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Symbiosemuster in systemischer Sicht - Mitgliederverein

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O r i g i n a l b e i t r ä g esysthema 2/2009 · 23. Jahrgang · Seite 166-178O r i g i n a l b e i t r ä g e<strong>Symbiosemuster</strong> <strong>in</strong> <strong>systemischer</strong> <strong>Sicht</strong><strong>Symbiosemuster</strong> <strong>in</strong> <strong>systemischer</strong> <strong>Sicht</strong>„Sippengewissen“ oder kollektive Symbiose –Kritischer Beitrag zur „Philosophie“ des FamilienstellensErnst R. LanglotzZusammenfassungDer Autor verwendet seit 15 Jahren <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er psychiatrischen Praxis das Familienstellen. Nachse<strong>in</strong>er Auffassung ist die e<strong>in</strong>seitige Betonung des Grundbedürfnisses nach B<strong>in</strong>dung und Zugehörigkeit,wie sie von Hell<strong>in</strong>ger und den Familienaufstellern vertreten wird, unstimmig undgefährlich. Sie verklärt das Kollektiv der Ahnen mit se<strong>in</strong>er Schuld, se<strong>in</strong>em Leid und se<strong>in</strong>er Destruktivität(!)zu e<strong>in</strong>er schicksalhaften Instanz mit eigener Autonomie – und übersieht dabei dasAutonomie-Potenzial des E<strong>in</strong>zelnen!Neben dem Grundbedürfnis nach B<strong>in</strong>dung und Zugehörigkeit gibt es aber auch e<strong>in</strong> Grundbedürfnisnach Freiheit und Autonomie. Dem entsprechen die beiden „Ressourcen“: die Ahnenund das „Selbst“. Wird diese „Bipolarität“ (Stavros Mentzos) der Grundbedürfnisse „nach B<strong>in</strong>dungund Freiheit“ im therapeutischen Konzept berücksichtigt, dann öffnet sich der Blick fürdas Phänomen der <strong>in</strong>dividuellen und der kollektiven Symbiose und ihres ungeheuren destruktivenPotenzials. Unerwartete Lösungen werden möglich durch e<strong>in</strong> neues (!?) Paradigma: e<strong>in</strong>systemisches Symbiosekonzept.„Sippengewissen“, „Stammesseele“Bert Hell<strong>in</strong>ger, möglicherweise bewegt durch eigene Erfahrungen mit den archaischenStammesgewohnheiten der Zulus, hat das menschliche Grundbedürfnis nach B<strong>in</strong>dung undZugehörigkeit betont. Er prägte die Begriffe des „Sippengewissens“, der „Familienseele“,deren Destruktivität er genau beschrieb, denen er dennoch e<strong>in</strong>e schicksalhafte Macht zusprach.So „sorge das Sippengewissen dafür, dass e<strong>in</strong> vergessenes oder ,ausgeklammertes‘Familienmitglied von e<strong>in</strong>em späteren vertreten wird, das dessen Schicksal – unwissend undunschuldig – übernimmt.“ Der Betroffene könne sich aus dieser „Identifikation“ lösen, vom„falschen“ auf den „richtigen“ Platz im Familienverband gelangen, wenn er den Ausgeklammertenund dessen Schicksal achtet, sich vor ihm verneige. So könne er die „bl<strong>in</strong>de“ (unbewusstnachahmende) Liebe wandeln <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e „sehende“ Liebe. Hier taucht der Aspekt vonAbgrenzung gegenüber dem Schicksal der Ahnen auf. Ebenso da, wo er von der Notwendigkeitspricht, sich aus dem Sippengewissen und dessen Wertvorstellungen zu lösen undzu e<strong>in</strong>em persönlichen Gewissen zu gelangen. Diesen Aspekt hat er jedoch, wie es sche<strong>in</strong>t,nicht weiterentwickelt.Daan van Kampenhout (2008) verwendet <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em neuesten Buch „Die Tränen der Ahnen“den Begriff „Stammesseele“, auch er spricht von ihrem destruktiven Potenzial. Mehrnoch als Hell<strong>in</strong>ger betont er die Notwendigkeit der Individuation. Andererseits sei es unvermeidlich,dass man mit dieser Stammesseele identifiziert bleibe.In dieser <strong>Sicht</strong>weise bekommen Sippengewissen und Familienseele mit ihren destruktivenAspekten e<strong>in</strong> besonderes Gewicht, so als handle es sich um schicksalhafte, quasi autonomeKräfte.Auch im Zusammenhang mit Anhaftungen an Verstorbene sehe ich bei vielen Aufstellerne<strong>in</strong>e für mich nicht nachvollziehbare Vorstellung von e<strong>in</strong>er destruktiv wirkenden Autonomieder Verstorbenen.Ich möchte das <strong>in</strong> Frage stellen.S<strong>in</strong>d diese Mächte wirklich immer schicksalhaft, s<strong>in</strong>d wir ihnen wirklich immer wehrlosausgeliefert? Ist es nicht diese – eventuell unangemessene – Vorstellung selbst, die erst „demBösen“ e<strong>in</strong>e verme<strong>in</strong>tliche Autonomie gibt, die uns selber unsere Handlungsfähigkeit, unsereAutonomie nimmt, uns <strong>in</strong> die Opferhaltung, <strong>in</strong> die Resignation treibt? Und gibt es nichtzahlreiche Beiträge zu e<strong>in</strong>er sehr ernst zu nehmenden Theorie des „Bösen“? (Gruen 1989,1987)E<strong>in</strong>e analytische Theorie menschlicher DestruktivitätDer jüdisch-deutsche Analytiker Arno Gruen hat 1987 <strong>in</strong> „der Wahns<strong>in</strong>n der Normalität,Realismus als Krankheit“ und „Verrat am Selbst“ e<strong>in</strong>e grundlegende Theorie menschlicherDestruktivität entwickelt. „Er zeigt, wie Gewalt und Unmenschlichkeit im Inneren des Menschenentstehen und wie sich unser soziales Leben darauf e<strong>in</strong>gerichtet hat, dass der herrschendeWahns<strong>in</strong>n lebensfe<strong>in</strong>dlichen Handelns den Mantel realitätsgerechten Verhaltensträgt. Er öffnet den Blick dafür, dass menschliche Destruktivität nicht e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>e Fähigkeitzum Bösen ist, sondern vielmehr die Folge e<strong>in</strong>es Mangels, der als solcher nicht erkanntwird: Wo das Vermögen abhanden gekommen ist, die eigenen Gefühle wahrzunehmen,und Selbsthass an deren Stelle getreten ist, ist auch die Fähigkeit zu wirklichem Mitgefühlund echtem Mitfühlen verlorengegangen.Im „Wahns<strong>in</strong>n der Normalität“ legt er die Wurzeln der Destruktivität frei, die sich viel öfter,als es uns klar ist, h<strong>in</strong>ter verme<strong>in</strong>tlicher Menschenfreundlichkeit oder ordnungsstiftenderVernunft verbergen. „Arno Gruen besticht durch die Vielzahl der Beispiele, zu denen auchdie unfasslichen Ereignisse im Dritten Reich oder im Vietnamkrieg gehören, und schafft die166 167


O r i g i n a l b e i t r ä g eErnst R. LanglotzO r i g i n a l b e i t r ä g e<strong>Symbiosemuster</strong> <strong>in</strong> <strong>systemischer</strong> <strong>Sicht</strong>überzeugende Beweislage, dass dort, wo Innenwelt und Außenwelt ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit bilden,verantwortungsvolles Handeln und echte Menschlichkeit ausbleiben.“ (dtv-Verlags<strong>in</strong>fo)Diese von Arno Gruen aus psychoanalytischer <strong>Sicht</strong> beschriebenen Zusammenhänge vonSelbst-Entfremdung, Autonomieverlust und Destruktivität lassen sich auch durch e<strong>in</strong>e modifizierteForm der Systemaufstellung sichtbar machen und erforschen. Diese Chance nutzteich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Arbeit mit psychiatrischen Patienten. In kritischer Ause<strong>in</strong>andersetzung mitHell<strong>in</strong>ger und se<strong>in</strong>er „Philosophie“ e<strong>in</strong>erseits und den Erfahrungen mit den Klienten andrerseitsist dabei e<strong>in</strong> neues systemisches Konzept von Symbiose, speziell von kollektiver Symbioseentstanden, das hier zur Diskussion gestellt werden soll.„Ich folge dir <strong>in</strong> den Tod“Bereits diese bekannte Formulierung Hell<strong>in</strong>gers wird nicht selten so formuliert und (miss-?)verstanden, als „ziehe es“ – geme<strong>in</strong>t ist „e<strong>in</strong> Verstorbener“ – „e<strong>in</strong>en Lebenden <strong>in</strong> den Tod“.Manche sprechen von „Anhaftungen“, das er<strong>in</strong>nert an schamanische Vorstellungen von„Besetzung“, der zufolge e<strong>in</strong>e „unerlöste Seele“ gar nicht wisse, dass sie gestorben sei undsich deshalb an e<strong>in</strong>en Lebenden klammert, se<strong>in</strong> Leben, se<strong>in</strong>e Wahrnehmung bestimme, alswäre sie e<strong>in</strong> Teil von ihm geworden.Hier wird e<strong>in</strong>em Verstorbenen e<strong>in</strong>e eigene Autonomie zugesprochen, als hätte dieser dieKraft, auf e<strong>in</strong>en Lebenden e<strong>in</strong>zuwirken, dessen Autonomie zu bee<strong>in</strong>trächtigen. Dabeische<strong>in</strong>t es so, dass durch diese Begriffsbildung die Autonomie dem Lebenden ab- und denVerstorbenen zugesprochen wird, sozusagen verschoben wird von den Lebenden zu denVerstorbenen. Es kommt zu e<strong>in</strong>er „Dämonisierung“ des Verstorbenen! Das sche<strong>in</strong>t gefährlich<strong>in</strong> zweierlei H<strong>in</strong>sicht: Macht nicht diese Vorstellung von „Anhaftungen“ Lebende zuOpfern, anstatt sie zur Autonomie, zur Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung zu befreien?Verstärkt sie nicht die Angst vor den Verstorbenen, vor dem Tod, anstatt den Mutund die Freude zum Leben zu wecken?Verschmelzende Identifikation?Nach me<strong>in</strong>er Erfahrung handelt es sich <strong>in</strong> den meisten Fällen von sogenannten „Anhaftungen“um e<strong>in</strong>e hochgradige, „verschmelzende“ Identifikation z. B. mit e<strong>in</strong>em früh verstorbenenElternteil oder Geschwister. Der Klient steht buchstäblich am Platz z. B. e<strong>in</strong>er frühverstorbenen Schwester – um so e<strong>in</strong>e Illusion von Verbundenheit aufrechtzuerhalten? Wennman ihn <strong>in</strong> der Aufstellung an den Platz des Verstorbenen stellt, „kennt er sich da aus“, alswäre er da „zu Hause“.Gleichzeitig gibt er dem Verstorbenen Raum, stellt ihm se<strong>in</strong>en „<strong>in</strong>neren Raum“ zur Verfügung,so als gäbe es ke<strong>in</strong>e Grenze zwischen ihm und dem Verstorbenen, als gäbe es für daseigene Selbst ke<strong>in</strong>en Raum. Stellt man ihn an se<strong>in</strong>en „richtigen Platz“ und lässt ihn zumVerstorbenen sagen: „Du bist du, ich b<strong>in</strong> ich, du hast de<strong>in</strong> Leben gelebt, ich lebe me<strong>in</strong>es!“dann ist ihm das <strong>in</strong> vielen Fällen gar nicht möglich! Viele erleben diesen Satz als etwasVerbotenes, wie e<strong>in</strong>en Verrat, wie Schuld. Als hätten sie nicht das Recht auf Abgrenzung,auf e<strong>in</strong>en eigenen „<strong>in</strong>neren Raum“, auf e<strong>in</strong>e eigene Autonomie!Der SymbiosekomplexDiese verschmelzenden Identifikationen s<strong>in</strong>d tatsächlich nur schwer zu lösen. Ich verstehesie als „symbiotische Verschmelzung“, als e<strong>in</strong>en Aspekt des „Symbiosekomplex“, der nachme<strong>in</strong>er Erfahrung aus folgenden drei primären Aspekten besteht (vgl. Langlotz 2008): Verschmelzungstendenz(Überanpassung), Selbst-Entfremdung und Aggressionshemmung (Abgrenzungsverbot).Oft kommen zwei weitere sekundäre Aspekte h<strong>in</strong>zu, die als Kompensationsversuche verstandenwerden können: Überabgrenzung und Tendenz zur Manipulation. Die Selbst-Entfremdung,der fehlende Zugang zur eigenen Er<strong>in</strong>nerung, zu eigenen Gefühlen und Bedürfnissenerschwert dem Klienten die Orientierung, die Selbst-Regulation, die Autonomie. Siemacht ihn anfällig für Manipulation, Fremdbestimmung, Überanpassung, Abhängigkeit. Soverstärken sich Selbstentfremdung und Überanpassung gegenseitig im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es Teufelskreises.Das macht Symbiose zur Falle.Konstruktive Aggression, z. B. <strong>in</strong> der Abgrenzungsbewegung, wird ebenfalls als verbotenerlebt und deshalb unterdrückt. Die gestaute Aggression wird destruktiv, richtet sich gegensich selbst oder gegen „Sündenböcke“ oder „Fe<strong>in</strong>de“. Beziehungen werden durch das <strong>Symbiosemuster</strong>belastet. Die Betroffenen schwanken nicht selten zwischen Überanpassungund Überabgrenzung, zwischen Verschmelzung und Kontaktabbruch. Das ist das symbiotischeDilemma. Systemisch kann das <strong>Symbiosemuster</strong> als Überlebensstrategie des K<strong>in</strong>desan traumatisierte Eltern verstanden werden. Es wird durch spezifische frühk<strong>in</strong>dliche Beziehungskonstellationenverursacht und bestimmt das Selbstbild und alle späteren Beziehungen,zum Partner, zu den K<strong>in</strong>dern, zur Arbeit(!). Bei Beziehungskonflikten, bei seelischen,psychosomatischen und somatischen Gesundheitsstörungen f<strong>in</strong>de ich immer e<strong>in</strong>edestruktive Symbiose mit ihren vielen Facetten als Grundstörung.168 169


O r i g i n a l b e i t r ä g eErnst R. LanglotzO r i g i n a l b e i t r ä g e<strong>Symbiosemuster</strong> <strong>in</strong> <strong>systemischer</strong> <strong>Sicht</strong>„Systemische Selbst-Integration“ als LösungDie Lösung wird möglich, wenn man den Klienten e<strong>in</strong>en Repräsentanten für se<strong>in</strong> „Selbst“aufstellen lässt, genauer für den Teil von ihm, den er abgspalten hat, um sich besser anzupassen,z. B. der Teil, „der sich frei und unbefangen fühlt, der lebendig se<strong>in</strong> darf.“ Meist stellter diesen Teil weit entfernt auf. Im Gegenüber zum „Verstorbenen“ (Stellvertreter) spürt erke<strong>in</strong>en Bezug zu diesem Teil. Das macht ihm die „Entfremdung“ zu se<strong>in</strong>em „Selbst“ deutlich.Durch bestimmte Abgrenzungs- und Abschiedsrituale ist es immer (!) möglich, die „symbiotischeIdentifikation“ mit dem Verstorbenen zu lösen. Erst dann spürt der Klient e<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dungzu dem „abgespaltenen“ Selbstanteil, kann auf diesen Teil zugehen. Diese Begegnungmit dem eigenen abgespaltenen Selbst ist sehr berührend. Wenn er dem Verstorbenendiesen Selbstanteil vorstellt, der lebendig se<strong>in</strong> darf, „freut“ sich auch der „Verstorbene“(Stellvertreter), so als sei auch er jetzt frei, se<strong>in</strong>en Frieden zu f<strong>in</strong>den, als sei er bisher vomLebenden durch dessen Trauer festgehalten worden.Erforderlich ist jetzt noch e<strong>in</strong> Abgrenzungsritual. Zwischen dem Klienten und dem Verstorbenengab es buchstäblich ke<strong>in</strong>e Grenze, er hatte ke<strong>in</strong>en eigenen, geschützten „<strong>in</strong>nerenRaum“. Meist ist diese Unfähigkeit des Klienten, sich abzugrenzen, auch se<strong>in</strong> aktuelles Problem<strong>in</strong> Beziehung zum Partner, zum K<strong>in</strong>d, zur Arbeit. Um diese Abgrenzung, diesen „natürlichenSchutzreflex“ wieder zu „etablieren“, muss er nun den Verstorbenen buchstäblichüber e<strong>in</strong>e symbolische Grenze zurückschieben. Damit mobilisiert er se<strong>in</strong> aggressives Potenzialauf konstruktive Weise und kann se<strong>in</strong>en „<strong>in</strong>neren Raum“ wieder herstellen. An diesem„geschützten Platz“ kann er se<strong>in</strong>e abgespaltenen „Selbst“-Anteile wieder <strong>in</strong>tegrieren, musssie nicht mehr vor anderen „verstecken“.Bei diesem Ritual des Wegschiebens wird oft e<strong>in</strong>e Blockade deutlich, so als sei Abgrenzungverboten. Dieses „unbewusste Abgrenzungsverbot“ sche<strong>in</strong>t so etwas wie der unbewussteZentralaspekt des Symbiosekomplexes zu se<strong>in</strong>. Abgeschlossen wird die Lösung durch dieVerabschiedung des verstorbenen Angehörigen: „Vielleicht habe ich dich unbewusst durchme<strong>in</strong>e Trauer festgehalten, für dich ist es schon lange vorbei. Und du darfst jetzt auch de<strong>in</strong>enFrieden f<strong>in</strong>den.“ Meist fühlt sich der „Verstorbene“ frei und geht erleichtert dah<strong>in</strong>, woer „se<strong>in</strong>en Frieden f<strong>in</strong>den kann“.Durch diese „systemische“ <strong>Sicht</strong>- und Vorgehensweise der „Anhaftungen“ verliert der Verstorbenealles „Dämonische“, es wird deutlich, dass der Klient selbst den Verstorbenen unbewusstfestgehalten hatte – und dadurch se<strong>in</strong>em „Selbst“ entfremdet war. Durch dieseAbschiedsrituale „kann der Verstorbene sterben“ und der Klient leben. So als habe er sichzuvor, verklebt mit dem Verstorbenen, an der Grenze zwischen Lebenden und Toten aufgehalten,als wäre er noch gar nicht im Leben angekommen.Se<strong>in</strong> „Gew<strong>in</strong>n“ bestand e<strong>in</strong>zig <strong>in</strong> der Illusion, noch mit dem Verstorbenen verbunden zuse<strong>in</strong>. Nach diesem Abschiedsritual kommt meist der Abschiedsschmerz. Auch das zeigt,dass der Klient sich von dem Verstorbenen bisher nicht verabschiedet hatte. Zum <strong>Symbiosemuster</strong>gehört offensichtlich auch e<strong>in</strong>e Unfähigkeit, sich zu verabschieden. So bleiben dieBetroffenen mit den Verstorbenen verbunden, als seien sie noch am Leben. Die Grenzenzwischen den Generationen, die durch Tod und Geburt gesetzt werden, verlieren so ihreheilsame Wirkung, dem E<strong>in</strong>zelnen e<strong>in</strong>en eigenen abgegrenzten Raum zu ermöglichen. Dieverwendeten Abgrenzungs- und Abschiedsrituale haben archaischen Charakter, stammenzum Teil aus schamanischen Traditionen. Sie wirken nicht auf der mentalen Ebene, sondernunmittelbar auf e<strong>in</strong>er körperlichen Ebene, wirken auf das „Körpergedächtnis“, auf das Unbewusstee<strong>in</strong>. Das erklärt ihre tiefe Wirkung, die durch verbale Interventionen alle<strong>in</strong>e nichterreicht werden kann.Das Grundbedürfnis nach Autonomie und FreiheitFamilienaufsteller und B<strong>in</strong>dungsforscher kennen e<strong>in</strong> Grundbedürfnis nach B<strong>in</strong>dung und Zugehörigkeit.Es ist dafür verantwortlich, dass K<strong>in</strong>der versuchen, <strong>in</strong> „bl<strong>in</strong>der Liebe“ den traumatisiertenEltern das zu ersetzen, was ihnen fehlt, sich an deren Bedürfnisse anpassen,bisweilen bis zur Selbst-Aufgabe, zur Unterdrückung der eigenen konstruktiven Aggression.Aber möglicherweise blenden sie e<strong>in</strong> zweites Grundbedürfnis aus: das nach Freiheit, Autonomie,Authentizität! Diesen beiden Grundbedürfnissen entsprechen zwei Ressourcen: dieAhnen und … das Selbst!Viele tiefenpsychologische Schulen beschreiben diese beiden Grundbedürfnisse mit ihrergegenläufigen Dynamik, z. B. Stavros Mentzos (2003a, b) <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em „Bipolaritätsmodell“.Diese beiden Grundbedürfnisse sche<strong>in</strong>en die formenden Kräfte der seelischen Entwicklungzu se<strong>in</strong>, verantwortlich für den Prozess von Ablösung und Individuation. Dieser Prozess istoffensichtlich sehr störanfällig. Manche, denen es wegen e<strong>in</strong>es <strong>Symbiosemuster</strong>s nicht gel<strong>in</strong>gt,diese beiden Grundbedürfnisse mite<strong>in</strong>ander zu verb<strong>in</strong>den, bleiben im Dilemma zwischenÜberanpassung und Überabgrenzung stecken, es ist ihnen nicht möglich, im Kontaktzum Gegenüber bei sich selbst zu bleiben.Systemisches Verständnis von SymbioseWie bereits erwähnt, kann Symbiose systemisch verstanden werden: als Anpassungs- undÜberlebensstrategie an traumatisierte Eltern. Der mit Symbiose verbundene Aspekt der170 171


O r i g i n a l b e i t r ä g eErnst R. LanglotzLiteraturGrawe, K., Donati, R., Bauer, F. (2001). Psychotherapie im Wandel. Gött<strong>in</strong>gen: Hogrefe.Gruen, A. (1987). Der Wahns<strong>in</strong>n der Normalität. Realismus als Krankheit: e<strong>in</strong>e grundlegende Theoriezur menschlichen Destruktivität. München: dtv dialog und praxis.Gruen, A. (1989). Der Verrat am Selbst. Die Angst vor Autonomie bei Mann und Frau. München:dtv dialog und praxis.Hell<strong>in</strong>ger, B. (1994). Ordnungen der Liebe. Heidelberg: Carl-Auer Verlag.Kampenhout, D. van (2008). Die Tränen der Ahnen. Heidelberg: Carl-Auer Verlag.Langlotz, E. R. (2005). Zur Effizienz des Familienstellens. Praxis der Systemaufstellung 1, pp. 91- 94.Langlotz, E. R. (2006). Destruktion und Autonomieentwicklung – E<strong>in</strong> Beitrag zum Verständnis undzur Behandlung destruktiven Verhaltens. Praxis der Systemaufstellung 1, pp. 46 -55.Langlotz, E. R. (2006). Zur Diskussion gestellt: Verschmelzungssyndrom oder Verstrickung (Familienseeleoder Individuation?). Praxis der Systemaufstellung 2, pp. 40 - 42.Langlotz, E. R. (2008). Individuation nach C. G. Jung und „Initiatische Systemaufstellung“. Jung heute,pp. 10-11, Verlag Dieter Kle<strong>in</strong>Mentzos, S. (2002). Psychotherapie <strong>in</strong> der Behandlung von chronisch schizophrenen Patienten.Psychotherapie im Dialog, September 2002, pp. 223-229.Mentzos, S. (2003). Psychodynamik und Psychotherapie schizoaffektiver Psychosen. Vortrag bei Dr.Jung.Dr. Ernst Robert Langlotz178

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