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Die Beneš-Dekrete im historischen und aktuellen Kontext - Rosa ...

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826 UTOPIE kreativ, H. 167 (September 2004), S. 826-837ECKART MEHLS<strong>Die</strong> Beneš-<strong>Dekrete</strong><strong>im</strong> <strong>historischen</strong><strong>und</strong> <strong>aktuellen</strong> <strong>Kontext</strong>VorbemerkungDer vorgegebene zeitliche Rahmen erfordert leider weitgehend eineBeschränkung auf eine thesenhafte Darstellung, auf wünschenswerteoder gar notwendige Differenzierungen <strong>und</strong> eigentlich notwendigeHinweise auf Begleitumstände etc. muss leider weitgehend verzichtetwerden. Eine erste <strong>und</strong> mir besonders wichtig erscheinendeThese: <strong>Die</strong> Beneš-<strong>Dekrete</strong> sind, darauf sei mit Blick auf das Konferenzthemabesonders hingewiesen, keineswegs als Ursache für»Flucht <strong>und</strong> Vertreibung« zu werten.Eckart Mehls – Jg. 1935;Historiker, Prof. Dr. sc. phil.;bis 1992 Hochschullehreran der Sektion Geschichteder Humboldt-Universitätzu BerlinVortrag, gehalten auf dergemeinsamen Tagung von<strong>Rosa</strong>-Luxemburg-Stiftung<strong>und</strong> Christlicher Friedenskonferenz»MünchenerAbkommen – GeneralplanOst – Beneš-<strong>Dekrete</strong>.Ursachen für Flucht <strong>und</strong>Vertreibung in Osteuropa«,Berlin, 15. Mai 2004.Zum <strong>historischen</strong> <strong>Kontext</strong> der Beneš-<strong>Dekrete</strong>Da der Begriff »Beneš-<strong>Dekrete</strong>« von best<strong>im</strong>mter Seite mit Vehemenz<strong>und</strong> dubioser Absicht <strong>im</strong>mer wieder in den Mittelpunkt polemischerAngriffe gestellt wird, einige wenige Worte zur Begriffsklärung: Eshandelt sich um eine spezifische Form legislativer Akte der <strong>im</strong> Verfassungsnotstand(Folge der Zerschlagung des tschechoslowakischenStaates durch die faschistische Aggression) <strong>im</strong> Exil handelndenČSR-Staatsmacht, d. h. Präsidentendekrete ohne formelles parlamentarischesVerfahren (mit der Maßgabe nachträglicher parlamentarischerBestätigung unter den Bedingungen der wieder gewonnenenEigenstaatlichkeit) zur notwendigen Regelung wichtiger Fragen desstaatlichen Lebens (Verfassungsdekrete, Strukturfragen der Organisationder Exilorgane usw. usf.). Von den zu diesen Zwecken erlasseneninsgesamt 143 <strong>Dekrete</strong>n haben etwa 10 unmittelbar oder mittelbarmit Fragen <strong>und</strong> Regelungen von Problemen der von denMächten der Anti-Hitler-Koalition gegen Ende des Zweiten Weltkriegesverbindlich beschlossenen Aussiedlung der Deutschen ausdem Staatsgebiet der ČSR zu tun.Wie allerdings damit in den Mechanismen zur Bildung öffentlicherMeinung umgegangen wird, dazu hier ein Auszug aus der millionenfachals Computersoftware gelieferten »seriösen« Microsoft ®Encarta ® Enzyklopädie 2003. © 1993-2002 Microsoft Corporation.Alle Rechte vorbehalten:»Beneš-<strong>Dekrete</strong>, nach dem Ende des 2. Weltkrieges zwischen dem19. Mai <strong>und</strong> dem 27. Oktober 1945 unter der Federführung vonEdvard Beneš verfügte Erlasse zur Behandlung der in der Tschechoslowakeilebenden sudetendeutschen <strong>und</strong> ungarischen Minderheitensowie der ehemaligen Kollaborateure mit den Nationalsozialisten.<strong>Die</strong> Beneš-<strong>Dekrete</strong> sahen u. a. die ›nationale Verwaltung derVermögenswerte der Deutschen, der Madjaren, der Verräter <strong>und</strong>


MEHLS Beneš-<strong>Dekrete</strong> 827Kollaboranten‹ vor, ferner ›die Bestrafung der nazistischen Verbrecher,der Verräter <strong>und</strong> ihrer Helfershelfer‹ durch außerordentlicheVolksgerichte sowie die ›Konfiskation <strong>und</strong> beschleunigte Aufteilungdes landwirtschaftlichen Vermögens der Deutschen, Madjaren wieauch der Verräter <strong>und</strong> Feinde des tschechischen <strong>und</strong> slowakischenVolkes‹. Sofern sie nicht ohnehin bereits ›nach den Vorschriften einerfremden Besatzungsmacht die deutsche oder madjarische Staatsangehörigkeiterworben‹ hatten, wurden die ›tschechoslowakischenStaatsbürger deutscher oder madjarischer Nationalität‹ zu Ausländernerklärt <strong>und</strong> zur ›Beseitigung <strong>und</strong> Wiedergutmachung der durchden Krieg <strong>und</strong> die Luftangriffe verursachten Schäden‹ zum Arbeitsdienstverpflichtet. <strong>Die</strong> Beneš-<strong>Dekrete</strong> dienten Behörden <strong>und</strong> vielenBürgern gleichermaßen als Freibrief für einen brutalen Rachefeldzug,der Millionen Menschen um ihr Eigentum <strong>und</strong> Tausende um dasLeben brachte, <strong>und</strong> sie leiteten 1946 in die ›geregelte Vertreibung‹der Sudetendeutschen <strong>und</strong> Ungarn aus der Tschechoslowakei über.«Da es, wie man sieht, daran interessierten Kreisen gelungen ist, inder Öffentlichkeit eine weitgehende Gleichsetzung des verfälschtenBegriffs der »Beneš-<strong>Dekrete</strong>« mit dem Problem der Um- bzw. Aussiedlungdes größten Teils der deutschen Minderheit aus der ČSR zukonstituieren, sei hier der Versuch unternommen, thesenhaft einigehistorische Zusammenhänge <strong>und</strong> Hintergründe des angesprochenenGeschehens darzustellen. Ausdrücklich zu betonen: alle an sich notwendigenAuseinandersetzungen mit terminologischen Problemen(Sudetendeutsche, Vertreibung, Aussiedlung, Flucht, Umsiedlung,Bevölkerungstransfer, Abschub, aber auch »Böhmen«, »böhmischeKronlande« usw. usf.) müssen leider auf dem Altar der knappen Zeitgeopfert werden.Zu <strong>historischen</strong> HintergründenReformation, Hussitenbewegung <strong>und</strong> -kriege, Konsolidierung desAbsolutismus in der Habsburger Monarchie, Rivalitäten zwischenden Bestandteilen derselben, Formierung einer zunächst gar nichtvorwiegend national zu erfassenden Ständeopposition in den böhmischenLändern bis hin zum berühmten Fenstersturz zu Prag 1618seien einfach übergangen <strong>und</strong> nur erwähnt als Vorgeschichte dernach der Schlacht am Weißen Berge mit Vehemenz einsetzenden Gegenreformation<strong>und</strong> Abrechnung mit den aufmüpfigen »Böhmen«.Ein wesentliches Resultat war eine bis zur Existenzbedrohung deseigenständigen tschechischen Elements in den böhmischen Kronlandenführende Germanisierung nicht nur der politischen Verhältnisse,sondern auch des gesamten kulturellen <strong>und</strong> nationalen Lebens.Das traditionelle Königreich Böhmen hatte de facto in der HabsburgerMonarchie seine Selbständigkeit verloren, wurde unmittelbarüber einen Statthalter regiert, alle wesentlichen administrativenFunktionen wurden von Wien aus besetzt, allgemeines Kommunikationsmittelals Amts- <strong>und</strong> Verkehrssprache war in Folge dessenDeutsch, die tschechische Sprache (fast nur noch von der Mehrheitder ländlichen <strong>und</strong> der niederen Schichten der städtischen Bevölkerunggesprochen) war in ihrer Existenz ernsthaft bedroht.Ende des 18. <strong>und</strong> dann fast das ganze 19. Jahrh<strong>und</strong>ert hindurch beobachtenwir den Prozess der »tschechischen nationalen Wiederge-


828 MEHLS Beneš-<strong>Dekrete</strong>burt«, verb<strong>und</strong>en mit dem endgültigen Zerfall der feudalen Strukturen<strong>und</strong> dem Aufkommen der kapitalistischen Produktionsweise, denProzess der Herausbildung der modernen tschechischen Nation –zunächst pr<strong>im</strong>är als ein kultureller, dann <strong>im</strong>mer stärker politische,soziale <strong>und</strong> ethno-kulturelle D<strong>im</strong>ensionen einbeziehend.<strong>Die</strong>s ist der Hintergr<strong>und</strong> eines sich stetig zuspitzenden Konflikteszwischen der privilegierten deutschen Minderheit <strong>und</strong> der tschechischenMehrheit, über lange Zeit als »Sprachenstreit« die Geschichteder böhmischen Länder best<strong>im</strong>mend, der bis zum Anfang des 20. Jahrh<strong>und</strong>ertstrotz vieler Ansätze keine befriedigende Lösung findet.Zu ergänzen wäre hier nur noch: gegenüber Deutschland oder demDeutschen Reich preußischer Prägung gibt es keinerlei Ambitioneneiner auch nur irgendwie gearteten Annäherung, <strong>im</strong> Gegenteil, dervon der preußischen Dominanz des nördlichen (nordwestlichen)Nachbarn ausgehende Pangermanismus wird als zunehmende Bedrohungempf<strong>und</strong>en. Auch seitens der deutschen Minderheiten ist allesDenken, Trachten <strong>und</strong> Streben auf Österreich als dem wirklichenZentrum der Macht der k.u.k-Monarchie gerichtet.Der Erste Weltkrieg markiert das Ende eines längeren Prozessesder Entwicklung des Konzeptes staatlicher Eigenständigkeit. Es istin erster Linie Masaryk, der angesichts der Tatsache, dass die k.u.k.Monarchie sich der Konzeption des die Existenz des Slawentumsbedrohenden Pangermanismus voll angeschlossen hat, die Aussichtslosigkeitaller Wunschträume einer gesicherten Existenz derverschiedenen slawischen Völker Südosteuropas unter dem Schutz<strong>und</strong> innerhalb der Habsburger Monarchie erkennt <strong>und</strong> die Loslösungder böhmischen Kronlande aus der Monarchie <strong>und</strong> deren souveränestaatliche Existenz fordert <strong>und</strong> erfolgreich auch bei den Entente-Mächten propagiert. Eine Tschechoslowakische Republik in denGrenzen des <strong>historischen</strong> Königreichs Böhmen als Verwirklichungdes von Präsident Wilson propagierten Rechts der Völker auf Selbstbest<strong>im</strong>mungfür die tschechische Nation (unter Einschluss der Slowaken)ist seine Vision, die dem Wunsch der Entente, die Mittelmächtedauerhaft zu schwächen, entgegenkommt. <strong>Die</strong> <strong>im</strong> Oktober1918 proklamierte Tschechoslowakische Republik wird in diesemSinne fester Bestandteil der auf den Pariser Vorortverträgen basierendeneuropäischen Nachkriegsordnung.<strong>Die</strong> deutsche Minderheit, um den Verlust ihrer bisher eindeutig privilegiertenStellung <strong>im</strong> Staate besorgt, ist mehrheitlich von diesemGang der Dinge verständlicher Weise nicht besonders angetan. Einigeihrer politischen Repräsentanten unternehmen den Versuch, das vonWilson propagierte »Selbstbest<strong>im</strong>mungsrecht der Völker« für diedeutschsprachige Minderheit auf dem Staatsgebiet der neu entstandenenČSR in Anspruch zu nehmen <strong>und</strong> proklamieren die Selbständigkeitder vorwiegend von Deutschen bewohnten grenznahen Gebiete<strong>und</strong> deren Anschluss an ein erträumtes mitteleuropäisches deutschesStaatsgebilde – dass die ehemaligen Kriegsgegner der Mittelmächtedem ihre Zust<strong>im</strong>mung versagen <strong>und</strong> an der territorialen Integrität desnach den Ideen des »<strong>historischen</strong> Staatsrechts« konstruierten tschechoslowakischenStaates nicht rütteln lassen, ist konsequent <strong>und</strong> logisch.Damit ist ein den tschechoslowakischen Staat belastender schwererKonflikt vorprogrammiert. <strong>Die</strong> deutschen Separatisten werden


MEHLS Beneš-<strong>Dekrete</strong> 829mit den verfügbaren staatlichen Mitteln an der Realisierung ihrerPläne gehindert, diese hinwiederum versagen dem Staat, in dem sieleben, ihre Mitarbeit <strong>und</strong> Mitwirkung. Am Beginn ihrer parlamentarischenArbeit, die ohne ihre Beteiligung an der Schaffung der notwendigenGr<strong>und</strong>lagen (sprich Verfassungsdiskussion) sich entwickelt,steht die wiederholte »staatsrechtliche Erklärung« etwa derDeutschnationalen Partei, abgegeben von deren führendem Vertretervon Lodgman (nach 1945 wiederum führend, nämlich in der sudetendeutschenLandsmannschaft), dass man die rechtswidrige Verweigerungdes »Selbstbest<strong>im</strong>mungsrechtes« für die Deutschen inder Tschechoslowakei nicht anerkennen könne <strong>und</strong> daher alles tunwerde, es nicht nur einzufordern, sondern es auch verwirklicht zu sehen.(Er hat die Kühnheit, <strong>im</strong> Parlament zu verkünden, dass Hochverratdie heilige Pflicht der national gesinnten Deutschen sei!).Etwas anders, aber nicht weniger deutlich, äußert sich 1925 Dr. Brunar,ebenfalls aus dem engeren Führungskreis der DNP:»<strong>Die</strong> Deutsche Nationalpartei betrachtet den Kampf, den dasDeutschtum auf historischem Boden Böhmens, Mährens <strong>und</strong> Schlesienszu führen genötigt ist, als Schicksalsfrage des Gesamtdeutschtumsüberhaupt <strong>und</strong> führt daher diesen Kampf nicht allein zu demZwecke, um das Volkstum der 3 1/2 Millionen Sudetendeutschen innerhalbeines eventuell geänderten tschechoslowakischen Staates zuerhalten, sondern um die Möglichkeit vorzubereiten, daß unseresudetendeutsche He<strong>im</strong>at einmal einen Teil des großen deutschenVolksstaates in Mitteleuropa bilde.« (Dr. Heinrich Brunar: Der Kampfder Sudetendeutschen, Wiener Neueste Nachrichten, 25. 12. 1925;zit. bei: J. W. Brügel, Tschechen <strong>und</strong> Deutsche. 1918 – 1938, München1967, S. 182)<strong>Die</strong>sem von völkischem Denken ausgehenden Gr<strong>und</strong>konzept standdas Bemühen der einflussreichen tschechischen Politiker Masaryk<strong>und</strong> Beneš gegenüber, die neu entstandene tschechoslowakische Republikzu einem modernen demokratischen Staat <strong>im</strong> Rahmen diesbezüglicherVorstellungen jener Zeit auszugestalten: Im Mittelpunktder Politik (<strong>und</strong> der Verfassungsordnung) standen für sie nicht»Volkstum« oder »Volksgruppen«, sondern Bürger (unterschiedlicherNationalität), deren Verhältnis zum <strong>und</strong> Stellung <strong>im</strong> Staat sich durchverfassungsmäßig garantierte bürgerliche Rechte (unter strikter Einhaltungdes vom Völkerb<strong>und</strong> entwickelten Minderheitenschutzes) best<strong>im</strong>mensollte. Dass dies eine weitgehende Entprivilegisierung dervormals best<strong>im</strong>menden Position der Deutschen (österreichischer Prägung!)in den böhmischen Ländern mit sich brachte, ist folgerichtig –<strong>und</strong> eine der eigentlichen Ursachen für die Zuspitzung der Konflikte.An dieser Stelle drei knappe Feststellungen:Erstens: <strong>Die</strong> ČSR der Zwischenkriegszeit wies (ungeachtet einesreal bestehenden Problems nationalistischer Konfrontation von beidenSeiten) unter dem Gesichtspunkt der Realisierung der vertraglichübernommenen Pflichten aus dem Minderheitenschutz (auchmit dem Blick auf ganz Mittel- <strong>und</strong> Osteuropa) einen anerkannt hohenStandard auf. Alle Versuche, das Problem der deutschen Minderheitunter völkischen Gesichtspunkten durch Beschwerden beiOrganen des Völkerb<strong>und</strong>es zu internationalisieren, scheiterten, dadiese in Genf nicht einmal angenommen wurden.


830 MEHLS Beneš-<strong>Dekrete</strong>1 Beleg dafür insbesondereder Aufruf Henleinsvom 15. 9. 1938 <strong>im</strong> Zugeder bewussten Zuspitzungder sog. Sudetenkrise:Aufrufvon Konrad Henlein (SdP)an die sudetendeutscheBevölkerung:»Wir wollen he<strong>im</strong> insReich!«,1938, 15. SeptemberMeine Volksgenossen!Als Träger Eures Vertrauens<strong>und</strong> <strong>im</strong> Bewußtsein meinerVerantwortung stelle ich vorder gesamten Weltöffentlichkeitfest, daß mit demEinsatz von Maschinengewehren,Panzerwagen<strong>und</strong> Tanks gegen das wehrloseSudetendeutschtumdas Unterdrückungssystemdes tschechischen Volkesseinen Höhepunkt erreichthat. Dadurch hat dastschechische Volk aller WeItvor Augen geführt, daß einZusammenleben mit ihm ineinem Staate endgültigunmöglich geworden ist. <strong>Die</strong>Erfahrungen einer zwanzigjährigenGewaltherrschaft<strong>und</strong> vor allem die schwerenBlutopfer der letzten Tageverpflichten mich, zuerklären:1. Im Jahre 1919 wurdenwir bei Vorenthaltung desuns feierlich zugesichertenZweitens: Während der 20er Jahre gewann auch unter den Angehörigender deutschen Minderheit die Erkenntnis Raum, dass deroffizielle Ansatz der tschechoslowakischen Politik zur Lösung derreal bestehenden Probleme des Zusammenlebens von Bürgern unterschiedlicherNationalität echte Chancen des Sich-Einrichtens <strong>und</strong>der konstruktiven Mitgestaltung eines gemeinsamen Staates bot(Stichwort: aktivistische Politik).Drittens: <strong>Die</strong> für die mehrheitlich von deutscher Bevölkerung bewohntenGrenzgebiete besonders katastrophalen Folgen der Weltwirtschaftskrise<strong>und</strong> der zunehmende direkte Einfluss auf Haltung<strong>und</strong> Denken aus dem »Reich« nach der Errichtung der faschistischenDiktatur erwiesen sich als besonders wirksam für das Vordringenvölkisch motivierter Konfrontationspolitik <strong>und</strong> raschen Gewinn vonEinfluss <strong>und</strong> Geltung der Vertreter der nun ganz auf das »Reich«orientierten Irredenta.Konrad Henlein (»Führer« der nach dem wegen staatsfeindlicherBetätigung erfolgten Verbot der DNSAP ins Leben gerufenen SudetendeutschenHe<strong>im</strong>atfront, ab 1935 SdP) fasste das Gr<strong>und</strong>konzeptder vielschichtigen Politik seiner »Bewegung« 1941 in einer Rede inWien (<strong>und</strong> in ähnlicher Weise auch andernorts) wie folgt zusammen:»Als während der großen Verfolgungswelle <strong>im</strong> Herbst 1933 dieFührer der DNSAP mich aufforderten, die politische Führung desSudetendeutschtums zu übernehmen, sah ich mich vor die großeFrage gestellt: soll die nationalsozialistische Partei illegal weitergeführtwerden oder soll die Bewegung getarnt <strong>und</strong> nach außen hinvoller Legalität den Kampf um die Selbstbehauptung des Sudetendeutschtums<strong>und</strong> die Vorbereitung für die He<strong>im</strong>holung ins GroßdeutscheReich führen. Für uns Sudetendeutsche blieb nur die Wahldes zweiten Weges … Gewiß, <strong>und</strong> auch darüber muß in diesem Zusammenhangeinmal offen gesprochen werden, wäre es viel leichtergewesen, an Stelle dieses harten, nervenverzehrenden Kampfes dieheroische Geste zu wagen, von vornherein das Bekenntnis zum Nationalsozialismusauszusprechen <strong>und</strong> in die tschechischen Kerker zugehen. Ob aber durch ein solches Verhalten auch die politische Aufgabeder Zerschlagung der Tschechoslowakei als Sperrfort <strong>im</strong> Bündnisgürtelgegen das Deutsche Reich so leicht gelöst worden wäre,das erscheint mir zweifelhaft. Jedenfalls steht fest, daß es dem Sudetendeutschtum<strong>im</strong> Ablauf weniger Jahre gelungen ist, die innereStabilität der Tschechoslowakei so gründlich zu gefährden <strong>und</strong> ihreinneren Verhältnisse so sehr zu verwirren, daß sie <strong>im</strong> Sinne der sichanbahnenden Neuordnung des Kontinents zur Liquidation reifwurde. <strong>Die</strong> Voraussetzungen für meine Aufgabe waren denkbarschwierig. Das Volk war vielleicht bereit, aber es fehlte an Mitarbeitern,denn durch die brutalen Best<strong>im</strong>mungen des Parteiauflösungsgesetzeskonnten mir die Männer nicht zur Seite stehen, die in derDNSAP reiche politische Erfahrung gesammelt hatten. … Wir wußten,daß wir nur siegen konnten, wenn es uns gelang, aus den 3 1 / 2Millionen Sudetendeutschen 3 1 / 2 Millionen Nationalsozialisten zumachen, <strong>und</strong> mußten doch zunächst nach außen hin, um das Zugreifender tschechischen Behörden <strong>und</strong> die Auflösung hintanzuhalten,unsere Zugehörigkeit zum Nationalsozialismus ableugnen. Das wardie größte seelische Belastungsprobe, der ich meine Gefolgschaft


MEHLS Beneš-<strong>Dekrete</strong> 831aussetzen mußte. In w<strong>und</strong>ervoller Disziplin <strong>und</strong> in unerschütterlichemVertrauen zu mir haben meine Kameraden begriffen, worum esging, <strong>und</strong> hinter den taktischen Zügen eines mir aufgezwungenenpolitischen Handelns das große Ziel unseres Weges gesehen, derhe<strong>im</strong>führen mußte in das Reich Adolf Hitlers …« (zit. nach: Brügel,Deutsche <strong>und</strong> Tschechen, S. 257).Angemerkt sei, dass dieser Linie einer die ČSR destabilisierendenPolitik, die als ein Strang des <strong>historischen</strong> Geschehens letzten Endesdirekt zum Münchener Diktat 1938 führte, eine wachsende Mehrheitder deutschen Minderheit in den Grenzgebieten der ČSR willig <strong>und</strong>aktiv folgte: 1935 67 % der St<strong>im</strong>men (der deutschen Wähler) für dieSdP, 1938 über 90 %.Fragestellungen <strong>und</strong> detailliertere Erläuterungen zum Problemkreisendgültige Zerschlagung des tschechoslowakischen Staates,Errichtung des ersten Okkupationsreg<strong>im</strong>es der Nazis, Ziele <strong>und</strong>Methoden der rassistisch geprägten Besatzungspolitik seien hierausgeklammert, da als weitgehend bekannt voraus zu setzen.Mit dem Hinweis darauf <strong>und</strong> dem Verweis auf die Rolle der deutschenBürger der ČSR bei deren Destabilisierung <strong>und</strong> Zerschlagungwird allerdings verständlich, dass für alle Überlegungen verantwortlicherpolitischer Kreise der Tschechoslowakei <strong>und</strong> ihrer Verbündetendie Frage nach der Möglichkeit bzw. den Modalitäten des Zusammenlebensder überwiegenden Mehrheit der Bürger der ČSR mitden Angehörigen der deutschen Minderheit zu einem Kernproblemdes Nachdenkens <strong>und</strong> politischer Planungen für die Zeit nach demEnde der Okkupation wurde. <strong>Die</strong> von den völkisch-nationalistischenKreisen der deutschen Minderheit in der ČSR zunehmend prononciertervertretene <strong>und</strong> auch aktiv <strong>im</strong> Ausland propagierte These, dassein Zusammenleben mit den Tschechen Ruhe <strong>und</strong> Frieden in Europauntergrabe <strong>und</strong> daher unmöglich sei 1 , setzte sich auch zunehmend inpolitisch verantwortlichen Kreisen des Widerstandes in der Tschechoslowakei,des politischen Exils <strong>und</strong> vor allem auch der Mächteder Anti-Hitler-Koalition als Ausgangspunkt für Nachkriegslösungendurch. Gab es anfangs, vor allem seitens des ExilpräsidentenBenes, noch Überlegungen, Bevölkerungstransfer <strong>und</strong> partielle Gebietsabtretungen<strong>im</strong> Interesse der Stabilisierung der Verhältnisse ineinem erneuerten tschechoslowakischen Staat zu kombinieren,setzte sich spätestens ab 1942, nicht zuletzt aktiv mit entwickelt vonpolitischen Kreisen <strong>im</strong> Umfeld des britischen Foreign Office, die Positiondurch, dass die territoriale Integrität der Tschechoslowakei inden Vorkriegsgrenzen (<strong>und</strong> damit in der Tradition der Einheit derböhmischen Kronlande) nicht angetastet werden könne.Artikel XIII des Potsdamer Abkommens der Siegermächte enthält,wie bekannt, die dieser Position entsprechende Beschlussfassung.Damit ist klar gestellt, dass die Aussiedlung des größten Teils derdeutschen Minderheit aus der ČSR nicht etwa auf tschechoslowakischeRechtsakte zurück zu führen ist, sondern auf Beschlüsse derMächte der Anti-Hitler-Koalition. Wenn überhaupt von einer Rolleder Beneš-<strong>Dekrete</strong> in diesem Zusammenhang die Rede sein kann,dann nur insofern, als ein ganz geringer Teil von ihnen gewissermaßenden konkreten Prozess der Durchführung dieses Beschlussesbetraf. 2 Von den insgesamt 143 präsidialen <strong>Dekrete</strong>n haben, wie be-Rechts auf Selbstbest<strong>im</strong>munggegen unseren Willenin den tschechischen Staatgezwungen.2. Ohne jemals auf dasSelbstbest<strong>im</strong>mungsrechtverzichtet zu haben, habenwir unter schwersten Opfernalles versucht, <strong>im</strong> tschechischenStaat unser Daseinzu sichern.3. Alle Bemühungen, dastschechische Volk <strong>und</strong> seineVerantwortungsträger zueinem ehrlichen <strong>und</strong> gerechtenAusgleich zubewegen, sind an ihremunversöhnlichen Vernichtungswillengescheitert.In dieser St<strong>und</strong>e der Nottrete ich vor Euch, dasdeutsche Volk <strong>und</strong> die gesamtezivilisierte Welt <strong>und</strong>erkläre: Wir wollen als freiedeutsche Menschen leben!Wir wollen wieder Friede<strong>und</strong> Arbeit in unsererHe<strong>im</strong>at! Wir wollen he<strong>im</strong> insReich! Gott segne uns <strong>und</strong>unseren gerechten Kampf!Quelle: Akten zur deutschenauswärtigen Politik 1918-1945.; Reihe D, Bd. II;Baden-Baden 1950,S. 639 f.zit. nach: Fritz-Peter Habel:Dokumente zur Sudetenfrage…, S. 217.2 <strong>Die</strong>ser Hinweis soll nichtbedeuten, dass die Aussiedlungdes größten Teilsder deutschen Minderheitetwa »gegen« den Willender maß-geblichen tschechoslowakischenpolitischenKreise erfolgte. Eineentsprechende Best<strong>im</strong>mungder der künftigen Politik zuGr<strong>und</strong>e zu legenden Positionenerfolgte verbindlich indem auf den bis zu diesemZeitpunkt mit den Alliiertenherbeigeführten Abst<strong>im</strong>mungenberuhenden»Kosicer Programm« derRegierung der NationalenFront der Tschechen <strong>und</strong>Slowaken vom 5. April1945.


832 MEHLS Beneš-<strong>Dekrete</strong>reits gesagt, nur etwa 10 einen mittelbaren oder unmittelbaren Bezugzu den Deutschen auf dem Staatsgebiet der ČSR, wobei in keinemvon ihnen von einer Aussiedlung, Abschub oder gar Vertreibung derDeutschen (<strong>und</strong>/oder Ungarn) die Rede ist. Bei den wenigen <strong>Dekrete</strong>n,die in diesem Zusammenhang zu behandeln wären (<strong>und</strong> die zumAusgangspunkt einer breiten Kampagne gegen diese sowie zur Umwandlungeines staatsrechtlich zwar interessanten, aber eigentlichganz normalen Problems in einen nur noch pejorativ gemeintenKampfbegriff wurden), handelt es sich um Eigentumsfragen, strafrechtlicheVerantwortung für antistaatliche Tätigkeit zur Zeit der Besatzung<strong>und</strong> die Staatsbürgerschaft eines genau definierten Personenkreisesregelnde Präsidialdekrete. Eine Sonderstellung n<strong>im</strong>mtdas in diese Kampagne einbezogene Gesetz Nr. 115 vom 8. 5. 1946ein, das mit den Beneš-<strong>Dekrete</strong>n absolut nichts zu tun hat, da es sichum ein <strong>im</strong> normalen parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrenverabschiedetes Gesetz handelt.Allen <strong>Dekrete</strong>n ist, um es vorweg zu sagen, gemeinsam, dass siesich nicht exklusiv gegen eine ethnisch definierte Bevölkerungsgrupperichteten. Das am 19. Mai 1945 erlassene »Dekret über dieUngültigkeit einiger eigentumsrechtlicher Regelungen aus der Zeitder Unfreiheit <strong>und</strong> über die nationale Verwaltung von Eigentumswertender Deutschen, Ungarn, Verräter <strong>und</strong> Kollaborateure sowieeiniger Organisationen <strong>und</strong> Institute« (so die dem Originaltitel etwasunelegant, dafür jedoch weitestgehend wörtlich entsprechendeÜbersetzung) verfügt die Enteignung (Nationalisierung) von »staatlichunzuverlässigen Personen«, bei deren Definition (§ 4 des Dekrets)als erstes »Personen deutscher oder ungarischer Nationalität«genannt werden. Es folgen <strong>im</strong> Buchstaben b) dieses Paragraphenüber mehr als 10 Druckzeilen des Textes weitere Personengruppen<strong>und</strong> Organisationen, die unter den Begriff der »staatlich unzuverlässigenPersonen« (also natürliche <strong>und</strong> juristische ) eingeordnet werden.In allen Fällen werden <strong>im</strong> Übrigen von den verfügten Maßnahmenjene Bürger der ČSR deutscher oder ungarischer Nationalitätausdrücklich ausgenommen, die sich aktiv für den Erhalt <strong>und</strong> dieWiedergewinnung der Freiheit <strong>und</strong> Unabhängigkeit der ČSR eingesetzthaben. Darauf hinzuweisen halte ich insbesondere für notwendig,um entschieden den infamen Versuchen der Vertreter von Vertriebenenverbändenentgegen zu treten, die »Beneš-<strong>Dekrete</strong>« mitden Nürnberger Rassegesetzen der Nazis gleich zu setzen oder sie inden in jüngster Zeit besonders akut gewordenen Problemkreis »ethnischerSäuberungen« einzuordnen.Da es den Rahmen möglicher Erörterungen der Problemstellungvöllig sprengen würde, auf alle <strong>Dekrete</strong>, die einen Bezug zur Aussiedlungder in den großen Kreis der »staatlich unzuverlässigenPersonen« eingeordneten Deutschen haben, <strong>im</strong> Einzelnen einzugehen,sei mir gestattet, auf einige übergreifende Fragen, die in der TatGegenstand einer ausgewogenen historisch-kritischen Analyse <strong>und</strong>Wertung sein sollten, in aller gebotenen Kürze einzugehen.In diesem Sinne einige Bemerkungen zu dem Problemkreis Eigentumsfragenin den Beneš-<strong>Dekrete</strong>n:Zunächst nochmals die Feststellung, dass die die Eigentumsfrageberührenden <strong>Dekrete</strong> sich nicht ausschließlich <strong>und</strong> in erster Linie ge-


MEHLS Beneš-<strong>Dekrete</strong> 833gen die traditionell auf dem Staatsgebiet der ČSR lebenden Deutschen<strong>und</strong> Ungarn richteten. Sofern allerdings das Eigentum »derDeutschen« angesprochen ist, wäre auf die aus meiner Sicht juristischwohl nachvollziehbare Position der Tschechischen Republik zuverweisen, dass, abgesichert durch Vereinbarungen der Pariser Reparationskonferenz,das Eigentum der deutschen Staatsbürger aufdem Gebiet der reparationsberechtigten Staaten einzubeziehen ist indas »deutsche Eigentum«, durch dessen Konfiskation bei klarerRechnungslegung gegenüber der den Prozess als Ganzes überwachendeninternationalen Reparationskommission ein Teil der Reparationsforderungenabgedeckt werden sollten. <strong>Die</strong> B<strong>und</strong>esrepublikDeutschland hat in diesem Zusammenhang mit mehreren Verträgen(Bonner Verträge 1952, Pariser Verträge 1954 <strong>und</strong> 2+4 Vertrag 1990)das Verfahren gr<strong>und</strong>sätzlich anerkannt <strong>und</strong> auf Vermögensforderungengegenüber anderen Staaten <strong>im</strong> Zusammenhang mit den Kriegs<strong>und</strong>Nachkriegsregelungen ein für allemal verzichtet. Wie mit Forderungennach Entschädigung von reparationsberechtigten Staatenenteigneter Deutscher innerhalb der deutschen Rechtsordnung umzugehenist, ist eine Frage, für deren Beantwortung ich mich alsHistoriker nur bedingt kompetent halte, allerdings meine ich, dassdie betreffenden Staaten (also etwa Polen <strong>und</strong> Tschechien) in keinemFalle der richtige Adressat für privatrechtlich erhobene Restitutionsforderungensind.Wesentlich komplizierter <strong>und</strong> differenzierterer Antworten bedürftigscheint mir die <strong>im</strong> Zusammenhang mit den sogenannten »Beneš-<strong>Dekrete</strong>n« in die Diskussion eingeführte These von der Kollektivschuldder Deutschen zu sein. Auf zwei Aspekte möchte ich ausdrücklichverweisen:Erstens: So <strong>und</strong>ifferenziert, wie diese These von nicht wenigenSeiten vertreten wird, ist sie nicht haltbar. Eine genaue Analyse des<strong>historischen</strong> Materials führt m. E. zu dem Schluss, dass den mit derAussiedlung der Deutschen <strong>und</strong> den in diesem Zusammenhang zubetrachteten <strong>Dekrete</strong>n nicht in erster Linie die Idee einer kollektivenBestrafung, sondern der Versuch einer politischen Lösung einesProblems, das allerdings durch das Verhalten der übergroßen Mehrheiteiner Bevölkerungsgruppe für die damalige ČSR existenzielleBedeutung erhalten hatte, <strong>im</strong> Interesse der Sicherung derkünftigen Stabilität der staatlichen Existenz zu Gr<strong>und</strong>e lag. Und indiesem Zusammenhang ist stets die historische Einbettung jenes dramatischenGeschehens mit zu denken.Zweitens ist in die Betrachtung mit ein zu beziehen, dass (<strong>und</strong> daraufsei hier auch <strong>im</strong> Vorgriff auf etwas später noch zu behandelndeAspekte bereits hingewiesen) die Situation jener unmittelbarenNachkriegszeit natürlich nicht die Bedingungen dafür bereithielt,theoretisch Konzipiertes auch <strong>im</strong> Alltag jener Zeit Realisiertes werdenzu lassen. Ich will hier völlig unberücksichtigt lassen, wie weitder Vorwurf berechtigt ist, dass sich die Gesellschaft unseres NachbarlandesTschechien angeblich schwer getan hat, sich mit den auchtragischen <strong>und</strong> bitteren Begebenheiten jener Zeit auseinander zusetzen – es sei jedoch ausdrücklich fest gestellt, dass <strong>im</strong> heutigenRückblick auf die sogenannte »wilde Vertreibung« in den erstenNachkriegswochen mit ihren Übergriffen, <strong>und</strong>ifferenzierten, die Ge-


834 MEHLS Beneš-<strong>Dekrete</strong>3 Václav Pavlícek:O amnestiích, zákonu c.115/ 1946 Sb. a aktechodporu proti Nemecku,in: Václav Kural (u. Koll.):Studie o sudetonemeckéotázce, Praha 1996.S. 151 ff.; Jan Hon, Jirí Sitler:Trestneprávní dusledkyudálostí v období nemeckénacistické okupaceČeskoslovenska a v dobetesne po jejím skoncení ajejich řešení (Zákon 115/46z 8. kvetna 1946, jehogeneze, uplatnování akritika), in: Ebenda,S. 165 ff.bote humanitären Verhaltens eklatant verletzenden, auch verbrecherischenÜbergriffen auf die ehemaligen Mitbürger eine SichtweiseOberhand gewonnen hat, wie sie den Vertretern der Vertriebenenverbände,die, gar nicht zu sprechen von einer Entschuldigung,nicht einmal fähig sind, sich wenigstens zu einem Bekenntnis kollektiverScham für die bewusste <strong>und</strong> aktive Unterstützung eines verbrecherischenSystems durch die Mehrheit der »Sudetendeutschen«durchzuringen, moralisch haushoch überlegen ist.Schließlich halte ich es für angebracht, wenigstens einigen wenigenBemerkungen zu dem in den Zusammenhang mit den Beneš-<strong>Dekrete</strong>ngebrachten Gesetz Nr. 115/1946 vom 8. 5. 1946 Raum zu geben.In völliger Verdrehung der Tatsachen wird dieses lange nach Beendigungder Zeit der Präsidialdekrete vom Parlament der ČSR in ordnungsgemäßemGesetzgebungsverfahren erlassene Gesetz von denTrägern der gegenwärtig virulenten antitschechischen Kampagnenicht nur tendenziös <strong>und</strong> falsch als »Straffreistellungsgesetz« bezeichnet(damit suggerierend, dass künftig zu begehende Straftatenvon der Verfolgung frei zu stellen sind , also zu solchen aufgefordertwird), sondern auch der Hintergr<strong>und</strong> seiner Entstehung <strong>und</strong> seineigentlicher Zweck bewusst <strong>und</strong> böswillig schlicht falsch dargestelltwird. So z. B. auf der Internetseite des BdV in einer Zusammenstellungder sogenannten Beneš-<strong>Dekrete</strong>, wo es in einem Kommentar zudem veröffentlichten Text heißt:»Mit diesem Gesetz mißachtet die Tschechoslowakische Republikallgemein gültige, sittliche Gr<strong>und</strong>sätze <strong>und</strong> stellt sich gegen daseuropäische Rechtsempfinden, denn es werden Straftatbestände, wieMord, Vergewaltigung <strong>und</strong> Raub für nicht strafbar erklärt. Das Dekretschützt vor allem diejenigen Täter vor einer Strafverfolgung,deren Taten begangen wurden zwischen Anfang Mai <strong>und</strong> Ende Oktober1945, also in der Zeit als die Deutschen in der Tschechoslowakeivogelfrei waren, <strong>und</strong> in der zahllose grausame Verbrechen anMännern, Frauen, Kindern <strong>und</strong> Greisen verübt wurden, nicht mitgezähltdie Racheakte an Tausenden Soldaten <strong>und</strong> den durch Böhmen<strong>und</strong> Mähren flüchtenden Schlesiern.Der <strong>im</strong> Text des Dekrets verwendete Begriff ›Vergeltung‹ dientletztlich nur als eine Art Rechtfertigung der Unrechtshandlungen<strong>und</strong> zur Gewissenserleichterung. Der überwiegende Teil der tschechischenBevölkerung war an den durch die Benes-<strong>Dekrete</strong> veranlaßtenUntaten nicht aktiv beteiligt.«Ich habe auf den letzten Satz in diesem Zitat bewusst nichtverzichtet, um auf eine der ganz typischen Methoden der Meinungsmanipulationder Autoren solcher Texte hin zu weisen: so ganznebenbei, noch dazu in einem »versöhnlichen« <strong>Kontext</strong>, wird dieFormulierung untergeschoben: »durch die Beneš-<strong>Dekrete</strong> veranlassteUntaten«. Doch das nur nebenbei.Zur Sache selbst einige notwendige Bemerkungen unter Verweisdarauf, dass in der tschechischen diesbezüglichen Literatur zwe<strong>im</strong>. E. in ihrer Sachlichkeit <strong>und</strong> kritischen Distanz besonders zu würdigendeAnalysen bei einer ausführlicheren Behandlung des Themasunbedingt heran zu ziehen wären. 3Als Erstes ist darauf hinzuweisen, dass die Frage, wie mit <strong>im</strong> gegendie Okkupanten geführten Kampf vollführten Handlungen, die


MEHLS Beneš-<strong>Dekrete</strong> 835rein formal nach den bestehenden Gesetzen eine strafbare Handlungdarstellen, umzugehen sei, nicht ein Spezialproblem etwa nur derČSR war, sondern für viele vom faschistischen Deutschland überfallene<strong>und</strong> besetzte Länder zutraf. Dabei ging es nicht nur um Handlungengegen Leib <strong>und</strong> Leben von Okkupanten, Kollaborateuren <strong>und</strong>Verrätern, sondern auch um einen breiten Formenkreis der Zerstörungmaterieller Werte (Sabotage) oder »unkonventioneller«Methoden der materiellen Sicherstellung der Handlungsfähigkeit aktiverWiderstandskämpfer (Requirierungen der verschiedensten Art).Gesetze zur Nichtanwendbarkeit der bestehenden Strafgesetze auf indiesem <strong>Kontext</strong> begangene »Straftaten« sind Bestandteil desRechtssystems fast aller europäischen Länder in der unmittelbarenNachkriegszeit (etwa Frankreich, Italien, Niederlande, Norwegen).Zweitens ist entgegen der bewusst unwahren Behauptung der Vertriebenenpropagandistensachlich festzustellen, dass der Zeitraum,auf den sich das Gesetz bezieht, nicht eine angebliche Zeit der»Vogelfreiheit« der Deutschen zwischen Mai 1945 <strong>und</strong> Oktober1945 war. Der § 1 des Gesetzes best<strong>im</strong>mt, dass eine normalerweisenach tschechoslowakischem Recht strafbare Handlung, wenn siezwischen dem 30. September 1938 <strong>und</strong> dem 28. Oktober 1945 <strong>im</strong>Zusammenhang mit dem Kampf um die Wiedererlangung der Freiheitbegangen worden oder Ausdruck der Sehnsucht nach gerechterVergeltung für Taten der Okkupanten <strong>und</strong> ihrer Helfershelfer war,strafrechtlich nicht zu verfolgen ist. Der angegebene Zeitraum wirdbegrenzt durch den Beginn der faschistischen Aggression (MünchenerAbkommen) <strong>und</strong> den Tag der Wiederherstellung der normalenStaatlichkeit der ČSR nach Okkupation <strong>und</strong> revolutionärer Nachkriegszeit(Zusammentritt des Provisorischen Nationalversammlung).<strong>Die</strong> Einbeziehung des Zeitraumes Mai bis Oktober 1945 indiesen Ausnahmezeitraum gibt berechtigten Anlass zu Nachfragen<strong>und</strong> kritischer Wertung, vergessen werden sollte jedoch nicht, dasseben gerade in dieser Zeit in der Tat von einem normal funktionierendenStaatswesen noch kaum die Rede sein konnte.Drittens ist hinzu zu fügen, wie insbesondere in den genannten Studienausführlich dargelegt wurde, dass ungeachtet der sehr unbest<strong>im</strong>mten<strong>und</strong> damit problematischen Formel von der »berechtigten« Vergeltung,die man sicher hätte präziser fassen können, weder Gesetzgebernoch Judikatur das Gesetz Nr. 115 als »Freibrief für Gewalttaten« verstanden.Es gibt nachweislich erhebliche Bemühungen, alle Arten vonin Frage kommenden Handlungen »aus niedrigen <strong>und</strong> unehrenhaften«Motiven keinesfalls von der Strafverfolgung frei zu stellen – wie allerdingsauch zu konstatieren ist, dass in der politischen <strong>und</strong> juristischenPraxis eine konsequente Verfolgung von gewalttätigen Übergriffen gegendie Angehörigen der auszusiedelnden deutschen Minderheit nichtstattfand. <strong>Die</strong>s hängt allerdings weniger mit der Existenz des GesetzesNr. 115 zusammen, als mit der Tatsache, dass <strong>im</strong> Rahmen einer sehremotionalisierten <strong>und</strong> <strong>im</strong> Gefolge der Besatzung <strong>und</strong> Wirren desKriegsendes allgemein brutalisierten Atmosphäre eine Vielzahl eigentlichjustiziabler Fälle gar nicht erst die Gerichte erreichte. Auf dieBemühungen der politischen Führung, sich öffentlich mit den unterdem Stichwort »Gestapismus« eine Rolle spielenden Ausschreitungenauseinander zu setzen, sei hier lediglich verwiesen.


836 MEHLS Beneš-<strong>Dekrete</strong>Zum Themenkomplex »Beneš-<strong>Dekrete</strong>« gehört eigentlich unverzichtbardie Frage der Vereinbarkeit der Beneš-<strong>Dekrete</strong> mit der inder EU gültigen Rechtsordnung. Ich muss aus Zeitgründen daraufverzichten, zumal die Geschichte mit dem 1. Mai 2004 dazu eineAntwort erteilt hat.Zum <strong>aktuellen</strong> <strong>Kontext</strong> der Beneš-<strong>Dekrete</strong>Eine letzte Bemerkung zum »<strong>aktuellen</strong> <strong>Kontext</strong>« sei mir allerdingsnoch gestattet, nämlich meine Sicht auf einige der Hintergründe derso erstaunlichen Virulenz des Streites um die Beneš-<strong>Dekrete</strong>.<strong>Die</strong> Ursachen dafür sind sicher sehr komplex, wobei mehrereEbenen eng miteinander verzahnt sind, eigentlich nur aus methodischenGründen voneinander trennbar.Als eine der Kernfragen sehe ich: Das Scheitern des unter demSignum »sozialistische Revolution« unternommenen, das vorigeJahrh<strong>und</strong>ert weitgehend prägenden Versuchs, das bestehende, weltweitverbreitet Unbehagen auslösende gesellschaftliche System zuüberwinden, eine »neue Welt« zu schaffen. Das Verschwinden deszügelnden Widerparts, der fast schon nicht mehr erhoffte Sieg, eröffneteungeahnte neue Möglichkeiten <strong>und</strong> ließ Beißhemmungen in denHintergr<strong>und</strong> treten. <strong>Die</strong> B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland, die nun nichtnur die DDR los war, sondern auch die sowjetische Einflussnahme<strong>im</strong> Sinne nicht nur formal noch bestehender Viermächteverantwortung,konnte <strong>und</strong> wollte der Versuchung nicht widerstehen, sich angesichtsneuer Manövrierfähigkeit selbst wie auch ihre Rolle in derWelt neu zu definieren. Und dies nicht nur <strong>im</strong> Bestreben, traditionellenHegemonie-Leitbildern <strong>und</strong> -Vorstellungen von der RolleDeutschlands gegenüber Osteuropa erneut zu folgen. Auch die Tatsache,dass Weltpolitik nun nicht mehr einen Systemkonflikt alspr<strong>im</strong>ären Angelpunkt hatte, sondern sich stärker auf das Feld desAustragens von Konflikten, Widersprüchen <strong>und</strong> Positionskämpfeninnerhalb der »freien Welt«, also der Gemeinschaft der Übriggebliebenen,verlagerte, beförderte das Bestreben, hinderlichen <strong>historischen</strong>Ballast abzuwerfen. Der verlockenden Möglichkeit, sich <strong>im</strong>Sinne der Verbesserung der eigenen Ausgangsposition vom Imageeines europäischen (oder gar weltweiten) Störenfriedes zu befreien<strong>und</strong> sich trickreich einzureihen in eine große Gemeinschaft beklagenswerterOpfer der Geschichte, kam <strong>und</strong> kommt natürlich die Politikder Vertriebenenverbände geradezu ideal entgegen. Das seit derVerkündung der Charta der He<strong>im</strong>atvertriebenen von der b<strong>und</strong>esdeutschenÖffentlichkeit weitgehend unwidersprochene Postulatvon den He<strong>im</strong>atvertriebenen als den »vom Leid dieser Zeit (desFaschismus <strong>und</strong> des Zweiten Weltkrieges) am meisten Betroffenen«wurde so unter den neuen Bedingungen zu einem geradezu idealenEinstieg in einen in Umfang, Konsistenz <strong>und</strong> Akzeptanz in der Öffentlichkeitgeradezu schockierenden Opferdiskurs, über den andererseitsso viel wertvoll Kritisches öffentlich angeboten worden ist,dass darüber <strong>im</strong> Einzelnen jetzt <strong>und</strong> hier nicht weiter gesprochenwerden soll. (Stichworte: Individualisierung <strong>und</strong> damit Entkontextualisierungpersönlich leidvoller Erfahrungen)Eine zweite wichtige Ebene <strong>im</strong> Ursachengeflecht sehe ich <strong>im</strong>Zusammenhang mit dem inzwischen erfolgten EU-Beitritt mittelost-


MEHLS Beneš-<strong>Dekrete</strong> 837europäischer Staaten, also insbesondere Polens, Tschechiens <strong>und</strong>Ungarns. <strong>Die</strong> Gunst der St<strong>und</strong>e, dass insbesondere jene Staaten, dietraditionell <strong>im</strong> Focus der außenpolitischen Aktivitäten der Vertriebenenverbändestanden, in der Rolle als Bittsteller vor der deutschenTür standen, wurde zielstrebig, handwerklich meisterhaft <strong>und</strong> zumindestmit stillschweigend-wohlwollender Duldung der politischmaßgeblichen Kreise der B<strong>und</strong>esrepublik als Gelegenheit zum neuerlichenHervortreten in den Vordergr<strong>und</strong> öffentlicher Diskussionengenutzt. Forderungen nach Aufhebung der Beneš- <strong>und</strong> Bierut-<strong>Dekrete</strong><strong>und</strong> als neue Variante der Erregung öffentlichen Interesses(<strong>und</strong> leider zu wenig Ärgernisses) die Forderung nach einem Zentrumgegen Vertreibungen in Berlin als Pendant zum Holocaust-Mahnmal erscheinen offensichtlich auch den »maßgeblichen politischenKreisen« der B<strong>und</strong>esrepublik als ein geeignetes Instrument,die bisherigen Beitrittskandidaten <strong>und</strong> jetzigen Neumitglieder derUnion die ihnen zugemessene Bescheidenheit lehren zu helfen.(Volkstümlich ausgedrückt: ihnen zu zeigen, wo der Hammer hängt,<strong>und</strong> dafür öffentliche Unterstützung zu organisieren). Dass damitlangfristig das Wiederaufleben alter Konflikte <strong>und</strong> das Entstehenneuer programmiert sind, ist ganz <strong>und</strong> gar unvermeidlich <strong>und</strong> stelltaus meiner Sicht schon heute eine schwere Hypothek für die Gemeinschaftin der Union dar.Einen Teilaspekt dieser Problemstellung möchte ich noch besondersunterstreichen: Der sich über Jahre hin ziehende Beitrittsprozess Polens<strong>und</strong> der Tschechischen Republik zur Europäischen Union botsich in geradezu idealer Weise an, auf eine wichtige Erfolg versprechende<strong>und</strong> Erfolg bringende Erfahrung der seinerzeitigen VolkstumspolitikHenleinscher Prägung zurückzugreifen – auf den konsequentenVersuch der Internationalisierung des Problems. So, wie Henleines durch seine zahlreichen Auftritte in England erreicht hatte, diedeutsch-tschechischen Konflikte innerhalb der ČSR zu einem Problemdes europäischen Friedens hoch zu stilisieren <strong>und</strong> damit wichtige Voraussetzungenfür München 1938 zu schaffen, ist in den letzten Jahrennichts unversucht gelassen worden, das historische Problem des Bevölkerungstransferszu einem gesamteuropäischen Problem der Erweiterungder EU zu machen – <strong>und</strong> dies ganz <strong>im</strong> Geiste der bereits zitiertenCharta der Vertriebenen, die ja bekanntlich schon forderte, dassdie Völker der Welt die Mitverantwortung am Schicksal der He<strong>im</strong>atvertriebenenals der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenenempfinden sollen. Dass diese intensiven <strong>und</strong> aufwändigen Versuchenur zu sehr bescheidenen Resultaten geführt haben, sei zur Ehre derOrgane der EU ausdrücklich vermerkt.Auf eine dritte Ebene möchte ich nur mit einem Hinweis eingehen,ohne weitere ausführliche Argumentation: Wie seit Jahrzehnten ist dieObhutspflicht best<strong>im</strong>mter politischer Kreise (<strong>und</strong> insbesondere derRegierung des Freistaates Bayern) in den innenpolitischen Machtrangeleienein wichtiger Faktor, sich des St<strong>im</strong>mpotenzials der Vertriebenen(<strong>und</strong> auch der nachgeborenen Erben des He<strong>im</strong>atrechtes) zu versichern.Und so, wie die Rangeleien sich auf den Kulminationspunkt zubewegen, wird auch <strong>im</strong> bevorstehenden Wahlmarathon die Politik derVertriebenenverbände <strong>im</strong>mer wieder eine besondere Rolle spielen.

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