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Auf dem Dach - Erpho Bell

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<strong>Auf</strong> <strong>dem</strong> <strong>Dach</strong> <strong>Erpho</strong> <strong>Bell</strong> | Hans-Werner Faßbender<strong>Auf</strong> <strong>dem</strong> <strong>Dach</strong>Eine Geschichte von <strong>Erpho</strong> <strong>Bell</strong>mit Grafiken vonHans-Werner Faßbender


<strong>Auf</strong> <strong>dem</strong> <strong>Dach</strong>Eine Geschichte von <strong>Erpho</strong> <strong>Bell</strong>mit Grafiken von Hans-Werner Faßbender


Pitte lebt auf <strong>dem</strong> <strong>Dach</strong>. Schon lange. Von hier kann er dieganze Welt sehen.Irgendwann wollte Pitte kein Decke mehr über <strong>dem</strong> Kopfhaben. Auch die Wände störten ihn. Außer<strong>dem</strong> liebte erWolken sehr. Also entschied er sich eines Morgens beimFrühstück, auf sein <strong>Dach</strong> umzuziehen. Schon das Mittagessenaß er mitten im blauen Himmel.Hier weht ihm immer der Wind um die Nase. Pitte kannriechen, aus welcher Richtung der Wind weht. Wenn er imSommer nach Karamell und Rosen riecht, kommt er aus<strong>dem</strong> Süden. Riecht es nach Meer und Regen, kommt derWind aus <strong>dem</strong> Norden. Der Osten riecht nach Tannen undErde und der Westen nach Rasen und Erdbeeren. Wenn esnach all<strong>dem</strong> gleichzeitig riecht, dann kommt ein Sturm auf.Pitte liebt den Sturm im Sommer. Er fliegt mit <strong>dem</strong> Winddurch die Wolken. Mitten durch den Regen. Das Wasser desRegens umschließt ihn weich und warm, als würde er ineiner Badewanne liegen. Er schwimmt mitten durch dasWolkenmeer. Läßt sich einfach treiben. Und wenn die


Blitze zucken und der Donner besonders laut grollt, lachtPitte lauter als der Sturm. Und der Wind lacht mit ihm.Nach <strong>dem</strong> Sturm liegt Pitte wieder auf seinem <strong>Dach</strong> undschaut den Wolken nach. Manchmal kitzelt ihn dann derWind leicht an der Nasenspitze. „Das ist ein Freundschaftsgruß“,weiß Pitte.Abends singt der Wind Pitte oft in den Schlaf und die Sternetanzen dazu. Sie flackern bei je<strong>dem</strong> Schritt. An besonderenTagen dirigiert der Mond dieses Konzert. Dann wird dieWelt ganz still und lauscht.Pitte fühlt sich auf seinem <strong>Dach</strong> nie allein.


Von seinem <strong>Dach</strong> aus kann Pitte auch die Menschen derStadt sehen. Er schaut ihnen gerne beim Leben zu. Wennder Wind günstig steht, hört er Worte und Sätze.„Bring den Müll raus! Und wasch Dir die Hände!“„Hände hoch, das ist ein Überfall!“„Musik mag ich am Liebsten und Schokolade.“„Meine Schwester ist doof.“„Wenn Sie nicht mehr Einsatz zeigen, muss ich Sie entlassen!“„Gut gemacht!“„Diese Blume ist wunderschön!“„Willst Du mich heiraten?“„Ja.“„Bleiben Sie stehen. Im Namen des Gesetzes!“„Nein!“„Morgen ist auch noch ein Tag.“„Vielleicht.“Die Stimmen gehören nicht zu bestimmten Menschen. Pittestellt sich gerne vor, zu wem die Sätze passen.Der kleine dicke Mann mit schwarzem Schnurbart und


grauem Arbeitsmantel ruft: „Spaghettieis ohne Sahne undeinen Freundschaftsbecher bitte“, während er eine GruppeKinder von <strong>dem</strong> Rasen scheucht.Die vornehme Dame mit langen blonden Haaren und wiegen<strong>dem</strong>Schritt erzählt ihrem Begleiter vor <strong>dem</strong> Fenster derteuren Boutique „Jetzt bist du dran. Du schließt die Augen,zählst bis Hundert und dann musst Du mich suchen. Los!“Ein kleiner Junge auf einer Mauer meldet die neustenNachrichten: „Die Regierung sieht sich nicht in der Lage,das soziale Netz weiter aufrecht zu halten. Die neuestenStatistiken berichten von einer dramatischen Entwicklungder Staatsausgaben für Arbeitslose und Rentner…“Die schwarz-weiße Katze auf <strong>dem</strong> <strong>Dach</strong> gegenüber singt:„Der Vogelfänger bin ich ja, stets lustig, heißa hopsasa…“„Eine verrückte Welt“, denkt Pitte und wendet sich denWolken und Vögeln zu, die ihn mit sich vortragen.


Nachts wird die Welt ganz ruhig. Nur wenige Geräuschefinden den Weg auf Pittes <strong>Dach</strong>.Seine Augen suchen die einzelnen Lichter in der Dunkelheit.Hinter hell erleuchteten Fenstern sieht er Lachen undWeinen, Glück und Unglück, Liebe und Hass.In der Ferne verlieren sich die Fenster zu leuchtenden Punkten.Die Städte in der Ferne sind Lichthaufen. Die einzelnenHäuser sind Glühwürmchen. Im Himmel spiegeln sich dieLichter zu Sternen. „Wer wohnt im Himmel?“, fragt sichPitte.Der Wind trägt ihn hoch und höher. Durch die Wolken hinaufzu den Sternen.Pitte fliegt zur Sonne. Eine leuchtend orange Masse. Es istwarm und wird immer wärmer. „Hallo?“, ruft Pitte in denStern hinein, „hallo?“In der Helligkeit der Sonne verbrennen die Buchstaben zuschwarzer Asche. Aus der Asche formen lodernde Flammeneinen Ball, in dessen Mitte ein Feuer wohnt. Die Sonnespuckt den Ball aus. Er fliegt ins All und zieht eine


Flammenspur hinter sich her.Pitte folgt <strong>dem</strong> Ball ins All. Vorbei an Planeten und Sternen.Der Ball fliegt immer schneller. Bald ist er nur noch einkleiner Schimmer in weiter Ferne.Ein freundliches Gesicht taucht aus der Dunkelheit auf.Große runde Augen und eine schrumpelige Nase. DieAugen sind riesige weiße Spiegel. Pitte kann in Ihnen dasganze All sehen. Es funkelt.Unter der Nase ist ein runder Mund. Aus ihm kommenWolken in allen Farben: weiße, graue, violette, gelbe,grüne, rote … Sobald sie aus <strong>dem</strong> Mund gekommen sind,schütteln sie sich und Farbtropfen schillern durch das All.Anschließend galoppieren die Wolken davon und zieheneine Farbspur hinter sich her.Pittes Kleidung ist voller Farbtropfen. In den Augenspiegelnschimmert er wie ein Kristall.Im Morgengrauen treibt Pitte zurück durch die Wolken. DieWolken waschen die Farbe ab und regnen einen Regenbogen.Glücklich träumt sich Pitte in den Tag.


„Die Sonne kenne ich“, denkt Pitte. Er schaut in denHimmel und folgt zwei Schwalben mit den Augen. Sieumkreisen einander, schrauben sich höher und höher, verharreneinen Moment und lassen sich mit <strong>dem</strong> Wind fallen.Dabei singen sie ein leichtes Lied. Pitte denkt an seineMutter und lächelt.Sein Blick wandert durch die Straßen unter ihm. Eilig gleitendort die Menschen umeinander. Autos flitzen, bremsenund flitzen weiter. Alles ist in Bewegung.Pitte versucht einzelnen Menschen mit seinen Augen zubegleiten, verliert sie aber immer wieder im Gedränge. Aneinem rote Punkt bleiben sein Blick hängen. Er biegt ineine dunkele Gasse. Anders als auf der Hauptstraße sindhier wenige Menschen unterwegs. Es ist ein kleinesMädchen mit leuchtend roten Haaren und blauen Augen.Sie geht langsam. Bleibt stehen. Macht kurze Pausen.Blickt sich um und kriecht dann in einen Haufen Kartonsunter einer Metalltreppe.Pitte betrachtet den Stapel aus Pappe. Regungslos liegt er


wie ein großer Körper unter der Treppe. Von oben sieht eraus wie ein riesiger Hund. Ein schlafender Wachhund, derin der Dunkelheit ein kleines Mädchen bewachte.Der Wind trägt Pitte in die Gasse. Hier ist es feucht. Esriecht nach altem Käse und Benzin. Die Kartons sind drekkigund nass. In den Hund führt ein Tunnel. Kein Geräuschist zu hören. Pitte starrt in das Dunkel.„Hallo! Ist da jemand?“Keine Antwort.„Ich möchte Dich besuchen. Darf ich reinkommen?“Ein leises Rascheln. Stille.„Ich weiß, dass Du da bist, rothaariges Mädchen.“„Sida, ich heiße Sida“, kommt eine Stimme aus der Höhle.„Hallo, Sida. Ich heiße Pitte. Darf ich eintreten?“„Ich kenne Dich nicht.“„Ich möchte Dich kennen lernen.“„Deine Stimme klingt nett.“„Danke, Sida.“„Bitte, Pitte.“


Die Höhle ist viel größer, als Pitte gedacht hatte. Je weiterer in die Höhle hinein geht, desto angenehmer wird es. DieWände der Höhle leuchten ein warmes Licht ab. In einemkugelrunden Raum sitzt das kleine rothaarige Mädchen aufeinem Haufen grüner Decken. <strong>Auf</strong> diesem Sessel wirkt dasMädchen klein und zerbrechlich wie eine Porzellanpuppe.Die Luft ist feucht und warm.„Hallo, Pitte.“„Hallo, Sida.“Ihre Augen sind blau wie das Meer.„Ich habe Dich von meinem <strong>Dach</strong> gesehen.“„Dann hast Du mich eben beobachtet?“„Ja. Entschuldige bitte.“„Ich habe Deinen Blick gespürt.“Sida lacht. Ihr Lachen ist rau und laut. Ihr ganzer Körperlacht. Besonders ihre Augen. Dieses Lachen ist ansteckend.Pitte muss lachen. Lauter und immer lauter. Mit ihnen lachtdie ganze Höhle.„Warum wohnst Du in dieser Höhle?“


„Warum lebst Du auf einem <strong>Dach</strong>?“Pitte sieht Sida an. Sida schaut Pitte in die Meeresaugen.„Ich bin ganz allein auf der Welt.“ Sie kramt in <strong>dem</strong> riesigenSessel. Aus einer Falte holt sie eine Maus. „Das ist Max,mein Freund.“ Die Maus bewegt sich nicht. „Er ist tot.“Pitte betrachtet Max. Die schwarzen Knopfaugen schauenins Leere. Der kleine Körper ist steif und die Barthaare sindganz struppig- Sida rollt eine Träne über die Wange.„Das tut mir leid,“ flüstert Pitte.„Du kannst nichts dafür.“Sida holt eine Konservenbüchse aus einer Falte des Sessels.„Möchtest Du einen Tee?“„Gerne.“„Es gibt nur Wasser. Den Geschmack musst Du Dir vorstellen.“Das Wasser in der Büchse ist lauwarm.„Der Tee schmecktherrlich. So guten Tee habe ich noch nie getrunken.“„Danke, Pitte.“„Bitte.“Sida und Pitte lachen.


Sida ist krank. Sie muss immer wieder husten und spucktmanchmal Blut.„Willst Du mit mir auf meinem <strong>Dach</strong> im Himmel wohnen?“Der Wind trägt sie auf das <strong>Dach</strong> und streift dabei SidasWange.Gemeinsam schauen sie auf die Welt. Wolken ziehen vorüber.Max liegt auf einem Blatt. Der Wind trägt ihn hoch zurSonne.„Ich möchte das Meer sehen.“<strong>Auf</strong> einer großen weißen Wolke fahren die Beiden durchden Himmel. Kleine Wolken umkreisen das Wolkenschiff.Das Schiff fliegt in den Himmel hinauf.„Von hier kannst Du die ganze Erde sehen.“Sie betrachten den großen Ball unter sich.„Die weißen Streifen sind Wolken. Das Grüne ist Land unddie blauen Flächen sind die Meere.“Satteliten treiben an ihnen vorbei. Silberne Klötze mit langenAntennen. Sie gleiten lautlos durch den Himmel und


glänzen wie neu in der Sonne.„Ich möchte das Meer riechen.“Der Wind trägt die Wolke herab. Sie wird immer schnellerund schneller. Das Meer taucht unter ihnen auf. Das Wasserkräuselt sich unter der Wolke. <strong>Auf</strong> den Wellen bilden sichSchaumkronen und vergehen. Das Meer riecht nach Leben– nach Fischen, Walen, Algen, Plankton, Vögeln … undSalz. Das Meer kitzelt in der Nase.Eisberge tauchen aus <strong>dem</strong> Wasser auf. Riesige weiße Flächen.„Die kleinen schwarzen Punkte sind Pinguine.“Schnee fällt aus ihrer Wolke. Langsam steigt sie auf undtreibt über den grauen Regenwolken durch den Himmel.„Die Sterne spiegeln das Leben, damit wir uns nie alleinefühlen.“Sida lächelt Pitte an. Gemeinsam summen sie ein Lied mit<strong>dem</strong> Wind. Die Sterne tanzen dazu.„Das Meer ist wunderbar. Du bist lieb“, flüstert Sida undschläft ein.Pitte schaut in den Himmel.


Pitte lebt auf <strong>dem</strong> <strong>Dach</strong>. Schon lange. Hier weht ihm immerder Wind um die Nase. Von hier kann er die ganze Weltsehen.Die Wolken treiben vorbei. Weiß, grau und violett. Sie formenGebilde: Ein Pferd, einen Baum, einen Hammer, eineMaus, ein Lied, ein Lachen … Sida.Pitte muss lächeln. Seine Augen blitzen. Die kleinen Perlenaus Wasser und Salz trägt der Wind fort. Die Sonne brenntneue Sterne und verschwindet am Rande der Welt.Mit <strong>dem</strong> Mond kommt die Nacht. Und mit ihm die Sterne.Ein Lachen hallt durch den Himmel. Dieses Lachen istansteckend. Pitte muss lachen. Lauter und immer lauter. Mitihm lachen der Wind und die Sterne.Pitte fühlt sich auf seinem <strong>Dach</strong> nie allein.

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