01.12.2012 Aufrufe

Alexander Platz - Andi Leuthe - André Kudernatsch - Andrew ...

Alexander Platz - Andi Leuthe - André Kudernatsch - Andrew ...

Alexander Platz - Andi Leuthe - André Kudernatsch - Andrew ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>Alexander</strong> <strong>Platz</strong> - <strong>Andi</strong> <strong>Leuthe</strong> - <strong>André</strong> <strong>Kudernatsch</strong> - <strong>Andrew</strong> Gledhill - Beate Kister<br />

Bernhard Dittmar - Daniel Tanner - Franziska Wilhelm - Ina Hermann - Janek el<br />

Cäsard - Maik Lippert - Paolo Fusi - Paulina Schulz - Peter Raulfs - Stefan<br />

DIE RAMPENSAU WINTER 03<br />

Schütz - Sid Eisengurrer - Thomas Zimmermann - Tobias Sichert - Ulf Salzmann


2<br />

Comic: Ulf Salzmann<br />

IMPRESSUM:<br />

DIE RAMPENSAU – Literatur, Kunst, Alltag in Erfurt<br />

erscheint vierteljährlich zum Jahreszeitenbeginn,<br />

Auflage: 1.000 Stück, kostenlos,<br />

Herausgeber: Kulturrausch e.V., Brühler Str. 50,<br />

99084 Erfurt, Tel.: 0361 - 2 11 59 66,<br />

E-Mail: die.rampensau@gmx.de<br />

Bankverbindung Kulturrausch e.V.: Deutsche Bank 24,<br />

BLZ: 820 700 24, Konto: 165 430 000<br />

Redaktion: Thomas Putz (V.i.S.d.P.), Sid Eisengurrer,<br />

Peter Raulfs, Janek el Cäsard,<br />

Satz und Layout: Daniel Tanner<br />

Druck: Fehldruck Erfurt<br />

Texte (max. 2 Schreibmaschinenseiten) und Kurzvita<br />

bitte auf Datenträger oder per E-Mail. Bildbeiträge bis<br />

A4-Format können in Originalgröße zugesandt oder gemailt<br />

werden, größere Formate nur verkleinert, als Foto<br />

oder auf Datenträger. Für Manuskripte jeglicher Art<br />

wird keine Haftung übernommen. Alle Rechte bleiben<br />

bei den Autorinnen und Autoren. Die in der Zeitung vertretenen<br />

Meinungen spiegeln nicht unbedingt die Meinung<br />

der Redaktion wider.<br />

A N N A K R A M<br />

Ram|pen|sau, die: (1) manisch-egozentrisch<br />

veranlagte Charaktere, die<br />

nichts unversucht lassen, ihr klägliches<br />

Talent ihren Mitmenschen auf der Bühne<br />

aufzunötigen; (2) Personen, die den Bühnenauftritt<br />

von Schauspielern, Musikern<br />

und Literaten durch einfältiges Verhalten<br />

und ihnen nicht zustehende Anwesenheit<br />

auf der Bühne sabotieren; (3) Zeitung für<br />

Literatur, Kunst und Alltag in Erfurt<br />

DIE RAMPENSAU WINTER 03


vorneweg<br />

»Wenn's Zeit ist, soll man melken«,<br />

sagten wir uns vor einigen Monaten am<br />

Kneipentisch und gingen die langgehegte<br />

Idee einer Literatur- und Kulturzeitung<br />

für Erfurt an. Ein Name wurde schnell<br />

gefunden, waren doch auf der in Sichtweite<br />

stehenden Bühne ein, zwei sogenannte<br />

»Rampensäue« am Werk. Jetzt ist<br />

die erste Ausgabe da – mit Beiträgen von<br />

19 Leuten aus dieser Stadt.<br />

»Die Rampensau« ist ein Projekt des<br />

Erfurter Kulturrausch e.V., der einigen<br />

durch das alljährlich stattfindende<br />

Bittstädt-Open-Air oder durch die Theaterstücke<br />

der kleinkunstbrigade ANNA<br />

KRAM bekannt sein dürfte. Die Idee der<br />

Zeitung ist eigentlich ganz einfach: Sie<br />

soll Bühne und Spiegel sein. Für Erfurt.<br />

Sie soll Leuten, die schreiben, malen,<br />

fotografieren oder was auch immer tun,<br />

die Möglichkeit geben, ihre Arbeiten zu<br />

veröffentlichen, auf sie hinzuweisen, sie<br />

und sich vorzustellen. Und sie soll den<br />

Alltag und die verschiedenen Diskussionen<br />

in der Stadt widerspiegeln.<br />

Hier also schon mal der ernstgemeinte<br />

Aufruf an Euch: Schreibt, kritzelt, fotografiert<br />

was das Zeug hält und schickt<br />

es uns!<br />

Da sich eine Zeitung – noch dazu eine<br />

kostenlose – finanzieren muß, geht ein<br />

zweiter Aufruf an die vielen Menschen,<br />

Firmen und Organisationen in dieser<br />

Stadt, die gerade gemerkt haben, daß sie<br />

zu viel Geld haben und die ein junges<br />

aufstrebendes Projekt unterstützen<br />

möchten. Denen sei gesagt: Übernehmt<br />

eine Patenschaft für »Die Rampensau«!<br />

Sie ist nicht auf Lebenszeit, sondern nur<br />

für ein Jahr, als Spende für vier Ausga-<br />

ben. Als Gegenleistung gibt’s das Logo<br />

in der Zeitung und für die Spende eine<br />

Quittung.<br />

In dieser Ausgabe, in diesen Kriegszeiten,<br />

in denen alle möglichen Fronten auf allen<br />

möglichen Ebenen eröffnet werden, gibt<br />

es Beiträge zu diversen Kriegsschauplätzen.<br />

Das Titelbild gehört genauso dazu<br />

wie die Texte auf Seite 4 und anderswo.<br />

Im ersten Teil gibt es rückblickende und<br />

vorausschauende Stadt-Beiträge mit<br />

mehr oder weniger aktuellem Bezug (soweit<br />

dies ein Saison-Blatt leisten kann),<br />

später hochkarätige Prosa und Lyrik von<br />

aufstrebenden und schon etablierten<br />

Erfurter Autorinnen und Autoren. Und<br />

am Ende huldigen wir hoffnungsvoll<br />

einem Erfurter Fußballclub.<br />

Die Grafiken und Comics der Ausgabe<br />

kommen – neben Janek el Cäsard – von<br />

Beate Kister, Ina Hermann, Ulf Salzmann<br />

und Peter Raulfs.<br />

Wir wünschen Freude beim Lesen und<br />

hoffen auf Kritik, Anregungen und Beiträge<br />

für die nächste Ausgabe. Auf daß<br />

»Die Rampensau« fett und kräftig werde<br />

und zufrieden grunzen möge.<br />

Unser Titel<br />

Janek el Cäsard:<br />

»Viva la muerte« (Es lebe der Tod)<br />

Acryl auf Leinwand, 1.20 m x 1.20 m<br />

Daniel Tanner<br />

Jg. 1967, Elektromonteur, Dipl. Soz.-Päd., seit<br />

1990 in verschiedenen Bereichen der Behinderten-,<br />

Kinder- und Jugendarbeit tätig, seit 2002<br />

freiberuflich; Ausstellungen in Erfurt, Weimar,<br />

Siegen; Bühnenbilder für die kleinkunstbrigade<br />

ANNA KRAM u.a.<br />

Kontakt: www.andreas-jaeckel.net<br />

Inhalt<br />

4 Kriegskunst vs. Kunstkrieg<br />

<strong>Alexander</strong> <strong>Platz</strong>, <strong>Andrew</strong> Gledhill,<br />

Sid Eisengurrer<br />

5 Schreibwettbewerb, Kino,<br />

Puppentheater<br />

6 Erfurt ist gefährlich<br />

<strong>Andi</strong> <strong>Leuthe</strong><br />

7 <strong>Kudernatsch</strong>s Kautsch<br />

Daniel Tanner<br />

8 Erfurt – die schönste Zeit<br />

meines Lebens<br />

Paolo Fusi<br />

11 Am Arsch die Kinderstube<br />

Peter Raulfs<br />

11 Mein Heizkörper erzählt<br />

<strong>André</strong> <strong>Kudernatsch</strong><br />

12 Tramspotting<br />

<strong>Andrew</strong> Gledhill<br />

12 El Egoiste<br />

Ulf Salzmann<br />

13 Der Winter<br />

Paulina Schulz<br />

15 Innere Werte<br />

<strong>Alexander</strong> <strong>Platz</strong><br />

16 Simons Geheimnis<br />

Franziska Wilhelm<br />

16 Unwissenschaftliches<br />

Divisionsmanöver<br />

Ina Hermann<br />

17 Vernehmung<br />

Sid Eisengurrer<br />

19 Dreimal Lyrik<br />

Stefan Schütz, Maik Lippert,<br />

Tobias Sichert<br />

22 Vater, wie tief ist das Wasser?<br />

Bernhard Dittmar<br />

23 Wieder eine Nacht<br />

Thomas Zimmermann<br />

24 Buchrezensionen<br />

Peter Raulfs, Daniel Tanner<br />

25 Ächte Fans<br />

Sid Eisengurrer<br />

25 Berufsverbot<br />

Peter Raulfs<br />

DIE RAMPENSAU WINTER 03 3


4<br />

KRIEGSKUNST<br />

VS. KUNSTKRIEG?<br />

Es ist ja leider nicht so, daß die Tatsache, daß Krieg<br />

geführt wird, nun unbedingt etwas Neues darstellt.<br />

Kriege werden seit Jahrtausenden geführt. Somit<br />

auch in den letzten Jahren. Und auch das hat sich<br />

seit Jahrtausenden nicht verändert: Es geht dabei<br />

zuvorderst um Macht bzw. ökonomische Interessen.<br />

Ganz gleich ob dieser Krieg nun im Namen der<br />

Kirche, des Vaterlandes, der Freiheit oder der Menschrechte<br />

geführt wird. Wobei der Krieg im Namen<br />

von Freiheit und Menschenrechten sicherlich kaum<br />

an Heuchelei und Zynismus zu überbieten ist. Ähnlich<br />

dem Vater, der sein Kind regelmäßig halb tot<br />

schlägt und ihm nachher stets erklärt, daß es ihm<br />

später einmal dankbar dafür sein wird. So wurde<br />

und wird auch im Irak Krieg geführt. Seit dem sogenannten<br />

ersten Golfkrieg 1991 beinahe ununterbrochen.<br />

Von den US-Amerikanern, den Briten und<br />

natürlich den Türken. Und auch uns versucht man<br />

seitdem zu erklären, daß wir gefälligst dankbar dafür<br />

zu sein haben. Insofern ist also die gegenwärtig<br />

angesagte, wenngleich ehrliche, Empörung nur<br />

bedingt zu verstehen, gerade so, als ob das nun<br />

der erste Krieg der freiheitlich-demokratischen<br />

Grundordnung wäre.<br />

Was aber ist in diesem Zusammenhang von der<br />

Kunst zu erwarten? Ist überhaupt etwas zu erwarten?<br />

Gibt es eine Möglichkeit, Stellung zu beziehen,<br />

jenseits von Agit-Prop und Erweckungslyrik? Kann,<br />

muß oder darf Kunst politisch sein? Nun, Kunst<br />

ist natürlich in dem Sinne immer politisch, daß sie<br />

nicht im luftleeren Raum passiert bzw. entsteht,<br />

sondern unter ganz konkreten gesellschaftlichen<br />

Bedingungen. Kann, muß bzw. darf das genügen?<br />

Hat nicht der Künstler/die Künstlerin als quasi öffentliche<br />

Person die moralische Pflicht, sich zu äußern?<br />

Diese und andere Fragen sollen in loser Folge<br />

demnächst an dieser Stelle etwas näher beleuchtet<br />

werden. (aplatz)<br />

Foto: Archiv Die Rampensau<br />

Dulce et<br />

decorum est, pro<br />

USA more*<br />

Von <strong>Andrew</strong> Gledhill<br />

Rotes Blut für schwarzes!<br />

Milliarde Fässer,<br />

ein Groschen pro Tropfen,<br />

ein Pfifferling wert.<br />

Unsere nickenden Esel stimmen träg zu,<br />

Singen den Unrefrain.<br />

Olé, olé, olé, oléeeeee<br />

Deutschland, Deutschland<br />

Herr Dax reibt die Hände vor Freude,<br />

Während seine Bomben in der Wüste vor<br />

staubiger Wut platzen,<br />

Sehen nur schwarz.<br />

Wehen nur schwarz.<br />

Der Feind wird verdammt,<br />

wir sind so frei,<br />

Demokratie! der Schrei.<br />

Jetzt trauern wir<br />

vor der Glotze.<br />

Wir tauschen unsere Tränen am Zwiebelmarkt.<br />

Lass uns flennen Hand in Hand,<br />

vor der brennenden Feuerwerksfahne,<br />

Die uns CNN-Freiheit schlendernd verspricht,<br />

Eingeblendet vor den trümmernden Türmen,<br />

Die den räudigen, öligen Reich,<br />

zu dem wir schon längst gehören<br />

Bis zum Todessturz stützten.<br />

Zusammen sind wir von den brennenden<br />

Türmen gefallen,<br />

Zusammen werden wir Phönixe zu den<br />

USAschen verdammt.<br />

Lassen wir zusammen unsere anständigen,<br />

leeren Köpfe nicken,<br />

Während dürstige Blutquellen in der Wüste<br />

brennen.<br />

Lass uns das einzige Lied singen,<br />

zu dem wir den Text noch kennen.<br />

Olé, olé, olé, oléeeeee<br />

Deutschland, Deutschland.<br />

Olé, olé, olé, oléeeeee<br />

Deutschland, Deutschland<br />

* Es ist süß und ehrenvoll, für die USA zu sterben.<br />

Red blood for black.<br />

Billions of barrels,<br />

a dime per drop.<br />

Our nodding donkeys agree in UN unison,<br />

Mr. D. Jones rubs his hands in glee,<br />

as his bombs scatter the sand<br />

in deserts of black damnation.<br />

The foe is damned,<br />

but we are so free.<br />

Democracy, democracy.<br />

Now we grieve together,<br />

on TV.<br />

Let us sell our souls to buy onions,<br />

let us weep together hand-in-hand<br />

before star-spangled-firework banners,<br />

superimposed over crumbling towers,<br />

that propped up the vile and oily empire,<br />

to which we have long belonged,<br />

together we fell, together we are damned.<br />

Let us nod our righteous, empty heads,<br />

as the blood wells burn on desert horizons.<br />

Let us sing the only song we remember the<br />

words to,<br />

In - ger - lernd, In - ger - lernd, In - ger - lernd,<br />

In - ger - lernd, In - ger - lernd, In - ger - ler - end,<br />

In - ger - lernd, In - ger - lernd, In - ger - lernd<br />

In - ger - lernd, In - ger - lernd!<br />

Sieh doch nur, sieh!<br />

Die Nacht hat unsre Träume geschwärzt,<br />

Sonntag ist Alltag ist Kompromiß,<br />

wir büßen mit dem Faustrecht und das beherzt,<br />

und es trifft – dich und mich – das ist gewiß.<br />

Sieh doch nur, sieh!<br />

Es ist Krieg.<br />

Die Umwelt verhungert an unsrer Kultur,<br />

wie sie lähmt diese Wut im Bauch,<br />

ein Atom dreht durch, dreht an der Uhr,<br />

und es trifft – dich und mich – natürlich auch.<br />

Sieh doch nur, sieh!<br />

Es ist Krieg.<br />

Der Fortschritt hat uns den Durchblick gestohlen,<br />

der Schein ist real ist visuell,<br />

heute wird umworben und nicht befohlen,<br />

und es trifft – dich und mich – sicher schnell<br />

Sieh doch nur, sieh!<br />

Es ist Krieg.<br />

Der Holocaust ist Unterhaltungsprogramm,<br />

sie hängen im Sessel und nicht am Pfahl,<br />

die Tobsucht krönt ein Opferlamm,<br />

und es trifft – dich und mich – seicht und brutal<br />

Sieh doch nur, sieh!<br />

Schalt doch ab!<br />

Sid Eisengurrer<br />

DIE RAMPENSAU WINTER 03


Eobanus-Hessus-Schreibwettbewerb<br />

Bereits zum dritten Mal wird der Schreibwettbewerb<br />

ausgeschrieben. Am Wettbewerb<br />

können Bewerberinnen und Bewerber<br />

aus ganz Thüringen teilnehmen, die<br />

zwischen 15 und 35 Jahre alt sind und sich<br />

mit literarischen Projekten beschäftigen.<br />

Es können Texte aller literarischen<br />

Genres eingesandt werden. Der Umfang<br />

für Prosatexte soll fünf Schreibmaschinenseiten<br />

bzw. für Lyrik drei Gedichte<br />

nicht überschreiten. Die Texte sollten in<br />

5-facher Ausführung (ohne Namenskennzeichnung)<br />

eingesandt werden. Den Einsendungen<br />

bitte eine kurze Darstellung<br />

der Lebensdaten anfügen, aus der das Alter<br />

und die bisherigen literarischen Aktivitäten<br />

ersichtlich werden. Einsendeschluß<br />

ist der 14. März 2003.<br />

Die eingegangenen Ergebnisse werden<br />

von einer Jury durchgesehen und bewertet.<br />

Neben dem 1.-3. Preis (á 250,-/200,-/150,-<br />

EUR) wird aus den sechs nachplazierten<br />

Texten am Abend der Preisverleihung vom<br />

Publikum der 4. Preis (150,- EUR) gewählt.<br />

Außerdem wird von der Jury ein Förderpreis<br />

(á 200,-/175,-/150,-/100,-/50,- EUR)<br />

für Schülerinnen und Schüler der Thüringer<br />

Regelschulen und Gymnasien der Klassenstufen<br />

9 bis 12 vergeben, die sich bereits<br />

mit eigenen literarischen Projekten<br />

beschäftigen. Die Texte sind an das jeweilige<br />

staatliche Schulamt einzureichen. Die<br />

E-Burg-Kino mit neuem Programm<br />

Auch im neuen Jahr wird das wöchentlich<br />

jeweils Mittwoch stattfindende Kino in der<br />

E-Burg wieder ein ebenso anregendes wie<br />

kurzweiliges Programm bieten. Dabei wird<br />

die im letzten Jahren begonnene Tradition<br />

weiter gepflegt, monatliche Zyklen zu bestimmten<br />

Themen zu zeigen. Vorzugsweise<br />

zu sehen sind Filme, die sonst eher zum<br />

Repertoire von Programmkinos gehören;<br />

aber auch Klassiker und »Kultfilme« finden<br />

sich darunter.<br />

So startet im Februar die Reihe<br />

»Schwarzes & Skurriles aus Deutschland«.<br />

Zu sehen ist eine Auswahl deutscher Produktionen<br />

der letzten zwei Jahre, die beweisen,<br />

daß schwarzer, schräger und skurriler<br />

Humor auch hierzulande zu finden ist<br />

und nicht allein in Großbritannien. Höhepunkt<br />

der Reihe ist sicherlich »Bang Boom<br />

Bang – Ein todsicheres Ding«: eine originelle<br />

Kleinganoven-Komödie aus Unna,<br />

in der eine Handvoll halbkrimineller Dösköppe<br />

dem Traum vom großen Geld hinterherstolpert.<br />

Der Regisseur Peter Thorwart<br />

bewies vor allem bei der Besetzung<br />

eine glückliche Hand – einfach wunderbar<br />

DIE RAMPENSAU WINTER 03<br />

Preisverleihung findet am 8. Mai 2003 in<br />

der Erfurter Engelsburg statt. Veranstalter<br />

sind Studentenzentrum Engelsburg, Kulturdirektion,<br />

Thüringer Kultusministerium<br />

sowie Universitätsgesellschaft Erfurt. Unterstützt<br />

wird der Wettbewerb durch die<br />

Sparkasse Erfurt.<br />

Einsendungen bitte bis zum 14. 03. 2003 an:<br />

Studentenzentrum Engelsburg<br />

Eobanus-Hessus-Schreibwettbewerb<br />

Allerheiligenstraße 20/21, 99084 Erfurt<br />

oder: hessus@eburg.de<br />

Diether Krebs in seiner letzten Rolle als<br />

fieser Spediteur Kampmann und Martin<br />

Semmelrogge als sein Faktotum Schlucke,<br />

ferner Oliver Korittke als stets bekiffter<br />

Kleinganove Keek.<br />

Weiterhin in dem Zyklus sind zu sehen:<br />

»Ein göttlicher Job«, eine skurrile<br />

Komödie um einen Gott, der einen Amtsnachfolger<br />

sucht; mit viel Situationskomik<br />

und temporeichem Witz, wobei nebenbei<br />

auch so manche Vorstellung von überirdischen<br />

Mächten auf die Schippe genommen<br />

wird. Ferner »Der tote Taucher im Wald«,<br />

ein rabenschwarzer Provinzkrimi, im dem<br />

mysteriöse Todesfälle die Idylle des mecklenburgischen<br />

Kaffs Ganzlin auf den Kopf<br />

stellen. Zu guter Letzt: »Drei Chinesen mit<br />

dem Kontrabaß«, eine ebenso makabere<br />

wie heitere Variante des fast klassisch zu<br />

nennenden Themas »Wie man eine Leiche<br />

entsorgt und welche Schwierigkeiten dabei<br />

auftreten könnten.«<br />

Der März schließlich steht ganz im Zeichen<br />

des dänischen Films, unter anderem<br />

mit »In China essen sie Hunde« und »Italienisch<br />

für Anfänger«.<br />

Guten Morgen!<br />

Vor dem Aufstehen noch<br />

schnell ins Puppentheater<br />

Sonntag morgen um zehn sind die Straßen<br />

der Stadt verschlafen. Einzelne Touristen<br />

schlendern über den Domplatz, ein paar Fahrradfahrer<br />

mit Brötchentüten rattern über das<br />

Pflaster. Die Türen vom Puppentheater Waidspeicher<br />

sind offen. Von drinnen: gedämpftes<br />

Kindergeschrei. Es riecht nach Kaffee. Guten<br />

Morgen! Die Treppe hoch. Frühstück für vier<br />

Euro. Einige Familien sind schon vor uns da.<br />

Doch es schmeckt auch an der Theke.<br />

Zufrieden wieder nach unten und in die<br />

Vorstellung: »Giraffe ist die Größte«. Ausverkauft.<br />

Die Erwachsenen sind wohl in der<br />

Überzahl. Vereinzelte Begrüßungen – »Ach,<br />

du auch hier?« Die Sitzreihen etwas eng, die<br />

Stimmung klasse. Auf der Bühne: die charmant<br />

gespielte und inszenierte Liebesgeschichte<br />

von Krokodil und Giraffe. Die Pointe<br />

ist so schlicht wie genial. Danke. Applaus.<br />

Wieder an der Luft. Noch auf einen Kaffee<br />

ins Hilgenfeld. Es ist um zwölf und man bekommt<br />

nach Jahren plötzlich Appetit auf Roulade<br />

mit Klößen ... (tan)<br />

»Giraffe ist die Größte« Puppentheater<br />

Waidspeicher mit Janine Bohn<br />

Nächste Vorstellungen: Fr. 07. 02., Mo.<br />

10. 02. jeweils 10 Uhr<br />

Nächste Sonntagmorgenvorstellungen: So.<br />

02. 02., 11 Uhr: »Der Wolf und die sieben<br />

jungen Geislein«, So. 09. 02., 11 Uhr »Die<br />

Königin der Farben«<br />

So. 10-11 Uhr Frühstück<br />

Gezeigt wird das Programm im Vortragsraums<br />

des Café DUCKDICH, Allerheiligenstr.<br />

20/21, Beginn ist jeweils um 21 Uhr,<br />

wobei das Café schon ab 20 Uhr geöffnet<br />

ist, aufkommenden Durst vor, während<br />

und nach dem Film zu stillen. (prs)<br />

Film-Reihe: Schwarzes & Skurriles aus<br />

Deutschland<br />

Mi 05.02. »Ein göttlicher Job«<br />

Mi 12.02. »Der tote Taucher im Wald«<br />

Mi 19.02. »Bang Boom Bang«<br />

Mi 26.02. »Drei Chinesen mit dem Kontrabaß«<br />

Film-Reihe: Dänemark<br />

Mi 05.03. »In China essen sie Hunde«<br />

Mi 12.03. »Nightwatch«<br />

Mi 19.03. »Italienisch für Anfänger«<br />

Mi 26.03. »Zusammen«<br />

jeweils 21 Uhr im Café DUCKDICH, Allerheiligenstr.<br />

20/21, geöffnet ab 20 Uhr<br />

5


W<br />

6<br />

• W A R N U N G •<br />

immer! Erfurt ist in Gefahr.<br />

Erfurt selbst ist die Gefahr.<br />

Die Beweise sind gut versteckt<br />

– in einem kleinen unscheinbaren Hexenhäuschen<br />

hinter großen, sehr scheinbaren<br />

Wohnblocks. Dort ist es verborgen: das<br />

Erfurter Aquarium.<br />

Der äußere Eindruck trübt. Hier wird<br />

tatsächlich das große Geheimnis gehütet.<br />

Die Tarnung ist perfekt. Die Hütte mutet<br />

absolut harmlos an – wie ein Fahrradschuppen<br />

oder eine<br />

Unterstelle für die<br />

Häcksler der Nachbarn.<br />

Omas gucken von den<br />

angrenzenden Balkons<br />

und werfen mit Essensresten.<br />

Doch nur Mut &<br />

Zuversicht, und eingetreten!<br />

Das Grauen ist<br />

nicht mehr fern. Bei einer<br />

Frau, die es vor Jahren<br />

in einen Verschlag<br />

mit Fensterchen verschlagen hat, erwirbt<br />

man Eintrittskarten und tritt ein ins geflieste<br />

Reich lauter superlativer Fische.<br />

Denn fachmännisch schief an die Fliesen<br />

geklebte Zettel verraten: Hier sieht man<br />

die kleinsten, die seltensten und die<br />

gefräßigsten Fische der Welt. Gern auch<br />

die räudigsten: schwimmende Gräten. In<br />

einem Kinderplanschbecken in der Mitte<br />

ziehen Haie ihre Bahnen, aber das ist noch<br />

nicht die große Offenbarung der großen<br />

Gefahr. Dafür muß man erst wieder an<br />

der Frau mit dem Kniffel-Heft vorbei, die<br />

nur scheinbar am Kuli knabbert, aber alles<br />

genauestens beobachtet.<br />

Denn an das Aquarium kuschelt sich<br />

noch eine kleine Freifläche, und dort hausen<br />

ganz unfischige Fische. Die Reste, die<br />

Aussätzigen, die Altlasten. Pinseläffchen<br />

Erfurt ist gefährlich<br />

Wenn einer eine Reise tut, dann muß sie nicht nach Erfurt gehen.<br />

<strong>Andi</strong> <strong>Leuthe</strong> mit brisanten Enthüllungen.<br />

und Schildkröten und ... ein Waran. Ein<br />

Waran ist so was wie eine fette Eidechse,<br />

die lieber ein Krokodil wäre und deshalb<br />

auch so groß ist und ein bißchen so aussieht.<br />

Und hier verrät es nun der Zettel des<br />

Fachpersonals: Dieser Waran kommt nicht<br />

von irgendeinem Zoo und einem netten<br />

Stifter aus Afrika. Nein, dieser Waran wurde<br />

in einer Erfurter Baugrube gefunden!<br />

Aha! Deshalb tragen Bauarbeiter Helme<br />

– daß ihnen der Kopf nicht abgebissen wird,<br />

wenn sie Fundamen-<br />

»Omas gucken von den<br />

angrenzenden Balkons und<br />

werfen mit Essensresten.<br />

Doch nur Mut & Zuversicht,<br />

und eingetreten! Das Grauen<br />

ist nicht mehr fern.«<br />

te schachten!!! Wie<br />

viele werden schon<br />

ein Bein auf Arbeit<br />

gelassen haben oder<br />

einen Arm oder »Meine<br />

Hand für mein<br />

Produkt«? Wie viele<br />

Unglücksfälle im<br />

Bau werden in Erfurt<br />

schon verschleiert<br />

worden sein?<br />

Erschüttert taumelt man zurück ins<br />

Aquarium, wieder hinein in die Wärme,<br />

die Brille beschlägt ... und als man wieder<br />

sehen kann, steht man zwischen all<br />

den Fisch-Käfigen direkt vor einem Glas<br />

mit einer Vogelspinne drin. Riesengroß<br />

krabbelt sie einem entgegen und reckt die<br />

Taranteln, um auf den Zettel zu zeigen, der<br />

ihr Gehege beschriftet. Wir lesen: »Diese<br />

Vogelspinne wurde in einem Erfurter Blumenladen<br />

entdeckt.«<br />

Was ist hier los? Wie viele Blumenhändlerinnen<br />

sind schon tot neben ihren<br />

Vasen zusammengebrochen? Wie viele<br />

Muttis und Freundinnen, bei denen im<br />

Frauentagsblumenstrauß eben nicht nur<br />

manche welke Nelke steckte? Was haust<br />

im tiefen Dickicht der Adventskränze?<br />

Echsen in Baugruben, Killerspinnen in<br />

den Blumenläden – wo führt das in Erfurt<br />

noch hin? Was ist das nächste?<br />

Schweine in der Presse, Pilze in der Pizza,<br />

Ratten im Landtag? Seid wachsam, Ihr,<br />

die in Erfurt wohnt, oder Ihr, die diese gefährliche<br />

Stadt bereist. Meidet Baugruben<br />

und Blumenläden, denn es könnten Eure<br />

letzten sein!<br />

Zu Risiken und Nebenwirkungen lest die<br />

nächste »Rampensau« oder flieht mit Eurem<br />

Arzt oder Apotheker!<br />

<strong>Andi</strong> <strong>Leuthe</strong><br />

Kick ass!<br />

Schön und auflockernd sind die Momente,<br />

wenn unfreiwillige Alltagskomik<br />

unerwartet das graue Einerlei des<br />

Tages aufpeppt. Neulich waren es ein<br />

Auto mit der Aufschrift »ASS-Team«,<br />

das an einem abgestandenen Dezembermorgen<br />

Heiterkeit und Frohsinn<br />

herbeizauberte. Was heißt »ASS-<br />

Team«? Athletic Sport Sponsoring,<br />

erfahre ich von der nämlichen Internet-Adresse.<br />

Nun ist natürlich immer<br />

wieder lustig, daß zu Zeiten, da sich<br />

die Zeitgenossen gerne viel auf ihre<br />

anglophone Sprachkompetenz zugute<br />

halten, es sich noch nicht herumgesprochen<br />

hat, daß »Ass« die korrekte<br />

englische Vokabel für »Arsch«<br />

ist. Das Ass-Team – die Arsch-Mannschaft!<br />

Ich habs doch seit den Aufenthalten<br />

in schuleigenen Folterkellern,<br />

auch Turnhallen genannt, immer gewußt:<br />

Sport ist fürn Arsch.<br />

(prs)<br />

DIE RAMPENSAU WINTER 03


<strong>André</strong> <strong>Kudernatsch</strong> (32), Showmaster<br />

(»<strong>Kudernatsch</strong>s Kautsch«)<br />

und Autor (»Suffis Welt«) hatte<br />

sich am 5. Dezember zu seiner Show in<br />

der Erfurter Engelsburg viel vorgenommen:<br />

Er wollte den »größten lebenden<br />

Musiker« küren. Angetreten waren zwei<br />

Großmeister ihres Fachs: »Spreewaldgurke«<br />

und Volksmusik-Mutant Achim Mentzel<br />

und King Roman Pastuschka von den<br />

Erfurter Agit-Poppern »Acoustica«.<br />

Doch was zunächst wie ein netter<br />

vorweihnachtlicher Plausch aussah, entpuppte<br />

sich im Verlauf des Abends als<br />

Farce. Gleich in der ersten Talk-Runde<br />

wurde Roman vom »Showmaster« mit<br />

billigen Witzen und ohne ernsthafte Gesprächsbemühungen<br />

abgefertigt. Ganz<br />

anders bei Achim Mentzel: Hier buckelte<br />

Herr <strong>Kudernatsch</strong>, was das Zeug hielt<br />

und brachte damit den Volksmusikanten<br />

schon in eine leichte optische Überlegenheit.<br />

Roman reagierte prompt und goß<br />

ein Glas Spreewaldgurken über den auf<br />

der Bühne drapierten Kunstweihnachtsbaum<br />

und hatte damit eigentlich schon<br />

gewonnen. Aber <strong>Kudernatsch</strong> blieb hart:<br />

In den darauffolgenden drei Runden, in<br />

denen beide je ein Lied zum besten geben<br />

Konnte nur durch die Gunst des Schowmasters<br />

gewinnen: »Spreewaldgurke« Achim Mentzel<br />

DIE RAMPENSAU WINTER 03<br />

• S K A N D A L •<br />

<strong>Kudernatsch</strong> lügt:<br />

Der »größte lebende Musiker« ist nicht etwa<br />

Achim Mentzel, sondern King Roman von<br />

Acoustica!<br />

mußten, hatte Roman eindeutig die Nase<br />

vorn (mit Unterstützung seiner großartigen<br />

Acoustica-Musiker), doch <strong>Kudernatsch</strong><br />

verteilte Strafpunkt um Strafpunkt<br />

für jeden noch so harmlosen Roman-Witz.<br />

Am Ende blieb der Publikums-Applaus<br />

als einziges objektives Kriterium des<br />

Wettstreits. Und der war ausgeglichen.<br />

Also verteilte Herr <strong>Kudernatsch</strong> weiter<br />

einseitig zotige Witze und Strafpunkte,<br />

so daß er am Ende Achim Mentzel über<br />

eine schier unüberschaubare Punkt-Rechnung<br />

den Vorteil zuschanzte und schnell<br />

den Pokal übergab – noch bevor jemand<br />

im Publikum reagieren konnte. Anschlie-<br />

ßend hatte <strong>Kudernatsch</strong> offenbar noch<br />

seine Claqueure bestellt, die Achim Mentzel<br />

die Autogrammkarten aus der Hand<br />

rissen.<br />

Da uns solche Machenschaften seit der<br />

Blütezeit des BFC Dynamo nicht mehr begegnet<br />

sind, ist für uns selbstverständlich<br />

King Roman der »größte lebende Musiker«<br />

und wir verleihen ihm noch dazu den<br />

neu geschaffenen Ehren-Titel »Rampensau<br />

des Quartals«! Und wer <strong>Kudernatsch</strong><br />

mal Strafpunkte verpassen will, kann<br />

dies tun unter www.klappkautsch.de oder<br />

zur nächsten Kautsch am 13. März in der<br />

Engelsburg. D. Tanner<br />

Hintergangen und ausgetrickst, aber ab heute »größter lebender Musiker« und »Rampensau des<br />

Quartals« in einem: King Roman Pastuschka von Acoustica mit seinem neuen Pokal.<br />

7<br />

Fotos: Jelzin + Harry


Erfurt – die schönste<br />

Zeit meines Lebens<br />

8<br />

•<br />

Von Paolo Fusi<br />

Das Regen erwischte mich und L. in einem kleinen süßen Restaurant<br />

in Bischleben. Von dort aus bis nach Erfurt war es mindestens<br />

eine halbe Stunde Wanderweg. Sie guckte sich mit ihren hellblauen<br />

Katzenaugen unsicher um, dann schnappte sie die Decke von einem<br />

Tisch und rannte aus dem Restaurant hinaus.<br />

I<br />

ch blieb einige Sekunden versteinert,<br />

dann rief mich ihre Stimme fröhlich<br />

aus dem Wald: »Komm, du Trottel!«<br />

Binnen Sekunden waren wir unter der<br />

Decke umarmt und hüpften glücklich unter<br />

dem Gewitter. »Noch eine Frau, die genau<br />

wie Paola aussieht«, dachte ich überschwenglich.<br />

Sie zerrte mich an sich. Wir<br />

blabberten verlegenen Unfug bis in die<br />

Stadt. Dann plötzlich mußte sie sich wieder<br />

zusammenreißen. Dort wohnten ihre<br />

FreundInnen – und also auch jene ihres<br />

Mannes. Der arme Teufel holte sie in einer<br />

Bar ein paar Stunden später. Ich und L. hatten<br />

uns bereits für eine Woche später neu<br />

verabredet. Ihm konnte das Glänzen ihrer<br />

Augen sicher nicht entgangen sein. Glücklich<br />

war er nicht.<br />

Ich lief gut gelaunt bis zum Anger und<br />

nahm wie üblich ein warmes Baguette<br />

mit Gorgonzola im Anger-Meier zu mir,<br />

dann lief ich pfeifend über den Juri-Gagarin-Ring<br />

bis zum Bahnhof und wartete auf<br />

meinen Zug unter dem Balkon, aus dem zuerst<br />

Gagarin und viel später Helmut Kohl<br />

eine neue wunderschöne Zeit für Erfurt<br />

und Ostdeutschland versprochen hatten.<br />

Unter dem Balkon deuteten die versperrte<br />

Gardinen darauf hin, daß die beiden gelogen<br />

hatten. Dort bleibt die Hotelschule,<br />

wo »meine« Christiane auch einen Teil ihrer<br />

Jugend verbracht hatte, für die neue<br />

Welt geschlossen.<br />

Ich nahm meinen Zug nach Leipzig zurück.<br />

Meine Laune verschlechterte sich blitzartig.<br />

Denn Erfurt war bereits in jenem Frühling<br />

1998 die Stadt meiner Träume: die Stadt<br />

der schönsten und neurotischen Frauen,<br />

das Märchenland der ungeahnten Freiheit,<br />

die Stadt der unverkennbar sympathischsten<br />

Musikszene, die Stadt, wo jeder<br />

Stein als Symbol für etwas Grandioses und<br />

gleichzeitig Vergebliches da steht, wo der<br />

»poppige Oberbürgermeister« und ehemaliger<br />

»Easy-Rider-Motorradfahrer« Manfred<br />

Ruge einer der wenigen Christdemokraten<br />

Deutschlands ist, bei dem man/frau sich<br />

nicht ekeln muß, die Hand zu reichen. Erfurt,<br />

vom Krieg unberührtes mittelalterlichen<br />

Juwel, Grafschaft der Liebe und der<br />

Begeisterung ...<br />

In Leipzig wartete auf mich eine unmögliche<br />

feste Unbeziehung mit einem Mädchen<br />

aus dem polnischen Grenzgebiet, das den<br />

Skalp von (fast) allen Männern des Connewitzer<br />

Viertels gesammelt hatte und mit<br />

einem lieben demütigten Computerfreak<br />

tagsüber lebte,<br />

bevor sie sich in<br />

die Nacht herein-<br />

und herumtollte.<br />

Ich verbrachte<br />

hingegen meinen<br />

Tag in der<br />

Deutschen Bücherei<br />

und sammelte<br />

Beweise<br />

für die Tarnung<br />

des Industrievermögens<br />

von<br />

Nazideutschland während und nach dem<br />

Zweiten Weltkrieg. Ich wollte ein Buch<br />

schreiben, scheiterte aber an den Unmenge<br />

der Angaben, in denen ich mich verloren<br />

hatte. Sonst versuchte ich mich in der<br />

lokalen Pogo-Szene einzunisten, fiel aber<br />

ziemlich auf – ich trank kein Bier, trug keine<br />

Rastahaare, lebte nicht von der Sozialhilfe,<br />

konnte nicht sächseln und fand mit<br />

der Zeit Hardcore-Musik langweilig. Meine<br />

Versuche, die öden Text- und Musiklinien<br />

in Heavy-Twist und Schlager-Core unterzuordnen,<br />

stießen nur auf empörte Mißbilligung<br />

bei den ConnewitzerInnen. Nostalgiker<br />

... Die meisten von ihnen empfinden<br />

Humor immer noch als eine gefährliche<br />

Eigenschaft des Kapitalismus.<br />

Carsten und Evi hatten die Lösung. Evi war<br />

die Chefin des Erfurter Stadtjugendringes,<br />

Carsten der Chef von Radio FREI, das gerade<br />

vor dem Sendestart war. Die ganze<br />

Stadt wirkte wie in Aufruhr, die Erfurter<br />

Szene freute sich auf Neues, es sprudelte<br />

vor Möglichkeiten. Im September zog ich<br />

neben das Krankenhaus in der Nordhäuser<br />

Straße ein. Zwei kaputte Zimmer, ein<br />

nie fertiggestelltes Bad, eine Matratze am<br />

Boden vor einem Fenster, in das ein Baum<br />

seine Äste hineingab. 140 Mark pro Monat<br />

warm. Ein Traum. Und binnen Stunden<br />

legten wir los. Wir wollten im Juni 1999<br />

einen Musikfestival organisieren, das kein<br />

Mensch in Thüringen je wieder vergessen<br />

hätte. Das Beste vom Besten: Blumfeld, Tocotronic,<br />

Motorpsycho, Nebula, Unida, The<br />

Earthlings, Sans Secours, Blackmail, The<br />

Bear Quartett, Cäsar und die Spieler ... Als<br />

wir es vorschlugen, schüttelten die städtischen<br />

Vertreter der Politik und der Kultur<br />

ungläubig ihren Kopf. Sie irrten sich. Evi<br />

zeigte sich als die zuverlässigste, zielstrebigste<br />

und effizienteste Person, der ich je<br />

begegnet bin. Sie pflegte ihre Karriere,<br />

half sämtlichen verschrotteten Jugend-<br />

und Sozialarbeitervereinen der Stadt aus<br />

dem Schlamassel, betreute einige Welpen<br />

und einen nervigen und kindischen<br />

Ex-Ehemann und fuhr eine sehr romantische<br />

und abenteuerliche Liebesbeziehung<br />

zu einem Mann, dessen Namen allein ein<br />

Programm ist: der Yeti.<br />

Was Evi bei der Organisation war, wa-<br />

»Erfurt war die Stadt meiner Träume: die Stadt<br />

der schönsten und neurotischen Frauen, das Märchenland<br />

der ungeahnten Freiheit, die Stadt der<br />

unverkennbar sympathischsten Musikszene, die<br />

Stadt, wo jeder Stein als Symbol für etwas Grandioses<br />

und gleichzeitig Vergebliches da steht.«<br />

ren Yeti als Techniker und Carsten als<br />

Führungskraft. Die drei zusammen waren<br />

eine Neutronenbombe, die kurz vor<br />

dem Aufgehen auf einen kleine, bislang<br />

verschlafene Stadt war. Ich wurde zum<br />

Zünder – der Engel des Chaos, wie mich<br />

L. einmal nannte.<br />

L. war nicht froh, das ich hergezogen war.<br />

Schade, denn ich hätte mich allzu gern wieder<br />

in Paola verliebt. Plötzlich wurde es<br />

ihr aber zu eng. Nach einem letzten traurigen<br />

Spaziergang auf einem Hügel hinter<br />

der Universität und einem noch traurigeren<br />

Konzert der Aeronauten in Jena nahm<br />

sie von mir Abschied. Zu spät. Inzwischen<br />

hatte ich mich bereits wie die Pest in ihrer<br />

Doppelkopfrunde eingenistet. Jeder Donnerstag<br />

im Museumskeller. Stulle mit einer<br />

Tasse Soljanka oder mit Käse überbacken,<br />

Kartenspiel bis mindestens um Mitternacht.<br />

Und Tratschen bis zum geht nicht<br />

mehr über so viele Leute, die ich noch nicht<br />

DIE RAMPENSAU WINTER 03


kannte, daß es mir später immer wieder<br />

peinlich wurde, wenn ich jene Personen<br />

plötzlich vorgestellt bekam und ein Kneifen<br />

der Belustigung unterdrücken mußte.<br />

Was Erfurt schön macht: Sie unterlagen<br />

demselben Gefühl, denn sie hatten mindestens<br />

genau so viel Klatsch über mich<br />

gehört, wie ich über sie. Und keiner wurde<br />

je böse. Im schlimmsten Fall ging man<br />

zusammen zum Heartbeat (es laufen rund<br />

um die Uhr kultige und seltene Videoclips<br />

aus den 60ern und 70ern!!!), um was zu<br />

klären und weiteren Tratsch aus Friedenversiegelung<br />

auszutauschen. Binnen drei<br />

Wochen kannte ich jede und jeden in der<br />

Szene. Und jede und jeder kannte mich.<br />

Ein unglaubliches Gefühl: Irgendwo in<br />

eine fast fremde Stadt hinzugehen, und<br />

von Dutzenden Menschen per Namen und<br />

mit einem Komplizen-Lächeln begrüßt zu<br />

werden ...<br />

Ich wollte alles sofort und war ständig<br />

wie berauscht. Evi und Carsten brauchten<br />

mich nicht zu motivieren ... Meine<br />

Rolle: Ich mußte sämtliche Musikanbieter<br />

der Stadt überzeugen, gemeinsam an<br />

einer Strippe zu ziehen. Die Blueser vom<br />

Museumskeller, den Univerein, und dann<br />

die Engelsburg, wo unbekannte Bands zur<br />

Stadtberühmtheit gemacht wurden, und<br />

das Domizil, der Heimat der Punker und<br />

der mythischen Trunkenboldenband DRK<br />

(welche mit einem politischen Spektakel<br />

Namens »Ficken verbindet« herumtourte).<br />

Dazu viele viele andere Clubs, die entweder<br />

in Techno oder Dance oder Pianobar<br />

oder Kabarett oder Folk spezialisiert sind<br />

– denn Erfurt hat eben die schönste Szene,<br />

die ich je gesehen habe. Es ist an jedem<br />

Tag was los. Die lokalen Bands unterstützen<br />

sich gegenseitig. Neid ist sehr selten,<br />

Foto: Archiv Die Rampensau<br />

Arroganz etwas Unbekanntes, am Abend<br />

in der Liederlich-Bar trafen sich nach Mitternacht<br />

Mitglieder von Rock-, Cover- und<br />

Technocombos und trällerten zusammen<br />

mit verfügbarem Klavier, Congas und Gitarre<br />

unvergeßliche Versionen von Stadthits<br />

wie »Vielleicht« von Anger 77, »Schiff<br />

Erde« von Fast Food Cannibals, »Friday<br />

Afternoon« von Burning Flowers. Dabei<br />

stritten wir uns über die Definition der<br />

Erfurter Schule und des Erfurter Sounds.<br />

Oder über Helden wie Steffen Ritter, der<br />

»Die Konzerte, die wir organisierten,<br />

schossen Tausende von Mark in den Sand.<br />

Erfurt hatte noch nie mit europäischer<br />

Untergrundmusik zu tun gehabt.<br />

Die Thüringenhalle war ausverkauft bei<br />

Wolfgang Petry und Jethro Tull ...«<br />

in seiner Schule eine neue geile Band pro<br />

Jahr, zusammengestellt aus Teenies, herausbrachte<br />

– oder Jule, die Sängerin von<br />

Red Nice Leech, die bereits mit 16 von Zuhause<br />

abgehauen und zur Szene-Ikone<br />

avanciert war.<br />

Radio FREI gab der Szene auch eine öffentliche<br />

Stimme außerhalb des Nachtlebens:<br />

unsere tägliche Tratsch- und Musiksendung<br />

»Die böse Banane«. Moderatoren:<br />

ich, eben die Banane, und <strong>André</strong> aus der<br />

Ukraine, »die rauhe Pflaume«. Erfundene<br />

Liebes- und Haßgeschichte, gefälschte<br />

Rockgeschichten, verworrene politische<br />

Aussagen ... und die Musiker kamen<br />

ins Studio, ließen sich feiern und verspotten<br />

und bestätigten allen möglichen Mist,<br />

den wir erfanden. Unter den beliebtesten<br />

Gästen: »Die liebliche Kilsche«, ein Japanel<br />

aus Basselsdolf Schweiz, del sich ständig<br />

empölt übel Helbelt Glönemeyer ausdluckte:<br />

»del Sängel, del lülpst!« Oder King<br />

Roman, der Blutsauger aus Transsilvanien,<br />

der Blut der Reichen »aus politischer Solidarität<br />

mit dem unterdrückten Proletariat<br />

meiner Gasse« abzog und sich für »die<br />

Erhöhung der Alkoholpromille im städtischen<br />

Hahnwasser« aussprach, »um die Betäubung<br />

des Volkes rapider und schmerzlos<br />

durchzuführen.« Oder Atze, der sein Leben<br />

»der Emanzipation des weiblichen Gefühlslebens«<br />

verschworen hatte: »Mein Rezept<br />

ist ganz einfach: Jede Frau soll behaupten,<br />

sie sei mit mir liiert, und sofort ins Bett mit<br />

einem anderen gehen. So ist sie Betrügerin<br />

und kein Opfer des männlichen Charmes.<br />

Die böseste und rücksichtsloseste Täterin<br />

ist immer faszinierender als das liebste Opfer.«<br />

Somit hatte Atze eine Beziehung mit<br />

jeder Frau in der Stadt gehabt und durfte<br />

sich trotzdem als Abstinent bezeichnen, in<br />

ewiger Trauer dem Alkohol und der Musik<br />

verdonnert.<br />

Die Konzerte, die wir organisierten, schossen<br />

Tausende von Mark in den Sand. Erfurt<br />

hatte noch nie mit europäischer Untergrundmusik<br />

zu tun gehabt. Die Thüringenhalle<br />

war ausverkauft bei Wolfgang Petry<br />

und Jethro Tull, die Clubs waren voll bei<br />

ganz unbekannten Bands, die gegen Eintritt<br />

(5 Mark pro Nase) spielten. Doch für<br />

gute Produkte aus der<br />

Indie-Szene fehlte jede<br />

Kultur. Es kam die Szene,<br />

zirka 300 Leute, und<br />

wir gingen jedes Mal baden<br />

– zum Glück vor allem<br />

mit Geld der Stadt.<br />

Und doch bewegte sich<br />

was. Plötzlich lernten<br />

die Ostdeutschen, daß<br />

Erfurt etwas anbot, was<br />

in die neue Bundesländer<br />

sonst selten zu sehen<br />

war. Beim Konzert von Motorpsycho hatten<br />

wir 400 Leute, davon knapp 50 aus Erfurt.<br />

Und dann erfanden wir die Idee der Krimi-<br />

Nacht und der Stadt-Session.<br />

In einer Nacht ließen sich Prominente<br />

aus der Musik- und Politszene der Stadt<br />

vor allen ZuschauerInnen umbringen. Die<br />

Türe wurden verriegelt, die Ermittlungen<br />

liefen auf Hochtour, viele im Publikum<br />

wurden festgenommen und wieder freigelassen.<br />

Erst um 3 Uhr Morgens wurde<br />

der Fall aufgeklärt. Davon sprach man bis<br />

in Halle, Jena und Leipzig enthusiastisch.<br />

Bei der Stadt-Session bekamen wir sämtliche<br />

Bands der Stadt kostenlos zusammen<br />

auf die Bühne. Meine Sternenstunde. Ich<br />

sang »Das Tier«, »Crocodile Rock« und<br />

»Rebel Yell«, spielte mit Profigitarristen<br />

zusammen »Layla« und »I Shot The Sheriff«,<br />

durfte halbnackt Affengeräusche bei<br />

»Kung-Fu Fighting« machen und im Schwulenchor<br />

hinter Jule bei »Waterloo« trällern.<br />

Ich war so glücklich wie nie davor.<br />

Denn dieser Erfurter Rausch nahm mit<br />

sich eine Explosion in meinem Sentimentalleben.<br />

L. hatte seit Stunden Adieu gesagt,<br />

schon rollten neue Würfel auf dem<br />

grünen Tisch meines Alltags. Beim dritten<br />

Wurf kam SIE heraus. Denn Gott weiß immer,<br />

seine Lieblingssöhne mit demselben<br />

Schicksalsschlag zu begünstigen und zu<br />

strafen.<br />

SIE ist die perfekte Neurosenbombe. SIE<br />

bellte wie ein kokainabhängiger Dobermann<br />

bei jenem Detail, das IHR nicht paßte.<br />

Und IHR paßte nie ein einziges Detail<br />

von dem, was ich tat. Man kann nicht sagen,<br />

daß wir uns ständig stritten, denn wir<br />

DIE RAMPENSAU WINTER 03 9


haben uns dazwischen nur für unglaubliche<br />

Zärtlichkeitsstunden (kaum) versöhnt.<br />

Unsere Beziehung war eine Achterbahn,<br />

die die Doppelkopfrunde, die Musikveranstaltungen<br />

und meine Arbeit bei Radio<br />

FREI mit einbezog, denn SIE bekämpfte als<br />

Chefin eines Jugendvereins sämtliche meiner<br />

Initiativen mit der Begründung, daß ich<br />

diktaturmäßige Züge im Kulturleben der<br />

Stadt eingeführt habe. Lustigerweise lebte<br />

SIE neben jenem Restaurant in Bischleben,<br />

wo ich meine Halbromanze mit L. angefangen<br />

hatte. So wurde jener Wanderweg im<br />

Wald ein Bestandteil meines Alltags – oder<br />

besser, meiner Allnacht. Denn meistens lief<br />

ich wütend und frustriert 4 Uhr morgens<br />

von IHREM Haus in die Stadt zurück. Nicht<br />

ohne Gefahr, wie, als ich in einer Nacht<br />

von einem Hund angegriffen, gebissen<br />

und in den Fluß Gera vertrieben wurde,<br />

wobei ich nach einer Stunde der Verhandlung<br />

mit dem überheizten Tier endlich barfuß<br />

nach Hause gehen durfte, denn meine<br />

Schuhe hatten sich im Wasser aufgelöst.<br />

Immerhin hatte ich immer mehr Tratsch<br />

über mich selbst in »Die Böse Banane« zu<br />

erzählen. SIE ist eine der wichtigsten Liebesgeschichten<br />

meines Lebens geblieben.<br />

Doch es klappte nicht, sämtliche äußeren<br />

Umstände verschworen sich dagegen. Das<br />

macht mich heute noch sehr traurig. Daß es<br />

nicht klappte, ist ein entscheidender Grund<br />

gewesen, Erfurt zu verlassen.<br />

10<br />

Meine Eitelkeit wurde geschmiert wie<br />

sonst nie. Ich kam in fast jeden Club der<br />

Stadt umsonst herein, denn ich wurde<br />

selbst zur Szene-Ikone. Die Jugendlichen<br />

erkannten mich auf die Straße und gingen<br />

in die Locations, in denen ich mit meiner<br />

Clique hinging. Für die besten<br />

drei Bands der Stadt ohne Vertrag<br />

(Burning Flowers, Stoned<br />

Fish und Risse – die Eisenacher<br />

Band, welche den Kula-Shaker-<br />

Sound vor Crispian Mills erfand)<br />

organisierte ich ein Konzert mit<br />

Musiklabels. Es war eine einmalige<br />

Nacht, denn sie spielten so<br />

gut wie nie und die ganze Szene kam hin,<br />

um sie dabei hochzupushen. Junge Mädchen<br />

und Buben unterbreiteten mir Angebote<br />

für eine heiße Nacht. KünstlerInnen<br />

aus ganz Deutschland schrieben mir.<br />

Der Sänger einer Weimarer Band brach in<br />

meiner Wohnung ein und hinterließ eine<br />

selbstgebrannte CD mit einer Karte: »Ich<br />

weiß, daß Du so viel zu tun hast. Aber wir<br />

sind besonders. Gib uns eine Chance und<br />

wir werden Dich wieder überraschen wie<br />

heute!« Die Musik war beschissen. Ich rief<br />

sie nie an und genoß mein Machtgefühl.<br />

Ich war plötzlich per du mit jenen Musikern,<br />

die ich vor kurzem aus der Ferne vergöttert<br />

hatte. Ich versuchte sogar Paul Mc-<br />

Cartney zu überzeugen, allein mit einem<br />

Klavier in Erfurt aufzutreten. Er wollte eine<br />

horrende Summe. Im Nachhinein denke<br />

ich, daß wir es hätten machen sollen, denn<br />

er hätte doch auch die Thüringenhalle für<br />

teures Eintrittsgeld ausgefüllt.<br />

Nach sechs Monaten diesen Lebens begann<br />

ich plötzlich mein Wochenende in Leipzig<br />

zu verbringen, um wieder Kraft aufzutanken,<br />

bevor ich mich wieder in die Erfurter<br />

Schwimmhalle wagte. Und verliebte mich<br />

in eine ruhige Frau, die Paola nicht im geringsten<br />

ähnelte. Ich nahm es als ein Zeichen<br />

der Vernunft und der Reifung wahr.<br />

Und plötzlich war Erfurt kein Paradies<br />

mehr. Christiane hatte recht: »Du bist wie<br />

ein Komet. Schön zu sehen, wenn er sich<br />

annähert, verliert er mit dem Vorbeifliegen<br />

nach und nach an Licht und Strahlung<br />

und muß weiter ziehen, um bewundert zu<br />

werden ...« Ich stellte fest, daß ich allmählich<br />

überdreht und unsympathisch wirkte.<br />

Daß ich von der Menge zunehmend ange-<br />

»Ich rief die WoZ an. In einer Nacht im<br />

September 1999 kamen sie wie Diebe<br />

aus Zürich und holten den Inhalt meiner<br />

Wohnung samt mir.«<br />

strengt war und sie von mir. Daß ich die<br />

Hände durch tausende Verpflichtungen gebunden<br />

hatte. Daß sich eine Partei meiner<br />

Gegner aufbaute, die furchterregend zahlreiche<br />

Mitglieder anzog. Sogar im Radio<br />

wollten sie mir meine Stelle wegnehmen.<br />

Ich hatte Nierensteine und war einen Monat<br />

lang wie gelähmt. Ich rief die WoZ an.<br />

In einer Nacht im September 1999 kamen<br />

sie wie Diebe aus Zürich und holten den<br />

Inhalt meiner Wohnung samt mir. Nur Wochen<br />

später merkte die Stadt, daß ich weg<br />

war. Carsten erzählt heute immer noch von<br />

Sitzungen, in denen erstaunte, schockierte<br />

und empörte Personen wissen wollten,<br />

wie zum Teufel es nun weitergehen soll.<br />

Ich war gerade richtig abgesprungen – am<br />

Höhepunkt meines Ruhmes, kurz bevor es<br />

wieder rapid bergab gegangen wäre. Und<br />

ich bereue es schmerzhaft fast jede Nacht,<br />

immer noch heute.<br />

Paolo Fusi<br />

43, Römer, lebte überall auf der Welt, wo<br />

es von Bedeutung war, also in Spanien, in<br />

Holland, in Frankreich, in der Schweiz, in der<br />

Elfenbeinküste und in Erfurt, wo er Gitarre<br />

schrummelte, sich vergeblich verliebte und<br />

Radio machte. Heute wohnt er am Comersee<br />

und ist Wirtschaftsreporter für die Zeitschriften<br />

der Schweizer Gruppe TA-Media und für<br />

die größte Tageszeitung Italiens Il Corriere<br />

Della Sera.<br />

• G E F Ä H R L I C H E O R T E •<br />

Vorsicht: Schwarzer Kanal – Der BdV informiert<br />

Wer öfter mal vom Benediktsplatz<br />

in die Michaelisstraße<br />

einbiegt, der wird die Geschäftsstelle<br />

des »Bundes der Vertriebenen«<br />

(BdV) sicher schon bemerkt haben:<br />

In einem großen Schaufenster wird da<br />

versucht, uns ein diffuses »Heimatgefühl«<br />

für die »deutschen Siedlungsgebiete im<br />

Osten« einzureden und das »Unrecht der<br />

Vertreibung« klarzumachen. Es wimmelt<br />

nur so von alten Schlesienkarten, Wappen<br />

Foto: Archiv Die Rampensau<br />

und allerlei Trachtenschnickschnack. Unter<br />

dem Titel »Meer der Hoffnung und des<br />

Todes« wird uns der Untergang der »Wilhelm<br />

Gustloff« auf einer Schautafel mit<br />

allerlei Material und Spiegel-Titelblättern<br />

nahegebracht.<br />

»Flucht und Vertreibung in die Lehrpläne<br />

der Schulen!« heißt es an anderer Stelle.<br />

Man sieht: Der BdV läßt nichts unversucht,<br />

der nachwachsenden Generation sein revanchistisches<br />

Weltbild einzuverleiben.<br />

In einer Zeit des medialen »Vertriebenen«-Hypes<br />

und der bevorstehenden Eingemeindung<br />

von Polen und Tschechien<br />

in die »europäische Familie« kommt uns<br />

dieser Ort in zentraler Altstadtlage gerade<br />

recht.<br />

Schließlich hätten da ja die einen oder<br />

anderen Großeltern von uns auch noch ein<br />

Häuschen im ehemaligen »Sudeten-Gau«<br />

oder im schönen »Memel-Land« ...<br />

(tan)<br />

DIE RAMPENSAU WINTER 03


Am Arsch die Kinderstube<br />

• Von Peter Raulfs<br />

Sonnabend, morgens um halb elf. Gerade zwei<br />

Tassen leckeren Cuba-Kaffee eingeschlürft und<br />

den Verdauungstrakt zur weiteren Bearbeitung<br />

zweier Croissants beauftragt, liege ich auf dem Teppich,<br />

den Blick auf die Zimmerdecke gerichtet, als wäre<br />

sie dreitausend Meter entfernt wie die Wolken, die das<br />

obere Drittel des Wohnzimmerfensters passieren. Aus<br />

den Löchern meiner Lautsprecherboxen durchtobt die<br />

Stimme von Cristina Llanos meine Behausung und<br />

bringt den Rauminhalt wie mich selbst zum Vibrieren,<br />

Beben, Schweben. Alles ist klasse, alles ist toll.<br />

»Tüüöööütt« unterbricht ein elektronisch erzeugter<br />

Mißton die Andacht. Er kommt von der Türklingel.<br />

Ich gehe hin. Kaum geöffnet, schon bereut – vor<br />

mir steht ein Kerl mit Goldkettchen, in Feinrippunterhemd<br />

und Adidas-Schnellfickerhose. Ich weiß,<br />

das klingt jetzt wie ein Klischee, entspricht aber,<br />

so widerwärtig es ist, vollends der Wahrheit. Der<br />

Typ wohnt über mir, nimmt im Hause Hausmeisteraufgaben<br />

war und sieht tatsächlich so aus wie eben<br />

beschrieben. Und ich weiß auch schon, was sein Anliegen<br />

ist: vorletzte Nacht stand verwerflicherweise<br />

und entgegen seiner sorgsamst aufgehängten, in<br />

Klarsichtfolie eingezogenen Verbotsschilder morgens<br />

um halb vier mein Fahrrad im Hausflur. Ob er<br />

deswegen wohl nicht schlafen konnte, der Ärmste?<br />

Ich bin zu höflich. Zu gut erzogen. Übersozialisiert.<br />

Ein bedauernswertes Übermaß dessen, was landläufig<br />

als »Kinderstube« gilt. Das äußert sich beispielsweise<br />

so, daß ich in Fällen wie diesem glatt noch versuche,<br />

mit solch penetrantem Zeitgenossen zu diskutieren, obwohl<br />

ich längst um die Sinnlosigkeit solcher Versuche<br />

weiß, und anstatt ihm die einzige Antwort zu geben,<br />

die er dafür verdient: »Ey! Fick dich ins Knie, Sackgesicht!«<br />

Oder dem Blockwart ohne einleitende Debatte<br />

einfach was aufs Maul hauen – das wäre der wahre<br />

Jakob. Allein schon, um zu sehen, was dann passiert,<br />

habe ich doch schließlich keinerlei Erfahrung mit solcher<br />

Art der Diskussionseröffnung. Aber gut, was soll<br />

schon passieren – dann kommt halt der Staatsbüttel.<br />

Wenn ich an der Ampel vom Autofahrer angepöbelt<br />

werde, weil ich ihm beim beabsichtigten Gaspedaldurchtreten<br />

im Wege bin, so erkläre ich ihm allen<br />

Ernstes, warum die Benutzung des Radweges nicht<br />

möglich ist, da zugeparkt. Warum mache ich so was,<br />

anstatt ihm einfach kommentarlos eine Beule in die<br />

Tür seines Pöbelwagens zu treten?<br />

Oder eine andere, wohlvertraute Situation: Wo ich<br />

denn herkomme? fragt dieser Troglodyt, der mir ob seines<br />

morgendlichen Bieratems ebenso wenig gefällt die<br />

der mißtrauische Was-willst-du-denn-hier-Ton seiner<br />

Frage, nur weil ich nicht denselben schrägen Dialekt<br />

rede, wie er ortsüblich zu sein scheint. Und was sage<br />

ich blödes Kamel? Die Wahrheit! Das gibt‘s doch wohl<br />

nicht! Bin ich nicht recht bei Trost? Noch zu retten?<br />

Wieso erzähle ich dem Hominiden nicht einfach, ich<br />

sei aus Timbuktu, aus Lappland oder Ulan Bator oder<br />

Zamonien? Wieder die Gelegenheit vergeigt, durch<br />

eine kühne und gewandte Lüge das Toleranzpotential<br />

meiner geschätzten Mitidioten auszutesten und somit<br />

das Leben ein bißchen aufregender zu gestalten. Ich<br />

könnte mich in den Arsch beißen!<br />

So fasse ich denn feierlich den Beschluß: Den Leuten<br />

stets das ihnen angemessene Maß an Unhöflichkeit<br />

zu kommen lassen. Lügen, bis ich es mit Käpt‘n<br />

Blaubär im Duell aufnehmen kann. Und jeden Morgen,<br />

noch vor dem Zähneputzen, eine halbe Stunde<br />

vor dem Badezimmerspiegel das Ausstrecken des Mittelfingers<br />

üben.<br />

Mein Heizkörper erzählt*<br />

• Von <strong>André</strong> <strong>Kudernatsch</strong><br />

Neulich sprach ich mit meinem Heizkörper<br />

über Frauen. Er fing freilich an.<br />

»<strong>André</strong>«, sagte er und winkte ab, »<strong>André</strong>,<br />

hör bloß auf! Die Frauen!«<br />

Ich nickte und schwieg, wollte ich ihm doch nicht<br />

diese dramatische Einleitung verpatzen.<br />

»<strong>André</strong>«, fuhr er fort, »<strong>André</strong>, die Frauen, da kannst<br />

du nicht mit rechnen, daß die rein rational sind. Die<br />

machen das alles aus dem Gefühl heraus.«<br />

Ich guckte ihn groß an.<br />

»<strong>André</strong>«, erklärte er, »<strong>André</strong>, Mensch, du weißt<br />

doch. Das kann man als Mann einfach nicht logisch<br />

nachvollziehen.«<br />

»Wie logisch?« fragte ich.<br />

»Na, weißt du nicht, was Logik ist? Paß auf, wenn<br />

zum Beispiel Zeit Geld ist und Geld nicht stinkt, so<br />

ist Zeit geruchlos. Das ist Logik.«<br />

»Und was hat das mit Frauen zu tun?« klinkte ich<br />

mich ein.<br />

»Das weiß ich auch nicht«, antwortete mein Heizkörper<br />

und schwieg.<br />

Dieses Gespräch fand im Sommer statt. Was soll das<br />

erst im Winter werden, wenn ich heize?<br />

* nach einem Gedächtnisprotokoll<br />

Peter Raulfs<br />

Herkunftsniedersachse,<br />

Wahlerfurter, Mittdreißiger,<br />

Gott- und<br />

vaterlandsloser Geselle,<br />

Überzeugungstäter,<br />

Hobbyverhaltensforscher,Gelegenheitsschreiber,Vollzeitagitator,Gewohnheitseskapist,Möchtegernrevolutionär<br />

<strong>André</strong> <strong>Kudernatsch</strong><br />

Jg. 1970, Journalist<br />

(u. a. Feuilletonist bei<br />

MDR Kultur), lebt in<br />

Leipzig und Erfurt<br />

und veranstaltet seit<br />

1998 seine eigene<br />

Literaturtrashshow<br />

»<strong>Kudernatsch</strong>s<br />

Kautsch«, letzte Veröffentlichungen:<br />

CD<br />

»Die Kautsch-Liedermacher-Parade«<br />

(KK<br />

2002), »Generation<br />

Goldi« (Rum Records<br />

2002), »Suffis Welt.<br />

Ulli und ich und Onkel<br />

Hansi« (Fünf Finger<br />

Ferlag Leipzig 2000)<br />

aus: <strong>Kudernatsch</strong>:<br />

Gift im Tee. Schlimme<br />

Geschichten.<br />

Dessau 1997<br />

DIE RAMPENSAU WINTER 03 11


Tramspotting •<br />

<strong>Andrew</strong> Gledhill<br />

Jg. 1969 in Huddersfield,<br />

England,<br />

1988-1991 Fremdsprachenkoresspondent,<br />

1991-1994 Germanistikstudium<br />

University<br />

of Portsmouth,<br />

1994-1997 Übersetzer<br />

bei Financial Times,<br />

1997-1998 Lektor FH<br />

Schmalkalden,<br />

1999 Übersetzer bei<br />

MDR, seit Anfang<br />

2000 freiberuflich als<br />

Lehrer und Übersetzer<br />

Veröffentlichungen<br />

2000-2002:<br />

The Woodcutter<br />

(Übersetzung) BBC;<br />

New Wine (Gedicht)<br />

BBC, GB; Desert<br />

Storms (Gedicht)<br />

BBC; This Ring (Gedicht)<br />

Anchor Books A<br />

Journey of Discovery;<br />

The Goons (Gedicht)<br />

Anchor Books Broad<br />

Horizons<br />

Ulf Salzmann<br />

Jg. 1976 ist angehender<br />

Architekt und<br />

wohnt in Weimar;<br />

Veröffentlichungen in<br />

diversen Comic-Zines<br />

(»Tremor«, »Nichts für<br />

ungut« u.a.)<br />

12<br />

T<br />

od?!? Nein, noch nicht. Wach? Auch noch<br />

nicht. Ist es Tag oder Nacht? Es sieht wie<br />

Tag aus. Scheiße, es wurde wieder geträumt.<br />

Das Lebewesen schläft aber allein in meinem Bett.<br />

Es berührt seinen Ehering mit dem Daumen.<br />

Panik!! Hat es einen Termin verpaßt? Gibt es<br />

heute Englischunterricht? Nein – Gott sei Dank – es<br />

ist wieder das Wochenende. Kein Schwein will heute<br />

Englisch lernen.<br />

Dann fängt der Alkoholismus wieder an. Der<br />

Körper ist jetzt wach. Der Kopf nicht so ganz. Der<br />

Arm streckt sich aus und reicht nach dem Bier, das<br />

gestern Abend beim Döner – Gott sei Dank – gekauft<br />

wurde. Das Bier gibt dem Mund einen Guten-<br />

Morgen-Kuß und nimmt einen Schluck vom Leben<br />

weg, von dem das Lebewesen schon lang genug belastet<br />

wurde. Es will ein bißchen weitersterben. Die<br />

Hand sucht eine Zigarette. Die Zigaretten werden<br />

ganz selten lange gesucht. Sie schlafen immer neben<br />

dem Körper in dem alten Bett. Das Feuerzeug wurde<br />

gestern Abend – Gott sei Dank – nicht geklaut.<br />

Der Rauch atmet tief in die Lungen hinein. Noch ein<br />

Seufzchen Leben weg – Gott sei Dank. Das Bier verlangt<br />

einen Schluck.<br />

Das Lebewesen rülpst und hustet. Scheiße, der<br />

Kopf wird aufgeweckt. Das Scheißding bringt nur<br />

Unglück, da es immer die blödsten Fragen stellt.<br />

Ohne Kopf wäre es gelegentlich schön aufzuwachen.<br />

Die Fernbedienung wurde schon längst verloren.<br />

Irgendwie muß der Fernseher angeschaltet<br />

werden, so daß der Kopf nicht mehr auf den Geist<br />

gehen kann. Aber das Bier will erst mal noch einen<br />

Schluck vom Lebewesen trinken. Die Zigarette will<br />

auch wieder atmen.<br />

Der Körper schleppt sich durch den Schutt und<br />

Asche zum Fernseher und der Finger drückt eine Taste.<br />

Gott sei Dank – wird das Lebewesen vom Körper<br />

wieder ins alte Bett geschleppt. Es gibt Stimmen,<br />

aber – ach du Scheiße! – keine menschlichen Stimmen,<br />

sondern die von Lehrern gehaßten Kinderstimmen.<br />

Aber Samstags quälen sie die sensiblen Ohren<br />

noch weiter. Der Körper hat aber keinen Bock, wieder<br />

zum Fernseher zu tappen, also versucht das Lebewesen<br />

weiterzuschlafen. Der Körper hat genug<br />

Arbeit für heute geleistet. Der Scheißkopf wird aber<br />

hellwach und gibt dem Wesen keine Ruhe. Das Bier<br />

will noch einen Schluck.<br />

OK, Körper – sorry – Du mußt wieder zum Fernseher,<br />

sonst dreht das Lebewesen durch. Nach einer<br />

halben Stunde Quälerei macht er mit, schürft durch<br />

den Schmutz und Räude und findet einen Nachrichtensender.<br />

Dann bringt er das ganze Ding wieder ins<br />

Bett. Börseninformation – nur Schrott – die Ohren<br />

müssen nicht zuhören und der Kopf muß nicht denken.<br />

Die dürfen alle noch eine Stunde schlafen.<br />

Nach einer Stunde geht es Ihnen doch viel besser.<br />

Körper und Kopf haben sich – Gott sei Dank – geeinigt<br />

und sind zum Schluß gekommen, daß sie bald<br />

in die Kneipe gehen sollten, da die Büchse Bier fast<br />

satt ist.<br />

Von <strong>Andrew</strong> Gledhill<br />

New Wine<br />

It is my turn to tell the Truth.<br />

The Truth that flows from new wine<br />

From the warmth of tongues of fire-<br />

Tongues thirsting for new wine.<br />

The fires embers glisten in the half light,<br />

Waiting to listen to the music of Heaven,<br />

Wuthered by the wonderful wind;<br />

Giving voice to the flames,<br />

Igniting this night with Pentecostal fires<br />

That steep us all in the new wine of the light-<br />

Warming our blood and freeing our tongues<br />

To speak the red-blooded Truth.<br />

Ich bin daran, die Wahrheit zu sagen,<br />

Die Wahrheit, die vom neuen Wein fließt,<br />

Von der Wärme Feuerzungen,<br />

die nach neuem Wein dürsten.<br />

Die Glutasche glitzert im Halblicht,<br />

und wartet auf die Musik des Himmels,<br />

verwuchert vom wundervollen Wind,<br />

der die Flammen Stimmen verleiht.<br />

Diese Nacht wird durch die Pfingstenfeuern angezündet,<br />

die uns im neuen Wein des Lichtes durchtränken,<br />

um unser Blut zu erwärmen und unsere Zungen zu befreien,<br />

um die rotblutige Wahrheit zu sagen.<br />

Comic: Ulf Salzmann<br />

DIE RAMPENSAU WINTER 03


Der Winter<br />

• Von Paulina Schulz<br />

I<br />

na sitzt in der Küche, zwingt sich zur Ruhe, hält<br />

sich an der Tischkante fest, verschränkt die Beine,<br />

fährt sich durchs Haar, atmet immer wieder<br />

tief durch.<br />

Es klingelt. Sie geht an die Tür, zählt die Schritte,<br />

macht langsam die Tür auf, ordnet dabei Mund und Augen<br />

zu einem coolen, gelassenen Gesichtsausdruck.<br />

Er grinst sein altes Grinsen, macht einen Riesenschritt<br />

hinein in die Wohnung, legt einen Arm um Ina,<br />

küßt sie auf den Mund. »Früher hat er mich nie zur Begrüßung<br />

geküßt«, denkt Ina und räuspert sich.<br />

Sie sitzen in der Küche, er hat sich einen türkischen<br />

Kaffee gemacht, dreht sich eine Zigarette, seine Finger<br />

sind schnell und braun und aufregend. »Laß uns<br />

rausgehen«, sagt Ina. Sie will nicht alleine mit ihm in<br />

der Wohnung sein; springt gleich auf und geht ins Bad.<br />

Sie sitzt auf dem Klo und zählt bis zehn, dann weiter<br />

bis zwanzig. »Wenn ich rauskomme, ist er nicht mehr<br />

da«, denkt sie und hat plötzlich Angst, daß er genauso<br />

schnell wieder wegsein könnte, wie er zurückgekommen<br />

ist. Nach anderthalb Jahren ein Anruf, seine<br />

verrauchte Stimme, das Inhalieren und langsame Ausatmen<br />

durch die Leitung; fast konnte sie den billigen<br />

Tabak riechen, sagte »Ja, morgen.«<br />

Eines Tages stand er einfach so vor dem Seminarraum,<br />

zwei Wochen nach Semesteranfang. Niemand kannte<br />

ihn. Er war groß, bestimmt über eins neunzig, rauchte<br />

Kette und schaute mit zusammengekniffenen Augen in<br />

die Runde. Er hatte einen kahlrasierten Kopf und ein<br />

hartes, fast brutales Gesicht, mit eingefallenen Wangen<br />

und einer großen Nase über dem breiten Mund.<br />

Die erste Woche saß er nur da und beobachtete alles,<br />

sprach mit niemanden und verschwand gleich nach<br />

den Veranstaltungen. Und Ina interessierte sich nicht<br />

für ihn, fand ihn arrogant und war von seinem ständigen<br />

Gequalme irritiert. Bis er eines Tages bei einer<br />

Textbesprechung einen einzigen, durchdachten Satz<br />

sagte, mit dieser Stimme, bei deren Klang Ina zusammenzuckte<br />

und dachte »Ich will.«<br />

Bei ihrer Einzugsparty Anfang Oktober saßen sie<br />

zusammen in einer Zimmerecke, sie fütterte ihn mit<br />

Kartoffelsalat, er rauchte Kette, bis ihm der Tabak<br />

ausgegangen ist und er fragte »Wollen wir laufen?«<br />

Sie gingen los, zur Tankstelle, er in einer dicken Jakke,<br />

sie in einem samtenen Gehrock über dem schwarzen<br />

Kleid; nach ein paar Schritten drehte er sich um,<br />

zog die Jacke aus und legte sie Ina über die Schultern.<br />

Den Rest des Weges sprachen sie nicht, und als sie in<br />

Inas Wohnung zurückkamen wurde sie gleich von ihrem<br />

Freund abgefangen, der sie irgendwelchen Leuten<br />

vorstellen wollte.<br />

Später, irgendwann gegen vier bekam Ina nur noch<br />

mit, daß er mit einer Bekannten ihres Freundes, einer<br />

kleinen Französin, verschwunden ist; kurze Zeit später<br />

lag sie todmüde und betrunken neben ihrem Freund,<br />

die letzten Gäste legten sich im Gästezimmer auf die<br />

Matratzen, jemand rumorte auf dem Klo. Plötzlich<br />

hörte sie lautes Lachen und Gebrüll von der Straße.<br />

Sie ging ans Fenster und sah ihn und die Französin<br />

zwischen den geparkten Autos Fußball mit einem Eistee-Karton<br />

spielen.<br />

Marie oder Sophie, oder wie sie auch immer hieß<br />

lief quietschend hin und her und machte Anstalten, ihn<br />

anzufassen. Ina wurde wütend, fast wäre sie auf die<br />

Straße hinausgerannt, um die beiden zu unterbrechen,<br />

dieser albernen Charlotte den Hals umzudrehen... –<br />

»Wölfchen, kommst du«, schnurrte es vom Bett, und<br />

da gab sie es auf und schlief ein, mit der Hand ihres<br />

Freundes zwischen den Beinen.<br />

Er raucht jetzt Javaanse Jongens, keinen Penny-Markt-<br />

Tabak mehr – aber immer noch krümelt er überall herum,<br />

unter dem Küchentisch liegen lauter kleine braune<br />

Teilchen –, er hat auch neue Schuhe an, nicht mehr<br />

diese ausgelatschten Armeestiefel ohne Schnürsenkel,<br />

die seinen Bewegungen diese verdammte Lässigkeit<br />

gaben. Wenn er lief, lief sie oft einen Schritt hinterher,<br />

um seine Hüften zu beobachten, wie sie den ganzen<br />

Körper wippen und schwingen ließen. Er lief langsam,<br />

entspannt wie ein großer starker Hund, der sich von<br />

niemandem einschüchtern läßt.<br />

»Niemand kannte ihn. Er war groß,<br />

bestimmt über eins neunzig,<br />

rauchte Kette und schaute mit zusammengekniffenen<br />

Augen in die<br />

Runde.«<br />

Sie stehen auf, er hilft Ina in ihren Lammfellmantel,<br />

stets der vollkommene »Gentleman mit dem Gesicht<br />

eines Mörders«, wie sie ihn einmal scherzhaft nannte.<br />

Sie muß grinsen, geht schon vor, schaut unten im<br />

Briefkasten nach, ob jemand geschrieben hat, läßt sich<br />

Zeit. Sie will den Moment des Hinausgehens auf die<br />

Straße hinauszögern, will ihren Körper auf die kommende<br />

Erkenntnis vorbereiten, die irgendwo unter der<br />

Haut jetzt schon da ist – schließlich treten sie auf die<br />

Straße, laufen die ersten Schritte – und wieder ist es,<br />

als gäbe es zwischen ihren Körpern keinen Raum, als<br />

gingen sie als ein Mensch, mit vollkommen aufeinander<br />

abgestimmten Bewegungen, in dieser perfekten<br />

Sicherheit, die Ina weder vor, noch nach ihm jemals<br />

gespürt hat. Sie schaut hoch und sieht, daß er mit geschlossenen<br />

Augen läuft. Sein Gesicht ist entspannt<br />

und ruhig; auf einmal würde sie am liebsten weglaufen,<br />

oder für immer weitergehen. Sie schließt die Augen<br />

und greift nach seiner Hand.<br />

Irgendwann im Herbst meinten Arndt, Ivo, Manuel<br />

und wohl auch Simone, daß es schön wäre, regelmäßig<br />

zusammen zu kochen, an langen Winterabenden<br />

zusammen zu sitzen, Gewagtes wie Huhn mit Mandarinensoße<br />

auszuprobieren und bis in die Morgenstunden<br />

gegen die Kälte anzutrinken. Manchmal kam<br />

Tanja dazu, oder Manuels Freundin Susu, ab und zu<br />

auch Michael. »»<br />

Paulina Schulz<br />

Jg. 1973, polnischdeutsch-tatarischschottischerAbstammung,<br />

lebt in Erfurt,<br />

arbeitet an der Erziehung<br />

ihrer 3-jährigen<br />

Tochter und an ihrem<br />

ersten Erzählband,<br />

zahlreiche Veröffentlichungen<br />

und<br />

Literaturpreise (u.a.<br />

Preisträgerin Eobanus-<br />

Hessus-Schreibwettbewerb<br />

2001)<br />

DIE RAMPENSAU WINTER 03 13


14<br />

Er kam immer. Nach einigen Wochen, in denen<br />

jeden Freitag jemand anderes Einkaufsdienst hatte,<br />

was nicht immer klappen wollte, erklärten sich Ina<br />

und er bereit, es vollständig zu übernehmen – noch<br />

eine schweigende Übereinkunft, noch eine Möglichkeit,<br />

sich unter jedem beliebigen Vorwand noch öfter<br />

zu sehen. Inas Freund war so mit sich selbst und den<br />

Problemen seiner Exfreundinnen beschäftigt, daß er<br />

irgendwann aufhörte zu fragen.<br />

Rückblickend kam es ihr vor, als wären sie den<br />

ganzen Winter lang zusammen gelaufen, als wären sie<br />

ständig in Bewegung, stets im gleichen Schritt: nach<br />

der Uni gingen sie zuerst mittagessen, dann in die Cafeteria<br />

der Hochschule für Grafik, danach in den Park,<br />

wo sie stundenlang Hunde und ihre Besitzer beobach-<br />

»Freitags gingen sie einkaufen, was<br />

immer über zwei Stunden dauerte,<br />

hauptsächlich, weil sie zwischen<br />

den Regalen und Tiefkühltruhen Verstecken<br />

spielten, oder sich mit Salatköpfen<br />

bewarfen.«<br />

teten, oft kam er auf einen Kaffee mit, blieb dann noch,<br />

bis sie ihn schließlich zur Haltestelle brachte. Freitags<br />

gingen sie einkaufen, was immer über zwei Stunden<br />

dauerte, hauptsächlich, weil sie zwischen den Regalen<br />

und Tiefkühltruhen Verstecken spielten, oder sich mit<br />

Salatköpfen bewarfen.<br />

Eines Nachmittags überquerten sie eine große<br />

Straße, Ina erzählte lachend irgendwas und achtete<br />

nicht auf den Verkehr, bis er sie blitzschnell an sich zog<br />

und mit einem Sprung den Bürgersteig erreichte. Dann<br />

nahm er ihre Hand; seitdem war es selbstverständlich,<br />

daß sie sich berührten, daß sie ein Recht auf den anderen<br />

hatten, das über das gewöhnliche Umarmen zur<br />

Begrüßung und zum Abschied hinausging.<br />

Sie sitzen sich in der Moritzbastei gegenüber, Ina<br />

schaut auf ihren Teller, weil sie nicht will, daß er in ihrem<br />

Blick lesen kann, (sie weiß noch, daß er es kann),<br />

sie hört ihn atmen, ruhig und regelmäßig; plötzlich<br />

macht er einen langen Atemzug, als er sich zurücklehnt<br />

– und sie weiß, wie er jetzt aussieht, daß sich<br />

sein Brustkorb langsam hebt, daß er die Luft wie ein<br />

witterndes Tier durch die Nüstern einzieht und sie<br />

dann langsam, sehr langsam wieder durch die Nase<br />

ausatmet, mit geschlossenen Augen. In dem Moment<br />

erinnert sie sich schlagartig an alles und möchte am<br />

liebsten sofort aufstehen und gehen, irgendwohin, wo<br />

man nackt sein kann.<br />

Sie schaut ihm ins Gesicht, er hat die Augen offen,<br />

seine Hände spielen mit der Tabakpackung. »Ich<br />

habe jetzt eine Badewanne«, sagt er und legt den Kopf<br />

schief, um ihre Reaktion zu beobachten, legt den Hals<br />

frei, um sie an noch mehr zu erinnern.<br />

Als sie das erste Mal miteinander schliefen, steckte er<br />

die Nase unter ihre Haare und schnupperte an ihrem<br />

Hals, versteckte sich an ihr, blieb bis zum Schluß an<br />

ihrem Schlüsselbein vergraben; beim nächsten Mal<br />

zwang sie ihn, sie beim Sex anzusehen, und er schaute<br />

ihr in die Augen und schrie, und gleich danach drehte<br />

er Ina auf den Bauch und fickte sie von hinten, stellte<br />

das Gleichgewicht ihres Ausgeliefertseins wieder her.<br />

So war es immer – alles was sie machte, fand eine Antwort,<br />

alles, was sie von ihm wollte, bekam er zurück.<br />

Sie wußten, wie weit sie gehen konnten, sie gingen<br />

nebeneinander, ineinander über, bewegten sich wie<br />

ein Körper.<br />

Einmal kamen sie völlig durchnäßt bei Ina an;<br />

der Regen erwischte sie draußen am Kanal, von wo<br />

sie noch eine Stunde bis Lindenau laufen mußten. Sie<br />

standen unter einem Baum und küßten sich, dabei<br />

rutschten ihre nassen Münder fast unter dem Wasser<br />

weg, sie lachten so darüber, daß sie ineinandergeklammert<br />

umgefallen sind. Sie lagen in dem nassen Gras,<br />

Ina steckte ihre klammen Hände unter seinen Pullover,<br />

den weißen mit den dunkelblauen Streifen, und streichelte<br />

seine Schulterblätter, fühlte dann sein Gesicht<br />

an ihrem Bauch, als er sich im Gras hinkniete und ihre<br />

Jacke öffnete. »Nein, nicht jetzt, laß uns nach Hause<br />

gehen, laß uns völlig im Wasser sein, du sollst in mir<br />

schwimmen.« Und trotzdem, es hätte ihr nichts ausgemacht,<br />

da draußen im Regen mit ihm zu vögeln.<br />

Zu Hause ließ er das Badewasser ein, sie machte<br />

eine Flasche Wein in der Küche auf, als sich der Schlüssel<br />

im Schloß drehte. »Hey Babe, ich bin wieder da«,<br />

rief es und Ina fiel ein, daß ihre Mitbewohnerin heute<br />

schon von ihrem Kurzurlaub im Allgäu zurückkam.<br />

Sie tat, als ob die Flasche Rioja eine Überraschung gewesen<br />

wäre, drückte sie Nadja in die Hand und verschwand<br />

im Bad. Er stand nackt in der Mitte des Badezimmers,<br />

das fahle Licht fiel gegen seinen Körper. Sie<br />

sah, daß er irgendwo im Hängeschränkchen Nadjas<br />

alte Badeente ausgegraben hat, die jetzt auf dem heißen<br />

Wasser vor sich hin dümpelte. »Sie ist da«, flüsterte<br />

Ina. Er nickte und stieg ins Wasser – »Kommst du<br />

bald?« – aber als Ina anderthalb Stunden später alles<br />

über Nadjas neue Männerbekanntschaften erfahren<br />

hat, schlief er schon. Es war früh am Abend; im Zimmer<br />

roch es nach Zigarettenrauch und nassen Sachen,<br />

die auf dem Heizkörper hingen.<br />

Er erzählt von sich, von den anderthalb Jahren, die<br />

er in Berlin verbracht hat. Ina lächelt benommen,<br />

fragt nach, versteht die Hälfte, will ihn endlich küssen.<br />

»Und was hast du als Gärtner gemacht?« »Mir<br />

ein Baumhaus gebaut, und ich habe eine Band gegründet,<br />

hmm«, er nickt, wie um sich selbst zu<br />

bestätigen und grinst, er ist wie immer, er ist nie<br />

weggewesen. »Bist du noch mit deinem Liebsten zusammen?«<br />

»Wen meinst du?« fragt sie und erinnert<br />

sich erst hinterher, wen er wohl meint – den Journalisten,<br />

der mit seinen Exfreundinnen zu Frauenärzten<br />

gegangen ist. »Neinnein«, lacht sie und macht eine<br />

ausholende Geste. Das Teeglas landet auf dem Boden,<br />

die Kellnerin kommt und schaut Ina unverschämt an,<br />

dann erst sieht sie ihn und flötet: »Ist ja überhaupt<br />

nicht schlimm!«<br />

»Pussi«, denkt Ina, steht auf, er zahlt, sie gehen.<br />

»Ich würde dir gerne meine neue Wohnung zeigen«,<br />

sagt er, und: »Hast du heute noch viel vor?«<br />

»Nein, – denkt Ina – »nein, nur dein Gesicht zu<br />

berühren.«<br />

»Ja, – sagt sie – »ist aber nicht so wichtig.«<br />

DIE RAMPENSAU WINTER 03


DIE RAMPENSAU WINTER 03<br />

Innere Werte •<br />

Neulich hat mich mal wieder eine gefragt,<br />

wie das eigentlich bei mir sei. Was? – fragte<br />

ich sie daraufhin. Nun, das mit den Frauen<br />

– antwortete sie. Das sei doch gar nicht so einfach<br />

für mich, in Anbetracht der Tatsache und überhaupt.<br />

Unter den gegebenen Umständen und in der<br />

heutigen Zeit, wo es doch nur allzu oft und allzu<br />

sehr aufs Erscheinungsbild und so gar nicht auf die<br />

inneren Werte ... nun ja, und so weiter. Sie selbst sei<br />

gar nicht und das alles so furchtbar. Leider gerade<br />

in einer glücklichen Beziehung und unter anderen<br />

Umständen. Nun ja, mal nur nicht den Kopf hängen<br />

lassen. Ja, sagte ich, schlimm sei sie schon diese eisige,<br />

kalte Zeit, in der nur noch der schöne Schein und<br />

wie sie sehr richtig bemerkte, nur allzu wenig die inneren<br />

Werte. Ich erzählte vom alltäglichen Leidens-<br />

ICH WÄR` SO GERN DEIN<br />

ROSTBRÄTEL<br />

ein rostbrätel wär` ich so gerne<br />

braungebrannt mit zwiebel drauf<br />

nicht zu durchwachsen, insoferne<br />

genau das richt`ge zum verkauf<br />

käm ein alter mann mit schrammen<br />

hungrig und mit silberblick<br />

zög ich mich erst mal zusammen<br />

und wäre nur noch klein und dick<br />

käm eine, zart wie palisander<br />

die sich mal was gönnt`, ach nett<br />

streckt` ich mich wieder auseinander<br />

und wäre plötzlich groß und fett<br />

doch kämst du, dann würde ich<br />

mir das schönste brötchen suchen<br />

und ich schrie flehentlich:<br />

`holdes weib, ich bin ein kuchen<br />

verwunschen zwar, doch mit geschick<br />

kann vom zauber mich erlösen<br />

wer den rechten überblick<br />

ach bitt, befrei mich von dem bösen`<br />

doch kaufen müßtest du mich nicht<br />

spräng dir von selber in die hand<br />

oder vielleicht gleich ins gesicht<br />

obwohl, das wär` wohl nicht galant<br />

und du würdest mich einpacken<br />

in silberfolie – abwaschbar<br />

mit bändchen dran und roten zacken<br />

ja, das wäre wunderbar<br />

letztlich in die büsche schmeißen<br />

über uns nur nacht und sterne<br />

ganz hefig würd`st du an mir beißen<br />

dein rostbrätel wär` ich so gerne<br />

Von <strong>Alexander</strong> <strong>Platz</strong><br />

druck den sich die »Normalen« (aber was sei schon<br />

normal – fügte ich locker nebenbei hinzu) gar nicht<br />

vorstellen könnten. Sie gefiel mir, und ich machte<br />

genau das, was ich an solchen Stellen immer tue.<br />

Über vierunddreißig wäre ich inzwischen schon, erzählte<br />

ich weiter, ach und ein Kreuz sei das, vierunddreißig<br />

und noch kein einziges Mal, kein einziges<br />

Mal hätte es geklappt. Woraufhin ich aufrichtiges<br />

Beileid erntete. Und daß ich doch allzu gern wüßte,<br />

wie das sei und ich wäre doch auch nur ein Mensch<br />

(ein Mann noch dazu), und jeder Mensch hätte doch<br />

schließlich ein Recht darauf. Ich legte mich ordentlich<br />

ins Zeug, war den Tränen nahe, kurz vor dem<br />

Zusammenbruch, redete von Liebebedürftigkeit und<br />

Verlangen nach Nähe und Zärtlichkeit. Dann gingen<br />

wir zu mir.<br />

MONTAG, 26. AUGUST<br />

kalt und gepreßt<br />

liegt`s zwischen uns.<br />

ich verstecke meine müdigkeit vor dir,<br />

um nicht der nacht zu schenken,<br />

was der tag entreißen wird.<br />

das bißchen, das mir noch bleibt.<br />

ICH SCHLAFE. Sie liegt<br />

im Zimmer<br />

nebenan.<br />

Alles ist still.<br />

Ich träume sie kommt.<br />

Nackt.<br />

Alles ist still –<br />

alles ist wahr.<br />

<strong>Alexander</strong> <strong>Platz</strong><br />

Jg. 1975, erhielt<br />

1999 den Förderpreis<br />

des »Hessisch-ThüringischenLiteraturforums«,<br />

Veröffentlichung:<br />

Gedichtband »Der<br />

Trompetenkäfer in<br />

Feodosija«, Autor div.<br />

Theaterstücke mit<br />

dem kollektiv_nina_<br />

machts (u.a. »Die<br />

Glasoberen« 2002)<br />

TIP!<br />

<strong>Alexander</strong> <strong>Platz</strong><br />

liest gemeinsam mit<br />

Franziska Wilhelm<br />

am 21. Februar im<br />

Café DUCKDICH der<br />

E-Burg.<br />

Diese erste Gedichtsammlung von<br />

<strong>Alexander</strong> <strong>Platz</strong> bietet floristische,<br />

faunische und andere Großtaten<br />

auf dem Gebiet der verstiegenen<br />

Impertinenz.<br />

"Gedichte, die jeder Beschreibung<br />

spotten." (Jessika)<br />

"Einer, der tief in seine Muse geschaut<br />

hat." (René Lieu)<br />

Zu bestellen über: ploschad@gmx.de<br />

15


Simons Geheimnis •<br />

Franziska Wilhelm<br />

geb. 1981 in Erfurt,<br />

Studiert derzeit<br />

Kommunikations- und<br />

Medienwissenschaften<br />

in Leipzig, erhielt<br />

1999, 2000, 2001 und<br />

2002 den Förderpreise<br />

des Hessisch-Thüringischen<br />

Literaturforums,<br />

Gewinnerin des 1.<br />

Brigitte Young Miss<br />

Kreativwettbewerbs in<br />

der Kategorie Kurzgeschichte,<br />

Preisträgerin<br />

Eobanus-Hessus-<br />

Schreibwettbewerb<br />

2002, Veröffentlichungen<br />

in Zeitschriften<br />

und Anthologien<br />

TIP!<br />

Franziska Wilhelm<br />

liest gemeinsam<br />

mit <strong>Alexander</strong> <strong>Platz</strong><br />

am 21. Februar im<br />

Café DUCKDICH der<br />

E-Burg.<br />

Ina Hermann<br />

Jg. 1964, Buchhändlerin<br />

und Antiquarin,<br />

seit 1997 Kursleiterin<br />

Malerei/Grafik an der<br />

Erfurter Malschule,<br />

seit 1997 div. Ausstellungen,<br />

Mitglied<br />

der Künstlergruppe<br />

»CHIFFRE 4«<br />

Ina Hermann: »Unwissenschaftliches<br />

Divisionsmanöver«,<br />

Serie, 3 Linolschnitte,<br />

Blatt 42,8 x 62,5<br />

16<br />

Er roch gelb. Lästig gelb. Nicht, daß er gestunken<br />

hätte, doch sein Geruch schob sich aufdringlich<br />

wie ein dünnes Stück Metalldraht<br />

in meine Nase. Er bemerkte nicht, daß ich ihm nicht<br />

mehr zuhörte. Er sprach laut und die Leute an den<br />

Nachbartischen konnten über seine Witze lachen. Ich<br />

floß auf meinem abwaschbaren Plastikstuhl in mich<br />

zusammen, rutschte von der orangen Sitzfläche auf<br />

das Kopfsteinpflaster und versuchte die Rillen zu füllen.<br />

Nach anderthalb Stunden war mein rechter Fuß<br />

eingeschlafen und meine Ohren fühlten sich taub an.<br />

Er kaute noch immer an seinen Muscheln, die er auf<br />

Französisch hatte bestellen wollen, aber da hatte ihn<br />

die Kellnerin dann nicht mehr verstanden.<br />

»Ich muß jetzt«, sagte ich und da war auch schon<br />

die Straßenbahn.<br />

Als ich vor unserem Haus stand, wurde es endlich<br />

Nacht. Bis dahin war es nur Abend gewesen. Ein sinnloser<br />

Abend. Im Dunkeln fand ich das Schlüsselloch<br />

nicht gleich. Hinter der Tür hörte ich ihn schon. Er hatte<br />

Aida aufgelegt. Ich sog die Musik in mich ein wie<br />

einen Geruch, Simons Geruch.<br />

Das Wohnzimmer war hell erleuchtet und die Fenster<br />

weit geöffnet. »Bin da«, sagte ich zu Simon und<br />

blieb im Türrahmen stehen. »Hallo«, sagte er nur und<br />

nahm einen Schluck Saft. Ich wußte, daß er bei seinen<br />

Freunden fast immer nur Rotwein trank. Er mochte<br />

das tiefe, schwere Rot. Wenn er hier war, trank er<br />

Apfelsaft.<br />

»Diese Wohnung braucht nicht noch mehr Schwere«,<br />

hatte er mir einmal gesagt, als er noch hier wohnte.<br />

Ich fand Simon schon immer zu melodramatisch.<br />

Wenn er früher mit halb offenen Augen auf dem Sofa<br />

saß und seinen Arien lauschte, dann sprang ich vor<br />

ihm auf den Tisch und mimte mit zwei Kissen unterm<br />

Nachthemd, die vollbusige Opern-Walküre. Er ließ sich<br />

dadurch jedoch meistens nicht beirren und blieb solange<br />

regungslos sitzen, bis ich die Geduld verlor und ihn<br />

mit meinen Kissen bewarf. Dann lächelte er, zog mich<br />

vom Tisch und drückte mich aufs Sofa. Man sah ihm<br />

nicht an wie stark er war. Ich hätte wohl kaum eine<br />

Chance gegen ihn gehabt, wenn er in der Kniekehle<br />

nicht so furchtbar kitzelig gewesen wäre.<br />

»Echte Helden dürfen einfach nicht kitzelig sein«,<br />

sagte ich einmal zu Simon, als wir nach einem unserer<br />

Kämpfe völlig außer Atem, nebeneinander<br />

auf der Couch lagen.<br />

»Was kann der Held dafür, wenn ihm das Lindenblatt<br />

auf die Kniekehle fällt?« antwortete er<br />

und wir mußten beide lachen, weil wir uns ausmalten<br />

wie einer in einer Badewanne voll Drachenblut<br />

sitzen muß, damit ihm unbemerkt ein<br />

Lindenblatt in die Kniekehle fallen kann.<br />

Aber das war früher. Jetzt saß Simon hier<br />

auf dem Sofa, wo er immer gesessen hatte und<br />

war zu Besuch da.<br />

»Na, wie war dein Rendez-vous?« fragte er<br />

trocken und führte sein Glas wieder zum Mund.<br />

»Ganz O.K.«, sagte ich, »er sieht wirklich nicht<br />

schlecht aus. Er hat gefragt, ob ich mal mit ihm<br />

ins Kino gehe.« »Und gehste?« »Mal sehen«, sagte<br />

ich und verschwand in meinem Zimmer um<br />

Von Franziska Wilhelm<br />

mir mein Nachthemd anzuziehen, dann ging ich zurück<br />

zu Simon. Ich legte mich zu ihm auf das Sofa,<br />

meinen Kopf neben seinem Schoß, die nackten Beine<br />

lehnte ich nach oben an die Wand. »Du siehst hübscher<br />

aus, wenn du barfuß bist«, hatte er einmal zu<br />

mir gesagt.<br />

Von unten herauf betrachtete ich sein Profil. Er<br />

hatte etwas von einem Vogel, sehr schmale, filigrane<br />

Linien, seine Knochen stießen spitz und gebrechlich<br />

unter seiner Haut hervor und es schien als ob sie kein<br />

Gewicht hätten und schon mit der nächsten Windböe<br />

davonfliegen könnten. Ich stand auf um das Fenster<br />

zu schließen. Plötzlich erinnerte ich mich wieder an<br />

einen Traum, den ich einmal gehabt hatte. Ich sah Simons<br />

Kopf mit zwei Vogelschwingen, vor mir, die aus<br />

seinen Ohren wuchsen. Das war kurz bevor er nach<br />

Zürich gegangen war. Was er an Zürich fand, hatte ich<br />

nie begreifen können. Ich hätte ihn mir in Rom vorstellen<br />

können, in Verona oder Neapel, doch jetzt lebte<br />

er in dieser kalten Stadt in irgendeiner WG mit einem<br />

Mädchen von dem er nichts erzählen wollte.<br />

Er schaute mir in die Augen und ich schaute weg.<br />

»Sie hat bestimmt lockige, lange Haare«, sagte ich und<br />

schaute aus dem Fenster. »Wer?« fragte Simon. »Na das<br />

Mädchen aus deiner WG.« »Ach, sie hat gar nix«, antwortete<br />

er genervt. »Glatze etwa?« fragte ich. Simon<br />

antwortete nicht. Ich wußte, daß ich ihn nicht nach<br />

dem Mädchen aus seiner WG fragen durfte. Ich ärgerte<br />

mich. Wir hatten uns so lange nicht gesehen und jetzt<br />

war er stumm und starrte vor sich hin. Ich ging zurück<br />

zur Couch, setzte mich und zog die Beine an. Simon<br />

wollte noch immer nichts sagen. Vorsichtig fuhr ich<br />

ihm mit meinen Zehenspitzen über seine Knie.<br />

»Noch Apfelsaft?« Er schüttelte den Kopf. »Wieso<br />

bist du heute Abend weggegangen«, fragte er, »du<br />

wußtest doch, daß ich komme«. Ich wußte nicht, was<br />

ich darauf antworten sollte. Schweigend zog ich mir<br />

das Nachthemd über die Knie und legte meinen Kopf<br />

darauf. »Schon gut«, sagte Simon und streichelte mir<br />

meinen Nacken, daß ich Gänsehaut bekam. Aida hatte,<br />

ohne daß wir es bemerkt hatten zu Ende gespielt. In<br />

die Stille hinein wurde die Wohnungstür aufgeschlossen.<br />

Simon zog seine Hand zurück. »Wir sind’s«, hörte<br />

ich und Schlüsselgeklimper. Ich setzte mich gerade hin.<br />

Im Flur legten unsere Eltern ihre Mäntel ab.<br />

DIE RAMPENSAU WINTER 03


Sie hatten sich kurz in ihrer Wohnung umgesehen.<br />

Sie hatten ihr gesagt, sie müsse mit aufs<br />

Revier zu einer Vernehmung kommen. Sie hatten<br />

es mit Nachdruck gesagt, obwohl sie das Gefühl<br />

hatten, daß sie bereits auf sie gewartet hätte.<br />

Sie hatte sie, ohne etwas zu sagen, hereingelassen.<br />

Sie hatte ihre Handtasche gegriffen. Sie hatte gesagt,<br />

es tue ihr leid. Sie war mitgegangen, ohne sich noch<br />

einmal umzuschauen.<br />

Sie hatten ihr einen Stuhl angeboten. Sie hatten ihr<br />

eine Zigarette angeboten.<br />

Sie hatte gesagt, sie rauche nicht. Sie hatte sich gesetzt.<br />

Sie hatte unwillkürlich zu erzählen begonnen.<br />

Sie hatte ihnen gesagt, daß es ihr leid tue, daß sie<br />

ihn geliebt hatte. Sie hatte ihnen erzählt, daß sie es<br />

nicht mehr ertragen konnte, wenn er ihr sagte, daß<br />

das alles doch sinnlos sei mit diesem Körper, der nur<br />

noch dem Schmerz gehorchte, mit dieser Aussicht auf<br />

ein Vegetieren zwischen quälenden Nächten und diesem<br />

Es-wird-schon-irgendwie-Gerede.<br />

Sie erzählte ihnen, wie sie ihn kennenlernte, nachdem<br />

sie mit den Eltern in die Stadt gezogen war, wie<br />

sie kurz darauf zu ihm zog und daß sie sich zum ersten<br />

Mal nicht mehr einsam fühlte, wie zu Hause, wo<br />

alle irgendwie einsam waren und daß das die Eltern<br />

nie verstanden und dann sagte sie, sie kennen ja sicher<br />

diese Geschichten.<br />

Sie erzählte ihnen, wie er sich das Auto kaufte, auf<br />

das er so stolz war, und daß er ein guter Fahrer gewesen<br />

war, daß er ihr das Fahren beigebracht hatte, und<br />

DIE RAMPENSAU WINTER 03 17<br />

•<br />

Von Sid Eisengurrer<br />

daß sie es nie verstand, wie es zu diesem Unfall kam,<br />

wo er doch immer so umsichtig fuhr.<br />

Sie sagten ihr, daß das Gespräch aufgezeichnet werde<br />

und daß sie nicht weiterreden müsse und daß,<br />

wenn sie möchte, sie sich einen Anwalt rufen könne.<br />

Sie hatte gesagt, daß es schon in Ordnung ginge<br />

und dann hatte sie ihnen erzählt, daß sie seitdem oft<br />

unter Kopfschmerzen leide und daß dies aber nichts<br />

dagegen sei, was er durchgemacht hatte. Sie erzählte<br />

ihnen, wie sie ihn nach ihrem Krankenhausaufenthalt<br />

in der Rehaklinik besuchte, wie er ihr damals an einer<br />

Gehhilfe entgegenkam, wie er ihr freudig zurief, daß<br />

das zweite Mal laufen lernen ein Klacks sei und wie<br />

sie ihn nach ein paar Wochen später abholte, wie sie<br />

sich zum ersten Mal wieder liebten und daß seitdem<br />

nichts mehr war wie vorher.<br />

Sie erzählte ihnen, wie ihn nachts plötzlich die<br />

Schmerzen heimsuchten, wie er weinte und schrie<br />

und daß sie nie einen Mann vorher weinen sah und<br />

dann erzählte sie ihnen, daß er sich dieses Zeug besorgte<br />

und daß sie später ihm dieses Zeug besorgte.<br />

Ja, sie wisse, sagte sie, daß sie damit gegen das Gesetz<br />

verstoßen hatte.<br />

Sie sagten ihr, daß das Gespräch aufgezeichnet werde<br />

und daß sie nicht weiter reden müsse und daß,<br />

wenn sie möchte, sie sich einen Anwalt rufen könne.<br />

Sie hatte gesagt, daß es schon in<br />

Ordnung ginge und dann erzählte<br />

sie ihnen, daß sie ihn zu pflegen<br />

begann, wie man jemand pflegt, der<br />

hilflos ist, total hilflos und den man<br />

liebt und daß sich einige Nachbarn<br />

beschwerten, warum er nachts immer<br />

so schreien müsse. Und dann erzählte<br />

sie ihnen, daß er sie bat, ihn in<br />

ein Heim zu geben, er könne es nicht<br />

mehr ertragen, wie er ihr eine Last<br />

ist und wie sie letztendlich nachgab.<br />

Und sie erzählte ihnen, daß es ihr leid<br />

tat, daß er ihr leid tat und daß sie ihm<br />

versprach, ihm weiter dieses Zeug zu<br />

besorgen.<br />

Ja, sie hatte gewußt, sagte sie, daß<br />

dieses Zeug, ihn umbringen würde.<br />

Sie fragten sie, wer ihr die Drogen<br />

verkauft hätte und woher sie<br />

das Geld genommen hätte und daß<br />

sie nicht weiterreden müsse, daß das<br />

Gespräch aufgezeichnet würde und<br />

daß, wenn sie möchte, sie sich einen<br />

Anwalt rufen könne.<br />

Sie sagte, daß das schon in Ordnung<br />

ginge, doch sie sollten verstehen,<br />

daß sie den Namen des Mannes,<br />

der ihr das Zeug verkaufte, nicht sagen<br />

möchte. Das Geld jedenfalls hatte<br />

sie von ihrem Sparbuch genommen,<br />

das Sparbuch, das die Großmutter ihr<br />

vermacht hatte. Und dann erzählte sie<br />

ihnen, wie hilflos sie sich fühlte, als<br />

das Sparbuch aufgebraucht war und<br />

sie kein Geld mehr hatte, ihm dieses<br />

VERNEHMUNG<br />

VERNEHMUNG


Sid Eisengurrer<br />

Jg. 1963, KFZ-Mechaniker,<br />

Holzfäller,<br />

Altenpfleger, Berufsschullehrer,<br />

Theaterstücke:<br />

»Babsi«, »Triskaidekaphobie«,<br />

»Stall<br />

voll Säue«, »Lausige<br />

Zeiten« u.a.<br />

18<br />

Zeug zu besorgen. Und dann erzählte sie ihnen, daß<br />

es ihm immer schlechter ging und daß er bei jedem<br />

Besuch flehte, sie möge ihm doch dieses Zeug besorgen<br />

und sie erzählte ihnen wie sie sich schämte, weil<br />

sie es nicht mehr ertragen konnte.<br />

Und dann erzählte sie ihnen, wie er sich während<br />

eines Besuchs schreiend im Bett aufbäumte und wie<br />

sie seinen Kopf an ihre<br />

»Ja, sie hatte gewußt,<br />

sagte sie, daß dieses Zeug,<br />

ihn umbringen würde.«<br />

Brust drückte und daß<br />

ihr der Atem dabei immer<br />

schneller ging,<br />

weil sie Angst bekam,<br />

ihn zu verlieren, weil<br />

sie seinen Tod herbeisehnte.<br />

Und sie erzählte ihnen, als ihn dann seine<br />

Stimme verließ und er heißer nach Luft rang, als er<br />

seine Schmerzen nicht mehr herausschreien konnte,<br />

daß dann seine Augen, um so flehender, um so fordernder<br />

schrien. Sie konnte es nicht mehr ertragen,<br />

hatte sie gesagt. Sie hatte ihn in diesem Moment verlassen,<br />

aber diese Augen hatten sie verfolgt, sie begegnete<br />

ihnen in den Blicken Vorübergehender, sie<br />

warfen sich von Plakaten und Aushängen auf sie, sie<br />

zwangen sich in ihre Träume, nirgendwo ließen sie<br />

diese Augen allein.<br />

Ja, sagte sie, sie wußte, was sie tat.<br />

Sie hatte ihm noch einmal dieses Zeug verschafft,<br />

erzählte sie ihnen, wie sie es bezahlte, darüber wollte<br />

sie nicht reden, sie hatte es doch für ihn getan, nur für<br />

ihn. Sie erzählte ihnen, daß es ihm dann einige Tage<br />

besser ging und daß er bei ihrem Besuch gestern, sogar<br />

versucht hatte, zu lächeln.<br />

Sie hatte sie dann gefragt, was jetzt mit ihr geschehen<br />

würde. Sie hatte sie gefragt, ob sie denn wieder<br />

nach Hause gehen könne.<br />

Sie hatten ihr gesagt, daß das noch nicht alles ist.<br />

Sie hatten ihr gesagt, daß ihr Freund einen Brief hinterlassen<br />

hat. Sie hatten ihr gesagt, daß er sie in diesem<br />

Brief beschuldigt, in jener Nacht das Auto gefahren<br />

zu haben. Sie hatten ihr gesagt, daß er schrieb, daß<br />

er es auf sich nahm, weil er hoffte, alles würde wie<br />

früher werden, aber er kann es nicht mehr ertragen,<br />

ihr zu verzeihen. Und dann hatten sie sie gefragt, ob<br />

sie etwas dazu sagen möchte, und daß das Gespräch<br />

aufgezeichnet würde und daß, wenn sie möchte, sie<br />

sich einen Anwalt rufen kann.<br />

Sie hatte ihnen gesagt, daß sie ihn geliebt hatte. Sie<br />

hatte den Kopf gesenkt und gefragt, ob sie vielleicht<br />

eine Zigarette haben könnte.<br />

»Auf und davon«<br />

Kinderbuch von Sid Eisengurrer<br />

& Janek el Cäsard<br />

»mit links aufstehn ist die regel,<br />

eigentlich«<br />

Gedichte und Bilder von<br />

Sid Eisengurrer & Janek el Cäsard<br />

Verlag Anna Kram Erfurt 2003<br />

Erhältlich im »Kaffee Hilgenfeld« am Domplatz<br />

oder über sigurd_reisener@web.de<br />

NEU: Erfurts frische Texte!<br />

Anthologie zum Eobanus-Hessus-Schreibwettbewerb<br />

Unter dem Titel »Fantasterei gleich hoch zwei« gibt es endlich die Anthologie des<br />

Erfurter Schreibwettbewerbs der Jahre 2001 und 2002. Die Anthologie enthält die<br />

18 prämierten Texte – exklusiv und in Originallänge!<br />

Mit einem Nachwort von Otto Kruse und Fritz-Wilhelm Neumann.<br />

Die Wettbewerbsausschreibung für 2003 findet ihr auf Seite 5 dieser Ausgabe.<br />

Die Anthologie kann gegen eine Spende von 3,00 EUR über die Buchhandlung<br />

Peterknecht oder direkt über das Studentenzentrum Engelsburg, Allerheiligenstr.<br />

20/21, 99084 Erfurt bezogen werden. Online könnt Ihr sie über hessus@eburg.de<br />

bestellen.<br />

DIE RAMPENSAU WINTER 03


neunter<br />

ich habe den november<br />

satt wie den hunger<br />

im süden. es glimmt<br />

in den verfaulten jahrestagen<br />

noch das alte freudenfeuer.<br />

durchmarschierte jungstiefeltritte<br />

treffen mich noch hart<br />

beim gedenkenspagat, immer<br />

bleibt was am knochen<br />

beim fressen, töten, vergessen.<br />

es lebe der verlorene schnee<br />

mit den namenlosen spuren<br />

der verlierer. schauerkriege<br />

benehmen sich wie abkommandierte<br />

besucher. sie stehen geduldig<br />

in der presse wie geschenke<br />

des sterbens.<br />

es ist viermal herbst im jahr.<br />

ich habe den neunten<br />

hängen lassen wie einen<br />

deserteur. nicht abgerissen<br />

ist vielleicht wie es passiert<br />

nicht mehr. ich nehme mich<br />

nicht mehr mit in die leuchtende<br />

zukunft. ich kann mich nicht<br />

selbst zerfleischen, weiterkleben<br />

wie eine flüchtige notiz.<br />

die hunde werden bissiger,<br />

die mit ihnen gehn, gerissener ...<br />

Auf Stadtrundgang<br />

Die Bettler haben<br />

die Preise erhöht.<br />

Sie knien unter<br />

einer Gewitterfront,<br />

machen ihren Job,<br />

eingeprügelt am<br />

Vormittag<br />

ins Schweigen.<br />

Lebensanzeige<br />

Ich schaffe mich raus, täglich<br />

wie Müll, schleppe mich<br />

in die unbezahlte Freiheit, schnappe<br />

Luft auf und Gerüche, gehe<br />

meine Runde nach dem Hund.<br />

Ich spare mir mein abgeschnürtes<br />

Schreien für die Meute<br />

auf, die heult bestellt vor meiner Tür<br />

wie Sturm. Ich bin<br />

vorübergehend tot.<br />

Faterlant<br />

fatale taube du treibst voll mit vergifteten<br />

weißbrotwürfeln als leiche an die fahne<br />

die im wasser treibt. in aller herren länder<br />

landen landser. gespickt in der presse sind<br />

wir wer unter uns verbrecher<br />

lyrik eins<br />

• von Stefan Schütz<br />

Jg. 1964, Lyriker, lebt in Erfurt<br />

DIE RAMPENSAU WINTER 03 19<br />

Petersberg Erfurt - Foto: Archiv Die Rampensau


lyrik zwei<br />

• von Maik Lippert<br />

20<br />

»... als wären es die Beine einer göttlichen, ganz<br />

in die Kluft meines Brustkastens zutiefst versunkenen<br />

Frau.«<br />

Pablo Neruda, Liturgie meiner Beine<br />

mannschaftsbilder<br />

tauschte ich gegen hefte<br />

über stöchiometrie<br />

diese abgegriffen klassenfotos<br />

zu großer jungens in trikots<br />

aus dem duploriegel<br />

gab ich gern<br />

für das wissen um die wertigkeit der elemente<br />

ich kannte nicht die verhältnisse<br />

von tausch und umtauschsatz<br />

nicht den weg<br />

der westpakete<br />

ich wußte nichts<br />

von der schönheit der welt<br />

männlicher waden<br />

erst heute da ich mit gestrecktem bein<br />

vorm laufenden fernseher liege<br />

weiß ich<br />

nichts geht über<br />

wadenliebe wadenliebe<br />

und männer mit körperbeherrschung<br />

die eiskalt abdrücken können<br />

wenn du ausgestreckt liegst<br />

nichts geht über<br />

wadenliebe<br />

männer<br />

die ihre beine lieben wie in sie<br />

verwachsene frauenkörper<br />

eine zerrung ein muskelfaserriß<br />

und sie lassen sich vereisen<br />

für die restspielzeit<br />

zuhause streichen sie dann<br />

zärtlich am stützverband entlang<br />

liegen vorm fernseher wie du<br />

über die linke wade streichst<br />

und weißt um die aussicht<br />

auf stützstrümpfe<br />

aus beige-braunen nylongewebe<br />

(am rand innen gummiert<br />

außen verziert mit floralen spitzenmuster<br />

wie tischdeckchenränder)<br />

denn nichts geht über<br />

wadenliebe wadenliebe<br />

Jg. 1966, pendelt mit seinem Leben zwischen Kleinfahner (bei Erfurt) und Frankfurt/M.<br />

1986-1991 Ökonomiestudium in Moskau. Seit 1994 kaufmännisch beschäftigt unter<br />

Ausbeutung erworbener Russischkenntnisse. Preis der Zeitschrift »Das Magazin« beim<br />

MDR- Literaturwettbewerb 2000 in Leipzig. Wolfgang-Weyrauch-Förderpreis beim<br />

Lyrik-Wettbewerb »Literarischer März 2001« in Darmstadt. Stipendiat des Klagenfurter<br />

Literaturkurses im Juni/Juli 2001.<br />

SCHICHTARBEIT<br />

gefühllose tiere in der u-bahn<br />

so siehst du sie<br />

im durchzug<br />

wie zur blanken<br />

fahrt<br />

sie haben dieses stück tag<br />

sich längst vom leib<br />

geschnitten<br />

sediment ist schon jetzt<br />

jede stunde<br />

um die augen<br />

rotliegendes<br />

äderung<br />

wie gingko und bärlappgewächs<br />

versteinert<br />

so fühlst du dich<br />

durchstrahlt<br />

tier unter tieren<br />

im halbschlaf<br />

von fossilien<br />

so fahr ins sediment<br />

krepieren gelingt<br />

nicht<br />

WER SPRICHT BEI SCHNEE SCHON<br />

von fraktalen<br />

da steht ein bauzaun<br />

jetzt<br />

so bald die augen aber blinzeln<br />

vor flockensaum<br />

belügst du dich<br />

siehst die alte telefonzelle wieder<br />

sprichst muschelgetuschel<br />

ins leere<br />

liebesgezeter<br />

wie einst an die blechwand gelehnt<br />

da war noch platz<br />

zwischen bordstein und gelben gehäuse<br />

für moos und mäusegerste<br />

so verwahrt vor unkrautex und dioron<br />

zog es nachts die nager dahin<br />

doch nun ziehst du schweigend davon<br />

und in der tasche klingelt leise<br />

dein mobiltelefon<br />

DIE RAMPENSAU WINTER 03


und drei<br />

• von Tobias Sichert<br />

Täglich Brot<br />

Rotz von tausend Zungen<br />

auf kaltem Asphalt:<br />

dampfig und friert;<br />

hungrige Katze leckt<br />

krank,<br />

nährt ihre Jungen<br />

und wird nicht alt.<br />

UND ICH SCHNITT DIE KUPPE JENES<br />

Fingers ab, bis lautlosrot ein<br />

Tropfen<br />

die kalten Blätter benetzt,<br />

das allein durch mich der weichen<br />

Erde<br />

entgegenhetzt; – – –<br />

und in einer warmen Krume<br />

nährt der Tropfenstrom<br />

den Samen einer Mutterblume<br />

Versuch eines<br />

Liebesgedichtes II<br />

Arabische Lichter strahlen schwarz<br />

über den rothellen Lippen der warmen<br />

Mondscheibe;<br />

deren zartes Haar wölkt sich sanft<br />

auf meinem Schoß.<br />

Leise sinken die Lippen, Lieder<br />

verschwimmen in rauschen Tagtränen –<br />

und überall verbrauchte Luft.<br />

Im Mondhimmel tanzt meine Hand<br />

für die schlafenden Lichter<br />

ein Spiel, und ein Finger<br />

streicht heimlich den weißen Mondsand<br />

unvorstellbar rot.<br />

Jg. 1980, studiert Literaturwissenschaft und Erziehungswissenschaft in Erfurt;<br />

schreibt Lyrik und Prosa<br />

DIE RAMPENSAU WINTER 03 21<br />

Petersberg Erfurt - Foto: Archiv Die Rampensau


Bernhard Dittmar<br />

freischaffender<br />

Theaterregisseur,<br />

Erfurt, Gründer des<br />

freien Theaters »Der<br />

Rabe« Erfurt, mehrere<br />

Inszenierungen (u.a.<br />

»Der komische Alte«,<br />

2001)<br />

22<br />

D<br />

VATER, WIE TIEF IST DAS WASSER?<br />

ODER DER MUT DER BÄCKER<br />

AUSZUG • Von Bernhard Dittmar<br />

1 . T e i l<br />

I .<br />

ER MUT DER BÄCKER BESTEHT AUCH NUR<br />

NOCH DARIN: IN DEN TEIG ZU SPUCKEN!<br />

Höre ich mich sagen.<br />

Freund, kannst du dich noch erinnern: Wir arbeiteten<br />

in den Ferien, damals 1965, bei ELMI in Erfurt. Wir<br />

taten es den alten Bäckern nach. Wir spuckten in den<br />

Teig, in die Sahne ohne nachzudenken oder in die sowieso<br />

schon eklige Magarinecreme.<br />

Da hatte unser Mut noch die Kraft der Jugend.<br />

Da bravi, via, ballate!<br />

Sie tanzen.<br />

Die Schläppchen hängen rosa neben der Tür, abgenutzt,<br />

staubig.<br />

Dann schreit sie. Ausgleich zu ihrem stummen Beruf.<br />

Da bravi ...<br />

Und sie schreit laut. Ihr weniges Deitsch geht unter in<br />

slawischen Fäkalien. Es ist eine Chaossprache. Hysterie<br />

liegt darin: Verachtung.<br />

Ich antworte aus Gewohnheit nicht.<br />

Mir fehlt einfach jede Möglichkeit über die Unmöglichkeit<br />

ihres Denkens nachzudenken.<br />

Ich bin der geborene Dulder und meine Duldung wird<br />

als Mißachtung ausgelegt.<br />

Scheißkerl. Mistsau. Versager.<br />

Das ist noch harmlos.<br />

Huppdohle, denke ich, und gehe. Sechste von links.<br />

Gehe. Gehe. Gehe.<br />

Die Tür schlägt hinter mir ins Schloß.<br />

I I .<br />

Wohin?<br />

Wer weiß schon allabendlich eine Antwort auf diese<br />

Frage. Also: keine Antwort.<br />

Irgendwohin, wo es genug Wodka gibt oder Wein, wo<br />

die Flaschen in Reih und Glied aufmarschiert sind, alle<br />

um zu betäuben. Der Lärm, der mir entgegenschlägt,<br />

wird in zwei Stunden mein Lärm sein. Man wird eben<br />

lauter.<br />

Und besoffen krakeelt es sich gut. Alle um mich tun<br />

es.<br />

Die waren schon den ganzen Abend um mich und werden<br />

den Tag um mich sein und morgen und den nächsten<br />

Tag, die Nächte und so fort.<br />

Laßt sie uns verbrennen: Diese Tage.<br />

Die Fingerspuren unserer fettigen Seelen, die Zeitungsdeutschreden,<br />

all diese schrecklichen Gleich =<br />

Gültigkeiten.<br />

Ich sage es jetzt nur hier und nur einmal: Warum<br />

schlagt ihr unsereins nicht tot.<br />

Endlich die Schnauze einschlagen, das fehlte noch,<br />

Amen. Bring ein neues Glas!<br />

Bring‘n neues!<br />

Bring‘neues Glas ...<br />

Man sollte sein Leben auf diesen Satz reduzieren, den<br />

wichtigsten Satz.<br />

Mein Satz! In dem das Vergessen eingeschlossen ist.<br />

I I I .<br />

Krankheit.<br />

Ja, ja, ich kann mich erinnern.<br />

Ja, ja, du warst krank, du lagst im Hotel, das Pfeiffrösche<br />

Drüsenfieber. Du lagst keuchend wie eine asthmatische<br />

alte Matrone in deinem Bett, zwischen den<br />

Federtürmen, deiner unbesiegbaren Festung.<br />

Ich hatte dich gerade erst kennengelernt und habe<br />

deshalb Blumen mitgebracht, sag nicht, daß du dich<br />

nicht gefreut hättest.<br />

Mir fallen deine Worte wieder ein.<br />

Du hast meine Freundlichkeit mit dem Wort CHAR-<br />

ME bedacht. Etwas, ein Begriff, der in unseren kalten<br />

Breiten so unbekannt ist, so erledigt.<br />

Was ist Charme?<br />

Tänzerin?<br />

Sechste von links?<br />

Ich weiß, jetzt hast du es verloren, vertan; seit du<br />

schwanger bist ist dein Zustand diabolisch. Rosmarie's<br />

Baby.<br />

Diese Schwangerschaft und dein biblisches Alter sind<br />

deine eigentliche Krankheit, auch sie ist ansteckend,<br />

vergiftend, tötend. So werde auch ich krank davon.<br />

Und du liegst und liegst in deinem Hotelzimmer. Ein<br />

Meer von Blumen umgibt dich, Orangen pfundweise<br />

und die edlen Goldschnittausgaben. Bücher. Gedichte.<br />

Klassiker.<br />

Die tägliche Romantik deiner anstrengenden Lebenskunst.<br />

Du weißt jedoch nicht alles.<br />

DA GIBT ES NOCH MARIE:<br />

Und die zieht jeden Abend ihr Pariser Kleid aus kleinen<br />

Metallringen über ihren nackten Körper, übersät mit<br />

Sommersprossen, die ihr wahres Gesicht verbergen,<br />

verfängt sich ihr langes rotes Haar in den Stahlösen.<br />

Und mein Schwanz ruht nicht nur den ganzen Abend<br />

in ihrer Hand. Er bewegt sich in ihrer Wahrheit und<br />

ihre Wahrheit ist einfach, ohne Absicht, ist nur Haut<br />

auf Haut und Geschlecht an Geschlecht. Da ist kein<br />

Kranzmysterium. Nicht der blutige Schleier durchtanzter<br />

Nächte im monogamischen Bett.<br />

Es ist so einfach nicht von deinem Bauch = Mysterium<br />

eingekreist zu werden.<br />

Nur du allein ziehst Vorteile aus deinen satanischen<br />

Mutterfreuden.<br />

DIE RAMPENSAU WINTER 03


DIE RAMPENSAU WINTER 03<br />

I V.<br />

K i n d h e i t .<br />

Ich weiß meine Geburt nicht mehr. Es heißt, wir alle<br />

behalten davon ein Trauma, es verfolgt uns ein Leben<br />

lang.<br />

Außer der absonderlichen embryonalen Einschlafstellung<br />

berührt mich mein uterales Gefängnis nicht mehr.<br />

Auch die mütterlichen Milchbrüste sind mir aus dem<br />

Hirn subtrahiert.<br />

Ich versuche sie nicht zu finden, stelle mir keinen befriedigten<br />

Zug, keinen schmatzenden Schluck mehr<br />

vor.<br />

Über so etwas redet man nicht, sagst du.<br />

Ich sehe, in Träumen, sehr früh ein Haus am Rande<br />

der Stadt. Dieses Haus ist gefüllt mit Menschen. Sie<br />

stehen dicht an dicht. Sie wachsen übereinander her.<br />

Die Hände verlieren sich in fremden Hosen und unter<br />

fremden Röcken.<br />

Großeltern. Tanten. Onkels. Kusinen. Das frische<br />

Fleisch.<br />

Eine Artistin.<br />

Zigeuner.<br />

Und da sind noch zwei kleine Mädchen, der erste erotische<br />

Genuß.<br />

Hinterm Haus - da war ein Holzschuppen in dem sich<br />

zwei Dutzend Tauben über unslustig machten.<br />

Ringeltauben.<br />

Felsentauben.<br />

Gurrende Lachsäcke.<br />

Gemeine Turteltauben turtelten über uns hinweg.<br />

Girrvögel. Mädchen die beim Vögeln girren.<br />

Lachtauben.<br />

Turtur risotus Swains.<br />

Isabellenfarbig.<br />

Isabellinisches Lachen.<br />

L a c h e n :<br />

Risus. Lautes, stoßweises Ausatmen mit Zusammenziehung<br />

gewisser Gesichtsmuskeln<br />

(Lachmuskeln), die die Mundwinkel nach außen ziehen,<br />

auch krank = haft (Lach = Krampf) bei sogenannten<br />

Hysterischen.<br />

Meine Mutter wurde hysterisch als sie uns das erste<br />

Mal in der Gemeinschaftstoilette des Hauses beim Vorzeigen<br />

erwischte. Da durfte ich nicht mehr mit Elvi<br />

spielen, sie nicht mehr ansehen, auch im vorübergehen<br />

nicht, geschweige denn ihre vom Pissen noch feuchte<br />

Spalte berühren.<br />

V.<br />

Wir trafen uns heimlich.<br />

Da war dieser Holzschuppen, der alles verbergende<br />

Zaun, nachbarliches Grundstück.<br />

Das war unser zu Hause. Der stille Winkel unserer<br />

Freude. Hier konnte uns keines der Vätermonster<br />

treffen. Hier war Ausland. Der Zaun, die Demarkationslinie.<br />

Die Mütterdrachen verbannen.<br />

Bambino, der Zigeunerjunge, Abenteurer aus Gewohnheit,<br />

will sich nicht verstecken. Der hat ja Angst. O die<br />

Angst vor dem alten, lahmen Madjore.<br />

Bambino prustet los, läßt seine Hose runter und zeigt<br />

uns seinen kleinen festen braunen Arsch.<br />

Ihr könnt mich mal, da waren die Zungen der Mädchen<br />

schnell dabei.<br />

Wir spielen Verstecken, oder VATER WIE TIEF IST DAS<br />

WASSER. Solche Spiele auch. So viele Spiele.<br />

(...)<br />

Wieder eine<br />

Nacht<br />

•<br />

(für Tom Waits)<br />

Von Thomas Zimmermann<br />

Es ist fünf Uhr morgens. Betrunken, müde und<br />

traurig irrt Henry durch die Straßen. Die ganze<br />

Stadt schläft. Die meisten sind schon vor<br />

mehreren Stunden ins Bett gegangen. Nur er kann<br />

nicht schlafen, hat die ganze Nacht getrunken. Allein.<br />

Nur der Mond. Keine Frau, die auf ihn wartet, es gibt<br />

nicht eine Frau, von der es sich lohnt zu träumen. Er<br />

ist total einsam, hat endgültig die Schnauze voll. Kein<br />

vernünftiger Job in Aussicht. Nur noch eine halbe Flasche<br />

Whisky, die in seiner Wohnung wartet. 26 Jahre<br />

und eine halbe Flasche Whisky, die ihm bleibt. Er hat<br />

jetzt endgültig die Schnauze voll. Heute Nacht macht<br />

er Schluß. Entschlossen läuft er nach Hause. Er wird<br />

sich in die Küche setzen, den Gasherd aufdrehen und<br />

ein letztes Glas Whisky trinken. Und er wird sich zum<br />

letzten Mal die Musik von Tom Waits anhören.<br />

Zu Hause schenkt er sich ein Glas Whisky ein und<br />

legt die »Raindogs«-Kassette in den Recorder. Der<br />

Mond scheint in sein Zimmer. Er steht am Fenster, das<br />

Glas mit Whisky. Tom Waits singt. Hang down your<br />

head for sorrow ... Die Musik ist zu schön. Er spult<br />

nochmal zurück, hört sich das Lied noch ein paar mal<br />

an, dann die ganze Kassette, trinkt weiter Whisky. Er<br />

fühlt sich wohl. Langsam wird es hell. Die Stadt erwacht.<br />

Die Flasche ist leer. Müde fällt er in sein Bett,<br />

wieder eine Nacht überstanden.<br />

Thomas<br />

Zimmermann<br />

Jg. 1970, Maschinen-<br />

und Anlagenmonteur,<br />

Dipl.-Sozialpädagoge,<br />

verschiedene Jobs,<br />

Gelegenheits-DJ, z.Zt.<br />

Barrista in einem Café;<br />

Roman »Heißer<br />

Sommer«, 2001<br />

Zuschauerpreis beim<br />

Eobanus-Hessus-<br />

Schreibwettbewerb;<br />

moderiert donnerstags<br />

ab Mitternacht<br />

Sendung »Nightswimming«<br />

auf Radio<br />

F.R.E.I.<br />

23


• R E Z E N S I O N E N •<br />

Überall und Erfurt<br />

Ein Buch über unbefugte<br />

Jugendgewalt<br />

Wer einmal einen unfrisierten Blick auf<br />

den Geist, der einst in deutschen Bildungsanstalten<br />

wehte, werfen möchte, dem sei<br />

die Erzählung »Der Vater eines Mörders«<br />

von Alfred Andersch empfohlen. Darin<br />

beschreibt der Erzähler eine Schulstunde<br />

– ach was: eine Folterung – in der er ob<br />

seines mangelnden Eifers in dem so nützlichen<br />

Fach Altgriechisch vom Schulleiter<br />

systematisch psychisch unterm Absatz zertreten<br />

und schließlich von der Schule gefeuert<br />

wird. Ein extremer Fall, zugegeben,<br />

zumal es sich bei besagtem Schulleiter um<br />

den Vater von Heinrich Himmler, einen angesehenen<br />

und geehrten Münchner Oberschulkommandanten<br />

handelte. Allerdings<br />

ist weder die Verwandtschaft zum Reichsführer<br />

SS von Interesse, sondern das Allgemeine,<br />

das in der Szene deutlich zutage<br />

tritt: Der Charakter der Schule als einer<br />

Einrichtung, deren Ziel und Daseinszweck<br />

nicht wirklich die Vermittlung von Wissen<br />

ist, sondern eher die Aufspaltung der heranwachsenden<br />

Gesellschaft in Gewinner<br />

und Verlierer.<br />

Hat sich daran eigentlich was geändert?<br />

Zur Beantwortung dieser Frage sei<br />

auf das Geschrei verwiesen, das kürzlich<br />

von Seiten sogenannter konservativer Bildungspolitiker<br />

anhub, als aus gar nicht<br />

ganz abwegigen Gründen der Vorschlag<br />

gemacht wurde, das »Sitzenbleiben« abzuschaffen.<br />

Wie dem auch sei, Herr Andersch<br />

hat seinen Frust in sozial akzeptierten<br />

Bahnen abreagiert, ist Schriftsteller ge-<br />

24<br />

Freerk Huisken:<br />

»z.B. Erfurt – Was<br />

das bürgerliche<br />

Bildungs- und Einbildungswesen<br />

so<br />

alles anrichtet«<br />

VSA-Verlag Hamburg<br />

2002, 128 S.,<br />

EUR 8,00<br />

worden, und hat aus seinem Erlebnis ein<br />

Buch gemacht.<br />

Nun ist bekannt: In Erfurt gab es einen<br />

Schüler namens Robert S., der hat seine<br />

Demütigung, von der Schule auf die Verliererseite<br />

gestellt worden zu sein, in ganz<br />

und gar nicht sozialkonformer Weise verarbeitet.<br />

Hätte er es wie seine »normalen«<br />

Mitschüler beim Videospiel belassen, nie<br />

hätte die Öffentlichkeit von ihm Notiz genommen.<br />

Doch da er tat, was er tat, scheint<br />

ein Blick auf die Mechanismen, die dazu<br />

führten, dingend geboten. Lag damit nicht<br />

etwas in argen? Schon möglich, denn wenig<br />

hilfreich im Sinne einer vorhaltlosen<br />

Erforschung der Beweggründe war das Anliegen,<br />

die Tat als die eines Irren und Geistesgestörten,<br />

als »unbegreiflich« und nicht<br />

erklärbar hinzustellen – so beispielsweise<br />

der Bundespräsident höchstselbst in seinen<br />

sermonierenden Auslassungen darüber.<br />

Immerhin tauchte am Rande der medial<br />

ausgelebten Hilflosigkeit schon mal der<br />

Gedanke auf, das Schulsystem als solches<br />

könne etwas damit zu tun haben – ohne indessen<br />

konsequent bis zum Schluß gedacht<br />

zu werden. Nahe lagen natürlich auch die<br />

üblichen wohlfeilen Erklärungsmuster,<br />

die flugs in polizeistaatliche Forderungen<br />

nach mehr Zensur und mehr Überwachung<br />

mündeten. Doch hat es wirklich etwas damit<br />

zu tun, daß einer gerne am Computer<br />

Leute umlegt? Klar, die Tat eines Verrückten.<br />

Es muß so sein.<br />

Es muß so sein. Aber ist es so? Mit dieser<br />

Frage beschäftigt sich das Buch »z.B.<br />

Erfurt« von Freerk Huisken. Geht man der<br />

Frage nach, ohne auf die fadenscheinige<br />

und darin den Ereignissen vom 11. September<br />

2001 sehr ähnliche Masche, in der<br />

Erklärung zugleich eine Funken Verständnis<br />

für die Tat aufleuchten zu sehen, abfährt,<br />

so wirbelt schon einiger Staub auf.<br />

Und das wird hier allemal getan. Der Autor<br />

liefert hier eine im besten Sinne radikale,<br />

also an die Wurzeln gehende psychologische<br />

Analyse des Amoklaufs von Erfurt,<br />

die nicht vor der Kritik des bürgerlichen<br />

Bildungssystems halt macht. Robert S., so<br />

lautet das Ergebnis, war keineswegs der<br />

»singuläre« Irre – nein, er war das genaue<br />

und typische Ergebnis eines Schulwesens,<br />

welches das Prinzip der Auslese »schlechter«<br />

von »guten« Schülern, das Prinzip der<br />

Konkurrenz und des Leistungskults bis ins<br />

Mark verinnerlicht hat. So galt als der Gegenstand<br />

der zaghaft geäußerten Kritik am<br />

Schulsystem auch keineswegs die Hervorbringung<br />

von Verlierern an sich, sondern,<br />

daß jenes Schulsystem es nicht geschafft<br />

hat, einen Verlierer am Ausrasten zu hindern,<br />

bzw. das bevorstehende Ausrasten<br />

nicht rechtzeitig erkannt und in sozial akzeptierte<br />

Bahnen gelenkt zu haben.<br />

Ähnlich verhält es sich auch mit der geäußerten<br />

Kritik an Waffenrecht und Killerspielen,<br />

die als Konsequenz nur eine Verschärfung<br />

der staatlichen Sanktionen sehen<br />

will und die tieferen Ursachen außen<br />

vor lässt. »Wo ab sofort der Zugriff auf Waffen<br />

härteren Vorschriften unterliegen soll«,<br />

führt Huisken aus, »da wird gerade nicht<br />

das Interesse, zu ihnen zu greifen, angegriffen,<br />

sondern allein die Ausführung der<br />

geplanten Tat erschwert.« So auch hinsicht-<br />

lich der Ballerspiele: in diesen eine Ursache<br />

zu sehen, sei nicht plausibel, da bei<br />

jemanden, der von deren Inhalten etwas<br />

imitiert, der Entschluß zur Tat vorangegangen<br />

sein muß. Allerdings, so stellt der<br />

Autor heraus, heißt das noch lange nicht,<br />

daß es an Waffenbesitz und Gewaltspielen,<br />

nichts zu diskutieren gäbe – nur als<br />

Erklärungsmuster für das Ausrasten des<br />

Robert S. taugen sie nicht.<br />

Insgesamt stellt das Buch »z.B. Erfurt«<br />

von Freerk Huisken einen wichtigen und<br />

diskussionswürdigen Beitrag dar, eben<br />

weil er gängige Erklärungen aufdeckt und<br />

für das Selbstverständnis deutscher Erziehungsstätten<br />

unbequeme Schlüsse zieht.<br />

So riet die Staatliche Schulberatungsstelle<br />

München in einem (im Anhang wiedergegebenen)<br />

Rundschreiben, mit den Schülern<br />

nicht über die Motive des Täters zu<br />

diskutieren. Ja, warum das wohl?<br />

Peter Raulfs<br />

Rechtsaußen? –<br />

Mittelfeld!<br />

Ein Buch über den ganz<br />

normalen Fußball<br />

Rassismus und Sexismus sind im Fußball<br />

allgegenwärtig. (Man muß nur einmal ins<br />

Steigerwaldstadion gehen oder die Plakate<br />

vom SSV Erfurt-Nord ansehen.) Meist jedoch<br />

beschränkt sich die öffentliche Diskussion<br />

auf das Handeln der Fangruppen<br />

– auf die rassistischen und fremdenfeindlichen<br />

Sprüche, Gesänge und Transparente<br />

in der Stadionkurve und das Auftreten<br />

vor und nach dem Spiel. Die rassistischen<br />

Tendenzen in den Vorständen der Fußballclubs<br />

oder in der medialen Fußball-<br />

Berichterstattung werden dabei meist<br />

ausgeblendet.<br />

Der Sammelband »Tatort Stadion« ist<br />

der Versuch eines Gegenentwurfes. Er<br />

zeigt, wie sich in allen Bereichen des Fußballmilieus<br />

rassistische, antisemitische<br />

und sexistische Tendenzen ausprägen.<br />

Die Autor/innen, fast alle selbst in Fan-<br />

Projekten verschiedener Vereine tätig, tun<br />

dies mit praxisgesättigten Detailkenntnissen<br />

und Erfahrungen über Struktur und<br />

Funktionsweise des Profi- und Amateurfußballs<br />

auf nationaler und internationaler<br />

Ebene.<br />

Der erste Teil des Buches umreißt in<br />

elf Beiträgen Facetten und Varianten von<br />

Rassismus, Antisemitismus und Sexismus<br />

in den verschiedenen Bereichen des Fußballmilieus.<br />

U.a.: Nationalismus und Antisemitismus<br />

bei Länderspielen und im<br />

DIE RAMPENSAU WINTER 03


... und auch noch ausgerechnet Heiligenstadt<br />

DFB, rassistische Tendenzen in der medialen<br />

Berichterstattung, die Diskussion<br />

um die Begrenzung ausländischer Spieler<br />

bei Proficlubs, Stadionbefragung zu Ausländerfeindlichkeit<br />

und Rassismus in Bielefeld,<br />

die rechte Fußballszene in Italien,<br />

Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus<br />

im Amateurfußball, Sexismus im Stadion,<br />

Schwulenfeindlichkeit im Fußballmilieu.<br />

Der zweite Teil beschäftigt sich mit Möglichkeiten<br />

der Gegenbewegung gegen Rassismus<br />

im Fußball. Es werden vier Fan-Initiativen<br />

vorgestellt: das »Bündnis aktiver<br />

Fußballfans« (BAFF), die Schalker Fan-Initiative,<br />

»Roter Stern Leipzig« und die interdisziplinäre<br />

Arbeitsgruppe zur Bekämpfung<br />

rechter Umtriebe im Fußballumfeld.<br />

Das Buch zeigt am Beispiel des Massenphänomens<br />

Fußball, wie weit rassistische<br />

und antisemitische Vorurteile in<br />

der vielbeschworenen ›Mitte der Gesellschaft‹<br />

vorhanden sind und daß man die<br />

Fußballszene durchaus als »Seismografen<br />

für gesellschaftliche Tendenzen« verstehen<br />

kann. Ein interessanter und lesenswerter<br />

Band nicht nur für Fußball-Fans, sondern<br />

auch für alle, die einen kritischen Blick hinter<br />

das »salonfähige Fußballbild der Kommerzindustrie«<br />

werfen wollen.<br />

D. Tanner<br />

DIE RAMPENSAU WINTER 03<br />

Gerd Dembowski/<br />

Jürgen Scheidle<br />

(Hg.): Tatort Stadion.<br />

Rassismus,<br />

Antisemitismus<br />

und Sexismus im<br />

Fußball. Mit einem<br />

Vorwort von Michael<br />

Preez. PapyRossa<br />

Verlag Köln 2002,<br />

216 S., EUR 12,90<br />

Foto: Archiv Die Rampensau<br />

Ächte Fans<br />

• Von Sid Eisengurrer<br />

Die folgende Geschichte ist eine Geschichte, will sagen, daß all das<br />

Geschreibsel Hirngespinst des Autors ist. Falls dennoch jemand Personen<br />

oder Begebenheiten bekannt vorkommen, so würde mich das<br />

zu tiefst erstaunen. Das war nicht gewollt. Ich schwöre, beim Aufstieg<br />

des FC Rot-Weiß Erfurt.<br />

Ich hatte noch einmal geschüttelt und<br />

meine Individualität im Hosenschlitz<br />

verschwinden lassen, als vor mir eine<br />

gänzlich andere Individualität erschien.<br />

Aus circa einem Meter neunzig musterte<br />

mich ein Augenpaar, rot-weiß glänzte das<br />

Weiße, ein Grienen, das einer rohen Thüringer<br />

Bratwurst in Nichts nachstand, warf<br />

sich mir entgegen. Sein überaus wuchtiger<br />

Körper war eingehüllt in ein Allerlei aus<br />

Schärpen und Tüchern, das dem FC Rot-<br />

Weiß Erfurt lobpreiste.<br />

»Un Aldar?« antwortete ich geistesgegenwärtig<br />

auf sein: »Un Aldar?«<br />

Indes war seine Hand, mein rechtes Ohr<br />

streifend, auf meine Schulter gefallen. Ich<br />

fing mich mit einem Schritt zur Seite ab<br />

und drückte die Knie durch. Bezüglich meines<br />

Ohrs hatte er anscheinend Schlimmeres<br />

befürchtet, jedenfalls begann er unverzüglich,<br />

es tatkräftig zu untersuchen. Nach<br />

einigem hin und her gelang es mir, ihn zu<br />

überzeugen, daß es mein Ohr ist. Einsichtig<br />

beklopfte er es noch einmal mit der<br />

flachen Hand. Dabei hatte er seinen Bratwurstmund<br />

an mein Ohr gedrückt. Und<br />

da war es wieder dieses, dieses Geräusch.<br />

Als Dreizehnjähriger krabbelte ich einmal<br />

im Georgi-Dimitroff-Stadion an einem<br />

Lautsprechermast hoch, um besser<br />

sehen zu können. Sie mußten die Anlage<br />

repariert haben. Wie sollte das ein Dreizehnjähriger<br />

ahnen. Als der Stadionsprecher<br />

sich zu Wort meldete, bemühten<br />

sich meine Hände unwillkürlich um Schadensbegrenzung.<br />

Den Aufschlag spürte ich<br />

kaum. Das Dröhnen in meinen Ohren hatte<br />

mein Gehirn mit einer Gänsehaut überzogen,<br />

die meine ganze Konzentration vereinnahmte.<br />

Gleichsam wie in alten Zeiten blieb mir<br />

die Bedeutung der Worte versagt. Im Gegensatz<br />

zu alten Zeiten hatte ich mich jedoch<br />

gefangen. »Häh!« erbat ich mir eine<br />

Wiederholung des Gesagten.<br />

»Aldar!« dröhnte er erneut. Es war auszuhalten.<br />

Es war mir gelungen, einige Zentimeter<br />

Distanz zu annektieren. Ich fühlte<br />

mich im Recht. »Aldar!« fuhr er fort. »Isch<br />

mene nur, isch freu misch immar, wennch<br />

ä ächtn Är-Weh-Ä-Fan seh. Wisste? Nisch<br />

die Wichsar, die nur kommn, wennsn Glub<br />

gut geht. Wisste?« Obwohl sich mein Mund<br />

Grafik: Janek el Cäsard<br />

daraufhin ruckartig öffnete, blieb ich nonverbal.<br />

Ich war gerührt. Dann quirlten die<br />

Zweifel: Wieso wurde gerade ich in den<br />

Adelsstand der echten Rot-Weiß-Fans aufgenommen?<br />

Wie hat er mich erkannt?<br />

Kann man sich schützen?<br />

Neben der Körperfülle und dem rohen<br />

Bratwurstgrienen hatte auch sein Zeigefinger<br />

eine Besonderheit: Er war spitz.<br />

Und trotzdem konnte er, scheinbar mühelos,<br />

sein ganzes Gewicht darauf verlagern,<br />

was er mir eindrucksvoll bewies. Die klitzekleine<br />

Fläche, die er so berührte, eine<br />

Handbreit über meinem Herz, erinnerte<br />

mich noch lange an unsere Begegnung<br />

und an seine Worte: »Das alde Ämmblem<br />

heßt Treue. Ge!«<br />

Nachdem er seinen Zeigefinger wieder<br />

aus meiner Brust gezogen hatte, sang er<br />

den Refrain der offiziellen Hymne unseres<br />

Vereins: »Rot-Weiß! Rot-Weiß! Auch wenn<br />

es dir ma Scheiße gehd. Wir stehn zu dir,<br />

weil`s weida gehd.« Währenddessen hoppelte<br />

er ans Urinal. Der Weg war frei. Ich<br />

war hin und weg.<br />

Vor dem Fan-Haus bzw. vor der Fan-<br />

Baracke beguckte ich zunächst die kleine<br />

Anstecknadel mit dem »alden Ämmblehm«<br />

an meiner Jacke. Diesem Kleinod hatte ich<br />

es also zu verdanken, daß man mich als<br />

25


echten Rot-Weiß-Erfurt-Fan identifizierte.<br />

Daß dies infolge einer Notdurft auf der Toilette<br />

der Fan-Baracke geschah, impliziert<br />

natürlich einen gewissen Interpretationsspielraum.<br />

Doch ich bekenne mich dazu,<br />

Toiletten zu benutzen. Wer die Tatsache<br />

meiner Ehrung auf die Örtlichkeit des Geschehens<br />

reduzieren versucht, ist entweder<br />

Nestbeschmutzer oder eine Gefahr für unser<br />

Trinkwasser.<br />

»Die circa vierhundert Trainer und Spielerberater,<br />

die um unser kleines Grüppchen<br />

Stellung bezogen hatten, verschafften ihren<br />

angestauten Fachkenntnissen gehörig<br />

Ausdruck.«<br />

Doch zurück zum »alden Ämmblem«.<br />

Es hatte mich drei Euro gekostet, sicher<br />

ein bescheidener Preis, um fortan den Titel<br />

»ächtar Fan« zuerkannt zu bekommen.<br />

Und außerdem ist Geld nicht alles, die wesentlichen<br />

Dinge im Leben sind bekanntlich<br />

eh nicht zu finanzieren.<br />

»Prost!« tönte es. Das Krönchen hatte<br />

Bier geholt. Tanner, Tilo Mammut,<br />

Krischan und Janek hatten bereits mit<br />

den Flaschen geklimpert. Was blieb mir<br />

übrig?<br />

»Vor dem Anstoß noch ein Anstoß auf<br />

den Sieg«, kalauerte ich und hielt meine<br />

Flasche den anderen entgegen.<br />

»Unser Dichter ist nicht ganz dicht oder<br />

total dicht«, erwiderte Janek. Zustimmendes<br />

Gelächter. Verlassenheitsgefühle. Aber<br />

der Mensch kann vieles verwinden, wenn<br />

er nicht länger darüber nachdenkt.<br />

»Auf! Wir müssen!« ermahnte ich die<br />

Freunde und fand sogleich wieder Anerkennung.<br />

Wir hatten uns ein »Erfordia« auf leisen<br />

Lippen links unterhalb der Anzeigetafel<br />

postiert, unsere Fahne gehißt und<br />

bangten den Anstoß entgegen. Die anderen<br />

echten Fans hatten sich auf der Tribüne<br />

bzw. rechts neben der Anzeigetafel<br />

zusammengefunden. Mit vielschichtigen<br />

Sprechgesängen, zum Teil eingebettet in<br />

ergreifende Melodien, verbreiteten sie eine<br />

überwältigende Siegeszuversicht. Rot und<br />

weiß leuchtete es ringsumher und die Luft<br />

schmeckte nach Testosteron und Nikotin.<br />

Dann war es soweit. Hurra! Dann rollte der<br />

Ball. Fußballerisches Können gepaart mit<br />

schlitzäugigen Dilettantismus und der Ball<br />

wußte, wohin er gehört. Tor! Jabadabadu!<br />

Und das Wunderbare wiederholte sich. Nur<br />

kurze Zeit später wieder Jubel. Wildfremde<br />

Menschen lagen sich mit feuchten Augen<br />

in den Armen. Unfaßbar dieses Glück.<br />

Auch ich hatte die Arme hoch gerißen und<br />

mit mir meine Freunde. Wir sprangen froh-<br />

26<br />

lockend umher. Wir konnten den Himmel<br />

berühren, und ich war nah dran, dem Fußballgott<br />

die Füße zu küssen.<br />

Dann war Halbzeit. Tanner und Krischan<br />

holten Bier. Die Menschen um uns<br />

herum diskutierten die Tabellenkonstellation.<br />

Erfurts Aufstieg in die zweite Etage<br />

des bundesdeutschen Fußballolymps, so<br />

war einhellig zu vernehmen, war greifbar<br />

nah. Das Bier kam. Natürlich gab es nur<br />

alkoholfreies. Gott sei Dank<br />

war das Krönchen dabei, er<br />

schickte eine selbstgedrehte<br />

Zigarette auf den Weg. Der<br />

Stimmung tat‘s gut. Das<br />

Bier schmeckte scheußlich.<br />

Ohne die anregenden fünf<br />

Prozent ist es halt nur ein<br />

magen- und darmblähendes<br />

Gesöff, welches Stumpfsinn<br />

und Trägheit stärkt. Alles<br />

was ein Mann braucht?<br />

Unsere Super-Rot-Weißen hatten allen<br />

Anschein nach in der Pause ebenfalls<br />

ein Becherchen von dem Gebräu genibbelt,<br />

jedenfalls spielten sie plötzlich so. Und<br />

dann geschah das Unglaubliche, der Ball<br />

war im Tor, im Erfurter. Eindeutig Abseits.<br />

Die Choräle der echten Fans verstummten<br />

abrupt. Die circa vierhundert Trainer und<br />

Spielerberater, die um unser kleines Grüppchen<br />

Stellung bezogen hatten, verschafften<br />

ihren angestauten Fachkenntnissen gehörig<br />

Ausdruck. Vor allem jene, die die Last<br />

ihrer Freizeit mit Stolz vor sich herumtrugen,<br />

analysierten gnadenlos die fußballerischen<br />

Defizite unserer Spieler. Zudem<br />

wurde dem gesamten sportlichem Umfeld:<br />

Trainer, Physiotherapeuten, Mannschaftsarzt,<br />

Vorstand, Sponsoren, Ballholern und<br />

und und das Vertrauen entzogen. Und daß<br />

das Flutlicht immer noch nicht funktionier-<br />

te, so der einmündige Konsens, sei symbolisch<br />

für dem unsportlichen Umgang mit<br />

regionalen Belangen durch die politisch<br />

Verantwortlichen, ein Skandal.<br />

Ich hatte die grause Wahrheit heruntergeschluckt.<br />

Der Becher mit dem alkoholfreien<br />

Bier war halb voll, nichts war verloren.<br />

»Auch wenn es dir mal Scheiße geht...«,<br />

summte ich unwillkürlich vor mich her und<br />

ein Ziehen in der Brust weckte Erinnerungen.<br />

Das Bratwurstgrienen klopfte an die<br />

Innenseite meiner Stirn: »Ej, du bist dochn<br />

ächter Fan!« Klar. Das Spiel geht weiter.<br />

Die Freunde schwelgten bereits wieder in<br />

Hoffnung. Echte Fans auch sie, kompromißlose<br />

Optimisten. Ich versuchte meine<br />

Anspannung mittels positivem Denken unter<br />

Kontrolle zu bekommen: Ja, wir führen.<br />

Nein, wir führten. Wieder zappelte die<br />

Murmel im Erfurter Tor. Vorsichtig stellte<br />

ich meinen Becher ab. Der Schieber, bisweilen<br />

auch Schiedsrichter, Referee oder<br />

schwule Sau genannt, muß das doch gesehen<br />

haben, da war doch ein Foul, ein<br />

Handspiel oder eine Abseitsstellung im<br />

Vorfeld. Ich versuchte es ihm, zu erklären.<br />

Akustisch und gestisch ging ich dabei an<br />

meine Grenzen, aber es half nichts, dieser<br />

Sturkopf, dieses ... Ach!<br />

Noch einmal mobilisierte ich all meinen<br />

Glauben an das Gute. Echte Fans lassen<br />

ihren Club nie im Stich. Aber alles hat<br />

Grenzen, argwöhnte es in mir. Ich würde<br />

mich ja für den herrlichen FC Rot-Weiß<br />

schon mal in die Scheiße<br />

setzen. Aber in ein Klärwerk?<br />

Nee! Bei aller Liebe.<br />

Oder anders gesagt, bevor<br />

der Punktspielkontrahent<br />

»An der Lache« heißt, geh<br />

ich Samstagnachmittag lieber<br />

Enten füttern.<br />

Der seelische Beistand<br />

meiner Freunde half mir,<br />

die Zerrissenheit in meinem<br />

Innersten zu verwinden.<br />

Apathisch standen wir<br />

Seit an Seit zwischen griesgrämigen<br />

Sachverständigen<br />

und beteten eine Wende herbei.<br />

Ich hatte zum Himmel<br />

geschaut, doch nicht mal<br />

ein Stollen des Fußballgotts<br />

blinkte. Natürlich weiß ich,<br />

daß der Fußballgott ein<br />

Wessi ist und an der Börse<br />

spekuliert, aber es gibt<br />

so Momente, da klammert<br />

man sich an jeden Strohhalm. Der Fußballgott<br />

saß demnach schon auf einer Bundesligatribüne<br />

und so versuchte ich es mit<br />

Beschwörungsformeln. Ich war nicht allein.<br />

Auch die Freunde bewegten ihre Lippen.<br />

»Abpfeifen! Abpfeifen!« flüsterten wir.<br />

Dann ertönte zwei Pfiffe. Das Spiel war aus.<br />

Ein Punkt gewonnen.<br />

DIE RAMPENSAU WINTER 03


Wieder an der Fanbaracke beglückwünschten<br />

wir uns. Es war ein hartes<br />

Stück Arbeit. Herz, Kreislauf und Hormonausschüttung<br />

hatten Übermenschliches<br />

geleistet, ganz abgesehen von den<br />

psychischen Grenzerfahrungen, die wir<br />

durchlitten. Wir hatten uns daraufhin ein<br />

Bier gegönnt, jeder eins, und huldigten<br />

dem Punktgewinn. Gerade als sich meine<br />

Individualität meldete, fiel mir eine gänzlich<br />

andere Individualität in den Rücken:<br />

»War das nisch ne Scheiße?« Das Bratwurstgrienen<br />

war eingetrocknet.<br />

»Menne vier Spieltache nisch verlorn«, jubelte<br />

Janek. Nachdem auch wir diesem<br />

Aspekt Wohlwollen bekundeten, fuhr der<br />

Bratwurstjammer seinen spitzen Finger<br />

aus. Ich ging ein Schritt zurück. »Die ham<br />

sich das Ding aus der Hand nehm lassn,<br />

die Wichsar.« Meine Gedanken hatten das<br />

Gesagte graphisch rekonstruiert. »Klar«,<br />

bestätigte ich. »Das da der Saft raus war.<br />

Ge?«<br />

Daraufhin hatte er sich zurückgezogen,<br />

ziemlich unwirsch. Zudem hatte er mir den<br />

Titel: »ächter Är-Weh-E-Fan« wieder aberkannt.<br />

Das muß man erst mal verwinden.<br />

So mir nichts dir nichts zum ganz normalen<br />

Stadionbesucher degradiert zu werden.<br />

Und trotz alledem werde ich mir in zwei<br />

Wochen die kleine Anstecknadel wieder an<br />

die Jacke klemmen, frisch poliert. Da kann<br />

kommen, wer will.<br />

Grunz!<br />

Unterstützt<br />

»Die Rampensau« durch<br />

freiwillige Leistungen!<br />

Spende, Mitarbeit,<br />

Weitergeben<br />

die.rampensau@gmx.de<br />

Berufsverbot<br />

• Von Peter Raulfs<br />

Kurz vor Schluß...<br />

Wieder einmal schreien die anständigen Bürger<br />

ihr Ungemach heraus. Der Grund: Tagtäglich werden<br />

Einheimische wie Besucher auf dem Erfurter<br />

Anger von gewissenlosen Skatern und Radfahrern<br />

in Angst und Schrecken versetzt. Die TA versteht<br />

sich als Sprachrohr der Geschundenen und<br />

griff dieses überregional bedeutende Thema auf<br />

(TA vom 14. 01. 03). Und da kann jeder zu Wort<br />

kommen. Die TA druckt es.<br />

Zunächst das übliche Hin- und Hergejammer vom<br />

unreifen Radfahrer und den miesen Straßenverhältnissen.<br />

Doch dann läßt die TA einen gewissen<br />

A. Jünger zu Wort kommen, der sich per E-Mail<br />

meldete. Und dieser nennt diese Radfahrer »Terroristen«.<br />

Und die TA druckt es. Pressefreiheit.<br />

Meinungsfreiheit. Die TA druckt es. Da ist man<br />

sich nicht zu schade. Man ist sich für nichts zu<br />

sch... (S.R.)<br />

DIE RAMPENSAU WINTER 03 27


Beate Kister: »Birken« und »Mond« Aquarellstiftzeichnungen<br />

Jg. 1968, Buchhändlerin in Erfurt, diverse Ausstellungen (Erfurt, Gotha) und Illustrationen (Buchcover, Zeitung)<br />

Janek el Cäsard: »Erfurt« Acryl auf Leinwand<br />

DIE RAMPENSAU WINTER 03

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!