren.<br />
»Prost!« tönte es. Das Krönchen hatte<br />
Bier geholt. Tanner, Tilo Mammut,<br />
Krischan und Janek hatten bereits mit<br />
den Flaschen geklimpert. Was blieb mir<br />
übrig?<br />
»Vor dem Anstoß noch ein Anstoß auf<br />
den Sieg«, kalauerte ich und hielt meine<br />
Flasche den anderen entgegen.<br />
»Unser Dichter ist nicht ganz dicht oder<br />
total dicht«, erwiderte Janek. Zustimmendes<br />
Gelächter. Verlassenheitsgefühle. Aber<br />
der Mensch kann vieles verwinden, wenn<br />
er nicht länger darüber nachdenkt.<br />
»Auf! Wir müssen!« ermahnte ich die<br />
Freunde und fand sogleich wieder Anerkennung.<br />
Wir hatten uns ein »Erfordia« auf leisen<br />
Lippen links unterhalb der Anzeigetafel<br />
postiert, unsere Fahne gehißt und<br />
bangten den Anstoß entgegen. Die anderen<br />
echten Fans hatten sich auf der Tribüne<br />
bzw. rechts neben der Anzeigetafel<br />
zusammengefunden. Mit vielschichtigen<br />
Sprechgesängen, zum Teil eingebettet in<br />
ergreifende Melodien, verbreiteten sie eine<br />
überwältigende Siegeszuversicht. Rot und<br />
weiß leuchtete es ringsumher und die Luft<br />
schmeckte nach Testosteron und Nikotin.<br />
Dann war es soweit. Hurra! Dann rollte der<br />
Ball. Fußballerisches Können gepaart mit<br />
schlitzäugigen Dilettantismus und der Ball<br />
wußte, wohin er gehört. Tor! Jabadabadu!<br />
Und das Wunderbare wiederholte sich. Nur<br />
kurze Zeit später wieder Jubel. Wildfremde<br />
Menschen lagen sich mit feuchten Augen<br />
in den Armen. Unfaßbar dieses Glück.<br />
Auch ich hatte die Arme hoch gerißen und<br />
mit mir meine Freunde. Wir sprangen froh-<br />
26<br />
lockend umher. Wir konnten den Himmel<br />
berühren, und ich war nah dran, dem Fußballgott<br />
die Füße zu küssen.<br />
Dann war Halbzeit. Tanner und Krischan<br />
holten Bier. Die Menschen um uns<br />
herum diskutierten die Tabellenkonstellation.<br />
Erfurts Aufstieg in die zweite Etage<br />
des bundesdeutschen Fußballolymps, so<br />
war einhellig zu vernehmen, war greifbar<br />
nah. Das Bier kam. Natürlich gab es nur<br />
alkoholfreies. Gott sei Dank<br />
war das Krönchen dabei, er<br />
schickte eine selbstgedrehte<br />
Zigarette auf den Weg. Der<br />
Stimmung tat‘s gut. Das<br />
Bier schmeckte scheußlich.<br />
Ohne die anregenden fünf<br />
Prozent ist es halt nur ein<br />
magen- und darmblähendes<br />
Gesöff, welches Stumpfsinn<br />
und Trägheit stärkt. Alles<br />
was ein Mann braucht?<br />
Unsere Super-Rot-Weißen hatten allen<br />
Anschein nach in der Pause ebenfalls<br />
ein Becherchen von dem Gebräu genibbelt,<br />
jedenfalls spielten sie plötzlich so. Und<br />
dann geschah das Unglaubliche, der Ball<br />
war im Tor, im Erfurter. Eindeutig Abseits.<br />
Die Choräle der echten Fans verstummten<br />
abrupt. Die circa vierhundert Trainer und<br />
Spielerberater, die um unser kleines Grüppchen<br />
Stellung bezogen hatten, verschafften<br />
ihren angestauten Fachkenntnissen gehörig<br />
Ausdruck. Vor allem jene, die die Last<br />
ihrer Freizeit mit Stolz vor sich herumtrugen,<br />
analysierten gnadenlos die fußballerischen<br />
Defizite unserer Spieler. Zudem<br />
wurde dem gesamten sportlichem Umfeld:<br />
Trainer, Physiotherapeuten, Mannschaftsarzt,<br />
Vorstand, Sponsoren, Ballholern und<br />
und und das Vertrauen entzogen. Und daß<br />
das Flutlicht immer noch nicht funktionier-<br />
te, so der einmündige Konsens, sei symbolisch<br />
für dem unsportlichen Umgang mit<br />
regionalen Belangen durch die politisch<br />
Verantwortlichen, ein Skandal.<br />
Ich hatte die grause Wahrheit heruntergeschluckt.<br />
Der Becher mit dem alkoholfreien<br />
Bier war halb voll, nichts war verloren.<br />
»Auch wenn es dir mal Scheiße geht...«,<br />
summte ich unwillkürlich vor mich her und<br />
ein Ziehen in der Brust weckte Erinnerungen.<br />
Das Bratwurstgrienen klopfte an die<br />
Innenseite meiner Stirn: »Ej, du bist dochn<br />
ächter Fan!« Klar. Das Spiel geht weiter.<br />
Die Freunde schwelgten bereits wieder in<br />
Hoffnung. Echte Fans auch sie, kompromißlose<br />
Optimisten. Ich versuchte meine<br />
Anspannung mittels positivem Denken unter<br />
Kontrolle zu bekommen: Ja, wir führen.<br />
Nein, wir führten. Wieder zappelte die<br />
Murmel im Erfurter Tor. Vorsichtig stellte<br />
ich meinen Becher ab. Der Schieber, bisweilen<br />
auch Schiedsrichter, Referee oder<br />
schwule Sau genannt, muß das doch gesehen<br />
haben, da war doch ein Foul, ein<br />
Handspiel oder eine Abseitsstellung im<br />
Vorfeld. Ich versuchte es ihm, zu erklären.<br />
Akustisch und gestisch ging ich dabei an<br />
meine Grenzen, aber es half nichts, dieser<br />
Sturkopf, dieses ... Ach!<br />
Noch einmal mobilisierte ich all meinen<br />
Glauben an das Gute. Echte Fans lassen<br />
ihren Club nie im Stich. Aber alles hat<br />
Grenzen, argwöhnte es in mir. Ich würde<br />
mich ja für den herrlichen FC Rot-Weiß<br />
schon mal in die Scheiße<br />
setzen. Aber in ein Klärwerk?<br />
Nee! Bei aller Liebe.<br />
Oder anders gesagt, bevor<br />
der Punktspielkontrahent<br />
»An der Lache« heißt, geh<br />
ich Samstagnachmittag lieber<br />
Enten füttern.<br />
Der seelische Beistand<br />
meiner Freunde half mir,<br />
die Zerrissenheit in meinem<br />
Innersten zu verwinden.<br />
Apathisch standen wir<br />
Seit an Seit zwischen griesgrämigen<br />
Sachverständigen<br />
und beteten eine Wende herbei.<br />
Ich hatte zum Himmel<br />
geschaut, doch nicht mal<br />
ein Stollen des Fußballgotts<br />
blinkte. Natürlich weiß ich,<br />
daß der Fußballgott ein<br />
Wessi ist und an der Börse<br />
spekuliert, aber es gibt<br />
so Momente, da klammert<br />
man sich an jeden Strohhalm. Der Fußballgott<br />
saß demnach schon auf einer Bundesligatribüne<br />
und so versuchte ich es mit<br />
Beschwörungsformeln. Ich war nicht allein.<br />
Auch die Freunde bewegten ihre Lippen.<br />
»Abpfeifen! Abpfeifen!« flüsterten wir.<br />
Dann ertönte zwei Pfiffe. Das Spiel war aus.<br />
Ein Punkt gewonnen.<br />
DIE RAMPENSAU WINTER 03
Wieder an der Fanbaracke beglückwünschten<br />
wir uns. Es war ein hartes<br />
Stück Arbeit. Herz, Kreislauf und Hormonausschüttung<br />
hatten Übermenschliches<br />
geleistet, ganz abgesehen von den<br />
psychischen Grenzerfahrungen, die wir<br />
durchlitten. Wir hatten uns daraufhin ein<br />
Bier gegönnt, jeder eins, und huldigten<br />
dem Punktgewinn. Gerade als sich meine<br />
Individualität meldete, fiel mir eine gänzlich<br />
andere Individualität in den Rücken:<br />
»War das nisch ne Scheiße?« Das Bratwurstgrienen<br />
war eingetrocknet.<br />
»Menne vier Spieltache nisch verlorn«, jubelte<br />
Janek. Nachdem auch wir diesem<br />
Aspekt Wohlwollen bekundeten, fuhr der<br />
Bratwurstjammer seinen spitzen Finger<br />
aus. Ich ging ein Schritt zurück. »Die ham<br />
sich das Ding aus der Hand nehm lassn,<br />
die Wichsar.« Meine Gedanken hatten das<br />
Gesagte graphisch rekonstruiert. »Klar«,<br />
bestätigte ich. »Das da der Saft raus war.<br />
Ge?«<br />
Daraufhin hatte er sich zurückgezogen,<br />
ziemlich unwirsch. Zudem hatte er mir den<br />
Titel: »ächter Är-Weh-E-Fan« wieder aberkannt.<br />
Das muß man erst mal verwinden.<br />
So mir nichts dir nichts zum ganz normalen<br />
Stadionbesucher degradiert zu werden.<br />
Und trotz alledem werde ich mir in zwei<br />
Wochen die kleine Anstecknadel wieder an<br />
die Jacke klemmen, frisch poliert. Da kann<br />
kommen, wer will.<br />
Grunz!<br />
Unterstützt<br />
»Die Rampensau« durch<br />
freiwillige Leistungen!<br />
Spende, Mitarbeit,<br />
Weitergeben<br />
die.rampensau@gmx.de<br />
Berufsverbot<br />
• Von Peter Raulfs<br />
Kurz vor Schluß...<br />
Wieder einmal schreien die anständigen Bürger<br />
ihr Ungemach heraus. Der Grund: Tagtäglich werden<br />
Einheimische wie Besucher auf dem Erfurter<br />
Anger von gewissenlosen Skatern und Radfahrern<br />
in Angst und Schrecken versetzt. Die TA versteht<br />
sich als Sprachrohr der Geschundenen und<br />
griff dieses überregional bedeutende Thema auf<br />
(TA vom 14. 01. 03). Und da kann jeder zu Wort<br />
kommen. Die TA druckt es.<br />
Zunächst das übliche Hin- und Hergejammer vom<br />
unreifen Radfahrer und den miesen Straßenverhältnissen.<br />
Doch dann läßt die TA einen gewissen<br />
A. Jünger zu Wort kommen, der sich per E-Mail<br />
meldete. Und dieser nennt diese Radfahrer »Terroristen«.<br />
Und die TA druckt es. Pressefreiheit.<br />
Meinungsfreiheit. Die TA druckt es. Da ist man<br />
sich nicht zu schade. Man ist sich für nichts zu<br />
sch... (S.R.)<br />
DIE RAMPENSAU WINTER 03 27
Beate Kister: »Birken« und »Mond« Aquarellstiftzeichnungen<br />
Jg. 1968, Buchhändlerin in Erfurt, diverse Ausstellungen (Erfurt, Gotha) und Illustrationen (Buchcover, Zeitung)<br />
Janek el Cäsard: »Erfurt« Acryl auf Leinwand<br />
DIE RAMPENSAU WINTER 03