01.12.2012 Aufrufe

Empirische Untersuchung der sprachlichen Variation in

Empirische Untersuchung der sprachlichen Variation in

Empirische Untersuchung der sprachlichen Variation in

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>Variation</strong> und Spracharbeit: <strong>Empirische</strong> <strong>Untersuchung</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>sprachlichen</strong> <strong>Variation</strong> <strong>in</strong> ‚identischen‘ Protokollen<br />

In diesem Beitrag soll e<strong>in</strong>e Möglichkeit beschrieben werden, wie das Material <strong>der</strong><br />

Akten des Westfälischen Friedens – hier <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die Fürstenratsprotokolle aus<br />

den Jahren 1646 und 1647 (ediert <strong>in</strong> Brunert/Rosen 2001 und Brunert 2006) – für die<br />

historisch-l<strong>in</strong>guistische Forschung <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Germanistik nutzbar gemacht werden<br />

kann. 1 Das Forschungsfeld, für das sich die Überlieferungen <strong>der</strong> Fürstenratsprotokolle<br />

als empirische Basis hervorragend eignen, ist die Entstehung <strong>der</strong> neuhochdeutschen<br />

(Standard-)Schriftsprache 2 . Mitte des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts ist die Entwicklung e<strong>in</strong>er<br />

überdachenden schriftlich<strong>sprachlichen</strong> Standardvarietät des Deutschen bereits weit<br />

fortgeschritten, aber noch nicht abgeschlossen. Der Standardisierungsprozess des<br />

Deutschen ist damit im Vergleich mit an<strong>der</strong>en europäischen Nationalsprachen<br />

‚verspätet‘; <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die territoriale Zersplitterung und damit das Fehlen e<strong>in</strong>er<br />

nationalen E<strong>in</strong>heit verlangsamten die Standardisierung, die nicht (monozentrisch)<br />

durch e<strong>in</strong> Macht- und E<strong>in</strong>flusszentrums wie beispielsweise Paris für Frankreich zentral<br />

gesteuert werden konnte, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em langwierigen, komplexen<br />

Aushandlungsprozess (plurizentrisch) erarbeitet werden musste, <strong>der</strong> erst Ende des<br />

18. Jahrhun<strong>der</strong>ts als weitgehend abgeschlossen betrachtet werden kann. 3<br />

Die<br />

Entstehung <strong>der</strong> deutschen Standardsprache beschäftigt die germanistische<br />

Sprachwissenschaft bereits seit circa 150 Jahren, seit Müllenhoff (1863) und Burdach<br />

(1884) erste prom<strong>in</strong>ente Thesen veröffentlichten, die die Herausbildung e<strong>in</strong>er gee<strong>in</strong>ten<br />

Standardsprache des Deutschen zu erklären versuchten. Nachdem die frühe<br />

Forschung vornehmlich nach <strong>der</strong> ‚Wiege‘ <strong>der</strong> E<strong>in</strong>heitssprache, also ihrer<br />

Ursprungvarietät, gesucht hatte, stellen die Ansätze seit den sechziger Jahren des<br />

20. Jahrhun<strong>der</strong>ts bis zur aktuellen Forschung die Komplexität des<br />

Vere<strong>in</strong>heitlichungsprozesses <strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grund (vgl. etwa Besch 1968, Mattheier<br />

1981, Warnke 2001, Reichmann 2003). Dabei kommt empirischen <strong>Untersuchung</strong>en<br />

beson<strong>der</strong>e Bedeutung zu:<br />

Neuere Forschungen seit den 1960er Jahren versuchten u.a. mit strukturierten Textkorpora<br />

(areal, zeitlich, textsortentypisch; 15.-17.Jahrhun<strong>der</strong>t) die schreib<strong>sprachlichen</strong><br />

1 Zur Beschreibung <strong>der</strong> reichsständischen Protokolle vgl. Brunert (2001) und (2010).<br />

2 Da für die hier diskutierten Zusammenhänge <strong>der</strong> gesprochensprachliche Standard ke<strong>in</strong>e Rolle spielt,<br />

werden die Begriffe nhd. Standardsprache und nhd. Schriftsprache synonym verwendet (zur<br />

Differenzierung vgl. Besch/Wolf 2009: 46).<br />

3 Zusammenfassend dazu Besch/Wolf (2009: 60ff), Besch (2003); e<strong>in</strong>e Dokumentation von<br />

Forschungsthesen zur Entstehung <strong>der</strong> nhd. Schriftsprache stellt Wegera (2007) dar.


Entwicklungen um und nach 1500 <strong>in</strong> ihrer großlandschaftlichen Unterschiedlichkeit zu<br />

erfassen. (Besch 2007: 412)<br />

In empirischen Studien wurden und werden die e<strong>in</strong>zelnen Ausgleichsprozesse auf den<br />

verschiedenen <strong>sprachlichen</strong> Ebenen untersucht, <strong>in</strong>dem ausgewählte Textzeugen (v.a.<br />

unterschiedlicher regionaler Herkunft als Repräsentanten unterschiedlicher regionaler<br />

Schreibvarietäten) <strong>in</strong> ihrer <strong>sprachlichen</strong> <strong>Variation</strong> mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verglichen werden. Auf<br />

diese Weise wurden Faktoren herausgearbeitet, die für die Durchsetzung e<strong>in</strong>zelner<br />

Varianten för<strong>der</strong>lich waren (Geltungsareal, Geltungsgrad, strukturelle Disponiertheit<br />

und Landschaftskomb<strong>in</strong>atorik; vgl. zusammenfassend Besch 2003: 2262ff). Um<br />

Standardisierungsprozesse empirisch zu beobachten, bietet es sich an, ‚gleiche‘<br />

beziehungsweise identische Texte aus unterschiedlichen Regionen etc. als Grundlage<br />

zu haben: wenn die <strong>Variation</strong> auf <strong>der</strong> <strong>sprachlichen</strong> Ausdrucksseite beobachtet werden<br />

soll, ist e<strong>in</strong>e weitgehende Ausschaltung von <strong>Variation</strong> auf <strong>der</strong> Inhaltsebene<br />

erstrebenswert. So hat bereits Besch (1967) möglichst <strong>in</strong>haltlich übere<strong>in</strong>stimmende<br />

Texte ausgewählt, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Fall e<strong>in</strong>en geistlichen Text mit e<strong>in</strong>er breiten<br />

handschriftlichen Überlieferung («Die vierundzwanzig Alten o<strong>der</strong> <strong>der</strong> goldene Thron<br />

<strong>der</strong> m<strong>in</strong>nenden Seele» Ottos von Passau; überliefert s<strong>in</strong>d 120 Handschriften, aus<br />

denen 68 ausgewählt wurden, die lokalisierbar waren; vgl. Besch 1967: 20).<br />

Das <strong>in</strong> <strong>der</strong> Arbeitsstelle "Westfälischer Frieden 1648" <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>igung zur Erforschung<br />

<strong>der</strong> Neueren Geschichte e.V. unter dem geme<strong>in</strong>samen Dach ‚Akten des Westfälischen<br />

Friedens‘ gesammelte Material enthält mit den Protokollen <strong>der</strong> Beratungen des<br />

Fürstenrats <strong>in</strong> Osnabrück 1646 und 1647 e<strong>in</strong> von <strong>der</strong> germanistischen Forschung<br />

bisher noch nicht gehobenes, äußerst vielversprechendes Belegmaterial für die<br />

Forschungsfrage Entstehung <strong>der</strong> neuhochdeutschen Schriftsprache: die Protokolle<br />

liegen <strong>in</strong> identischen Exemplaren aus bis zu 20 Schreiberhänden vor, da für jede an<br />

diesen Verhandlungen beteiligte Partei handschriftlich durch Diktation e<strong>in</strong>e eigene<br />

Protokollversion erstellt wurde. 4<br />

Diese identischen Protokolle können nutzbar gemacht<br />

werden, um an ihnen die Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung <strong>der</strong> Schreiber mit <strong>Variation</strong> bei<br />

fortschreiten<strong>der</strong> Standardisierung im Entstehungs- bzw. Konsolidierungsprozess <strong>der</strong><br />

neuhochdeutschen Schriftsprache nachzuvollziehen. Diese Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung<br />

werde ich im Folgenden mit dem Begriff ‚Spracharbeit‘ belegen, wie ihn Wegera<br />

(2011: 5) verwendet: «Spracharbeit – verstanden als bewusste und reflektierte Arbeit<br />

an Sprache». Insbeson<strong>der</strong>e die Entstehung <strong>der</strong> deutschen (Ortho-)Graphie lässt sich<br />

4<br />

Für wertvolle H<strong>in</strong>weise zu den Fürstenratsprotokollen danke ich herzlich Frau Dr. Maria-Elisabeth<br />

Brunert, sowie für die Möglichkeit, auf die Archivbestände <strong>der</strong> Arbeitsstelle "Westfälischer Frieden 1648"<br />

zuzugreifen.


als Ergebnis <strong>der</strong> Summe <strong>der</strong> Spracharbeit <strong>in</strong>dividueller Schreiber und an<strong>der</strong>er an <strong>der</strong><br />

Textproduktion Beteiligter (<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Drucker, Setzer) – von <strong>der</strong> Entstehung <strong>der</strong><br />

deutschen Schriftlichkeit durch Adaption des late<strong>in</strong>ischen Alphabets im 8. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

bis zu ihrer Normierung verstehen (und auch heute noch ist die deutsche Orthographie<br />

Gegenstand von Spracharbeit, <strong>in</strong> <strong>in</strong>stitutionalisierter Form durch den Rat für deutsche<br />

Rechtschreibung).<br />

Wegera (2011a: 8) beschreibt diesen Prozess folgen<strong>der</strong>maßen:<br />

E<strong>in</strong>erseits leisten Schreiber Spracharbeit, <strong>in</strong>dem sie versuchen e<strong>in</strong>e gewisse<br />

Lautadäquatheit <strong>der</strong> Schrift zu sichern, an<strong>der</strong>erseits besteht seit den ersten Anfängen e<strong>in</strong>e<br />

Orientierung an e<strong>in</strong>em Vorbild. Dies ist zunächst und für lange Zeit das Late<strong>in</strong>; später<br />

folgen Konventionen und Schreibtraditionen e<strong>in</strong>zelner Schreibstuben (Kanzleien) o<strong>der</strong><br />

Druckereien (Offizien), e<strong>in</strong> sog. Schreib-Usus, <strong>der</strong> etabliert werden kann zu<br />

landschaftlichen Schreibsprachen. Diese wie<strong>der</strong>um werden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em allmählichen<br />

Vere<strong>in</strong>heitlichungsprozess standardisiert und das Ergebnis schließlich zur verb<strong>in</strong>dlichen<br />

Norm erklärt.<br />

Anstelle e<strong>in</strong>er Orientierung an <strong>der</strong> Lautlichkeit, die zu Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> deutschen<br />

Schriftlichkeit e<strong>in</strong>e größere Rolle spielte, tritt mit fortschreiten<strong>der</strong> Emanzipation <strong>der</strong><br />

Schriftsprache zunehmend e<strong>in</strong>e Orientierung <strong>der</strong> Schreiber am antizipierten<br />

Leseverstehen h<strong>in</strong>zu (vgl. Wegera 2011b: 26): Interpunktion spielt e<strong>in</strong>e immer<br />

wichtigere Rolle und es entstehen orthographische Pr<strong>in</strong>zipien wie das Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong><br />

Morphemkonstanzschreibung, die das Erfassen beim Lesen erleichtern: <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Schriftlichkeit werden beispielsweise durch die Auslautverhärtung verursachte<br />

ausdrucksseitige Unterschiede ([hunt] - [hundə]) egalisiert ( - ). 5<br />

E<strong>in</strong><br />

weiteres Pr<strong>in</strong>zip, das das Leseverstehen unterstützt, ist die unterschiedliche<br />

Schreibung von homophononen (gleich lautenden) Wörtern (z.B. - ;<br />

- etc.). Im 16. Jahrhun<strong>der</strong>t bildet sich – hervorgerufen bzw. begünstigt<br />

durch technische (v.a. Druck mit beweglichen Lettern) und <strong>in</strong>frastrukturelle<br />

Entwicklungen (Postwesen etc.) – die «Notwendigkeit <strong>der</strong> Fernorientierung schriftlicher<br />

Erzeugnisse» (Wegera 2011b: 24) heraus, e<strong>in</strong> Faktum, das die Herausbildung e<strong>in</strong>er<br />

Orthographie stark begünstigt haben dürfte. Begleitet wird die Entwicklung von <strong>der</strong><br />

ebenfalls im 16. Jahrhun<strong>der</strong>t e<strong>in</strong>setzenden meta<strong>sprachlichen</strong> Diskussion über<br />

Orthographie, die Vere<strong>in</strong>heitlichung <strong>der</strong> Schreibung wird als Ideal und Ziel postuliert:<br />

«Das e<strong>in</strong>er die woerter mit Buchstaben schreibe gleich wie <strong>der</strong> an<strong>der</strong>» (Christoph<br />

Walther, Von unterscheid <strong>der</strong> Deudschen Biblien, Wittenberg 153, zit. nach Voeste<br />

2008: 1). ‚Richtiges‘ Schreiben erlangt somit ab dem 16. Jahrhun<strong>der</strong>t e<strong>in</strong>en wesentlich<br />

5 Zur Herausbildung und Durchsetzung morphembezogener Schreibungen liegt mit Ruge (2004) e<strong>in</strong>e<br />

empirische <strong>Untersuchung</strong> auf e<strong>in</strong>em Korpus von Texten aus dem Zeitraum 1500-1770 vor.


an<strong>der</strong>en Stellenwert und e<strong>in</strong>en im Vergleich zur vorherigen Schriftentwicklung an<strong>der</strong>en<br />

Charakter.<br />

Auf dem Weg zur Standardisierung bildet sich als entscheiden<strong>der</strong> Wesenszug <strong>der</strong><br />

neuhochdeutschen E<strong>in</strong>heitssprache e<strong>in</strong> Sprachnormbewusstse<strong>in</strong> aus, das nur solchen<br />

Varianten e<strong>in</strong>e „Überlebenschance“ gibt, die nicht regional bzw. sozial markiert s<strong>in</strong>d.<br />

(Voeste 2008: 4)<br />

Mitte des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts existieren also bereits etablierte überregionale Usus<br />

(Schreibsprachen), die den berufsmäßigen Schreibern, aus <strong>der</strong>en Hand die<br />

identischen Protokolle stammen, wohl bekannt s<strong>in</strong>d. Im 17. Jahrhun<strong>der</strong>t verstärkt sich<br />

zudem die metasprachliche Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> deutschen Sprache. Erklärtes<br />

Ziel <strong>der</strong> sprachpflegerischen Bemühungen stellt – neben Sprachpflege im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er<br />

‚Re<strong>in</strong>haltung‘ <strong>der</strong> Sprache – <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e auch die Vere<strong>in</strong>heitlichung von Grammatik<br />

und Orthographie dar. An <strong>der</strong> Spitze dieser Bewegung steht die Fruchtbr<strong>in</strong>gende<br />

Gesellschaft, gegründet 1617, <strong>der</strong>en Mitglie<strong>der</strong> durch grammatikographische Arbeit<br />

und frühe Orthographielehren den Weg für e<strong>in</strong>e Kodifizierung <strong>der</strong> deutschen Sprache<br />

ebneten. 1645, im unmittelbaren zeitlichen Umfeld <strong>der</strong> Friedensverhandlungen und<br />

damit <strong>der</strong> identischen Protokolle, ersche<strong>in</strong>t die Orthographielehre des Fruchtbr<strong>in</strong>gers<br />

Christian Gue<strong>in</strong>tz (zu den Grammatiken und Orthographielehren des Barock vgl.<br />

Moul<strong>in</strong> 1991). Der Berufsschreiber des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts ist noch nicht – wie es für<br />

heutige Schreiber des Deutschen gilt, die lediglich <strong>der</strong> Norm folgen müssen – von <strong>der</strong><br />

Aufgabe <strong>der</strong> Spracharbeit auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Graphie entlastet: wo noch ke<strong>in</strong>e<br />

Standardvariante gefunden ist, muss er jeweils aus e<strong>in</strong>em Pool verfügbarer Varianten<br />

auswählen. Dieser Auswahlprozess beziehungsweise die Möglichkeiten<br />

graphematischer <strong>Variation</strong> um 1650 lassen sich mithilfe <strong>der</strong> identischen Protokolle als<br />

empirische Basis kle<strong>in</strong>schrittig nachvollziehen; <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er stichprobenartigen<br />

Pilotstudie auf Basis von 9 identischen Protokollen konnte diese Annahme bestätigt<br />

werden:<br />

In zentralen Problemfel<strong>der</strong>n <strong>der</strong> deutschen Orthographie zeigt das untersuchte<br />

Material Varianz, so beispielsweise im Bereich <strong>der</strong> Doppelkonsonantenschreibung (s.<br />

Bsp. <strong>in</strong> Tabelle 1) und <strong>der</strong> graphischen Markierung von Vokallänge (s. Bsp. <strong>in</strong><br />

Tabelle 2) sowie <strong>der</strong> Getrennt- und Zusammenschreibung (s. Bsp. <strong>in</strong> Tabelle 3).<br />

Durch die Übernahme des late<strong>in</strong>ischen Alphabets ist die deutsche Schriftlichkeit von<br />

Beg<strong>in</strong>n an mit dem Problem konfrontiert, unterschiedliche Vokalquantitäten (Kurz- bzw.<br />

Langvokale mit Phonemstatus) graphisch zu realisieren. Das Spektrum <strong>der</strong><br />

Möglichkeiten reicht von e<strong>in</strong>er Nicht-Markierung <strong>der</strong> Vokalquantität, d.h. <strong>der</strong><br />

Doppelnutzung sämtlicher Vokalzeichen, bis h<strong>in</strong> zu ausgefalteten graphischen


Inventaren, die versuchen, die Unterschiede <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lautlichkeit abzubilden (vgl.<br />

Wegera 2011a: 10f). Ke<strong>in</strong>e <strong>der</strong> beiden Möglichkeiten ist zur orthographischen Regel<br />

erhoben worden, die Kennzeichnung des Langvokals ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> neuhochdeutschen<br />

Orthographie nicht allgeme<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n lexemspezifisch geregelt, wie auch die<br />

gewählten Beispiele demonstrieren (s.u., begehren vs. niemals). 6<br />

Inventar und<br />

Ausnutzung <strong>der</strong> graphischen Möglichkeiten zur Markierung <strong>der</strong> Vokalquantitäten zu<br />

Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> neuhochdeutschen Sprachperiode s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Rieke (1998) aus Drucken des<br />

16. bis 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts empirisch herausgearbeitet worden. Die <strong>Untersuchung</strong> von<br />

Rieke zeigt, dass <strong>in</strong> <strong>der</strong> 2. Hälfte des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts die<br />

Doppelkonsonantenschreibung sich weitgehend <strong>der</strong> heutigen Norm – die allerd<strong>in</strong>gs<br />

weiterh<strong>in</strong> Anlass für Diskussionen bietet (vgl. etwa Eisenberg 1997, Ramers 1999 u.ö.)<br />

– angenähert hat. In <strong>der</strong> ersten Hälfte des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts ist dieser Stand bei<br />

weitem noch nicht erreicht, abweichende Doppelkonsonantenschreibungen s<strong>in</strong>d<br />

(regional unterschiedlich) <strong>in</strong> ca. 50% <strong>der</strong> Fälle belegt.<br />

Hs. ausgestellte (S. 149, Z. 29) 7<br />

1 au\'6ge$telte 8<br />

2 au\2sge$telte<br />

4 au\'ßge$telte<br />

10 au\26ge$tellte<br />

12 au\'6ge$telte<br />

13 au\26gestelte<br />

15 au\2ßgestelte<br />

18 au\'ßgestellete<br />

20 au\26ge$tellte<br />

Tabelle 1: Graphische Varianten zur Form ausgestellte aus den ausgewerteten Hss.<br />

Das gewählte Beispiel <strong>in</strong> Tabelle 1 zeigt e<strong>in</strong>e Präferenz <strong>der</strong> untersuchten<br />

Handschriften für die e<strong>in</strong>fache Konsonantenschreibung nach Kurzvokal, das Pr<strong>in</strong>zip<br />

<strong>der</strong> Doppelkonsonantenschreibung zur Kennzeichnung <strong>der</strong> vokalischen Kürze ist noch<br />

nicht durchgängig etabliert.<br />

Hs. begeret (S. 150, Z. 4) niemahls (S. 150, Z. 12)<br />

1 begeret niemahls<br />

6<br />

Zu Phonem-Graphem-Relationen im Bereich <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>gabe von Vokalquantität <strong>in</strong> <strong>der</strong> nhd.<br />

Orthographie vgl. Nerius (2007: 112ff):<br />

7<br />

Die Seiten- und Zeilenangaben beziehen sich jeweils auf die Edition (Brunert/Rosen 2001).<br />

8<br />

H<strong>in</strong>weise zu den verwendeten Kodierungen: um e<strong>in</strong>e handschriftengetreue Transkription zu erreichen,<br />

wurden für Grapheme, die ke<strong>in</strong>e Entsprechung im Standardzeichensatz haben, Kodierungen e<strong>in</strong>geführt,<br />

so $ für schaft-s, 6 für e<strong>in</strong>e bestimmte s-Qualität aus den Handschriften, sowie \ für übergeschriebene<br />

Buchstaben und Zeichen.


2 begehret niemahl6<br />

4 begeret niemal6<br />

10 begehret niemahlß<br />

12 begehret niemal6<br />

13 begehret niemahl6<br />

15 begehret niemals<br />

18 begehret niemahl6<br />

20 begeret niemal6<br />

Tabelle 2: Graphische Varianten zu den Formen begeret und niemahls aus den ausgewerteten<br />

Hss.<br />

Die gewählten Beispiele <strong>in</strong> Tabelle 2 zeigen zwei Verfahren zur Darstellung<br />

vokalischer Länge: die Nutzung von als ‚Dehnungszeichen‘ (vgl. dazu Voeste<br />

2008: 169ff), d.h. e<strong>in</strong>e Komb<strong>in</strong>ation von zwei Buchstabenzeichen zur Kennzeichnung<br />

des Langvokals auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite und auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite die Doppelnutzung des<br />

Vokalzeichens auch für den Langvokal, d.h. ke<strong>in</strong>e graphische Unterscheidung<br />

zwischen Kurz- und Langvokal. E<strong>in</strong>e gesamthafte Auswertung aller <strong>Variation</strong>smuster<br />

aus den identischen Protokollen, die dem <strong>Untersuchung</strong>sfeld Markierung <strong>der</strong><br />

Vokalquantität zuzuweisen s<strong>in</strong>d, würde – ergänzend zu <strong>der</strong> <strong>Untersuchung</strong> von Rieke<br />

(1998) auf Basis von Drucken – e<strong>in</strong> differenziertes Bild davon liefern, welche Systeme<br />

zur graphischen Markierung von Vokalquantitäten <strong>in</strong>dividuelle Schreiber Mitte des<br />

17. Jahrhun<strong>der</strong>ts ausbildeten.<br />

Hs. obwol (S. 149, Z. 32) zu br<strong>in</strong>gen (S. 150, Z. 28)<br />

1 obwol z)u\°br<strong>in</strong>gen<br />

2 ob~wol z)u br<strong>in</strong>gen<br />

4 obwol z)u\'br<strong>in</strong>gen<br />

10 ob woll z)u\2br<strong>in</strong>gen<br />

12 obwol z)u\'br<strong>in</strong>gen<br />

13 ob~wohl zu\2br<strong>in</strong>gen<br />

15 obwol zu\2 br<strong>in</strong>gen<br />

18 ob wohl z)u\' br<strong>in</strong>gen<br />

20 ob wol z)u\2br<strong>in</strong>gen<br />

Tabelle 3: Graphische Varianten zu den Formen obwol und zu br<strong>in</strong>gen aus den ausgewerteten<br />

Hss.<br />

E<strong>in</strong> weiteres Problemfeld <strong>der</strong> deutschen Graphie stellt auch heute noch die Getrennt-<br />

bzw. Zusammenschreibung von Wörtern dar, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Lexikalisierungsprozess aus<br />

mehreren E<strong>in</strong>heiten verschmolzen s<strong>in</strong>d (z.B. aufgrund vs. auf Grund etc.). Das<br />

gewählte Beispiel obwol zeigt neben Formen, die getrennt beziehungsweise<br />

zusammen geschrieben s<strong>in</strong>d auch e<strong>in</strong>e dritte Variante: durch verbundene


Formen. Das zweite Beispiel zeigt, dass <strong>in</strong> den Handschriften e<strong>in</strong>e Tendenz zu<br />

beobachten ist, das zu des erweiterten Inf<strong>in</strong>itiv mit <strong>der</strong> folgenden Inf<strong>in</strong>itivform des<br />

Verbs zusammen zu schreiben. An dieser Stelle wird deutlich, dass auf Basis dieser<br />

Beobachtungen auch über die Ebene <strong>der</strong> Graphie h<strong>in</strong>aus l<strong>in</strong>guistische Fragestellungen<br />

bearbeitet werden können: so liefern die Daten auch Material für die Überprüfung von<br />

Hypothesen über Lexikalisierungprozesse (wie am Beispiel obwol) bzw.<br />

Grammatikalisierungprozesse (wie am Beispiel zu br<strong>in</strong>gen).<br />

Die folgenden Beispiele, die nicht ausführlich diskutiert werden sollen, zeigen<br />

ergänzend Formen graphischer <strong>Variation</strong>, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> neuhochdeutschen Orthographie<br />

ke<strong>in</strong>e Rolle mehr spielen:<br />

nemblich (S. 149, Z. 32) iüngst (S. 149, Z. 31) standt (S. 151, Z. 3)<br />

1 nemblich iüngst standt<br />

2 nemblich iüng$t 6tandt<br />

4 nemblich jüng$t $tandt<br />

10 nemblich jüng$t 6tandt<br />

12 nemlich iüng$t 6tand<br />

13 nemblich jüngst 6tandt<br />

15 nemlich ju\'ng$t 6tandt<br />

18 nemlich jüng$t 6tandt<br />

20 nemblich ju\°ng$t 6tand<br />

Tabelle 4: Graphische Varianten zu den Formen nemblich, iüngst und standt aus den<br />

ausgewerteten Hss.<br />

/b/ unterlag nach /m/ im Lauf <strong>der</strong> deutschen Sprachgeschichte e<strong>in</strong>er totalen<br />

Assimilation (z.B. mittelhochdeutsch kumber > nhd. Kummer; vgl. Reichmann/Wegera<br />

1993: § L72), so dass <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge dieses Lautwandelprozesses <strong>in</strong> dieser<br />

Verb<strong>in</strong>dung auch aus <strong>der</strong> Graphie verschwand. Wie die <strong>Variation</strong> des Beispiels<br />

nemblich zeigt, ist im untersuchten Material noch die alte Form mit verbreitet.<br />

Das Graphem steht vor <strong>der</strong> endgültigen Standardisierung <strong>in</strong> Konkurrenz zum<br />

Buchstabenzeichen , wie es auch das untersuchte Material wi<strong>der</strong>spiegelt.<br />

Die Buchstabenkomb<strong>in</strong>ation zur graphischen Realisierung von /t/ <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

am Wortende (als Ergebnis <strong>der</strong> Auslautverhärtung) ist weitestgehend – bis auf wenige<br />

Lexeme wie Stadt – aus <strong>der</strong> neuhochdeutschen Orthographie geschwunden, im<br />

untersuchten Material jedoch noch zahlreich belegt.<br />

E<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressante Frage, die an das Material zu stellen se<strong>in</strong> wird, ist, <strong>in</strong>wiefern auch<br />

auf an<strong>der</strong>en <strong>sprachlichen</strong> Ebenen, nicht nur auf <strong>der</strong> graphematischen, <strong>Variation</strong> zu


eobachten ist. Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es e<strong>in</strong>er gründlicheren<br />

<strong>Untersuchung</strong> als es im Rahmen <strong>der</strong> Pilotstudie möglich war, erste H<strong>in</strong>weise auf Reste<br />

graphophonematischer <strong>Variation</strong> zeigen jedoch <strong>Variation</strong>sschemata wie das folgende:<br />

pillich (S. 150, Z. 20)<br />

1 pillich<br />

2 pillich<br />

4 billich<br />

10 pillich<br />

12 billich<br />

13 billich<br />

15 billich<br />

18 billich<br />

20 billig<br />

Tabelle 5: Graphische Varianten zur Form pillich aus den ausgewerteten Hss.<br />

Die Schreibung des <strong>in</strong>itialen Konsonanten kann als Reflex e<strong>in</strong>er zu Grunde<br />

liegenden Lautlichkeit angenommen werden: <strong>in</strong> Teilen des oberdeutschen<br />

Sprachraums wurde im Zuge <strong>der</strong> 2. Lautverschiebung <strong>in</strong>itiales /b/ zu /p/ verschoben,<br />

so dass anlautend als «bair[isches] Merkmal im Schriftbild bis <strong>in</strong> die Neuzeit»<br />

(Paul/Wiehl/Grosse 1989) gelten kann. Graphische <strong>Variation</strong>, die auf diatopisch<br />

begründete lautliche <strong>Variation</strong>en verweist, ist von re<strong>in</strong> graphischer <strong>Variation</strong> zu<br />

unterscheiden; hier sollte auch nicht ausschließlich materialimmanent argumentiert<br />

werden, son<strong>der</strong>n es muss wenn möglich e<strong>in</strong>e Korrelation mit außer<strong>sprachlichen</strong> Daten<br />

(Herkunft des Schreibers etc.) hergestellt werden.<br />

Dass auch auf morphologischer Ebene, etwa bei den Pluralflexiven <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verbflexion, 9<br />

diatopisch begründete <strong>Variation</strong> zu beobachten ist, kann aufgrund <strong>der</strong> Beschreibung <strong>in</strong><br />

Brunert (2001, CXXVIII) vermutet werden.<br />

Nachdem die gezeigten Beispiele verdeutlicht haben, dass die identischen Protokolle<br />

für die skizzierte Forschungsfrage und darüber h<strong>in</strong>aus nutzbar gemacht werden<br />

können, soll im Folgenden e<strong>in</strong> entsprechendes <strong>Untersuchung</strong>sdesign beschrieben<br />

werden.<br />

Die leitende <strong>Untersuchung</strong>sfrage für e<strong>in</strong>e empirische Auswertung <strong>der</strong> identischen<br />

Protokolle könnte lauten: Welchen schrift<strong>sprachlichen</strong> Standards folgen<br />

Berufsschreiber Mitte des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts bereits und welche schriftsprachliche<br />

<strong>Variation</strong> ist noch zu beobachten, d.h. welche Ausgleichsprozesse s<strong>in</strong>d noch nicht<br />

9<br />

Zur morphologischen <strong>Variation</strong> <strong>der</strong> Pluralendungen im Frnhd. vgl. Dammers/Hoffmann/Solms (1988,<br />

75ff.).


abgeschlossen? Zur Beantwortung dieser Frage wäre e<strong>in</strong> strukturierter Ausschnitt aus<br />

dem Protokollgeschehen systematisch zu erfassen und auszuwerten. E<strong>in</strong>e Auswahl<br />

kann auf Basis <strong>der</strong> Editionen (Brunert/Rosen 2001, Brunert 2006) erfolgen; die<br />

handschriftliche Überlieferung ist jeweils dokumentiert, so dass gezielt auf die<br />

entsprechenden Handschriften zugegriffen werden kann. Zur Erfassung des<br />

Datenmaterials s<strong>in</strong>d die gewählten Ausschnitte aus den handschriftlichen Protokollen<br />

handschriftengetreu zu transkribieren und die Texte damit zu digitalisieren. Für<br />

Gegebenheiten <strong>der</strong> Handschrift (beson<strong>der</strong>e Graphien wie übergeschriebene<br />

Buchstaben, Schaft-s, Kürzungszeichen; Unter- o<strong>der</strong> Durchstreichungen, ver<strong>der</strong>bte<br />

Stellen etc.), die mit e<strong>in</strong>em Standardzeichensatz nicht abgedeckt s<strong>in</strong>d, s<strong>in</strong>d<br />

Darstellungskonventionen zu entwickeln. Als Basis für die Transkription und die<br />

spätere Auswertung <strong>der</strong> Handschriften e<strong>in</strong>es Schreibers ist systematisch se<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>dividuelles graphematisches Inventar zu erfassen. Zur Auswertung des<br />

Datenmaterials sollen die transkribierten Protokolle zunächst e<strong>in</strong> Kollationsprogramm<br />

durchlaufen, das automatisiert <strong>in</strong>variante Formen und die vorliegende <strong>Variation</strong><br />

ermittelt. Diese Ergebnisse s<strong>in</strong>d schließlich nach den Vorgaben <strong>der</strong> Fragestellung zu<br />

systematisieren. Der Bestand an <strong>in</strong>varianten Formen gibt Auskunft darüber, <strong>in</strong>wieweit<br />

bereits e<strong>in</strong>e Standardisierung stattgefunden hat: weicht ke<strong>in</strong>e <strong>der</strong> 20 erfassten<br />

Handschriften von e<strong>in</strong>er Form ab, so kann dies als gutes Indiz dafür gewertet werden,<br />

dass die vorliegende Form als Standardvariante galt. Bei den variablen Formen muss<br />

zur weiteren Auswertung e<strong>in</strong>e Kategorisierung vorgenommen werden, um <strong>Variation</strong><br />

auf welcher <strong>sprachlichen</strong> Ebene es sich (graphematisch, graphophonematisch,<br />

morphologisch) handelt, um welches konkrete <strong>Variation</strong>sfeld (z.B. s.o.<br />

Doppelkonsonantenschreibung, Markierung <strong>der</strong> Vokallänge etc.) und konkret um<br />

welchen <strong>Variation</strong>sfall (z.B. o<strong>der</strong> zur Markierung vokalischer Länge). Wenn<br />

möglich sollte im Anschluss e<strong>in</strong>e Korrelationsanalyse Aufschluss darüber geben, ob<br />

zwischen <strong>der</strong> <strong>sprachlichen</strong> <strong>Variation</strong> und außer<strong>sprachlichen</strong> Gegebenheiten<br />

(<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> regionalen Herkunft <strong>der</strong> Schreiber) e<strong>in</strong> Zusammenhang ermittelt<br />

werden kann. Ergänzend zu dieser Querschnittstudie sollte e<strong>in</strong>e Längsschnittstudie an<br />

an<strong>der</strong>en Texten aus dem Material <strong>der</strong> Akten des Westfälischen Friedens Auskunft<br />

darüber geben, <strong>in</strong>wieweit <strong>der</strong> beobachtete Sprachstand typisch für die untersuchten<br />

Protokolle ist: So sollte <strong>der</strong> Sprachstand <strong>der</strong> Protokolle mit dem an<strong>der</strong>er Textsorten<br />

und Überlieferungsformen verglichen werden, so zum Beispiel mit Vertragstexten,<br />

Korrespondenzen, Rapularen etc. Durch diese Vorgehensweise entstünde e<strong>in</strong><br />

detailliertes Bild des Grades an Standardisierung, den die deutsche Schriftsprache –


hier repräsentiert durch die Gruppe <strong>der</strong> Berufsschreiber, die die Protokolle ausgefertigt<br />

haben – um 1650 erreicht hat.<br />

Mit Bezug auf die Orthographieentwicklung konstatiert Ewald (2011: 7) als Ergebnis<br />

<strong>der</strong> bisherigen Forschung:<br />

Bis <strong>in</strong>s 18. Jahrhun<strong>der</strong>t ist von e<strong>in</strong>em weit gehend freien, das heißt durch die Bedürfnisse<br />

<strong>der</strong> Sprachgeme<strong>in</strong>schaft im Umgang mit <strong>der</strong> Orthographie geprägten Normentwicklung<br />

auszugehen, die durch die Kodifizierung zwar registriert, aber nicht <strong>in</strong> grundlegend neue<br />

Bahnen gelenkt werden kann.<br />

Nicht <strong>in</strong> Rechtschreibregeln <strong>der</strong> Zeit, son<strong>der</strong>n im Ergebnis <strong>der</strong> konkreten Spracharbeit<br />

ist also Mitte des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts das Kerngeschäft <strong>der</strong> Normentwicklung zu suchen.<br />

Mit dem gewählten handschriftlichen Material rücken als Träger <strong>der</strong> Spracharbeit hier<br />

die Schreiber <strong>in</strong> den Mittelpunkt, nachdem das Hauptaugenmerk <strong>der</strong> Forschung zur<br />

Schriftentwicklung im 16. und 17. Jahrhun<strong>der</strong>t bisher auf den Druckern lag, <strong>der</strong>en<br />

E<strong>in</strong>fluss beispielsweise auf die satz<strong>in</strong>terne Großschreibung gut erforscht ist (vgl.<br />

Bergmann/Nerius 1998). Die ‚laboratoriumsähnliche‘ Situation, die sich im<br />

kommunikativen Verdichtungsraum <strong>der</strong> Friedensverhandlungen ergeben hat – und<br />

nicht zuletzt die verdienstreiche Dokumentationsleistung <strong>der</strong> Arbeitsstelle<br />

"Westfälischer Frieden 1648" – erlauben e<strong>in</strong>e genaue Beobachtung <strong>der</strong> Mitte des<br />

17. Jahrhun<strong>der</strong>ts noch bestehenden <strong>sprachlichen</strong> Selektionsmöglichkeiten und <strong>der</strong><br />

<strong>in</strong>dividuellen Ausnutzung dieser Möglichkeiten. In e<strong>in</strong>er <strong>Untersuchung</strong> wie <strong>der</strong> oben<br />

skizzierten könnte also e<strong>in</strong> wichtiger Bauste<strong>in</strong> zur Erforschung <strong>der</strong> Entstehung <strong>der</strong><br />

neuhochdeutschen Schriftsprache beziehungsweise <strong>der</strong> Entstehung <strong>der</strong><br />

neuhochdeutschen Orthographie erarbeitet werden.<br />

Bibliographie<br />

1. Quellen:<br />

1.1. Editionen:<br />

Brunert, Maria-Elisabeth / Rosen, Klaus (2001): Acta Pacis Westphalicae Serie III Abt. A Protokolle.<br />

Bd. 3 Die Beratungen des Fürstenrats <strong>in</strong> Osnabrück 3 (1646). Bearbeitet von Maria-Elisabeth Brunert<br />

und Klaus Rosen. Münster: Aschendorf.<br />

Brunert, Maria-Elisabeth (2006): Acta Pacis Westphalicae Serie III Abt. A Protokolle. Bd. 3 Die<br />

Beratungen des Fürstenrats <strong>in</strong> Osnabrück 4 (1646-1647). Bearbeitet von Maria-Elisabeth Brunert.<br />

Münster: Aschendorf.<br />

1.2. Handschriften:<br />

1: Braunschweig-Lüneburg-Calenberg B I: Nie<strong>der</strong>sächsisches HStA Hannover Celle, Briefschaftsarchiv<br />

11 Nr. 513, fol. 105'-109<br />

2: Baden-Durlach A I: GLA Karlsruhe 50/746e, fol. 98'-101'<br />

4: Braunschweig-Lüneburg-Celle A I: Nie<strong>der</strong>sächsisches HStA Hannover Celle, Briefschaftsarchiv 12<br />

Nr. 63 (unfol.)


10: Magdeburg Ea: LA Mageburg – LHA Rep. A 1 Nr. 541 I, fol. 142-146'<br />

12: Sachsen-Altenburg A II 1: ThStA Altes Hausarchiv Klasse I (Verhältnisse zum Dt. Reich und zum<br />

Obersächsischen Kreis) E (Westphälische Friedenshandlungen) 20, fol. 117-120<br />

13: Sachsen-Gotha A II: Thür<strong>in</strong>gisches StA Gotha Geheimes Archiv A (Reichs- und Kriegssachen) VIII<br />

(Reichsfriedenshandlungen) Nr. 7, fol. 573-576<br />

15: Sachsen-Weimar A II: Thür<strong>in</strong>gisches HStA Weimar H Krieg und Frieden Nr. 620, fol. 204-205<br />

18: Wetteraurer Grafen (Nassau-Dillenburg) C 1: Wiesbaden Hessisches HStA Abteilung 171 (Altes<br />

Dillenburger Archiv) F 730, fol 133'-137<br />

20: Wetteraurer Grafen (Ysenburg) A I: Fürst von Isenburgisches Archiv <strong>in</strong> Birste<strong>in</strong>, Reichssachen Nr.<br />

15.478, unfol.<br />

2. Zitierte Literatur<br />

Brunert, Maria-Elisabeth (2001): «E<strong>in</strong>leitung». In: Acta Pacis Westphalicae Serie III Abt. A Protokolle.<br />

Bd. 3 Die Beratungen des Fürstenrats <strong>in</strong> Osnabrück 3 (1646). Bearbeitet von Maria-Elisabeth Brunert<br />

und Klaus Rosen. Münster: Aschendorf, XLIV-CXXXII.<br />

Bergmann, Rolf / Nerius, Dieter (1998): Die Entwicklung <strong>der</strong> Großschreibung im Deutschen von 1500-<br />

1700. Heidelberg: W<strong>in</strong>ter.<br />

Besch, Werner (1967): Sprachlandschaften und Sprachausgleich im 15. Jahrhun<strong>der</strong>t. Studien zur<br />

Erforschung <strong>der</strong> spätmittelhochdeutschen Schreibdialekte und zur Entstehung <strong>der</strong> neuhochdeutschen<br />

Schriftsprache. München: Francke.<br />

Besch, Werner (1968): «Zur Entstehung <strong>der</strong> neuhochdeutschen Schriftsprache», <strong>in</strong>: Zeitschrift für<br />

deutsche Philologie 87, 405-426.<br />

Besch, Werner (2003): «Die Entstehung und Ausformung <strong>der</strong> neuhochdeutschen<br />

Schriftsprache/Standardsprache», <strong>in</strong>: Besch, Werner / Betten, Anne et al. (eds.): Sprachgeschichte. E<strong>in</strong><br />

Handbuch zur Geschichte <strong>der</strong> deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 3. Teilbd., 2., vollst. neu bearb.<br />

u. erw. Auflage. Berl<strong>in</strong> / New York: de Gruyter, 2252-2296.<br />

Besch, Werner (2007): «‚Vertikalisierung‘ und ‚Leitvarietät‘. Term<strong>in</strong>ologie-Probleme im Blick auf die<br />

Entstehung <strong>der</strong> neuhochdeutschen Schriftsprache», <strong>in</strong>: Zeitschrift für deutsche Philologie 126, 411-419.<br />

Besch, Werner / Wolf, Norbert Richard (2009): Geschichte <strong>der</strong> deutschen Sprache. Längsschnitte –<br />

Zeitstufen – L<strong>in</strong>guistische Studien. Berl<strong>in</strong>: Erich Schmidt.<br />

Brunert, Maria-Elisabeth (2010): «Reichsständische Protokolle beim Westfälischen Friedenskongress.<br />

Form, Inhalt und Möglichkeiten ihrer Auswertung», <strong>in</strong>: Brunert, Maria-Elisabeth / Lanz<strong>in</strong>ner, Maximilian<br />

(eds.): Diplomatie, Medien, Rezeption. Aus <strong>der</strong> editorischen Arbeit <strong>der</strong> ACTA PACIS WESTPHALICAE.<br />

München: Aschendorff, 253-313.<br />

Burdach, Konrad (1925): «Die E<strong>in</strong>igung <strong>der</strong> neuhochdeutschen Schriftsprache. E<strong>in</strong>leitung: Das<br />

sechzehnte Jahrhun<strong>der</strong>t (Hallische Habilitationsschrift 1884)», <strong>in</strong>: Burdach, Konrad (ed.): Vorspiel.<br />

Gesammelte Schriften zur Geschichte des deutschen Geistes. I. Band, 2. Teil: Reformation und<br />

Renaissance. (Deutsche Vierteljahrsschrift. Buchreihe 2). Halle (Saale), S. 1-33. Wie<strong>der</strong>abdruck <strong>in</strong>:<br />

Wegera, Klaus-Peter (ed., 2007): Die Entstehung <strong>der</strong> neuhochdeutschen Schriftsprache. 2., erw. Aufl.<br />

Frankfurt a. M. Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang, 35-62.<br />

Dammers, Ulf / Hoffmann, Walter / Solms, Hans-Joachim (1988): Grammatik des<br />

Frühneuhochdeutschen. Vierter Band. Flexion <strong>der</strong> starken und schwachen Verben. Heidelberg: W<strong>in</strong>ter.<br />

Eisenberg, Peter (1997): «Die beson<strong>der</strong>e Kennzeichnung <strong>der</strong> kurzen Vokale – Vergleich und Bewertung<br />

<strong>der</strong> Neuregelung», <strong>in</strong>: Augst, Gerhard et al. (eds.): Zur Neuregelung <strong>der</strong> deutschen Orthographie.<br />

Begründung und Kritik. Tüb<strong>in</strong>gen: Niemeyer, 323-336.<br />

Ewald, Petra (2011): «Die Grundzüge <strong>der</strong> heutigen deutschen Orthographie als Ergebnis historischer<br />

Entwicklungen», <strong>in</strong>: Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes 58.1. Rechtschreibung.<br />

Herausgegeben von Gisela Beste und Jürgen Schiewe, 5-21.<br />

Mattheier, Klaus J. (1981): «Wege und Umwege zur neuhochdeutschen Schriftsprache», <strong>in</strong>: Zeitschrift<br />

für germanistische L<strong>in</strong>guistik 9, 274-307.


Moul<strong>in</strong>, Claud<strong>in</strong>e (1991): «“Aber wo ist die Richtschnur? wo ist die Regel?“ Zur Suche nach den<br />

Pr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong> Rechtschreibung im 17. Jahrhun<strong>der</strong>t», <strong>in</strong>: Germanistische L<strong>in</strong>guistik 108-109, 23-60.<br />

Müllenhoff, Karl (1863): «Vorrede zur zweiten Aufl.», <strong>in</strong>: Müllenhoff, Karl / Scherer, Wilhelm (eds.):<br />

Denkmäler deutscher Poesie und Prosa aus dem VIII.-XII. Jahrhun<strong>der</strong>t. 4. Ausg. v. E. Ste<strong>in</strong>meyer<br />

(Neudruck <strong>der</strong> 3. Aufl. von 1892) Berl<strong>in</strong>/ Zürich 1964, Bd. I, XXXIII-XXXV. Wie<strong>der</strong>abdruck <strong>in</strong>: Wegera,<br />

Klaus-Peter (ed.): Die Entstehung <strong>der</strong> neuhochdeutschen Schriftsprache. 2., erw. Aufl. Frankfurt a. M.<br />

Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang, 31-33.<br />

Nerius, Dieter (2007): Deutsche Orthographie. 4., neu bearb. Aufl. unter <strong>der</strong> Leitung v. Dieter Nerius<br />

bearb. v. Renate Baudusch, Rolf Bergmann et al. Hildesheim: Olms.<br />

Paul, Hermann (1989): Mittelhochdeutsche Grammatik. 23. Aufl. neu bearb. v. Peter Wiehl und Siegfried<br />

Grosse. Tüb<strong>in</strong>gen: Niemeyer.<br />

Ramers, Karl He<strong>in</strong>z (1999): «Vokalquantität als orthographisches Problem: Zur Funktion <strong>der</strong><br />

Doppelkonsonanzschreibung im Deutschen», <strong>in</strong>: L<strong>in</strong>guistische Berichte 177, 52-64.<br />

Reichmann, Oskar (2003): «Die Entstehung <strong>der</strong> neuhochdeutschen Schriftsprache: Wo bleiben die<br />

Regionen?», <strong>in</strong>: Berthele, Raphael et al. (eds.): Die deutsche Schriftsprache und die Regionen.<br />

Entstehungsgeschichtliche Fragen <strong>in</strong> neuer Sicht. Berl<strong>in</strong>/ New York: de Gruyter, 29-56.<br />

Reichmann, Oskar / Wegera, Klaus-Peter (eds., 1993): Frühneuhochdeutsche Grammatik. Von Robert<br />

P. Ebert, Oskar Reichmann, Hans-Joachim Solms und Klaus-Peter Wegera. Tüb<strong>in</strong>gen: Niemeyer.<br />

Rieke, Ursula (1998): Studien zur Herausbildung <strong>der</strong> neuhochdeutschen Orthographie. Die Markierung<br />

<strong>der</strong> Vokalquantitäten <strong>in</strong> deutschsprachigen Bibeldrucken des 16.-18. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Heidelberg: W<strong>in</strong>ter.<br />

Ruge, Nikolaus (2004): Aufkommen und Durchsetzung morphembezogener Schreibungen im<br />

Deutschen 1500-1770. Heidelberg: W<strong>in</strong>ter.<br />

Voeste, Anja (2008): Orthographie und Innovation. Die Segmentierung des Wortes im 16. Jahrhun<strong>der</strong>t.<br />

Hildesheim: Olms.<br />

Warnke, Ingo (2001): «Leitideen <strong>der</strong> funktional-pragmatischen Sprachgeschichtsschreibung», <strong>in</strong>:<br />

Zeitschrift für deutsche Philologie 120, 321-344.<br />

Wegera, Klaus-Peter (2011a): ‚Spracharbeit‘ im Mittelalter. Nordrhe<strong>in</strong>-Westfälische Akademie <strong>der</strong><br />

Wissenschaften und <strong>der</strong> Künste. Geisteswissenschaften. Vorträge G 431. Pa<strong>der</strong>born u.a.: Schön<strong>in</strong>gh.<br />

Wegera, Klaus-Peter (2011b): «Um 1500 an e<strong>in</strong>er Weggabelung. Zum Spannungsverhältnis zwischen<br />

Sprachwandeltheorien und e<strong>in</strong>zel<strong>sprachlichen</strong> Wandelprozessen», <strong>in</strong>: Lobenste<strong>in</strong>-Reichmann, Anja /<br />

Reichmann, Oskar (eds.): Frühneuhochdeutsch – Aufgaben und Probleme se<strong>in</strong>er l<strong>in</strong>guistischen<br />

Beschreibung. Hildesheim: Olms, 15-34.<br />

Wegera, Klaus-Peter (ed., 2007): Die Entstehung <strong>der</strong> neuhochdeutschen Schriftsprache. Frankfurt/M.<br />

u.a.: Peter Lang.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!