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Hermann Broch. Ein Epiker auf Abwegen. Theater und Film1

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Maske02/52_2006_004 23.11.2006 6:30 Uhr Seite 57<br />

<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>.<br />

<strong>Ein</strong> <strong>Epiker</strong> <strong>auf</strong> <strong>Abwegen</strong>.<br />

<strong>Theater</strong> <strong>und</strong> Film 1<br />

BERND GALLOB (WIEN)<br />

Der „verkannte“ <strong>und</strong> „denunzierte“ <strong>Broch</strong><br />

„<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong> sei „noch immer ein weitgehend Verkannter“ steht in der <strong>Ein</strong>ladung<br />

zum Symposion über <strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>, das von 8. bis 10 Mai 2003, Universitätscampus<br />

Wien, Aula, stattfand. Das hält der Verfasser dieser Studie für nicht (mehr)<br />

richtig. <strong>Ein</strong> mit seinem Gesamtwerk bei Suhrkamp erschienener <strong>und</strong> edierter Autor<br />

ist kein Verkannter. Was ein bleibendes Verdienst des von Suhrkamp be<strong>auf</strong>tragten<br />

Herausgebers Dr. Paul Michael Lützeler – <strong>und</strong> natürlich auch des Verlages selbst ist.<br />

Was gilt ist, dass <strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong> bisher noch nicht jene Popularität erlangt hat<br />

wie beispielsweise Thomas Mann oder Stefan Zweig. Wobei der Verfasser dieser Studie<br />

Zweifel hat, ob Mann bzw. Zweig heute tatsächlich (noch) so viel gelesen werden,<br />

wie das öffentliche Bewusstsein das suggeriert – nicht verk<strong>auf</strong>t, tatsächlich gelesen.<br />

Jedoch: Wer sich etwa im Internet <strong>auf</strong> Google-Surfreise begibt, unter den Stichworten<br />

„<strong>Broch</strong>, <strong>Hermann</strong>“, stößt dort <strong>auf</strong> ein relativ dichtes Netz von <strong>Hermann</strong><br />

<strong>Broch</strong> Gesellschaften, von Symposien, Gedenkstätten etc. Und vielfach scheinen bei<br />

näherer Betrachtung dieselben Namen als InitiatorInnen <strong>auf</strong>. Manchmal hat den<br />

Verfasser das Gefühl beschlichen, dass eine „Insider-Gruppe“ von (einander auch<br />

nicht immer gut gesinnten) „<strong>Broch</strong>ianern“ versucht, an einem Heiligenschein für den<br />

Meister zu basteln (<strong>und</strong> damit natürlich auch für sich selbst) <strong>und</strong> ihn damit mehr in<br />

eine weite <strong>und</strong> ideal gedachte Ferne entrücken als ihn zu popularisieren. Exegese statt<br />

Popularisierung.<br />

Zu dieser beinahe 1:1 reflexhaften Kontra-Spiegelung des für <strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong> so<br />

Verhängnishaften zeitlichen Kontextes, des politisch-klerikalen-kleinbürgerlichen<br />

Antisemitismus eines Karl Lueger <strong>und</strong> des mörderischen NS-Regimes mit allen damit<br />

verb<strong>und</strong>enen grauenvollen Konsequenzen für die jüdischen Menschen, fragt sich<br />

der Verfasser der Studie, ob die perpetuierte Distanzierung des Dichters zur breiten<br />

Leserschaft nicht Folge der erwähnten <strong>Broch</strong>exegese ist, was die Höchststrafe für<br />

<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>, diesen so widersprüchlichen <strong>und</strong> sinnlichen Menschen, wäre.<br />

1 Die vorgelegte Studie wurde – auszugsweise – erstmals beim <strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>-Symposion vom Autor<br />

referiert (10. Mai, Wien, Universitätscampus, Aula).


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58<br />

Bernd Gallob<br />

In diesem Kontext bedauert es der Verfasser als Initiator des Symposions, dass es<br />

nicht gelungen ist, die Thematik „<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong> <strong>und</strong> das Wiener Kaffeehaus“ –<br />

oder besser gesagt „… <strong>und</strong> die Kaffeehäuser“ – das zu untersuchen schiene zur kompetenten<br />

Bewertung der mentalen Wurzeln des Dichters eminent wichtig zu sein –<br />

mit diesem Symposion abzudecken. 2 Der ins Auge gefasste Spezialist ist leider vom<br />

Thema zurückgetreten.<br />

Mit Missbehagen erfüllt den Verfasser auch die Formulierung in der <strong>Ein</strong>ladung,<br />

dass das Vorhaben, <strong>Broch</strong> für den Nobelpreis zu nominieren, fehl schlug weil der<br />

Dichterphilosoph, der aus England in die USA emigrieren musste, in einflussreichen<br />

US-Kreisen als Austromarxist denunziert worden sei.<br />

<strong>Broch</strong> war <strong>auf</strong> Wunsch der Teesdorfer Arbeiter (auch als Widerpart gegen den Vater)<br />

Betriebsrat (!), stand vielen Mitgliedern der SDAP <strong>und</strong> dem Austromarxismus eine<br />

zeitlich beachtlich lange Periode nahe. Wie viele jüdisch-liberale-altruistische Großbürger<br />

im Wien des „Fin de Siècle“. Da gab <strong>und</strong> gibt es nichts zu denunzieren. Das<br />

waren Demokraten bzw. war es eine demokratische Bewegung 3 , vom Austrofaschismus<br />

<strong>und</strong> Nationalsozialismus verboten, verfolgt <strong>und</strong> geknechtet. Die Nachfolger<br />

dieser politischen Bewegung haben die kommunistisch-stalinistische Machtergreifung<br />

in Österreich verhindert. Die zitierte Formulierung, er sei als Austromarxist<br />

„denunziert“ worden, schiebt damit unmerklich aber wirksam die Verantwortung an<br />

der verhängnisvollen McCarthy-Paranoia dem Opfer, eben dem angeblich denunzierfähigen<br />

Austromarxismus <strong>und</strong> Austromarxisten, zu.<br />

So haben nach der Errichtung des Eisernen Vorhangs Denunzianten unter publizistischem<br />

Feuerschutz der Boulevardpresse ihre Denunziationen ausagieren können<br />

(Hilde Spiel hat das in ihren Lebenserinnerungen genau zitiert). Dem entgegen<br />

konnte der vom politischen Katholiken zum realen Kommunisten (einige Zeit auch<br />

stalinistischer Prägung) mutierte Viktor Matejka als verantwortlicher Wiener Stadtrat<br />

für Kultur die Verleihung des Literaturpreises der Stadt Wien an <strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong> 1947<br />

ganz offensichtlich verhindern, ohne dafür kritisiert zu werden. Charakteristisch ist<br />

es – im Kontext der von <strong>Broch</strong> mit gestalteten Allgemeinen Menschenrechte sogar<br />

absurd – dass diese Marxismus-Kommunismus-Paranoia fast immer nur im Zusammenhang<br />

mit Menschen/EmigrantInnen jüdischer Herkunft ausbricht.<br />

2 Es fehlt eine Gesamtdarstellung des Wirkens von <strong>Broch</strong> im Kontext der struktur- <strong>und</strong> mentalitätsgeschichtlich<br />

relevanten Netzwerke jener KünstlerInnen, die sich in Cafés, Salons etc. trafen <strong>und</strong><br />

sich besprachen, konkurrenzierten etc.<br />

3 Verbal radikal waren alle politischen Bewegungen der zur Diskussion stehenden Zeit. Die Verfassung<br />

Österreichs wurde jedoch von der SDAP weder dem Geist Kelsens nach gebeugt, noch real<br />

gebrochen.


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<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>. <strong>Ein</strong> <strong>Epiker</strong> <strong>auf</strong> <strong>Abwegen</strong>. <strong>Theater</strong> <strong>und</strong> Film 59<br />

Das Kaffeehaus als Humus<br />

Die Welt der lebensnahen <strong>und</strong> lebensfrohen Schar von sich bewusst <strong>und</strong> unterschiedlich<br />

inszenierenden Künstlerinnen <strong>und</strong> Künstlern, Philosophen, Sonderlingen <strong>und</strong><br />

Nachtschwärmern war für <strong>Broch</strong> wohl der entscheidende „Humus“ für seine Entwicklung<br />

vom streng erzogenen (fast „gehaltenen“) jüdischen Fabrikantensohn zum<br />

Beobachter, Diskutierer, Frauenfre<strong>und</strong>, Genießer, Versteller <strong>und</strong> Künstler <strong>Broch</strong>.<br />

Auch zum Humanisten. 4<br />

Zur Erläuterung dieses Hintergr<strong>und</strong>s sei die Zeitzeugin Gina Kaus, die Wiener<br />

Salondame, die in der Emigration eine der ganz großen Drehbuchautorinnen geworden<br />

ist, zitiert: „<strong>Broch</strong> war verheiratet, brachte seine Frau aber niemals mit, <strong>und</strong> sie<br />

schien auch keine Lust zu haben, mitzukommen. <strong>Ein</strong>mal – wir waren schließlich recht<br />

befre<strong>und</strong>et – erzählte er mir, wie diese Ehe zustande gekommen war: Er hatte ein junges<br />

Mädchen geschwängert <strong>und</strong> sich verzweifelt an seinen Vater gewandt, um Geld für<br />

die Abtreibung lockerzumachen. Der Vater hatte herausgef<strong>und</strong>en, daß dieses Mädchen<br />

die Tochter sehr reicher Leute war <strong>und</strong> hatte zu ihm gesagt ‚Du wirst deine Schuld<br />

gutmachen, du wirst dieses Mädchen heiraten‘ … Bald nachdem ich ihn kennen gelernt<br />

hatte, begann er ein Verhältnis mit einer vierzigjährigen Witwe, die einen fünfzehnjährigen<br />

Sohn hatte. Das Absonderliche daran war, daß er sich von ihr einreden<br />

ließ, sie sei noch Jungfrau. Ob er es wirklich glaubte, weiß ich nicht, aber er glaubte<br />

jedenfalls, es zu glauben. Kurz dar<strong>auf</strong> begann er ein Verhältnis mit Milena, ohne die<br />

ältliche Jungfrau <strong>auf</strong>zugeben. Er kam sehr oft zu mir. Jedes Mal waren seine ersten<br />

Worte ‚Ich muss telefonieren‘, er telefonierte mit seiner Frau, mit der Jungfrau oder<br />

mit Milena <strong>und</strong> erzählte irgendwelche Lügen, warum er nicht bei ihnen sei. Nach ungefähr<br />

einer St<strong>und</strong>e pflegte er <strong>auf</strong>zuspringen <strong>und</strong> machte sich Vorwürfe, weil er längst<br />

hätte woanders sein sollen. <strong>Broch</strong> war der hintergründigste Mensch, den ich kannte.<br />

Nicht nur für mich – die Fre<strong>und</strong>e bestätigen es –, im täglichen Verkehr ein witziger,<br />

ironischer <strong>und</strong> selbstironischer Mensch. Die vielen Vorwürfe, die er sich zu machen<br />

pflegte, klangen eher komisch, <strong>und</strong> es schien nicht, als nähme er sie ernst. Als er einen<br />

neuen Analytiker genommen hatte, schrieb er ungefähr fünfzig Seiten. Er zeigte mir<br />

diese fünfzig Seiten. Es waren die läppischsten Kindheitserinnerungen <strong>und</strong> es war unverständlich,<br />

dass ein Mann von <strong>Broch</strong>s Intelligenz jahrelang die trivialsten Dinge<br />

wiederkäute … Wenn er aber an seinen Romanen arbeitete, tat er das unter entsetzlichen<br />

Qualen, die sich mehr <strong>und</strong> mehr steigerten. Die Schlafwandler [geschrieben<br />

1928/1929, der Verfasser] brachten ihm einen ungeheuren Erfolg, vor allem in<br />

Amerika, bei den Superintellektuellen. Nach seinem Tod fanden sie in seinen Schubladen<br />

sechs unvollendete Romane. In jedem steckte über ein Jahr Arbeit. Er war ein<br />

sehr kranker Mann gewesen.“ 5<br />

4 Klaus Amann (Klagenfurt) berichtete beim Symposion, dass <strong>Broch</strong> mehrmals seine Handschrift<br />

geändert habe, was <strong>auf</strong> einen mehrmaligen Identitätswechsel hinweist <strong>und</strong> mentalitätsgeschichtlich<br />

bedeutsam ist. Es gibt eben nicht nur den „einen“ <strong>Broch</strong>. Panta Rhei.<br />

5 Gina Kaus, Von Wien nach Hollywood“, Frankfurt/ Main: Suhrkamp , erste Auflage 1990, S. 44 ff.


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60<br />

Bernd Gallob<br />

Gina Kaus, sie wird aktuell in der Internet-Filmdatenbank http://german.imdb.com<br />

mit 28 verfilmten Drehbüchern angeführt (ohne ihre eigenen Novellen etc., die andere<br />

Script-SchreiberInnen zu Drehbüchern umarbeiteten) beschreibt 100 Seiten<br />

später mit scharfem Beobachterinnenblick „Meine eigenen Beobachtungen zeigten,<br />

unter welch verschiedenen Bedingungen literarische Werke entstehen. Werfel arbeitete,<br />

solange ich ihn beobachten konnte – <strong>und</strong> das war, ehe er seine Romane schrieb<br />

–, wie in Trance. <strong>Broch</strong> hingegen litt an jedem Satz, <strong>und</strong> manchmal bestand die sechzehnstündige<br />

Arbeit eines Tages darin, durchzustreichen, was er am Vortag geschrieben<br />

hatte. Karl Kraus behauptete immer, daß er jeden Absatz unzählige Male überarbeite<br />

<strong>und</strong> manchmal eine Nacht lang über ein Komma nachdenke.“ 6<br />

Die sehr persönliche Ebene der Beziehung zwischen Kaus <strong>und</strong> <strong>Broch</strong> beleuchtete<br />

Letzterer schlaglichtartig <strong>und</strong> ziemlich brutal in seiner <strong>Ein</strong>tragung im Teesdorfer<br />

Tagebuch für Ea von Allesch „35. Donnerstag, 4. <strong>auf</strong> Freitag, 5. November 1920: Die<br />

Sache mit meiner Ehe machte es mir nur noch schwerer, weil ich zu meiner eigenen<br />

Untreue die Deine in Parallele setzte. Die Sache mit Kaus, die dann als Schlußeffekt<br />

kam, war für mich geradzu ein Glück. So schuldbewußt ich mich Dir gegenüber<br />

fühlte, so war sie mir – edel war das nicht – doch fast wie eine ‚ausgleichende Gerechtigkeit‘.<br />

Ich hatte irgendwie die Befreiung, alles was in mir gegen Dich war, als erledigt<br />

betrachten zu müssen, sozusagen ‚quitt‘ zu sein.“ 7<br />

Wichtig für das gewählte Thema ist der Blick durch das ‚Kunst- oder KünstlerInnenfenster‘.<br />

Wobei die Empfindungen von Frauen <strong>und</strong> ihre Formulierungen<br />

über <strong>Broch</strong> zeitlos gültig <strong>und</strong> zur Bewertung der Person <strong>Broch</strong>s interessant sind. 8<br />

Milan Dubrovic hat seine Zeugenschaft über die Welt des „Literatencafés von<br />

einst“ 9 in seinem Buch „Veruntreute Geschichte“ präzise <strong>und</strong> sensibel formuliert. Im<br />

Café Herrenhof, so Dubrovic: „Wir diskutierten über Kunst, Literatur, Philosophie,<br />

über <strong>Ein</strong>steins Relativitätstheorie, die Psychoanalyse, die Individualpsychologie, über<br />

Franz Kafka <strong>und</strong> Karl Kraus, über Joyce <strong>und</strong> Robert Musil <strong>und</strong> selbstverständlich<br />

auch über Politik.“ 10 Und weiter: „Diese Atmosphäre zog debattierfreudige Persönlichkeiten<br />

an. Zu ihnen zählten Franz Werfel, Robert Musil, <strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>,<br />

Alfred Polgar, Anton Kuh, Franz Blei, Heimito von Doderer, Leo Perutz, die her-<br />

6 Ebda, 147.<br />

7 <strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>, Das Teesdorfer Tagebuch für Ea von Allesch, Frankfurt/ Main: Suhrkamp, erste Auflage<br />

1998, S. 138 f.<br />

8 „Frauen schreiben <strong>und</strong> lesen anders“ betonte Mag. Ester Saletta (Mailand) beim Symposion. Die<br />

zeitlose Gültigigkeit der emotionalen <strong>Ein</strong>drücke <strong>und</strong> Aussagen, insbesondere von Frauen über <strong>Broch</strong>,<br />

wird dadurch nicht gemindert, dass kleine Faktizitäten, biografische Details, die im Kontext völlig<br />

nebensächlich sind, unrichtig sind. Etwa bei Gina Kaus: Ea von Allesch hatte z.B. keinen Sohn, sondern<br />

eine Tochter, Romane wurden nach <strong>Broch</strong>s Ableben nicht gef<strong>und</strong>en. Auch Ea von Alleschs<br />

eigene Reisetagebücher geben ebenso vielfach ihre Empfindungen über <strong>Broch</strong> wieder, diese sind<br />

gültig, auch wenn Details für eine „logische“ Begründung dieser Empfindungen nicht stimmen.<br />

9 Milan Dubrovic, Veruntreute Geschichte – Die Wiener Salons <strong>und</strong> Literatencafés, Wien: Zsolnay 1985, S. 31.<br />

10 Ebda, S. 32.


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<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>. <strong>Ein</strong> <strong>Epiker</strong> <strong>auf</strong> <strong>Abwegen</strong>. <strong>Theater</strong> <strong>und</strong> Film 61<br />

vorstechenden Schüler Sigm<strong>und</strong> Freuds <strong>und</strong> Alfred Adlers, Mitglieder des „Wiener<br />

Kreises“ der positivistischen Schule wie Ludwig Wittgenstein, Moritz Schlick <strong>und</strong><br />

andere.“ 11<br />

Spiritus rector des Herrenhofes 12 war lange Zeit Ernst Polak. Seine Selbstcharakterisierung<br />

„gescheit – gescheiter – gescheitert“ ist berühmt geworden. Der nach ihm<br />

benannten „Polak-Loge gehörten Franz Werfel, <strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>, Anton Kuh, der<br />

Philosoph Gustav Grüner, Friedrich Torberg, der Feuilletonist Richard Wiener, der<br />

Psychoanalytiker Adolf Josef Storfer, Robert Musil, Alexander Lernet-Holenia <strong>und</strong><br />

der Kunsthistoriker an.“ 13<br />

Polak, so Dubrovic, war ein widerspruchsvoller Mensch, der besonders am<br />

Gegensatz seines souveränen Gesprächstalents zur Ohnmacht, selbst etwas zu<br />

schreiben, gelitten hat. Dazu registrierte er das erwähnte Bonmot „in seinem Notizbuch:<br />

‚gescheit, gescheiter, gescheitert‘. Unter ähnlichen Hemmungen litt auch sein<br />

Fre<strong>und</strong> <strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>, der sich nach langem Zögern einer psychoanalytischen<br />

Behandlung durch die Ärztin Dr. Hedwig Hoffer unterzog. Dr. Hoffers spezielles<br />

Talent im Umgang mit Intellektuellen hatte sich im ‚Herrenhof‘ herumgesprochen.<br />

Bei <strong>Broch</strong>, der unter komplizierten neurotischen Fixierungen gelitten hatte, war die<br />

Behandlung besonders erfolgreich. Nach Erscheinen des dreibändigen Romans ‚Die<br />

Schlafwandler‘ überreichte er seiner Ärztin Dr. Hoffer als Geschenk ein Exemplar<br />

des Buches mit der eigenhändig geschriebenen Widmung: ‚Ohne Ihre Hilfe, liebe<br />

Frau Doktor, wäre dieses Buch nie geschrieben worden‘. <strong>Broch</strong> riet seinem Fre<strong>und</strong><br />

Polak zur gleichen Therapie, Polak jedoch beharrte <strong>auf</strong> seinen Vorbehalten gegen die<br />

Freud’sche Lehre.“ 14<br />

Durch die schlechte Wirtschaftslage bedingt wurde Ernst Polak von der Länderbank<br />

in eine kümmerliche Frühpension geschickt. Die neue Freiheit nutzte er rasch:<br />

„Unter dem Titel „Kritik der Phänomenologie durch die Logik“ schrieb er eine<br />

umfängliche Dissertation <strong>und</strong> errang damit den Doktortitel. Damit übertraf er den<br />

im Spätstadium mit ihm konkurrierenden Fre<strong>und</strong> <strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>, der bei der<br />

Ergänzungsprüfung in Latein durchfiel <strong>und</strong> dann die Lust verlor, zur Nachprüfung<br />

anzutreten.“ 15 Dubrovic hat gemeinsam mit Friedrich Torberg über die Gäste <strong>und</strong><br />

Stammgäste des Cafés Herrenhof Buch geführt. Für das vom Verfasser bearbeitete<br />

11 Ebda, S. 31.<br />

12 Viele der genannten Personen waren bis November 1918 Stammgäste des Cafés Central. 1918 erfolgte<br />

die Gründung des Cafés Herrenhof <strong>und</strong> alles, so Dubrovic, was politisch <strong>und</strong> erotisch revolutionär<br />

gesinnt war, wechselte ins Herrenhof. Es war eine Sezession. Totzdem besuchten viele<br />

NachtschwärmerInnen beide oder noch mehr Cafés, waren auch in Salons Stammgäste (Eugenie<br />

Schwarzwald, Berta Zuckerkandl etc.) <strong>und</strong> bildeten eine oft fre<strong>und</strong>verfeindete Clique von<br />

LebenskünstlerInnen.<br />

13 Milan Dubrovic, Veruntreute Geschichte – Die Wiener Salons <strong>und</strong> Literatencafés, Wien: Zsolnay 1985,<br />

S. 50.<br />

14 Ebda, S. 57.<br />

15 Ebda, S. 59 f.


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Bernd Gallob<br />

Thema sind noch von kontextualer Bedeutung: „Béla Balázs, Schriftsteller [Filmtheoretiker,<br />

der Verfasser], Siegfried Bernfeld, Psychoanalytiker, Hugo Bettauer, Elias<br />

Canetti, Ernst Fischer [der spätere kommunistische Politiker, der Verfasser], Hans<br />

Flesch-Brunningen, Fritz Kortner, Paul Lazarsfeld, Eugen Lenhoff, Soma<br />

Morgenstern, Otto Neurath, Hugo Sonnenschein (genannt Sonka), Philipp Zeska,<br />

Lou Jolesch, Greta Keller <strong>und</strong> viele andere. 16<br />

Über den künstlerischen Menschen <strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>, seine Ängste, Sensibilitäten,<br />

seine Diskurspartnerinnen <strong>und</strong> –partner, seine Triebkräfte, Verw<strong>und</strong>ungen etc.<br />

erfährt man durch die Aussagen der Künstlerin Gina Kaus <strong>und</strong> des Chronisten Milan<br />

Dubrovic wesentlich mehr, als durch fast alle emsigen Germanisten bzw. Literaturwissenschafter<br />

in den letzten Jahrzehnten zusammengetragen worden ist. Vor allem<br />

<strong>auf</strong> das Thema bezogen auch deshalb, weil <strong>Broch</strong> bei seinen Versuchen zum <strong>Theater</strong><br />

aber auch beim Script „Das unbekannte X“ seinen eigenen engeren biografischen<br />

Lebensraum nie wirklich verlassen hat. 17<br />

Kunstwissenschaftliche Annäherungen <strong>und</strong> Analysen können <strong>und</strong> dürfen nicht<br />

vorspiegeln, es handelte sich um eine exakte Wissenschaft. Fußnoten von der Qualität<br />

„Mozart, Wolfgang Amadeus, Komponist des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts“ sind im Kontext<br />

der kunstwissenschaftlichen Perspektive <strong>und</strong> des sensiblen Fach-Diskurses zum<br />

Thema Kunst entbehrlich, sie vermitteln in diesem Kontext gar nichts, außer vielleicht,<br />

in Parenthese zum später definierten Unterschied des <strong>Epiker</strong>s zum Drehbuchautor<br />

gesagt, die Allwissenheit des Herausgebers. Kunstwissenschaften gehen<br />

deduktiv vor, die Mathematik, die Physik etc. basieren <strong>auf</strong> Modellen, verifizieren<br />

oder falsifizieren Experimente <strong>und</strong> sind methodisch induktiv.<br />

Kunstwissenschaftliche Kriterien sind nie beweisbar, daher radikal <strong>auf</strong> den künstlerischen<br />

Wert <strong>und</strong> die künstlerische Qualität zu zentrieren. Sie sind immer ebenso<br />

radikal subjektiv. Kunstwissenschaftliche Kriterien sind primär erfahrbar, nie aber<br />

beweisbar. Die Sprache des Kunstdiskurses <strong>und</strong> die Argumentationswahl sollten mit<br />

diesen Realitäten sensibel korrespondieren. 18 Die Freud’sche Lehre der Psycho-<br />

16 Ebda, S. 165 ff.<br />

17 Die Darstellung dieser mental-emotional-irrealen Verwobenheiten von KünstlerInnen, CaféhausbesucherInnen<br />

etc. <strong>und</strong> die Rückkoppelungen <strong>auf</strong> das Schaffen wurde noch nicht geschrieben. In<br />

nüchternen, nicht interpretierten Details ist sicher fast alles bekannt. Kunstschaffen aber ist nur durch<br />

Interpretation <strong>und</strong> Interpolation diskutierbar, das Faktengerüst allein sagt gar nichts aus.<br />

18 Dazu im Kontext <strong>Theater</strong> <strong>und</strong> Film: <strong>Theater</strong>- <strong>und</strong> Filmteams sprechen eine sehr offene Sprache, sie<br />

drücken sich so gut wie nie so distanziert <strong>und</strong> „vornehm“ aus wie es Linguisten <strong>und</strong> Literaturwissenschafter<br />

tun. Sie hantieren mit den Emotionalitäten des <strong>Theater</strong>- oder Filmautors, den eigenen <strong>und</strong><br />

denen des Publikums. Für <strong>Theater</strong>- <strong>und</strong> Filmschaffende (Regisseure, Kameraleute inkl. AutorInnen)<br />

sind die geschriebenen Texte primär nicht Lese- sondern Spiel- bzw. Drehvorlagen. Sie denken bei der<br />

Lektüre dieser Vorlagen in Szenen, Bildern, Auftritten, Gängen (der SchauspielerInnen), Pausen,<br />

Motiven, Studios, Animationen, Kosten, Besetzungen etc.


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<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>. <strong>Ein</strong> <strong>Epiker</strong> <strong>auf</strong> <strong>Abwegen</strong>. <strong>Theater</strong> <strong>und</strong> Film 63<br />

analyse, naturwissenschaftliche Zugänge zum Thema, die Linguistik, die Literaturwissenschaft<br />

etc. sind für den Kunstwissenschafter (einmal für <strong>Theater</strong>, Film gesprochen)<br />

Hilfswissenschaften, wichtige, unentbehrliche, aber das gilt im Gr<strong>und</strong>e für jede<br />

Hilfswissenschaft.<br />

<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong> hat wenige Jahre, zwischen 1932 <strong>und</strong> 1935, seines Schaffens<br />

aktiv versucht, für <strong>Theater</strong> <strong>und</strong> Film als Autor zu reüssieren. Lange Zeit hatte keiner<br />

seiner Versuche einen nachhaltigen Erfolg. 19 Der Beitrag des Verfassers ist aus der Perspektive<br />

des empirisch <strong>und</strong> mental nachvollziehbaren <strong>Theater</strong>- bzw. Filmschaffens<br />

konzipiert <strong>und</strong> geschrieben. Der Verfasser war 35 Jahre seines Lebens im <strong>Theater</strong><strong>und</strong><br />

Filmwesen an fast allen Positionen aktiv <strong>und</strong> beobachtend-reflexiv tätig. Er<br />

möchte <strong>Broch</strong> in keiner Phase denunzieren, seine Hochachtung für den <strong>Epiker</strong>,<br />

Humanisten <strong>und</strong> Menschenrechtler <strong>Broch</strong> ist ungeteilt. Andererseits kann er nicht<br />

verschweigen, dass im Kontext zum Thema <strong>Theater</strong> <strong>und</strong> Film das Aufzeigen von<br />

manchmal leicht skurrilen Positionen nicht vermeidbar ist.<br />

Beispielsweise bezogen <strong>auf</strong> die Ur<strong>auf</strong>führung seines ersten Dramas Die Entsühnung<br />

ist zu lesen: „<strong>Broch</strong>s erstes Drama ‚Die Entsühnung‘ wird am 15. März im<br />

Schauspielhaus Zürich (unter dem nicht vom Autor stammenden Titel ‚Denn sie<br />

wissen nicht, was sie tun …‘) mit Erfolg ur<strong>auf</strong>geführt, die Regie führt Gustav Hartung.<br />

Trotzdem kommt es nur zu wenigen Aufführungen.“ 20<br />

Der Widerspruch von angeblichem Erfolg <strong>und</strong> dem Verschwinden des Stücks<br />

nach wenigen Aufführungen aus dem Spielplan kennzeichnet den Verlust der kritischen<br />

Distanz, vorsichtig ausgedrückt. Denn Erfolge am <strong>Theater</strong> schauen ausnahmslos<br />

anders aus.<br />

Gestreift werden auch die zwei weiteren <strong>Theater</strong>stücke aus dem Jahr 1934, die<br />

Komödie Aus der Luft gegriffen oder die Geschäfte des Baron Laborde <strong>und</strong> der Schwank<br />

Es bleibt alles beim Alten (in Zusammenarbeit mit <strong>Broch</strong>s Sohn H. F. <strong>Broch</strong> de<br />

Rothermann). Und das Script aus dem Jahr 1935 Das unbekannte X, Der Film einer<br />

physikalischen Theorie (Unter Anlehnung an den Roman Die unbekannte Größe),<br />

den <strong>Broch</strong> im Jahr 1933 geschrieben <strong>und</strong> bei S. Fischer Berlin herausgebracht hat. 21<br />

Das Populäre ist <strong>Broch</strong>, der sich im L<strong>auf</strong>e seines Lebens (man denke an Gina<br />

Kaus’ scharfzüngige Erinnerungen), allmählich zum ernsthaften Puristen 22 ent-<br />

19 Was sich beim Sonderfall der „Magd Zerline“ bereits völlig <strong>und</strong> beim „Laborde“ schon teilweise<br />

geändert hat, wird sich nach Ansicht des Verfassers auch beim „Laborde“ ebenfalls völlig ändern.<br />

20 Marbacher Magazin 94/2001, „<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong> 1886 – 1951 <strong>Ein</strong>e Chronik“ Bearbeitet von Paul<br />

Michael Lützeler, 2001 Deutsche Schillergesellschaft Marbach, 44<br />

21 Siehe: „<strong>Broch</strong> Die Unbekannte Größe“, in <strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>: Kommentierte Werkausgabe, herausgegeben<br />

von Paul Michael Lützeler, Frankfurt/ Main: Suhrkamp, Band 2, S. 257<br />

22 Die Entwicklung von <strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong> vom Lebemann zum Puristen hat sich, wie oben erwähnt, auch<br />

in seinen wechselnden Schriftbildern ausgedrückt. Sie war auch die Resultante seiner zunehmenden,<br />

teils selbst gewählten Vereinsamung, der radikalen Vereinzelung seiner Arbeits- <strong>und</strong> Lebensweise, der<br />

immer drückenderen monetären Verarmung, des immer brutaleren Rassismus – auch in der Sommerfrische<br />

<strong>und</strong> in den Kurorten. Über die jüdische Sommerfrische der Zwischenkriegszeit (ab1938 wurde


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wickelte, immer entschiedener zum Gräuel geworden. Und gemäß dieser Individuation<br />

handelte <strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong> 1935: „Im Oktober zieht er die Bilanz der beiden<br />

letzten Jahre <strong>und</strong> entschließt sich, die Zeit der Kompromisse <strong>und</strong> die Zugeständnisse<br />

ans Populäre zu beenden.“ 23<br />

Dieser Beitrag wurde nicht als kompilatorische Zusammenfassung bzw. chronikallexikalische<br />

Auflistung schon bekannter <strong>und</strong> publizierter Daten um <strong>Broch</strong>s Gehversuche<br />

bei <strong>Theater</strong> <strong>und</strong> Film konzipiert. Das wäre auch gar nicht möglich gewesen,<br />

da es zum Thema „<strong>Broch</strong> als <strong>Theater</strong>- <strong>und</strong> Filmautor“ (den kurzen Beitrag Durzaks aus<br />

1966 ausgenommen) bisher keine spezifische <strong>und</strong> kompetente Literatur gibt.<br />

Ohne – wie schon festgehalten – <strong>Broch</strong>s Bedeutung als <strong>Epiker</strong> <strong>und</strong> Humanist<br />

diminuieren zu wollen, werden mit diesem Beitrag viele Gr<strong>und</strong>lagen erstmals präsentiert<br />

<strong>und</strong> sein Bemühen bzw. sein Scheitern in den ihm fremden Genres erstmals<br />

plausibel gemacht. 24<br />

Voraussetzung dazu ist es, die Genres in ihrer Unterschiedlichkeit kurz zu definieren.<br />

Literatur- <strong>Theater</strong> – Film/Kino<br />

Zum Verständnis für die unterschiedlichen Welten der drei untersuchten Kunstformen<br />

werden nach den vorangegangen Ausführungen über die Ziele <strong>Broch</strong>s die<br />

Rahmenbedingungen von Literatur, <strong>Theater</strong> <strong>und</strong> Film in Form einer vergleichenden<br />

Analyse dieser Kulturtechniken analysiert. Vieles ist dadurch leichter verständlich.<br />

1. Buch – Literatur – Print<br />

Bernd Gallob<br />

<strong>Ein</strong> Buch wird individuell geschrieben, fast immer von einer <strong>Ein</strong>zelperson. Die Kette<br />

vom Autor zum Leser/zur Leserin verläuft klassisch (das ändert sich im Moment<br />

es Juden u. a. sofort verboten, Trachten zu tragen), hat Robert Kriechbaumer 2002 ein bemerkenswertes<br />

Buch herausgegeben: „Der Geschmack der Vergänglichkeit“; Böhlau. Für den Sprachkünstler<br />

<strong>Broch</strong> war die Vertreibung in ein anderssprachiges Land noch eine zusätzliche Tragödie. Die<br />

Muttersprache war, so drückte es Hans Weigel einmal aus, der letzte Rest von Heimat.<br />

23 Marbacher Magazin 94/2001, S. 47.<br />

24 <strong>Ein</strong> „apropos“ vorweg. Dr. Marianne Gruber, Vorsitzende der Österreichischen Gesellschaft für Literatur,<br />

thematisierte während ihrer Moderation beim Sympsion die immer wieder ins Gespräch gebrachte<br />

Behauptung, <strong>Broch</strong> sei im Gr<strong>und</strong>e ein Dilettant, ein Autodidakt <strong>und</strong> ein systemloser<br />

Eklektiker gewesen. Was beim <strong>Epiker</strong> <strong>Broch</strong> allenfalls bei den Anfängen eine Halbwahrheit ist.<br />

Gerade beim <strong>Theater</strong>autor <strong>Broch</strong> zeigt sich, dass er als Dilettant begonnen hat <strong>und</strong> nach der Teilnahme<br />

bei den Proben zu seinem ersten Stück (sein zweites beweist es) bereits absolut professionell<br />

für das <strong>Theater</strong> schreiben konnte. Beim Film hatte <strong>und</strong> suchte er die Gelegenheit sich zu professionalisieren<br />

nicht, nur war er so begabt <strong>und</strong> intelligent, dass er fast unheimlich schnell dazulernte.


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<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>. <strong>Ein</strong> <strong>Epiker</strong> <strong>auf</strong> <strong>Abwegen</strong>. <strong>Theater</strong> <strong>und</strong> Film 65<br />

dynamisch – Stichwort „Desktop-Publishing“ – was aber für den Vergleich wenig<br />

Bedeutung hat) vom<br />

A) Autor-Manuskript über<br />

B) den Verleger – Verlag, in die<br />

C) Druckerei <strong>und</strong> dann in den<br />

D) Buchhandel<br />

Über den Buchhandel landen Bücher beim Leser/der Leserin, in Bibliotheken etc.<br />

Wenige LeserInnen, (im Vergleich zu einer größeren Verk<strong>auf</strong>szahl) haben in der<br />

Regel Kontakt mit dem Autor/der Autorin, schon gar nicht haben sie eine Möglichkeit<br />

zur Veränderung des Textes. Der Autor/die Autorin ist in einer Art Verkündigungsposition,<br />

der/die <strong>auf</strong> das jeweilige Buch bezogen alleinige „Allwissende“<br />

Manche Autoren/ Autorinnen erweitern diese literarische Verkündigungs-Position<br />

<strong>auf</strong> das gesamte politische Leben.<br />

Bücher sind beliebig oft reproduzierbar <strong>und</strong> die Texte sind (ausgenommen heute<br />

im Internet) nicht änderbar, sie sind zwischen den Buchdeckeln hermetisch verschlossen.<br />

Das Rezipieren, das Lesen, von Büchern bzw. Zeitungen geschieht im<br />

Standardfall individuell, auch in Bibliotheken bzw. Kaffeehäusern. Bücher sind<br />

„Fre<strong>und</strong>e der <strong>Ein</strong>samkeit“. Sinneserlebnisse der Leserinnen <strong>und</strong> Leser mutieren vom<br />

Text her direkt zu imaginierten eigenen Erlebnisqualitäten.<br />

2. <strong>Theater</strong><br />

Bei der Erarbeitung einer <strong>Theater</strong>vorstellung ist ein Team unterschiedlichster<br />

Menschen nötig. <strong>Ein</strong> <strong>Theater</strong> benötigt im „Standardfall“:<br />

A) <strong>Ein</strong> Haus mit Bühne, Technik <strong>und</strong> Zuschauerraum.<br />

B) <strong>Ein</strong> <strong>Theater</strong>stück eines/r Autors/Autorin, meist über einen Verlag<br />

zeitlich/örtlich limitiert erworben.<br />

C) Darstellende KünstlerInnen, SchauspielerInnen, SängerInnen, TänzerInnen,<br />

MusikerInnen.<br />

D) KunsthandwerkerInnen (Bühnenbildner/Innen, KostümbildnerInnen,<br />

SchneiderInnen, Light-DesignerInnen, TontechnikerInnen etc.).<br />

E) Arbeiter (Dekorationsbau, Umbau etc.).<br />

F) <strong>Ein</strong>e Besucherorganisation (Verk<strong>auf</strong>-Vertrieb).<br />

Üblicherweise kann eine Live-Vorstellung pro Tag gespielt werden. Jede Vorstellung<br />

ist – da live – anders. Die Reaktionen der Zuschauer verändern zusätzlich jede Vorstellung<br />

(simples Beispiel: Applaus oder Störungen führen an Vorstellungsweise<br />

unterschiedlichen Stellen zu Unterbrechungen des Abl<strong>auf</strong>s). Jede einzelne Vor-


Maske02/52_2006_004 23.11.2006 6:30 Uhr Seite 66<br />

66<br />

stellung hängt von vielen einzelnen Menschen <strong>und</strong> dem organisierten Zusammenwirken<br />

im Moment der Vorstellung ab. Live-Vorstellungen sind nicht beliebig<br />

reproduzierbar, der <strong>Ein</strong>zelabend als solcher ist unwiederholbar, da dasselbe Stück mit<br />

den selben SchauspielerInnen in derselben Inszenierung bei jeder neuen Vorstellung<br />

neu gespielt <strong>und</strong> neu rezipiert wird.<br />

Die Sinne des Schauens, Sehens <strong>und</strong> des Hörens werden beim Publikum durch<br />

simultan vorproduzierte <strong>und</strong> durch KünstlerInnen vorinterpretierte Qualitäten<br />

aktiviert. Der Text ist eine mehr oder weniger disponible Rohfassung für die Inszenierung.<br />

Beim Regietheater mehr, bei so genannten werkgetreuen Aufführungen<br />

etwas weniger (aber eben auch). Bei der Erarbeitung der Inszenierung sind viele<br />

Personen bei den vielen Modifikationen des Textes (Streichen, Umstellungen, Abänderungen<br />

etc.) aktiv <strong>und</strong> als Letztentscheider am Werk. – DramaturgInnen, Schauspielerinnen<br />

<strong>und</strong> Schauspieler, Regisseure, <strong>Theater</strong>direktoren etc.). Der Autor liefert<br />

Rohmaterial für die Inszenierung der Textvorlage, die gestaltende Interpretation <strong>und</strong><br />

Akzentuierung ist ihm entzogen.<br />

<strong>Theater</strong> ist eine Vorform der populären Massenkultur, es ist vielen Menschen<br />

zugänglich, aber es ist eben nicht beliebig oft reproduzierbar, wie etwa Bücher <strong>und</strong><br />

Filmkopien. Teil der Rezeption ist das gemeinsame Erleben. Die Menge der <strong>Theater</strong>besucher,<br />

ursprünglich nach streng gesellschaftshierarchischen Sitzplatz-Regeln<br />

unterteilt, wird im Idealfall zu einer zusammengehörigen Gruppe von emotional<br />

gemeinschaftlich bewegten Menschen.<br />

3. Film – Kino<br />

Bernd Gallob<br />

Der Film ist die wohl komplexeste Vereinigung <strong>und</strong> Weiterentwicklung der „technischen<br />

Techniken“ Fotografie <strong>und</strong> – seit dem Ende des Stummfilms – der Tonträger<br />

mit den Kulturtechniken Literatur (Drehbuch), Schauspielkunst <strong>und</strong> Musik.<br />

Die Filmproduktion ist nur durch Teamarbeit in komplexer Form möglich, wobei<br />

das gestalterische Kernstück des Films, die Montage – der Schnitt – wieder sehr individuell<br />

geplant <strong>und</strong> umgesetzt wird. Der/die Script-Autor/in im Studio schreibt in<br />

der Regel täglich seine Szenen nach den Wünschen des Regisseurs/der Produktion<br />

um <strong>und</strong> neu. Tut er/sie das nicht, wird er/sie ausgewechselt. Der Drehbuchautor oder<br />

die -autorin entwerfen für den Regisseur Drehvorlagen nach relativ strikt vorgegebenen<br />

Regeln. Er/sie komponiert in Bildern <strong>und</strong> den Hauptunterschied zum literarischen<br />

Autor drückt eine gr<strong>und</strong>legende Regel für DrehbuchschreiberInnen aus: Die<br />

„Allwissenheit des <strong>Epiker</strong>s“ als Erzählmethode steht ihnen nicht zur Verfügung<br />

steht.<br />

Film ist ein technisches Produkt, faktisch ohne <strong>Ein</strong>schränkung beliebig oft reproduzierbar.<br />

Filmvorstellungen im Kino waren <strong>und</strong> sind im Standardfall für alle Menschen<br />

ohne hierarchisch-ständisch festgelegte Sitzplatzordnung „konsumierbar“.<br />

Film im Kino wird in Gruppen erlebt, die Rezeption des Films durch das Publikum


Maske02/52_2006_004 23.11.2006 6:30 Uhr Seite 67<br />

<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>. <strong>Ein</strong> <strong>Epiker</strong> <strong>auf</strong> <strong>Abwegen</strong>. <strong>Theater</strong> <strong>und</strong> Film 67<br />

verändert den Film aber im Unterschied zum <strong>Theater</strong> nicht. Die zu erwartende<br />

Reaktion der KinogeherInnen wird bewusst bereits bei der Konzeption des Films<br />

<strong>und</strong> des Scripts berücksichtigt.<br />

Es werden Geschichten mit optischen Konnotationen erzählt. Bis 1929/1930<br />

wurden diese optisch dominierten Geschichten ohne Ton erzählt, vielfach durch<br />

Live-Musik (Orchester oder Klavier) untermalt. Zwischentexte ergänzten dort, wo<br />

das Bild allein nicht genug ausdrücken konnte. Die (denotative) Konzentration, etwa<br />

<strong>auf</strong> Symbole, müsste den Freudianer, C. G. Jung-Leser <strong>und</strong> Kerényi-Fre<strong>und</strong> <strong>Broch</strong> 25<br />

fasziniert haben.<br />

Zur Herstellung eines Kinofilms benötigt man:<br />

● <strong>Ein</strong>en Stoff – einen Plot – oft aus der Literatur genommen<br />

● <strong>Ein</strong>e/n DrehbuchautorIn<br />

● Das Produktionsteam samt technischem Equipment (ProduzentIn, RegisseurIn,<br />

Kameraleute, Aufnahmetechnik wie Kamera, Ton, Licht, Bauten etc.)<br />

● FilmkomponistInnen/MusikerInnen/So<strong>und</strong>tracker<br />

● SchauspielerInnen/StatistInnen<br />

● Drehorte – Studios – Motive<br />

● Produktion <strong>und</strong> Postproduktion mit technischem Fachpersonal<br />

● Kopierwerke (diese werden durch die Digitalisierung teilweise überflüssig werden)<br />

● Verleih – Vertrieb<br />

● Abspielstätten (Kinos, heute vielfach – sagen wir „ergänzt“ – durch TV-Stationen,<br />

Video-Wiedergabe-Techniken, Flugzeug-, Hotel-, Schiffs- <strong>und</strong> Kabel- bzw. Satellitennetze<br />

etc.<br />

Resümee<br />

Alle <strong>auf</strong>gezeigten Elemente der Kulturtechniken Literatur (Epik), <strong>Theater</strong> <strong>und</strong> Film<br />

haben zur Beurteilung der <strong>Broch</strong>’schen Versuche, für <strong>Theater</strong> <strong>und</strong> Film zu schreiben,<br />

eine elementare <strong>und</strong> bislang nicht reflektierte Bedeutung.<br />

Der Literatur-Leser ist über den geschriebenen Text mit dem Autor direkt<br />

„verb<strong>und</strong>en“, bei <strong>Theater</strong> <strong>und</strong> Film nur über ein ganzes Bündel von vorgegebenen<br />

25 <strong>Broch</strong> hat durch seine (bis zum Lebensende währende) Arbeit mit PsychoanaltikerInnen faktisch eine<br />

in Fachkreisen so genannte „Lehranalyse“ absolviert. Sein Zugang zur Symbolik, Analytik etc. ist geprägt<br />

von dieser Freud’schen Gratwanderung zwischen der Heilkunst (Medizin) <strong>und</strong> den Kultur-,<br />

Natur- bzw. Geisteswissenschaften. Freud hatte seinen Studien vorangestellt, dass er erwarte, dass<br />

seine Hypothesen von den nächsten Forschergenerationen medizinisch-naturwissenschaftlich untermauert<br />

würden. <strong>Broch</strong>s universitäre Studien in Mathematik, Physik etc. sind im Licht dieser damals<br />

revolutionären Grenzüberschreitungen zwischen den Disziplinen (bei ihm noch ergänzt durch die<br />

Technik) zu verstehen.


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68<br />

Bernd Gallob<br />

Interpretationen (von der Ausstattung bzw. dem Motiv bis zur Besetzung mit<br />

bestimmten Typen oder Typologien). Mit damit sinkenden Ansprüchen <strong>auf</strong> eigene<br />

Imaginations- <strong>und</strong> Übersetzungsleistungen.<br />

So ziemlich alles, was über <strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong> bekannt ist, belegt, dass es von seinen<br />

gr<strong>und</strong>legenden Zielsetzungen her eine fast völlige – strukturelle – Inkompatibilität<br />

zwischen ihm <strong>und</strong> den <strong>Theater</strong>- bzw. Filmproduktionsbedingungen gegeben haben<br />

muss. <strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong> „litt an jedem Satz, <strong>und</strong> manchmal bestand die sechzehnstündige<br />

Arbeit eines Tages darin, durchzustreichen, was er am Vortag geschrieben“<br />

hatte Gina Kaus scharf beobachtet (siehe Fußnote 2). Diese Arbeitstechnik, die aus<br />

einer autonomen künstlerischen Weltanschauung resultiert, ist nicht kompatibel mit<br />

den teamorientierten Kulturtechniken <strong>Theater</strong> <strong>und</strong> Film.<br />

Da standen einander Welten gegenüber, die letztendlich nicht miteinander<br />

korrespondieren wollten <strong>und</strong> konnten. Der extreme Individualist <strong>und</strong> <strong>Ein</strong>zelkämpfer<br />

<strong>Broch</strong> 26 stand den gruppenorientierten Arbeitsbedingungen des Films <strong>und</strong> des<br />

<strong>Theater</strong>s fremd gegenüber. Das hatte ein Bündel von nachvollziehbaren Gründen.<br />

Vor allem wollte <strong>Broch</strong> nur die von ihm imaginierte Welt, welche immer es war,<br />

akzeptieren. Regeln akzeptierte er nur, wenn er diese selbst <strong>auf</strong>stellen oder verändern<br />

konnte. Auch dort, wo er sich zuerst handwerkliche Fähigkeiten hätte aneignen<br />

sollen. Das wollte <strong>Broch</strong> nicht – obzwar er es gekonnt hätte – wie sein durch die<br />

Teilnahme an den Züricher Proben erfolgter Lernprozess (siehe die Ausführungen<br />

zu „Laborde“ weiter unten) belegt.<br />

Es ist eine der Paradoxien in <strong>Broch</strong>s Werk, dass (Film <strong>und</strong> <strong>Theater</strong> betreffend)<br />

für beinahe jede Position (<strong>und</strong> auch ihr Gegenteil) irgend eine Bemerkung in seinen<br />

Schriften bzw. Briefen die eine Hypothese zu belegen scheint, <strong>und</strong> dann wieder ein<br />

anderes Zitat die gegenteilige.<br />

Das kann daran liegen, dass <strong>Broch</strong> seine Analysen <strong>und</strong> seine subjektiven<br />

Positionen manchmal trennt, manchmal aber auch nicht, je nach emotionaler<br />

Betroffenheit. So analysiert er in seinem 1942 verfassten Beitrag: Berthold Viertel:<br />

Fürchte dich nicht! nüchtern, <strong>und</strong> gesteht dem <strong>Theater</strong> den Primat des Regisseurs<br />

<strong>und</strong> der Schauspielkunst über die Dichtung als Faktum zu <strong>und</strong> führt dann aus „Noch<br />

weitaus gültiger ist dies für den Film, da hier der Regisseur als produktiver Autor zu<br />

wirken hat.“ 27 Sein Agieren in den Jahren 1932 bis 1935 hat in weiten Teilen diesen<br />

<strong>Ein</strong>sichten noch nicht entsprochen.<br />

26 Herbert Maurer, selbst Autor, hat beim Symposion den Begriff „Autismus“ zur pointierten<br />

Charakterisierung der einsamen Arbeit des Dichters verwendet.<br />

27 „<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong> Schriften zur Literatur 1 Kritik“, in Kommentierte Werkausgabe, Band 9/1, herausgegeben<br />

von Paul Michael Lützeler, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983, S. 389.


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<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>. <strong>Ein</strong> <strong>Epiker</strong> <strong>auf</strong> <strong>Abwegen</strong>. <strong>Theater</strong> <strong>und</strong> Film 69<br />

<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong> – <strong>Theater</strong><br />

Wer das (dürftige) vorhandene Material zum <strong>Theater</strong> aus <strong>Broch</strong>s zahlreichen Selbstzeugnissen<br />

– sprich Briefen – zu filtern <strong>und</strong> bewerten versucht (sie werden nicht<br />

einzeln angeführt <strong>und</strong> sind in der Werkausgabe, Band 13/1, Briefe 1 1913-1938 28<br />

einzeln nachzulesen), der kommt zu einem charakeristischen Abl<strong>auf</strong>schema:<br />

● <strong>Broch</strong> nähert sich der neuen Herausforderung<br />

● <strong>Broch</strong> versucht, diese neue Herausforderung allein zu bewältigen<br />

● Biografische Details <strong>und</strong> persönliche Befindlichkeiten spielen oft eine große Rolle<br />

● <strong>Broch</strong> sieht sich als Reformer<br />

● <strong>Broch</strong> ist über die Widerstände <strong>und</strong> den Misserfolg wütend<br />

● <strong>Broch</strong> macht für Misserfolge unverständige Menschen verantwortlich<br />

● <strong>Broch</strong> professionalisiert seinen Zugang, oder/<strong>und</strong> er lässt das Projekt fallen<br />

● <strong>Broch</strong> macht seine persönliche Wut <strong>und</strong> seine Trauer zum Gegenstand seiner<br />

Arbeit, manchmal auch ziemlich unverblümt denunziatorisch (Das Script „Das<br />

unbekannte X“ ist ein Beispiel dafür)<br />

● <strong>Broch</strong> beginnt an sich selbst zu zweifeln<br />

● <strong>Broch</strong> denunziert seine Motive, warum er sich (z.B. <strong>auf</strong> das <strong>Theater</strong> ) überhaupt<br />

eingelassen hat<br />

● <strong>Broch</strong> – schlussendlich – findet, dass er schlecht gearbeitet habe, er denunziert sich<br />

selbst<br />

Dazu seien vier Beispiele zitiert: „164. An Daniel Brody, Wien, 13. Juli 1934: Aber<br />

hier galt es – allem Weltgeschehen zum Trotz – Stücke fertig zu machen, erschwert<br />

überdies durch den Ekel, der mich vor dieser Brotarbeit erfüllt hat, verschärft<br />

überdies durch eine sehr heftige Zahnbeinhautentzündung.“ 29<br />

„171. An Daisy Brody: Wien, 16. Oktober 1934: Wäre es wirklich ein seriöses Drama<br />

oder sonst etwas, wofür ich mich selber voll einsetzen könnte, so wüßte ich natürlich,<br />

daß die Zeit – sofern es eine solche überhaupt noch geben wird – für das Werk werde<br />

kommen müssen, aber da es sich, wie gesagt, um einen Schmarrn handelt, den ich mit<br />

Gewalt unter meinem eigenen Niveau gehalten habe (eine fürchterliche <strong>und</strong><br />

<strong>auf</strong>reibende Arbeit!), so sehe ich nur mehr wenige Chancen.“ 30<br />

Zwei Jahre vorher hat das so geklungen: „126. An Willa <strong>und</strong> Edwin Muir, Wien, 18.<br />

Dezember 1932: Denn es ist natürlich nicht einzusehen, daß die englischen<br />

<strong>Theater</strong>direktoren von anderer Geistesbeschaffenheit als ihre Kritik sein sollen. Im<br />

28 „<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong> Briefe 1 1913–1938“, Kommentierte Werkausgabe, Band 13/1, Frankfurt/Main:<br />

Suhrkamp, S. 1981.<br />

29 Ebda, S. 287.<br />

30 Ebda, S. 296.


Maske02/52_2006_004 23.11.2006 6:30 Uhr Seite 70<br />

70<br />

Gegenteil: so viel Dummheit <strong>und</strong> Sachunkenntnis wie beim <strong>Theater</strong> habe ich überhaupt<br />

noch nirgends angetroffen. Was ich mit dem Drama beim deutschen <strong>Theater</strong><br />

erlebe, spottet jeder Beschreibung, ungeachtet dessen, daß ich jedesmal meinen besten<br />

Anzug angelegt habe“. 31<br />

„127. An Willa <strong>und</strong> Edwin Muir, Wien, 7. Februar 1933: … die Wiener <strong>Theater</strong> dagegen<br />

sind mit Ausnahme des Staatstheaters, das aber wieder politische Rücksichten<br />

zu nehmen hat <strong>und</strong> bloße Harmlosigkeiten <strong>auf</strong>führt, völlig fertig . Das Deutsche<br />

Volkstheater, das schon zur Aufführung bereit war, steht vor der Schließung usw.“ 32<br />

<strong>Ein</strong> <strong>Epiker</strong> <strong>auf</strong> <strong>Abwegen</strong><br />

Bernd Gallob<br />

Der hintergründigste ihr bekannte Mensch sei <strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong> gewesen, hat Gina<br />

Kaus geschrieben (siehe den Text zur Fußnote 1). Das ist ein Zeitzeuginnenbef<strong>und</strong>.<br />

Registrieren lässt sich heute, dass <strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong> sehr viele persönliche Dokumente,<br />

vor allem Briefe, geschrieben hat <strong>und</strong> dass diese dennoch herzlich wenig über<br />

ihn als Persönlichkeit, Menschen <strong>und</strong> Künstler preisgeben.<br />

Aus <strong>Broch</strong>s (sehr) vielen Briefen <strong>und</strong> Reflexionen geht nicht klar hervor, wie er<br />

<strong>Theater</strong> <strong>und</strong> Film tatsächlich bis zu seinen Arbeiten für diese Genres rezipiert hat.<br />

Der erhaltene Bestand der Klagenfurter <strong>Broch</strong>-Bibliothek 33 gibt keinen Hinweis,<br />

dass <strong>und</strong> wie sich <strong>Broch</strong> mit den konkreten Dramen der <strong>Theater</strong>literatur beschäftigt<br />

haben könnte. Aus seinen Briefen <strong>und</strong> Schriften geht hervor, dass er sich z.B. mit<br />

Goethe oder auch Brecht (doch eher mit dem Lyriker B. B.) beschäftigt hat, dass er<br />

mit Berthold Viertel bekannt war, mit Max Reinhardt Kontakt suchte; aber eine<br />

ernsthafte Auseinandersetzung mit Fragen der Dramaturgie, der Entwicklung des<br />

modernen Dramas, mit dem Phänomen Film (analog etwa Walter Benjamin) ist nicht<br />

nachvollziehbar. Und auch wenig wahrscheinlich. 34<br />

Aber: 1897 bis 1900 war der später als Volksbildner in Sachen <strong>Theater</strong> <strong>und</strong> Musik<br />

berühmt gewordene Josef David Bach (1874–1947, ein markanter altruistischhumanitärer,<br />

gebildeter <strong>und</strong> jüdischer Austromarxist) <strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>s privater<br />

Hauslehrer. Ihre Wege haben sich in Wien wohl zwangsläufig immer wieder gekreuzt<br />

<strong>und</strong> es ist wahrscheinlich, dass <strong>Broch</strong> von Bach auch zu <strong>Theater</strong> <strong>und</strong> Musik zumindest<br />

Impulse erhielt. Bach war eng mit Arnold Schönberg <strong>und</strong> dessen Kreis ver-<br />

31 Ebda, S. 227.<br />

32 Ebda, S. 232.<br />

33 Klaus Amann <strong>und</strong> Helmut Grote, Die Wiener Bibliothek <strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>s; Kommentiertes Verzeichnis<br />

des rekonstruierten Bestandes, Wien: Böhlau 1990.<br />

34 Wie Klaus Amann ausführte, ist die so genannte Literarische Bibliothek <strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>s, die zum<br />

Thema aussagekräftig wäre, zur Gänze verschw<strong>und</strong>en. Die in <strong>Broch</strong>s Briefen erwähnten Namen von<br />

AutorInnen geben null Hinweise dar<strong>auf</strong>, ob er sich mit diesen Bühnen-Dichtern auch dramaturgisch<br />

auseinander gesetzt hat. Seine Briefe etc. während des Schreibens seiner Stücke <strong>und</strong> sein erstes Drama<br />

„Die Entsühnung“, deuten dar<strong>auf</strong> hin, dass das nicht wahrscheinlich ist.


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<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>. <strong>Ein</strong> <strong>Epiker</strong> <strong>auf</strong> <strong>Abwegen</strong>. <strong>Theater</strong> <strong>und</strong> Film 71<br />

b<strong>und</strong>en. Von <strong>Broch</strong> ist bekannt, dass er mit Alban Berg befre<strong>und</strong>et war. Das-Café-<br />

Herrenhof-Netzwerk wurde ja schon zitiert. Ob er häufiger <strong>Theater</strong>besucher war, ist<br />

nicht nachvollziehbar. Kaum einmal, dass er in den seinen Briefen etc. so etwas erwähnte.<br />

Aber sein Anspruch an sich selbst war ernorm hoch.<br />

Gleich seinen ersten Gehversuch am <strong>Theater</strong> als Autor, das Drama Die Entsühnung<br />

ursprünglich auch Die Totenklage genannt, definierte er ursprünglich so:<br />

„119. An Willa <strong>und</strong> Edwin Muir, z.Zt. München, Königinstraße 35, 12. Oktober 1932:<br />

Ich habe den <strong>Ein</strong>druck, daß es <strong>auf</strong> der Bühne ein Erfolg werden könnte, denn es<br />

erscheint mir nicht nur irgendwie ‚großes <strong>Theater</strong>‘ sondern auch als Ansatz zu jenem<br />

neuen Stil, der unbedingt gef<strong>und</strong>en werden muß, wenn das <strong>Theater</strong> überhaupt weiter<br />

bestehen soll. Bisher haben wir einerseits das bürgerliche <strong>Theater</strong>, im alten Sinn naturalistisch<br />

<strong>und</strong> brav <strong>und</strong> langweilig, andererseits das abstrakte Versuchstheater, wie es die<br />

Russen oder in Deutschland Bert Brecht <strong>auf</strong>gestellt haben. Ich bin nun überzeugt, daß<br />

die Ziele des <strong>Theater</strong>s nach wie vor in der griechischen Abstraktheit liegen, daß aber<br />

der Nährboden, in dem es allein ruht, immer nur im Naturalistischen zu sehen ist.<br />

Diese Verbindung zwischen Naturalismus <strong>und</strong> Abstraktismus habe ich gesucht.“ 35<br />

Diese Sätze aus dem Jahr 1932 klingen in den Ohren von <strong>Theater</strong>historikern seltsam.<br />

Strindberg, Materlinck, Schnitzler, Horvath, Pirandello, Wilde, Shaw, O’Neill,<br />

O’Casey <strong>und</strong> viele andere mehr sind einfach ausgeblendet. Vor allem, wenn man<br />

heute <strong>Broch</strong>s erstes Bühnenwerk liest, dann kommt man am Ende dieser stilistisch<br />

ziemlich deutlich an Ibsen angelehnte Tragödie zum selben Schluss, wie er selbst<br />

„161. An Willa Muir, Wien, 12. Mai 1934: In Zürich wurde die Sache derart gekürzt,<br />

daß der ganze Epilog weggelassen worden ist, es war aber miserabel, denn nachdem<br />

die Leute bis zum Schluß unausgesetzt applaudiert haben, sind sie am Ende <strong>auf</strong>gestanden<br />

<strong>und</strong> haben nicht gewusst, was eigentlich geschehen ist. 36<br />

Genau so ist es. Nicht eine Figur ist wirklich durchkomponiert, nicht eine einzige<br />

realpolitische Situation stimmt. Aus welcher Perspektive auch immer betrachtet. Da<br />

hätte auch der Epilog nichts geändert. Und es ist ein f<strong>und</strong>amentales Missverständnis<br />

von <strong>Theater</strong>dramaturgie, ein Bühnenstück erst durch einen Epilog verständlich<br />

machen zu wollen. 37 Die einzelnen Abläufe <strong>auf</strong> der Bühne sind nicht durch Handlungsfäden<br />

verwoben. Fast alle Handlungsstränge <strong>und</strong> Figuren versanden unbemerkt<br />

während des Stücks, es hat den Anschein, als hätte der Autor während der Arbeit das<br />

Interesse an seinen Figuren <strong>und</strong> an der Handlung verloren, oder er hat sie nicht in<br />

eine Form bringen können. Wahrscheinlich stimmt beides.<br />

35 „Briefe 1“, S. 216<br />

36 Ebda, S. 284<br />

37 Die Kodas, etwa bei Verdis Shakespeare-Vertonung Falstaff oder bei Mozart-Da Pontes Don Giovanni,<br />

sind Stilmittel, aus unterschiedlichen Motiven heraus geschrieben. Zur Besänftigung der<br />

religiösen F<strong>und</strong>amentalisten beim „Giovanni“, als lächelnd-resignatives Resümee des 80-jährigen Verdi<br />

beim Falstaff. Für das Verständnis der Opern wäre keine der Kodas nötig gewesen.


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72<br />

Bernd Gallob<br />

Fiktiv ist die Handlung 38 in eine größere südwestdeutsche Industriestadt 1930<br />

verlegt (die verschiedenen Fassungen wurden zwischen 1932 bis 1934 geschrieben).<br />

Es spielt, wie die beiden anderen Stücke auch, im Unternehmermilieu.<br />

Thema der Entsühnung ist der Kampf um die Filsmannwerke. Im diesem Stück<br />

wird auch das Milieu der Arbeiterinnen <strong>und</strong> Arbeiter der Fabriken einbezogen. Zwei<br />

Morde <strong>und</strong> zwei Selbstmorde sollen die tragischen Höhepunkte der Handlung markieren.<br />

Der erste Mord ist der eines kommunistischen Arbeitslosen an einem sozialdemokratischen<br />

Betriebrat, der zweite der von streikenden <strong>und</strong> rebellierenden Arbeitern,<br />

die Steine werfen <strong>und</strong> das Kind eines Managers unabsichtlich-grauenvoll töten.<br />

Der eine Selbstmord wird von einem von <strong>Broch</strong> als ziemlich beklopft charakterisierten<br />

deutschnationalistischen Freiherrn, Liebhaber der Gattin des Juniorchefs<br />

Filsmann, der wahrscheinlich doch wieder kein Freiherr ist, so klar wird das nicht,<br />

begangen. Den anderen Selbstmord begeht der Juniorchef Filsmann, weil er die<br />

Aktienmehrheit seines Unternehmens verloren hat (was seine Existenzgr<strong>und</strong>lage<br />

gesichert <strong>und</strong> verbessert hätte). Dazu gibt es eine unklare Liebesgeschichte zwischen<br />

einer entlassenen Direktionssekretärin (wegen dieses Verhältnisses) mit einem<br />

buckeligen Redakteur <strong>und</strong> fanatisch-theorie-lastigen Gewerkschaftsfunktionär, ein<br />

Kommerzienrat Dr. h.c. rer. pol. zieht einige den Aktienmarkt manipulierende Fäden<br />

<strong>und</strong> am Ende verbröselt die Handlung des Stückes, ohne dass man weiß, was der<br />

Autor eigentlich damit ausdrücken wollte.<br />

Die vier Morde bzw. Selbstmorde vertreiben zwar diese vier Personen von der Bühne<br />

<strong>und</strong> aus dem Stück, dramaturgisch ist diese Handlungsführung aber nicht plausibel.<br />

Und gestimmt hat ohnehin so gut wie nichts in dem Stück. 1934 (aus diesem Jahr<br />

stammt die Bühnenfassung) in Deutschland (dort spielt das Stück) war es nicht das<br />

Problem, dass streikende Arbeiter Kleinkinder umbringen, dass deutschnationalistische<br />

Wirrköpfe sich aus Gram über die Lage entleiben, dass kommunistische Arbeitslose<br />

Betriebsräte morden oder fanatische sozialdemokratische <strong>und</strong> bucklige Journalisten<br />

sich in der Theorie verlieren. 39 Die Buckelszene zwischen dem Journalisten <strong>und</strong><br />

seiner doch nicht Geliebten ist eine ziemlich rohe Peinlichkeit. Und wohl auch als persönliche<br />

Abrechnung <strong>und</strong> Rache mit bzw. an Ernst Polak – „Er war klein, von schmächtigem<br />

Wuchs, ging leicht gebückt mit müden Schritten, als problembeladener intellektueller<br />

Jude leicht agnoszierbar“ 40 – aus dem Café Herrenhof gedacht, seinem Rivalen<br />

<strong>und</strong> dem ursprünglichen Gatten seiner bei Gina Kaus erwähnten Liebschaft Milena.<br />

38 Text <strong>und</strong> editorische Angaben aus „<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>; Dramen“ in Kommentierte Werkausgabe wie<br />

oben angeführt, Band 7, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986.<br />

39 <strong>Ein</strong> Verweis dar<strong>auf</strong>, dass <strong>Broch</strong> das Stück in einer größeren südwestdeutschen Industriestadt im Jahr<br />

1930 spielen lässt, ginge an den realen Rezeptionsgegebenheiten in formalistischer Weise völlig vorbei.<br />

Die „Entsühnung“ ist kein Dokumentarspiel mit Rollen, sondern <strong>Broch</strong> möchte die politischen<br />

Probleme der Zeit <strong>auf</strong>zeigen. Das ist ihm schon für 1930 missglückt (wie er 1949 <strong>und</strong> 1950 brieflich<br />

selbst anmerkte – siehe Fußnote 33). Noch schmerzlicher ist dieser Mangel nur zwei Jahre später<br />

spürbar gewesen, dem Jahr, in dem das Drama ur<strong>auf</strong>geführt wurde.<br />

40 Dubrovic, a. a. O., S. 52.


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<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>. <strong>Ein</strong> <strong>Epiker</strong> <strong>auf</strong> <strong>Abwegen</strong>. <strong>Theater</strong> <strong>und</strong> Film 73<br />

Penibel werden im Personenverzeichnis (das gilt für alle Stücke) alle adeligen,<br />

bürgerlichen, akademischen <strong>und</strong> sonstigen Titeln angeführt <strong>und</strong> im Stück immer<br />

wieder ausgewalzt. Nicht als Milieuschilderung zugespitzt oder ironisch gebrochen.<br />

Wie <strong>Broch</strong>, aber auch die <strong>Broch</strong>rezeption mit dem ursprünglich wahrscheinlich viel<br />

konkreter <strong>und</strong> politischer gemeinten Personenf<strong>und</strong>us umgegangen sind, belegt das<br />

Verschwinden des „Wilhelm Dolfuss, Aufsichtsrat der Filsmannwerke (etwa 50<br />

Jahre)“. In der bei Suhrkamp so genannten „Buchfassung“ tritt ein als reaktionärer<br />

Schwätzer gekennzeichnete Figur „Wilhelm Dolfuss“, Dolfuss mit einem „l“ <strong>und</strong><br />

zwei r<strong>und</strong>en „s“ geschrieben, <strong>auf</strong>.<br />

Wenn in Betracht gezogen wird, dass <strong>Broch</strong>, angeblich nur den 3. Akt des Stückes<br />

am 1. Dezember 1932 in der Volkshochschule Ottakring gelesen hat, dann weiß der<br />

Zeithistoriker um die große politische Brisanz im Kontext um den gerade<br />

<strong>auf</strong>strebenden christlichsozialen Politiker Engelbert Dollfuß (mit 2 „l“ <strong>und</strong> einem<br />

scharfen „ß“). Schon in der Buchfassung verschwindet diese Figur ansatzlos nach<br />

dem 1. Akt, in der Bühnenfassung von 1934 ist sie völlig verschw<strong>und</strong>en.<br />

<strong>Ein</strong>e editorische Randbemerkung: Die Lesung am 1. Dezember 1932 fand nicht<br />

in der Wiener Volkshochschule, Ottakring, statt, sondern in deren Zweigstelle<br />

Leopoldstadt 41 .<br />

Nach diesen Anmerkungen zur dramaturgischen Fehlkonstruktion des Stückes,<br />

sei nun eine für die <strong>Theater</strong>praxis viel gravierendere, eine szenisch strukturelle<br />

angefügt. Sie belegt, dass sich <strong>Broch</strong> als <strong>Epiker</strong> <strong>auf</strong> theatralische Abwege begeben hat.<br />

Die Entsühnung<br />

Trauerspiel in drei Akten <strong>und</strong> einem Epilog<br />

Bühnenfassung<br />

Dekorationen laut <strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong><br />

Die szenische Konstruktion<br />

Die Entsühnung<br />

1. Akt<br />

Fabrikskantine<br />

Wohnzimmer im Stadthaus Filsmanns<br />

Vorderbühne, abgeschlossen durch Fabrikmauer, Gaslaterne, Bühne leer<br />

Wohnzimmer im Stadthaus Filsmanns<br />

Kleiner Bühnenausschnitt, ein Stück nächtlicher Straße darstellend<br />

41 Wilhelm Filla, Wissenschaft für alle – ein Widerspruch; Bevölkerungsnaher Wissenstransfer in der Wiener<br />

Moderne. <strong>Ein</strong> historisches Volkshochschulmodell; Studienverlag: 2001, S. 590.


Maske02/52_2006_004 23.11.2006 6:30 Uhr Seite 74<br />

74<br />

Kleiner Bühnenausschnitt, Schlafzimmer Gladys<br />

Kleiner Bühnenauschnitt, Prostituiertenzimmer<br />

Inneres eines Cafés<br />

2. Akt<br />

Büro Mencks<br />

Kleiner Bühnenausschnitt, kleines Wohnzimmer bei Thea Woltau<br />

Vorderbühne, Fabrikmauer, Laternenpfahl<br />

Büro Mencks<br />

Arbeitszimmer Hassels<br />

Wohnzimmer bei Filsmanns<br />

Kleiner Bühnenausschnitt, Schalterraum eines Bahnhofes<br />

Wohnküche bei Rychner<br />

3. Akt<br />

Wohnzimmer bei Filsmanns<br />

Kleiner Bühnenausschnitt, Hotelzimmer<br />

Wohnzimmer bei Filsmanns<br />

Kleiner Bühnenausschnitt, Zimmer Eva Gröners<br />

Vorderbühne, Fabrikmauer, Laternenpfahl<br />

Kleiner Bühnenausschnitt, Zimmer bei Hügli<br />

Büro Mencks<br />

Kleiner Bühnenausschnitt, Wohnzimmer Theas<br />

Wohnzimmer bei Filsmanns<br />

Vorderbühne oder Bühnenausschnitt, Freie Gegend<br />

Epilog<br />

Sitzungszimmer (Wohnzimmer Filsmanns ??)<br />

Abstrakter Raum<br />

Bernd Gallob<br />

<strong>Broch</strong> hat für drei Akte, bei zwei Pausen, 28 Szenen geschrieben. Bei Befolgung<br />

seines Konzepts wären dafür 16 Dekorationen <strong>und</strong> 28 Umbauten benötigt worden.<br />

Dazu 28 Schauspieler (10 weibliche, 18 männliche Rollen <strong>und</strong> 12 Komparsen).<br />

Die Szenen sind, wie die gesamte Handlung, in eindimensionaler Weise geschrieben.<br />

In keine einzige Szene hinein tritt eine Person <strong>auf</strong>, die nicht schon am Beginn<br />

dieser Szene anwesend ist. Dadurch verl<strong>auf</strong>en die Handlungsfäden parallel <strong>und</strong> weder<br />

Handlung noch Personen werden zu einem Geflecht verwoben. Wie zu lesen sein<br />

wird, steht das ganz im Gegensatz etwa zur Personenführung bei Shakespeare.<br />

Die technischen Anforderungen an die Bühne sind theaterfremd <strong>und</strong> unerfüllbar.<br />

Allein seine szenischen Anweisungen zur Bespielung der Vorderbühne lassen jeden<br />

<strong>Theater</strong>k<strong>und</strong>igen erschaudern. Ganz offensichtlich hat <strong>Broch</strong> geglaubt, damit eine<br />

Art zweiter, frei disponibler Bühne, völlig abgekoppelt vom Bühnenraum hinter dem<br />

Vorhang, schaffen zu können.


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<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>. <strong>Ein</strong> <strong>Epiker</strong> <strong>auf</strong> <strong>Abwegen</strong>. <strong>Theater</strong> <strong>und</strong> Film 75<br />

Doch weiß <strong>und</strong> bedenkt er aus Mangel an Erfahrung nicht, dass die Dekorationen<br />

<strong>und</strong> Möbel <strong>auf</strong> der Vorderbühne <strong>auf</strong>- <strong>und</strong> abgebaut werden müssen, damit<br />

dann die Normalbühne bespielt werden kann. Das sind standardmäßige Anfängerfehler.<br />

Beispiel: Architekten, die erstmals ein <strong>Theater</strong> bauen, unterlassen es als<br />

Standardmängel meist, den Bühnenraum <strong>und</strong> die Tore für die Anlieferung von Dekorationen<br />

ausreichend zu dimensionieren.<br />

Dazu hat <strong>Broch</strong> eine Reihe von „Tonintroduktionen“ vorgesehen. Der <strong>Ein</strong>satz<br />

von Ton aus der Konserve am Sprechtheater als stücktragendes Element einer Inszenierung<br />

zu konzipieren ist, wie die Bespielung der Vorderbühne in der von <strong>Broch</strong><br />

erdachten Form, die typische Vorstellungen eines <strong>Theater</strong>laien. Tonelemente (selbst<br />

beim akustisch dominierten Musiktheater) sind keine dramaturgisch-tragende Säulen.<br />

Diese werden höchstens in der Hörspieldramaturgie eingesetzt. 42<br />

Noch viel theaterfremder sind die von <strong>Broch</strong> erdachten Filmintroduktionen zur<br />

Kennzeichnung des Milieus oder der Spielorte. Die Problematik von Projektionen<br />

am <strong>Theater</strong> war 1934 weit davon entfernt, technisch gelöst zu sein. Erst in den Jahren<br />

um 1960 hat der Bühnenbildner Günther Schneider-Siemssen Mal- <strong>und</strong> Projektionstechniken<br />

entwickelt, die zu einer vertretbaren Projektionsqualität geführt haben.<br />

Das Abspielen von Filmen war noch problematischer (<strong>und</strong> ist es teils heute noch).<br />

Immer kämpften die Bühnen – auch noch heute – (<strong>und</strong> die Technik hat sich rasant<br />

weiter entwickelt) mit der Frage, von wo wor<strong>auf</strong> in welcher Bildqualität projiziert<br />

wird. 1934 hat es noch ausschließlich den Schwarz-Weiß-Film gegeben. Der Kontrast<br />

der mit Farbe ausgeführten Dekorationen zum Schwarz-Weiß-Film hätte 1934<br />

zusätzlich ein ästhetisches Problem ergeben.<br />

Bühnentechnisch hätte die Filmprojektion (wegen der zu errichtenden Leinwand)<br />

zwangsweise zu weiteren Umbauten geführt. Die Finanzierung <strong>und</strong> Herstellung<br />

der Filme waren nicht theaterüblich. Insgesamt kam es zu einer nicht umsetzbaren<br />

Kumulation von <strong>Theater</strong>-unmöglichem. 43<br />

42 Der Verfasser hat es als Regieassistent selbst erlebt, wie ein berühmter Musiktheaterregisseur im Jahr<br />

1966 bei der Inszenierung von Webers „Freischütz“ vergeblich versuchte, diese Regel zu brechen.<br />

Jeder „Kaspar“ musste für das Freikugelgießen die berühmten Echotöne „<strong>Ein</strong>s, zwei, drei“ etc. selbst<br />

im Tonstudio <strong>auf</strong>nehmen. Es sollte damit das irreale Echo als Selbstimagination des Kaspar erkennbar<br />

gemacht werden. Niemand im Publikum hat das jemals registriert. Über Jahrzehnte nicht.<br />

43 Die Versuche etwa Erwin Piscators im Berlin der 20er Jahre, Film als Stilmittel <strong>auf</strong> dem <strong>Theater</strong><br />

einzusetzen, waren an den herkömmllichen Bühnen weder technisch umsetzbar, noch hatten sie in<br />

weiterer Folge theaterästhetisch eine nachhaltige Wirkung. Die Flächigkeit des Films hat sich mit der<br />

Dreidimensionalität der Bühne nie wirklich verbinden können. Es sind unterschiedliche Medien.<br />

<strong>Theater</strong> wird immer ein analoges System bleiben, jede Vorstellung ist live, der Film ist – wie angeführt<br />

– ein reproduzierbares technisches Medium, nicht live, <strong>und</strong> bereits <strong>auf</strong> dem Weg zur Digitalität. Beim<br />

16mm-Film war in den 30-ern die Größe der Projektionsfläche sehr beschränkt, bei 35 mm waren die<br />

Projektoren mit Lichtbogen ausgestattet, die eine große Hitze entwickelten. Die Filmprojektion war<br />

durch das leicht brennbare Filmmaterial (Nitrofilm) äußerst brandgefährdet <strong>und</strong> sie war behördlich<br />

deswegen streng geregelt.


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76<br />

Kaum ein <strong>Theater</strong> hatte in den 30ern eine Kinokonzession, die entsprechenden<br />

Abspielgeräte sowie die dafür nötigen Räume. Auch im technisch fortgeschrittenen<br />

ausgehenden 20. Jahrh<strong>und</strong>ert hat man Filmprojektionsmöglichkeiten <strong>auf</strong> R<strong>und</strong>horizonten<br />

aus vielerlei Gründen nur sehr selten <strong>und</strong> wenn, meist nur bei En-suite-<br />

Produktionen eingesetzt.<br />

Der Vergleich mit Hamlet, einem besonders schwierigen Stück des <strong>Theater</strong>genies<br />

William Shakespeare, sagt mehr aus als weitere theoretisch-analytische Hinweise des<br />

Verfassers. Der Hamlet wurde ausgewählt, weil <strong>Broch</strong> sich mit seinen „Konnotationen<br />

zu Hamlet“ <strong>und</strong> seiner „Ophelia“ mit diesem Stoff dichterisch auseinander<br />

gesetzt hat.<br />

Fünf Akte<br />

Hamlet<br />

1. Akt<br />

Helsingör, eine Terasse vor dem Schlosse (Deko 1)<br />

<strong>Ein</strong> Staatszimmer im Schlosse (Deko 2, Umbau 1)<br />

<strong>Ein</strong> Zimmer in Polonius Haus (Deko 3, Umbau 2)<br />

Die Terasse (Deko wie 1, Umbau 3)<br />

<strong>Ein</strong> abgelegener Teil der Terasse (Requisiten-Möbelwechsel, sonst wie Deko1)<br />

2. Akt<br />

<strong>Ein</strong> Zimmer in Polonius Haus (Wie Deko 3, Umbau 4)<br />

<strong>Ein</strong> Zimmer im Schlosse (wie Deko 2, Möbelwechsel)<br />

3. Akt<br />

<strong>Ein</strong> Zimmer im Schlosse (wie Deko 2, Möbelwechsel)<br />

<strong>Ein</strong> Saal im Schlosse (Möbel weg)<br />

<strong>Ein</strong> Zimmer im Schlosse (Möbel wieder her)<br />

Zimmer der Königin (Möbelwechsel)<br />

4. Akt<br />

<strong>Ein</strong> Zimmer im Schlosse (Möbelwechsel)<br />

<strong>Ein</strong> anderes Zimmer im Schlosse (Möbelwechsel)<br />

<strong>Ein</strong> anderes Zimmer im Schlosse (weiterer Möbelwechsel)<br />

<strong>Ein</strong>e Ebene in Dänemark (Deko 4, Umbau 5)<br />

Helsingör, ein Zimmer im Schlosse (wie Deko 2, andere Möbel, Umbau 6)<br />

<strong>Ein</strong> anderes Zimmer im Schlosse (Möbelwechsel)<br />

ein anderes Zimmer im Schlosse (Möbelwechsel)<br />

5. Akt<br />

<strong>Ein</strong> Kirchhof (Deko 5, Umbau 7)<br />

<strong>Ein</strong> Saal im Schlosse (wie Deko 2, andere Möbel, Umbau 8)<br />

Bernd Gallob


Maske02/52_2006_004 23.11.2006 6:30 Uhr Seite 77<br />

<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>. <strong>Ein</strong> <strong>Epiker</strong> <strong>auf</strong> <strong>Abwegen</strong>. <strong>Theater</strong> <strong>und</strong> Film 77<br />

Shakespeare schreibt viele Auftritte in eine gerade abl<strong>auf</strong>ende Szene. Er verwebt mit<br />

dieser Schreibtechnik die einzelnen Personen, Charaktere <strong>und</strong> Handlungen genial zu<br />

einem großartigen Ganzen. Das Stück erhält damit seinen theatralischen Rhythmus,<br />

viele Szenen dauern sehr lange, wodurch auch die bühnenadäquate <strong>Ein</strong>heit des Ortes<br />

gewahrt wird.<br />

Hamlet hat fünf Akte, vier Pausen <strong>und</strong> neunzehn Szenen. Dafür benötigt das<br />

<strong>Theater</strong> fünf Dekorationen bei acht Umbauten. Mit den im Rollenverzeichnis Shakespeares<br />

angeführten „mehreren Schauspielern“ etwa 25 Schauspieler, davon zwei<br />

weibliche Rollen.<br />

Spielplankonsequenzen<br />

<strong>Broch</strong>s zweites <strong>Theater</strong>stück Aus der Luft gegriffen oder die Geschäfte des Baron<br />

Laborde, ist eine Hochstaplerkomödie. Es ist, wie auch sein drittes Stück, dem entbehrlichen<br />

Schwank mit Musik „Es bleibt alles beim Alten“, wieder im Milieu von<br />

UnternehmerInnen, d.h. Bourgeois, Citoyens <strong>und</strong> Gamblern angesiedelt.<br />

Beim Schreiben des Baron Laborde berücksichtigt <strong>Broch</strong> ganz offensichtlich<br />

seine Probenerfahrungen, die er anlässlich der Züricher Ur<strong>auf</strong>führung der „Entsühnung“,<br />

dort unter dem Titel „… denn sie wissen nicht, was sie tun“ gespielt<br />

(Regie: der Brecht-Spezialist Gustav Hartung), gemacht hat. Hätte <strong>Broch</strong> konsequent<br />

für das <strong>Theater</strong> in einem Team von erstrangigen Künstlerinnen <strong>und</strong> Künstlern<br />

weiter gearbeitet, er hätte zweifellos ein wichtiger Bühnenautor werden können.<br />

Auch wenn festzustellen ist, dass sein letztes Stück, der erwähnte Schwank mit<br />

Musik, zu Recht noch nie <strong>und</strong> nirgends gespielt worden ist. Das passiert auch den<br />

besten Autoren.<br />

Baron Laborde schnurrt ab wie ein guter Feydeau. 44 Das Stück hat Witz, Ironie,<br />

Kraft, gute Rollen <strong>und</strong> wird noch seinen Weg machen. Für den Laborde benötigt<br />

man 12 Personen <strong>und</strong> er spielt in einem Hotel mit wenigen kleinen Umbauten. Doch<br />

hat sich <strong>Broch</strong> mit seiner Entsühnung <strong>und</strong> den wohl damit verknüpften verbalen<br />

Begleitumständen sichtlich aus den Wiener Dramaturgie- <strong>und</strong> Direktionsetagen<br />

hinauskatapultiert. Ab 1933 stand er bei der Deutschen Reichstheaterkammer des<br />

Naziregimes zweifellos <strong>auf</strong> deren Index.<br />

Aber <strong>auf</strong> Wien bezogen: keineswegs stand das Deutsche Volkstheater 1932 vor<br />

der Schließung (siehe Zitat zur Fußnote 19) , auch wenn es das <strong>Broch</strong>-Drama Die<br />

Entsühnung weder spielen konnte noch wollte. 1932 war 45 Dr. Rudolf Beer Direktor.<br />

44 Der Verfasser korrespondierte <strong>und</strong> diskutierte zur Frage der Genrebezeichnung des „Laborde“ mit<br />

dem in Paris lebenden <strong>Theater</strong>stückeübersetzer Heinz Schwarzinger <strong>und</strong> übernimmt dessen<br />

kompetente Aussage, dass es sich – da deutschsprachig geschrieben – um eine „Groteske“ handelt.<br />

45 Die Angaben stammen aus Deutsches Bühnenjahrbuch 1932, Berlin: Genossenschaft der Deutschen<br />

Bühnenangehörigen, 1932 bzw. aus Deutsches Bühnenjahrbuch 1934, Berlin 1934. [In diesen


Maske02/52_2006_004 23.11.2006 6:30 Uhr Seite 78<br />

78<br />

Bernd Gallob<br />

1934 nahmen Rolf Jahn <strong>und</strong> Hans Josef Jarno diese Position ein. Chefdramaturg war<br />

in beiden angeführten Jahren der große Humanist <strong>und</strong> Mitstreiter des Friedensnobelpreisträgers<br />

Erich Fried, Heinrich Glücksmann. 1932 waren 41 Herren (1934<br />

noch immer 24) <strong>und</strong> 24 Damen (1934: 13) engagiert. Neben dieser Erwähnung des<br />

Volkstheaters (er muss es wohl dort angeboten haben) schreibt <strong>Broch</strong> auch im<br />

Februar 1934, also vor der Züricher Aufführung 46 , dass „Die Entsühnung“ im<br />

Raim<strong>und</strong>theater <strong>auf</strong>geführt werden solle. <strong>Broch</strong> scheint, sein 1933 verfasster (oben<br />

schon erwähnter) Brief die angeblich bevorstehende Schließung des Deutschen<br />

Volkstheaters deutet dar<strong>auf</strong> hin, die beiden Bühnen zu verwechseln. Was nicht so<br />

verw<strong>und</strong>erlich ist, wie es <strong>auf</strong> den ersten Blick erscheint.<br />

Im Deutschen Bühnenjahrbuch von 1934 steht (es werden in diesen Jahrbüchern<br />

immer die Verhältnisse des Vorjahres, diesfalls bis 30. September 1933, wieder gegeben)<br />

unter „Raim<strong>und</strong>theater“ vermerkt: „Personalverzeichnis bis zur Drucklegung<br />

nicht eingegangen.“ 47 Die Direktoren Rudolf Beer <strong>und</strong> Rolf Jarno waren gleichermaßen<br />

Leiter des Deutschen Volkstheaters <strong>und</strong> des Raim<strong>und</strong>theaters. „Ende Mai<br />

1933 legte Rolf Jahn seinen Posten zurück, das <strong>Theater</strong> mußte gesperrt werden.“ 48<br />

1934 versuchte der eben erwähnte Dramaturg des Volkstheaters, Glücksmann,<br />

dem Raim<strong>und</strong>theater zur Wiedereröffnung zu verhelfen. <strong>Broch</strong> hatte es also mit<br />

Gesprächspartnern zu tun, die in der zur Frage stehenden Zeit e Doppelfunktionen<br />

im Volks- <strong>und</strong> im Raim<strong>und</strong>theater innehatten.<br />

Direktoren des Wiener <strong>Theater</strong>s in der Josefstadt waren 1932 Max Reinhardt,<br />

1934 Max Reinhardt zusammen mit Otto Preminger. Beide lehnten es ab, den<br />

„Laborde“ <strong>auf</strong> den Spielplan zu nehmen. 49 Burgtheaterdirektor war 1932 Anton<br />

Wildgans, 1934 <strong>Hermann</strong> Röbbeling. Über Bemühungen, dort seine Stücke zu<br />

platzieren, ist nichts dokumentarisch nachweisbar.<br />

Die Münchner Kammerspiele leitete in beiden angeführten Jahren der berühmte<br />

Otto Falckenberg. <strong>Hermann</strong> Röbbeling war 1932 Direktor der Vereinigten Schauspielbühnen<br />

in Hamburg (ehe er 1933 nach Wien abwanderte), das Deutsche Schauspielhaus<br />

in Hamburg wurde 1934 von Karl Wüstenhagen geleitet, Intendant der<br />

Preußischen Staatstheater Berlin war Heinz Tietjen, dessen ständige Grabenkriege<br />

gegen die Nazibonzen <strong>und</strong> ihre <strong>Ein</strong>mischungen (insbesondere bei den Bayreuther<br />

Festspielen) Brigitte Hamann sehr detailliert dokumentiert hat. 50<br />

Politische oder gar rassistische Gründe für die Ablehnung <strong>Hermann</strong> Bochs sind<br />

in Wien sowohl 1932 wie auch 1934 auszuschließen. Das gilt nicht für Deutschland<br />

Bühnenjahrbüchern wurden <strong>und</strong> sind die wichtigsten Informationen über alle <strong>Theater</strong> in Deutschland,<br />

Österreich <strong>und</strong> der Schweiz zusammengefasst. Der Verfasser]<br />

46 „Briefe 1“, S. 280 f.<br />

47 Deutsches Bühnenjahrbuch 1934, S. 575.<br />

48 Maria Kinz, Raim<strong>und</strong>theater, Wien: Jugend <strong>und</strong> Volk, 1985, S. 57.<br />

49 <strong>Broch</strong> scheint das bis an ein Lebensende nicht wirklich verw<strong>und</strong>en zu haben. Seine Studie<br />

„Hofmannsthal <strong>und</strong> seine Zeit“ von 1947/48 ist auch eine grimmige Abrechnung mit Max Reinhardt.<br />

50 Brigitte Haman, Winifred Wagner oder Hitlers Bayreuth, München: Piper, 2002.


Maske02/52_2006_004 23.11.2006 6:30 Uhr Seite 79<br />

<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>. <strong>Ein</strong> <strong>Epiker</strong> <strong>auf</strong> <strong>Abwegen</strong>. <strong>Theater</strong> <strong>und</strong> Film 79<br />

nach 1933, dem Jahr der Machtergreifung durch die NSDAP. Max Reinhardt, Otto<br />

Preminger, die <strong>Broch</strong>s „Laborde“ für die Josefstadt abgelehnt hatten, <strong>und</strong> Heinrich<br />

Glücksmann mussten, wie <strong>Broch</strong> auch, emigrieren, um nicht ermordet zu werden,<br />

Rudolf Beer nahm sich 1938 nach Misshandlungen durch die SA das Leben. 51<br />

Der <strong>Theater</strong>abteilung des Suhrkamp Verlags, Frau Müller, verdankt der Verfasser<br />

einen Überblick über Zahl <strong>und</strong> Orte der Bühneninszenierungen von <strong>Broch</strong>s Werken,<br />

wobei Ernst Schönwieses Hörspielfassung <strong>und</strong> -inszenierung nicht angeführt ist,<br />

auch nicht die Burgtheatermatinee vom 11. März 1979 „<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>, ,… denn<br />

sie wissen nicht, was sie tun“. Prosa, Briefe <strong>und</strong> Szenen aus den 30er Jahren.<br />

Szenische Gestaltung: Georg Soulek, M: Kurt Werner mit Bißmeier, Pluhar, Muliar,<br />

Gasser, P. Hoffmann, Schossmann, Wagener, Gabriele Schuchter, Zeller, Meyer.“ 52<br />

Wie dem auch sei: Neben der Ur<strong>auf</strong>führung der „Entsühnung“ unter dem Titel<br />

„… denn sie wissen nicht, was sie tun“ vom 15. März 1934 in Zürich gab es noch am<br />

3. Juni 1982 die DEA im Stadttheater Osnabrück <strong>und</strong> eine zweite Inszenierung am<br />

Züricher Schauspielhaus am 9. April 1994.<br />

Die Geschäfte des Baron Laborde wurden am 6. Oktober 1981 an den Städtischen<br />

Bühnen Osnabrück ur<strong>auf</strong>geführt. Weitere Inszenierungen: Burgtheater/Akademietheater<br />

in der Saison 1982/83, 1984/85 Tournee des Tourneetheaters Landgraf,<br />

1984/85 Bonn, Kammerspiele, 1986/87 Berlin, Schiller <strong>Theater</strong>, 1989/90 Bern, Stadttheater,<br />

Oktober 1999 Wien, Spielraum. Diese Groteske wird noch ihren Weg<br />

machen.<br />

<strong>Broch</strong>s Schwank mit Musik Es bleibt alles beim Alten wurde nie <strong>auf</strong>geführt. Was der<br />

Verfasser nicht noch einmal kommentieren wird.<br />

Wie eine kontinuierliche <strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong> Pflege <strong>auf</strong> dem <strong>Theater</strong> aussehen könnte,<br />

deutet die nur <strong>auf</strong> den ersten Blick erstaunliche Tatsache an, dass Suhrkamp für<br />

die Bearbeitung von Die Erzählung der Magd Zerline inklusive Verlängerungen ab<br />

1982 r<strong>und</strong> 65 Aufführungsverträge allein in Deutschland, Österreich <strong>und</strong> der<br />

Schweiz abgeschlossen hat. Darüber hinaus ist die Magd Zerline in andere Sprachen<br />

übersetzt <strong>und</strong> prominent präsentiert worden. z. B. bei einer Tournee des Theatre<br />

National Populaire 1987 mit Jeanne Moreau.<br />

Das Erfolgsprinzip der Bearbeitung von <strong>Broch</strong>-Stoffen durch speziell für das<br />

<strong>Theater</strong> bzw. den Film/TV prädestinierte Autoren wäre ausb<strong>auf</strong>ähig. Als Vorgriff <strong>auf</strong><br />

das Kapitel Film nur so viel: Thomas Zeipelt vom Suhrkamp Verlag verdankt der<br />

Verfasser sachgerechte Informationen die Filmrechte betreffend. Wiederum: Die<br />

Magd Zerline wurde 1991 vom Bayrischen Fernsehen produziert, 1994 vom Schwedischen<br />

Fernsehen als Produktion des Königlichen <strong>Theater</strong>s, 1999 vom Polnischen TV,<br />

auch als Übertragung aus dem <strong>Theater</strong>, mit dem britischen Fernsehen l<strong>auf</strong>en Ver-<br />

51 Siehe: Handbuch des deutschsprachigen Exiltheaters, Band 2: Biographisches Lexikon der <strong>Theater</strong>künstler,<br />

München: Saur, 1999.<br />

52 Burgtheater Wien 1776–1986, Österreichischer B<strong>und</strong>estheaterverband, 1986, S. 247.


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80<br />

handlungen, es ist (Mai 2003) noch nicht klar, ob diese Verhandlungen zu einem<br />

Ergebnis führen werden. 1979 wurde die Co-Produktion von ARD <strong>und</strong> ORF Esch<br />

oder die Anarchie erstmals ausgestrahlt. Und damit erstmals eine rein filmische<br />

Bearbeitung eines <strong>Broch</strong>-Stoffes. 53<br />

Resümee<br />

Bernd Gallob<br />

<strong>Broch</strong>s Gesamtwerk wäre für Bühne, Film <strong>und</strong> TV interessant, wenn es von sensiblen<br />

DramaturgInnen oder AutorInnen bearbeitet würde. Wie das Beispiel der Magd<br />

Zerline belegt. Auch „Die Entsühnung“ könnte bei konsequenter Rekonkretisierung<br />

(sprich: Repolitisierung) für TV, Film oder die Bühne interessant gemacht werden. 54<br />

Dies entspräche dem Willen <strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>s, wie das folgende Zitat zur „Entsühnung“<br />

belegt: „Schönwiese hat dieses Stück später bearbeitet, die Szenenfolge<br />

verändert, gekürzt <strong>und</strong> gelegentlich auch in den Text eingegriffen <strong>und</strong> es am 30. Mai<br />

1961 in Wien als Hörspiel zur Ur<strong>auf</strong>führung gebracht. Diese Fassung wurde mit dem<br />

Titel Die Entsühnung veröffentlicht. Beides geschah zweifelsohne gegen den Willen<br />

<strong>Broch</strong>s, der später die Schwächen des Stücks einsah. 1949 schrieb er: ‚Was das Stück<br />

anlangt, so müssen Sie mir glauben: es ist ein weicher Schmarrn <strong>und</strong> man kann auch<br />

einfach Dreck sagen … Wollte man die ‚Entsühnung‘ heute wieder hervorholen, ich<br />

müßte sie von Gr<strong>und</strong> <strong>auf</strong> umarbeiten‘. Auch als sich kurz vor seinem Tod die Möglichkeit<br />

bot, das Stück erneut <strong>auf</strong>zuführen, blieb er unerbittlich. ‚An der Verschweigung<br />

des Dramas möchte ich aber festhalten. Technische Geschicklichkeit ist noch<br />

keine Kunst, <strong>und</strong> ein Drama, das dem Publikum keine neue Botschaft vermittelt, ist<br />

Cliché, also ein Schmarrn. Zwei deutsche Bühnen wollten es jetzt bringen, ich habe<br />

die Aufführung inhibiert. (Br 18. 1.49, uv <strong>und</strong> Br. 14.10.50, uv).“ 55<br />

Bemerkenswert ist, dass er sich bei aller Selbstdenunziation für sein erstes Stück<br />

doch technische Geschicklichkeit attestiert hat.<br />

53 <strong>Broch</strong> ist daran nicht ganz unschuldig, hat er es doch verabsäumt, sich – wie beim <strong>Theater</strong> – auch beim<br />

Film zu professionalisieren. Hätte er das getan <strong>und</strong> gewollt (!), wäre aus ihm mit einer an Sicherheit<br />

grenzender Wahrscheinlichkeit ein guter Script-Schreiber geworden.<br />

54 Peter Turrini hat mit seinem „Tollsten Tag“ bewiesen, dass auch drastische <strong>Ein</strong>griffe in eine Vorlage<br />

erfolgreich sein können, wobei es sich zugegebenermaßen beim Original Beaumarchais’ um eine<br />

brillante Vorlage handelt.<br />

55 Manfred Durzak, <strong>Broch</strong>, Reinbeck: Rowohlt, 1966, 91 f.


Maske02/52_2006_004 23.11.2006 6:30 Uhr Seite 81<br />

<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>. <strong>Ein</strong> <strong>Epiker</strong> <strong>auf</strong> <strong>Abwegen</strong>. <strong>Theater</strong> <strong>und</strong> Film 81<br />

<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong> – Film<br />

Die dürftige theaterrelevante Quellenlage hat schon bei der Bewertung des <strong>Theater</strong>autors<br />

<strong>Broch</strong> <strong>auf</strong>wendige Recherchen bedingt. Noch <strong>auf</strong>wendiger war die Recherche<br />

für eine halbwegs f<strong>und</strong>ierte Beurteilung <strong>Broch</strong>s als Drehbuchautor bzw. seines<br />

Zugangs zu Film <strong>und</strong> Kino.<br />

Aus dem umfangreichen Literaturf<strong>und</strong>us der Arbeiten über <strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong> hat<br />

der Verfasser einzig Manfred Durzaks Aufsatz „<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong> <strong>und</strong> der Film 56<br />

gef<strong>und</strong>en, wo diese Fragestellung explizit thematisiert wurde.<br />

Vieles in Durzaks Arbeit ist Spekulation. „Die erste filmische Arbeit scheint aus<br />

dem Jahr 1917/18 zu stammen … Aus <strong>Broch</strong>s Frühzeit stammt offensichtlich<br />

[Unterstreichungen vom Verfasser] auch eine andere Drehbuchskizze: ‚Der Steinerne<br />

Gast (<strong>Ein</strong> Don-Juan-Film)‘. Ausgeführt sind nur zwei Szenen.<br />

Völlig unklar bleibt im Gr<strong>und</strong> auch, ob <strong>und</strong> wie häufig <strong>Broch</strong> Kinogeher war. Aus<br />

seinen Briefen geht für die Zeit von 1932 bis 1935 darüber nichts hervor. Sein<br />

Lebensrhythmus <strong>und</strong> sein häufig beschriebenes Arbeitsleid beim nächtelangen<br />

Schreiben sprechen nicht für häufigen Kinobesuch in Teesdorf oder Wien. Obzwar<br />

in Teesdorf seit 1919 ein Kino am Hauptplatz existiert hat. 57<br />

Dass die Warner Bros. 1932 mit <strong>Broch</strong> über eine Verfilmung der Schlafwandler<br />

verhandelt hat, ist vielfach dokumentiert, auch von <strong>Broch</strong> selbst in seinen Briefen.<br />

Vicky Baum, die ehemalige Harfenistin aus dem Deutschen Volkstheater <strong>und</strong> Mitglied<br />

der Café-Herrenhof-R<strong>und</strong>en, hatte der MGM die Filmrechte ihres Romans<br />

„Menschen im Hotel“ gegen ein gutes Honorar verk<strong>auf</strong>en können. Der Film wurde<br />

bekanntlich zu einem Sensationswelterfolg, <strong>und</strong> Gina Kaus wiederum hat der<br />

Paramount (auch 1932) die Rechte für ihre „Überfahrt“ um die damals riesige<br />

Summe von 15.000 Dollar verk<strong>auf</strong>t. 58<br />

Das musste <strong>Broch</strong> elektrisieren <strong>und</strong> motivieren, um es neutral auszudrücken.<br />

Durzak beschreibt <strong>Broch</strong>s Versuche, mit Hilfe des Reinhardt- <strong>und</strong> Stanislawsky-Schülers<br />

Alexander Granowsky 59 nicht nur als Filmstoff-Lieferant (den zitierten Schlafwandler),<br />

sondern auch als Drehbuchautor „mitzuspielen“ sowie auch als Film-Bearbeiter<br />

von Joyce’ „Ulysses“. Alle Pläne zerschlugen sich, wie es sein Verleger Brody <strong>Broch</strong><br />

prophezeite, sollte er (<strong>Broch</strong>) auch nur ein einziges eigenes Filmexposé machen. 60 Und<br />

<strong>Broch</strong> schrieb hingegen gleich ein ganzes Drehbuch, ohne es gelernt zu haben.<br />

Ende 1933/Anfang 1934, so seine Mitteilung an Berthold Viertel, <strong>Broch</strong> 61 arbeitete<br />

er mit dem „Photografen Husnik“ 62 an einem großen englisch-österreichischen<br />

56 Manfred Durzak, „<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong> <strong>und</strong> der Film“ in Der Monat, Heft 212, Mai 1966, Berlin, S. 68 ff.<br />

57 Harry Nestor, Österreichischer Film-Almanach, Wien, 1956, S. 174.<br />

58 Gina Kaus, a.a.O., S. 149.<br />

59 Manfred Durzak, in Der Monat, S. 71.<br />

60 Ebda, S. 71.<br />

61 <strong>Broch</strong>-Briefe 1, S. 270 ff.<br />

62 Dieser Brief vom 10. Jänner 1934 <strong>und</strong> die editorische Fußnote dazu, <strong>Broch</strong> hätte Kurt Husnik „durch


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82<br />

Bernd Gallob<br />

Filmprojekt <strong>und</strong> schrieb 1935 63 das Drehbuch (= Script) 64 zum wissenschaftlichen<br />

Film „Das unbekannte X – Der Film einer physikalischen Theorie (unter Anlehnung<br />

an den Roman Die unbekannte Größe“, das die Paramount sehr rasch ablehnte. 65 Die<br />

Paramount war aus ihrer damaligen Produktionsgeschichte sicher ein Hoffnungsträger<br />

für <strong>Broch</strong> gewesen „In den 30er Jahren war Paramount besonders für seinen<br />

europäischen Stil bekannt – durch Filme von Sternberg <strong>und</strong> Lubitsch. Der Star, der<br />

die luxuriösen Inszenierungen der Paramount verkörperte, war Marlene Dietrich –<br />

die Metropolitan Lady des klassischen Kinos.“ 66<br />

Doch <strong>Broch</strong> verkannte das amerikanische Filmbusiness wohl völlig. Im Gr<strong>und</strong>e<br />

wollte er mit der Verfilmung primär den Romanerfolg verstärken <strong>und</strong> – wieder<br />

einmal als Anfänger – die Filmwelt aus den Angeln heben: „ <strong>Broch</strong> hat seinerseits<br />

versucht – schon um der finanziellen Misere zu entgehen – den Erfolg der ‚Unbekannten<br />

Größe‘ auszuwerten <strong>und</strong> hat im Frühjahr 1934 ein Drehbuch nach einem<br />

Roman geschrieben: ‚Das unbekannte X‘. Bereits mit seinem ersten Drama hatte<br />

<strong>Broch</strong> ein neues <strong>Theater</strong> gründen wollen <strong>und</strong> ähnlich hochgespannte Erwartungen<br />

verband er auch mit diesem geplanten Film. In einer ‚Vorbemerkung‘ zu dem Drehbuch<br />

heißt es: Dieser Film sei paradigmatisch gewertet: er kann <strong>und</strong> soll zum<br />

Ausgangspunkt einer ganzen Serie wissenschaftlicher Filme werden. 67<br />

<strong>Broch</strong> führt in seinen Briefen an, dass ihn René Fülöp-Miller beim Drehbuch als<br />

Mitarbeiter <strong>und</strong> Stefan Zweig gesprächsweise unterstützt hätten. Beide werden als<br />

„Argumente“ beim Verleger der Viking Press, B. W. Huebsch, angeführt (der 1940<br />

<strong>Broch</strong>s „Vergil“ ablehnte 68 ).<br />

Nur: Fülöp-Miller hat sich intensiv mit Russischer Literatur auseinander gesetzt,<br />

als Drehbuchautor ist er ein unbeschriebenes Blatt – <strong>und</strong> ob Stefan Zweig seinen<br />

Konkurrenten <strong>Broch</strong> so reinen Herzens unterstützte, wie <strong>Broch</strong> das sichtlich<br />

glaubte, fragt sich der kritische Beobachter, wenn Stefan Zweigs allseits bekannt<br />

gewesener Zusatzname „Erwerbszweig“ in die Überlegungen einbezogen wird. Oder<br />

wenn bedacht wird, dass Stefan Zweigs Filmografie 39 verfilmte Stoffe von ihm<br />

ausweist, bis 1935 bereits 10 69 , zu denen er niemals das Drehbuch selbst geschrieben<br />

hat. Welche Philosophie sollte es auch haben, für amerikanische Produktionen in<br />

Deutscher Sprache Drehbücher zu schreiben.<br />

seinen Sohn kennengelernt“ (eine Quelle dieser editorischen Fußnote wird nicht zitiert), waren die<br />

einzigen bisher bekannt gewesenen Hinweise <strong>auf</strong> Kurt Husnik.<br />

63 <strong>Broch</strong>-Briefe 1, S. 341 ff.<br />

64 Drehbuch <strong>und</strong> Script sind Synonyma.<br />

65 <strong>Broch</strong> „Die Unbekannte Größe“, a.a.O., S. 259<br />

66 Reclams Sachlexikon des Films, Stuttgart: Reclam, 2002, S. 438.<br />

67 Manfred Durzak „<strong>Broch</strong>“, a.a.O., S. 96; Die unbekannte Größe, S. 250 f.<br />

68 Manfred Durzak, Manfred „<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong> – Dichtung <strong>und</strong> Erkenntnis“, W. Kohlhammer, Stuttgart,<br />

1978, S. 85.<br />

69 Zitiert aus der Internet-Filmdatenbank: „german.imdb.com/Name?Zweig,+Stefan“


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<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>. <strong>Ein</strong> <strong>Epiker</strong> <strong>auf</strong> <strong>Abwegen</strong>. <strong>Theater</strong> <strong>und</strong> Film 83<br />

Was bewegte also den intelligenten <strong>und</strong> gebildeten Menschen-Künstler <strong>Broch</strong>, an<br />

den Erfolg wissenschaftlicher Filme <strong>und</strong> an eine Realisierung durch die Paramount<br />

zu glauben? Alle bekannten Informationen <strong>und</strong> Daten sprechen gegen diesen Traum,<br />

gegen diese Hoffnung. Die Gründung der Gemeinde-Wien-eigenen KIBA im Jahr<br />

1932 erfolgte – um den zeitlichen Kontext auch für Wien zu beleuchten – deshalb,<br />

weil der volksbildnerisch als wertvoll erachtete, teils Wissenschaftsthemen abhandelnde<br />

Film, kommerziell völlig erfolglos blieb. Nach der Umstellung <strong>auf</strong> Tonfilm in<br />

den Jahren 1929 <strong>und</strong> 1930 schon überhaupt. Der Wiener Finanzstadtrat Hugo Breitner<br />

verdiente, wie viele humanitäre Organisationen auch, mit kommerziellen Spielfilmen<br />

in diesen Jahren viel Geld, gegen den wütenden Protest der Lehrer <strong>und</strong><br />

Bildungsbeflissenen in allen Parteien.<br />

Als Drehbuch ist die vorliegende Fassung <strong>Broch</strong>s eine – wie die Drehbuchautoren<br />

sagen würden, überaus geschwätzige (manche Monologe ziehen sich über<br />

Seiten), optisch nicht <strong>auf</strong>gelöste, mäßig witzige Abrechnung mit dem aggressiven,<br />

teils deutschnationalistischen, idiotischen <strong>und</strong> biers<strong>auf</strong>enden Klein- <strong>und</strong> Spießbürgertum.<br />

Dabei nimmt er besonders den so genannten „ges<strong>und</strong>en Menschenverstand“<br />

<strong>und</strong> die Universität Wien mit ihren Lehrern, dem administrativen Personal<br />

<strong>und</strong> den Studierenden <strong>auf</strong>s Korn. Vermittelt werden soll die Richtigkeit der<br />

<strong>Ein</strong>stein’schen Relativitätstheorie, boshaft <strong>und</strong> dümmlich von einer Reihe bornierter<br />

<strong>und</strong> hinterhältiger Wiener Professoren der Universität <strong>und</strong> der Akademie der<br />

Wissenschaften verunglimpft.<br />

<strong>Broch</strong> hat in den Jahren zwischen 1925 <strong>und</strong> 1930 an der Universität Wien Philosophie,<br />

Physik <strong>und</strong> Mathematik studiert <strong>und</strong> ist (siehe das Dubrovic-Zitat zur Fußnote<br />

9) beim Latinum durchgefallen, was ihn sichtlich so empört, <strong>auf</strong>gebracht <strong>und</strong><br />

verw<strong>und</strong>et hat, dass er zur Wiederholungsprüfung nicht antrat. Er hörte u. a. bei<br />

Moritz Schlick, Rudolf Carnap, Hans Thirring, Hans Hahn <strong>und</strong> war mit Karl Bühler<br />

befre<strong>und</strong>et. 70<br />

Viele Entwicklungen an der Universität Wien in diesen Jahren wären es wert,<br />

ernsthaft kritisiert zu werden. Die Mathematik, Philosophie <strong>und</strong> Physik – die<br />

genannten Personen sind ein starkes Indiz dafür – waren für die von <strong>Broch</strong> gewählte<br />

Form der Verblödelung nicht geeignet. Da war wohl noch die Emotion wegen des<br />

nicht bestandenen Latinums eher Motiv für den R<strong>und</strong>umschlag als die historische<br />

Richtigkeit. Den kosmischen Spießer („Das unbekannte X“) hat es unter den<br />

genannten Personen <strong>und</strong> deren persönlichem Umfeld wohl nicht gegeben.<br />

70 Paul Michael Lützeler, <strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong> – <strong>Ein</strong>e Biographie, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1985, S. 388.


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84<br />

Wider den „ges<strong>und</strong>en Menschenverstand“<br />

„Das unbekannte X“<br />

Bernd Gallob<br />

<strong>Broch</strong> hat mit seinem Drehbuch eine wirre Mischung von Fiktion, wissenschaftlicher<br />

Zielsetzung, dokumentarisch gemeinten Elementen, scharfem Sarkasmus, Hohn,<br />

Spott <strong>und</strong> Verachtung zusammengeschrieben. Bestenfalls sind die Themen in der von<br />

<strong>Broch</strong> gewählten Form der Verblödelung, wie auch bei seinem 3. <strong>Theater</strong>stück, dem<br />

Schwank, für Wiener Insider von gewissem Tratsch-Interesse gewesen. <strong>Broch</strong> hielt<br />

das offensichtlich für den Inbegriff des Populären, ein Irrtum, den er offensichtlich<br />

einsah als er im Oktober 1935 den Zugeständnissen ans Populäre abschwor.<br />

Die Thematisierung <strong>und</strong> Verhöhnung des „ges<strong>und</strong>en Menschenverstandes“<br />

gerade im Kontext von Physik <strong>und</strong> Mathematik, so genannten exakten Wissenschaften,<br />

ist als tragendes Handlungselement nicht logisch oder einsichtig. <strong>Broch</strong> begeht<br />

damit eine branchenwidrige „Drehbuch-Todsünde“. Weil weder die Handlung noch<br />

die handelnden Personen im Kontext exakte Wissenschaft (Mathematik, Physik) <strong>und</strong><br />

Philosophie „glaubwürdig“ sind. Auch was <strong>Broch</strong> als Popularisierungsstrategie für<br />

ein wissenschaftliches Thema angelegt hat, die zitierte Verblödelung, entzog der<br />

Handlung noch zusätzlich die Glaubwürdigkeit. 71<br />

Die Verhöhnung des „ges<strong>und</strong>en Menschenverstandes“ ist geistesgeschichtlich<br />

<strong>auf</strong>schlussreich. Friedrich Heer zitiert in seinem bemerkenswerten Buch „Der<br />

Kampf um die österreichische Identität“ Franz Grillparzer „Wir haben bewahrt, was<br />

unsere Nachbarn durch falsche Gründlichkeit zum Teil verloren: ein warmes Herz,<br />

einen offen Sinn <strong>und</strong> Natürlichkeit“. 72 Friedrich Heer führt weiter aus: „Diese<br />

Bürgerkultur, diese Volkskultur ist nicht intellektualistisch, sie scheut vor allem<br />

Ideologischen zurück: vor den jungdeutschen Schwärmern, vor den deutschen<br />

Konvertiten, die in Wien römisch-katholisch missionieren. Diese Biedermeierkultur<br />

ist gemäßigt josephinisch, sie hält sehr viel von ihrem ‚ges<strong>und</strong>en Menschenverstand‘,<br />

sie besitzt psychologisches Wissen um die immer gefährliche Neigung des<br />

Menschen, in Maßlosigkeit, Wahnsinn <strong>und</strong> Brutalität zu verfallen. Sie weiß um ‚die<br />

Nachtseiten der Natur‘, des Menschen, will diese aber nicht im Wort artikulieren;<br />

deshalb die überwältigende Bedeutung der Musik.“ 73<br />

Heer analysiert die Situation bestechend <strong>und</strong> stringent: Als Kunstformen <strong>und</strong><br />

Künstler zur seelischen Bewältigung dieser dunklen Seiten des Menschen bezeichnet<br />

er – wie gerade zitiert – die Musik <strong>und</strong> auch das Wiener Volkstheater, von Stranitzky<br />

71 William Goldman, der Doyen der Oscar-gekrönten Drehbuchautoren, hat in seinem Buch „Wer hat<br />

da gelogen“ sehr schlüssig dar<strong>auf</strong> verwiesen, dass es beim Drehbuch zum Spielfilm gar nicht um die<br />

reale Wahrheit der Story geht, sie muss aber glaubhaft erscheinen. Anders ist die Situation beim<br />

Dokumentarfilm.<br />

72 Friedrich Heer, Der Kampf um die österreichische Identität, Wien: Böhlau, 1981, S. 187.<br />

73 Ebda, S. 187.


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<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>. <strong>Ein</strong> <strong>Epiker</strong> <strong>auf</strong> <strong>Abwegen</strong>. <strong>Theater</strong> <strong>und</strong> Film 85<br />

bis Raim<strong>und</strong>. Schubert ist nach Heers Analyse ein paradigmatischer Fall, ein<br />

„dunkles, seelisch bedrängtes Genie.“ 74 Für die moderne Schubert-Rezeption <strong>und</strong><br />

–Interpretation sind diese dunklen Seiten des Komponisten der „Unvollendeten“<br />

oder des genialen Liederzyklus’ Die Winterreise ein künstlerisches Allgemeingut.<br />

<strong>Broch</strong>, wie sein Lehrer David Bach, wie Viktor Adler <strong>und</strong> viele jüdische Humanisten<br />

bzw. Altruisten dieser Zeit, war Wagnerianer. Schubert verkennt er aus derselben<br />

geisteswissenschaftlich ableitbaren Logik heraus wie „den ges<strong>und</strong>en Menschenverstand“,<br />

noch dazu mit <strong>auf</strong>fälliger Häme: „Nach dem Nachtmahl hat mein<br />

Bruder Schubert gespielt, um ihn <strong>auf</strong> Foxtrotts [sic!] umzuarbeiten. Er verdient es<br />

nicht besser: die ganze Wiener Operettenmusik ist bereits in ihm enthalten. Ich weiß<br />

auch, was schlecht an Schubert ist … Überhaupt ist Musikalität eine prekäre Sache –<br />

Musik ist die einzige Kunst, in der Rezeptivität einen positiven Wert darstellen soll,<br />

was es natürlich nicht ist.“ 75<br />

Die Geschichte der Familie Wagner, Bayreuths in ihrer Verstrickung mit Adolf<br />

Hitler <strong>und</strong> dem Nationalsozialismus, Brigitte Hamann (siehe oben) <strong>und</strong> eben erst<br />

Gottfried Wagner haben ausführlich dazu publiziert, decouvrieren den tragischen Irrtum<br />

der vielen jüdischen Wagnerianer, auch <strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>s. Künstlerisch kommt<br />

die zitierte Denunziation Schuberts einer Selbstbeschädigung schon sehr nahe.<br />

Es fehlte <strong>Broch</strong> bei der Musik die Wissenschaftlichkeit, das drückte er im<br />

zitierten Brief zusätzlich aus. Was ihn als Musik-Laien decouvriert. Joseph Haydn<br />

hat Leopold Mozart gegenüber von Wolfgang Amadeus’ Perfektion in der Kompositionswissenschaft<br />

geschwärmt <strong>und</strong> Arnold Schönbergs 12-Ton-Musik baut <strong>auf</strong><br />

ein mathematisches Modell <strong>auf</strong>. Mathematisch-wissenschaftlich ist schon die<br />

Kontrapunktik im spätmittelalterlichen Gregorianischen Gesang, nebenbei gesagt,<br />

wie auch die klassische Harmonielehre.<br />

Aber all diese Wege <strong>und</strong> Irrwege eines genialen <strong>Epiker</strong>s <strong>und</strong> Humanisten erklären<br />

nicht, was ihn bewog, an den Erfolg von wissenschaftlichen Spielfilmen zu glauben.<br />

Das konnte bisher auch nicht ansatzweise entschlüsselt werden.<br />

Kurt Husnik<br />

<strong>Ein</strong>er Intuition folgend forschte der Verfasser nach der einzigen von <strong>Broch</strong> im<br />

Kontext Film erwähnten <strong>und</strong> in der Literaturgeschichte bisher nicht entschlüsselten<br />

Persönlichkeit, nach jenem Partner, den <strong>Broch</strong> 1934 bei der geplanten englischösterreichischen<br />

Großproduktion gegenüber Berthold Viertel als Regisseur erwähnte:<br />

den „jungen <strong>und</strong> sehr begabten Regisseur <strong>und</strong> Photografen Husnik.“ 76 (siehe<br />

auch die Endnote 30 <strong>und</strong> die Fußnote V) Die Suche nach Unterlagen über ihn glich<br />

74 Ebda, S. 187.<br />

75 Briefe 1, S. 47.<br />

76 Briefe 1, S. 275.


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86<br />

Bernd Gallob<br />

einer historiografischen Odyssee. Und sie endete, um es vorweg zu nehmen, mit<br />

einer nicht nur im Kontext zu <strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong> sensationellen Neuentdeckung.<br />

Kurt Husnik ist im deutschen Kulturrraum eine fast zu 100 % getilgte Persönlichkeit.<br />

Dieses Schicksal teilt er mit sehr vielen KünstlerInnen <strong>und</strong> DenkerInnen,<br />

die zur Emigration gezwungen wurden. Von Kurt Husnik existiert (seit April 2003)<br />

einzig in der neuen Fotosammlung der Albertina ein Foto. Jedoch steht dort beim<br />

Nationalitätenverweis „Österreicher?“ mit Fragezeichen. 77 Nach vielen <strong>auf</strong>wändigen<br />

<strong>und</strong> vergeblichen Versuchen, Daten <strong>und</strong> Informationen über Husnik zu erhalten,<br />

verdankt der Verfasser die entscheidenden Hinweise Mag. Christa Bader-Reim von<br />

der ÖNB <strong>und</strong> Thomas Zeipelt von Suhrkamp.<br />

Thomas Zeipelt spürte Husnik über eine Homepage, <strong>auf</strong> der eine im März 2003<br />

l<strong>auf</strong>ende Ausstellung der „Fondazione Diamante Lugano“ über ihn vermerkt war,<br />

<strong>auf</strong>. Dadurch konnte der Lenbensl<strong>auf</strong> rekonstruiert werden. Von der Fondazione<br />

erhielt der Verfasser zwei Lebensläufe, den des Kunstkritikers Paolo Bledinger <strong>und</strong><br />

einen „Dalla biografia di L. Todaro“. Kurt Husnik ist demnach 1908 in Wien geboren<br />

<strong>und</strong> 1994 in Cadro, dem Luftkurort über Lugano, gestorben. Er hatte ein bewegtes<br />

Leben geführt/führen müssen <strong>und</strong> ist in Italien <strong>und</strong> der italienischen Schweiz als<br />

Maler nach dem 2. Weltkrieg eine bekannte Größe gewesen. In den Tessin ist Husnik<br />

1942 aus Frankreich bzw. der Fremdenlegion geflüchtet. Ursprünglich ist er 1933<br />

studienhalber aus Wien nach Paris gegangen, um sich als Fotograf zu perfektionieren.<br />

Dank des neuen EDV-Bibliotheks-Verb<strong>und</strong>systems konnte die ÖNB Kurt Husnik<br />

als Herausgeber eines 1967 in Basel erschienenen Buchs über „Bauten-Buildings“,<br />

Basilius-Presse <strong>und</strong> als Autor einer 1933 verfassten Dissertation an der Technischen<br />

Hochschule Wien (heute TU) orten. Titel der Dissertation „Das Lichtspieltheater<br />

als Ausdruck neuer Filmkultur.“ 78<br />

Husnik hat mit dieser Dissertation 79 sein Architektur-Studium abgeschlossen.<br />

Als Prüfungstermin ist der 17. III. 1934 handschriftlich vermerkt. In dieser Dissertation<br />

stehen die Gr<strong>und</strong>sätze, die <strong>Broch</strong>, seinen Partner, bewogen haben, das<br />

Konzept des wissenschaftlichen Films zu verfolgen.<br />

Hauptthema der Dissertation ist die als Zukunftslösung gedachte Errichtung<br />

eines „Hauses des Kinos“ 80 , eines „Lichtspieltheaters als Zentralbau.“ 81 Das Konzept<br />

ist architektonisch <strong>und</strong> kinogeschichtlich betrachtet so kühn <strong>und</strong> modern, dass es<br />

dem Verfasser den Atem verschlagen hat.<br />

Husnik entwickelte im ersten Teil seiner Dissertation seine dann im 2. Teil<br />

konkretisierten Kinobaupläne aus einer kompetenten Bestands<strong>auf</strong>nahme der Film-<br />

77 Siehe im Internet unter: www.albertina.at/fotografie.<br />

78 Kurt Husnik, Das Lichspieltheater als Ausdruck neuer Filmkultur, Dissertation,Technische Hochschule<br />

in Wien.<br />

79 Ganz offensichtlich wurde Husniks Dissertation vom Verfasser der Studie zum ersten Mal seit ihrer<br />

Abgabe im Jahr 1933 eingesehen <strong>und</strong> entlehnt.<br />

80 Ebda, S. 35.<br />

81 Ebda, S. 39.


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<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>. <strong>Ein</strong> <strong>Epiker</strong> <strong>auf</strong> <strong>Abwegen</strong>. <strong>Theater</strong> <strong>und</strong> Film 87<br />

<strong>und</strong> Kinogeschichte heraus, aus der er eine Zukunftsschau zu Film <strong>und</strong> Kino<br />

entwickelte. Im Literaturverzeichnis der Dissertation tauchen die aus <strong>Hermann</strong><br />

<strong>Broch</strong>s Biografie bekannten Bezugspersonen zum Film wie z.B. Béla Bálasz, René<br />

Fülöp-Miller oder W. Pudowkin <strong>auf</strong>. 82<br />

Die w<strong>und</strong>erbaren, der Dissertation beigelegten 9 Architektur-Entwurfblätter<br />

lassen erkennen, dass Husnik mit seinem Kinobau stilistisch die architektonische<br />

Klarheit eines Adolf Loos 83 weiter entwickelten wollte. Das als R<strong>und</strong>bau konzipierte<br />

Kino enthält in Husniks Planung 8 Kinosäle <strong>und</strong> zwei Freiluftkinos in drei<br />

Stockwerken. Vier Hauptsäle mit je 708 Plätzen, vier kleinere Säle mit 2 x 222 <strong>und</strong> 2<br />

x 208 Plätzen, sowie die zwei Freiluftkinos mit je 380 Plätzen, zusammen also 4.428<br />

Plätze. Man bedenke: Im Jahr 1933!<br />

Es ist nicht Aufgabe dieses Beitrags, eine ausführliche Husnik-Würdigung zu<br />

schreiben, aber das vor allem qualitativ weit über die heutigen Multiplex-Monster,<br />

die in irgend welchen Ramschwarenhäusern vor sich hin dämmern, hinausgehende<br />

Konzept Husniks lässt hoffen, dass es zu einer kinoarchitektonischen Husnik-<br />

Renaissance kommt.<br />

Husnik sieht durch die (1933) stürmisch vorangeschrittene technische Entwicklung<br />

des Films eine Film- <strong>und</strong> Kino-Wende für gekommen. „Es wäre aber Lebensbedingung<br />

für die Filmindustrie <strong>und</strong> Filmkunst, dass der Film nicht nur <strong>auf</strong> der<br />

niedrigsten, sondern <strong>auf</strong> seiner höchsten Stufe volkstümlich werde <strong>und</strong> dass der<br />

Kunstfilm neben dem Unterhaltungsfilm bestehen könne. Gegenwärtig stehen wir<br />

vor einer Wende, da das Publikum, das sich der Möglichkeit des Films, Kunst zu sein<br />

<strong>und</strong> Kunst zu bieten, bewusst ist, neben dem Film als Unterhaltungswerk den Film<br />

als Kunstwerk fordert.“ 84<br />

Die vier Hauptsäle mit je 708 Plätzen sollen pro Saal ein gesondertes Filmgenre-<br />

Profil erhalten: „In den 4 großen Sälen des Zentralbaus haben die 4 Filmkategorien:<br />

reiner Kunstfilm, leichter Unterhaltungsfilm, Kulturfilm <strong>und</strong> Aktualitätenfilm (also<br />

die uns bekannte Wochenschau) die Möglichkeit, ungehindert voneinander die individuellen<br />

Wünsche des breitesten Publikums zu befriedigen … Im Lichtspielgebäude<br />

sind noch vier andere, aber kleinere Säle untergebracht, die nicht dem allgemein<br />

zugänglichen Betrieb angeschlossen sind. Da der Lehrfilm täglich an Bedeutung für<br />

den Unterricht gewinnt, Schulen, Institute u.s.w. aber nur ausnahmsweise Tonvorführungsgeräte<br />

besitzen, kommen diese kleinen mietbaren Säle dem Bedürfnis<br />

entgegen, Lehrfilme u.s.w. in geschlossenen Veranstaltungen Schülern, Studenten<br />

82 Ebda, S. 59 f.<br />

83 Der Entwurf ist aber auch in die bedeutsame Wiener Tradition des (vom Ornament befreiten)<br />

barocken Zentralbaus als architektonischem Prototypus (z.B. Karlskirche, Peterskirche) in genialer<br />

Weise eingebettet.<br />

84 Kurt Husnik, Das Lichspieltheater als Ausdruck neuer Filmkultur, Dissertation, Technische Hochschule<br />

in Wien, S. 28.


Maske02/52_2006_004 23.11.2006 6:30 Uhr Seite 88<br />

88<br />

Bernd Gallob<br />

<strong>und</strong> Fachleuten vorführen zu können. Das führende Land für ähnliche <strong>Ein</strong>richtungen<br />

ist Amerika.“ 85<br />

Mit diesen Visionen des <strong>Broch</strong>-Partners <strong>und</strong> Kinoarchitekten Kurt Husnik ist es<br />

erstmals möglich geworden, <strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>s Vorstellungen <strong>und</strong> Hoffnungen<br />

authentisch zu erfassen <strong>und</strong> zu interpretieren. Denn ohne das Wissen um Husniks<br />

Überlegungen wären sie völlig unverständlich <strong>und</strong> nebulos geblieben.<br />

Die Film-Visionen Husniks haben sich nicht erfüllt. Für ihn <strong>und</strong> <strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong><br />

war der literarische <strong>und</strong> künstlerische Gestaltungswille von elementarer Film-Zukunftsbedeutung.<br />

Über die Struktur der zur Zeit <strong>Broch</strong>s <strong>und</strong> Husniks beginnenden<br />

technisch-medial orientierten Populärkultur hat Winfried Fluck, Professor für Kultur<br />

an der FU Berlin im STANDARD, 23./24 März 2002, Seite 29, reflektiert. Er<br />

resümiert das abgel<strong>auf</strong>ene 20. Jahrh<strong>und</strong>ert. Seine Analyse hat auch für das Jahr 1933<br />

großen Aussagewert. Sein Fazit ist es, dass es Konsequenz der steigenden Nutzung<br />

der technischen Medien sei, dass eine „Ständige Reduktion der Zugangsvoraussetzungen“<br />

stattfinde. Populärkultur werde so gestaltet, dass keine mentalen<br />

Übersetzungsleistungen mehr nötig seien.<br />

Die Erfolglosigkeit von <strong>Broch</strong>s Filmplänen hatte viele Facetten <strong>und</strong> Gründe. Vor<br />

allem haben sich die Besucherströme <strong>und</strong> -bedürfnisse nicht nach den Überlegungen<br />

Husniks ausdifferenziert <strong>und</strong> <strong>Broch</strong> hat es, wie mehrfach ausgeführt, verabsäumt,<br />

das Drehbuchschreiben SpezialistInnen zu überlassen oder es selbst zu lernen. Und<br />

es wird sich zeigen, ob diese Ausdifferenzierung, entgegen der augenscheinlichen<br />

Meinung von Fluck, doch noch im 21. Jahrh<strong>und</strong>ert erfolgen kann. <strong>Ein</strong>iges deutet<br />

dar<strong>auf</strong> hin.<br />

Es hat in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts jene Ausdifferenzierung<br />

der Filmgenres, gerade die Filmentwicklung der letzten Jahre spricht dafür (The<br />

Hours, oder Die Klavierspielerin – beispielsweise angemerkt) ansatzweise begonnen,<br />

von der insbesondere Kurt Husnik geträumt hat. Deshalb ist sein Kino-Bauprojekt<br />

so aktuell-modern.<br />

Der <strong>Epiker</strong> <strong>Broch</strong> wäre im 21. Jahrh<strong>und</strong>ert eine erfolgsträchtige Option für gute<br />

DrehbuchautorInnen im Genre der Literaturverfilmungen, das mit zunehmender<br />

Qualität das Filmgeschehen kennzeichnet. An das Beispiel der Magd Zerline sei<br />

erinnert.<br />

Das Auftauchen spezieller Programmkinos könnte die erwähnte Ausdifferenzierung<br />

zum Literaturfilm/Autorenkino hin signalisieren. Dr. Wolfgang Glück,<br />

Leiter der Wiener Filmakademie (heute Universität), hat diese Entwicklung um eine<br />

weitere Idee bereichert: Er äußerte 2002 bei einem Jour fixe der Gemeinsamen<br />

Filmbewertungskommission der Österreichischen B<strong>und</strong>esländer, der der Verfasser<br />

seit 1971 angehört, seinen „größten“ Wunsch: Dieser wäre die Schaffung kleiner<br />

Kinoeinheiten, in denen auch viele hervorragende Kurz- <strong>und</strong> Dokumentarfilme, etwa<br />

der AbsolventInnen der Filmakademie <strong>und</strong> der Filmschaffenden Österreichs,<br />

85 Ebda, S. 43.


Maske02/52_2006_004 23.11.2006 6:30 Uhr Seite 89<br />

<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>. <strong>Ein</strong> <strong>Epiker</strong> <strong>auf</strong> <strong>Abwegen</strong>. <strong>Theater</strong> <strong>und</strong> Film 89<br />

abgespielt werden könnten. Die Organisation sollten Clubs übernehmen <strong>und</strong> der<br />

Zutritt sehr billig <strong>und</strong> unkonventionell möglich sein.<br />

So wie es fast wörtlich Kurt Husnik 1933 geschrieben <strong>und</strong> ohne Zweifel bei der<br />

Erarbeitung des gemeinsamen Filmprojekts mit <strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong> diskutiert hat.<br />

Beilagen<br />

9 Entwurfsblätter Kurt Husniks zum „Haus des Kinos“ 1933


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Bernd Gallob


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<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>. <strong>Ein</strong> <strong>Epiker</strong> <strong>auf</strong> <strong>Abwegen</strong>. <strong>Theater</strong> <strong>und</strong> Film 91


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Bernd Gallob


Maske02/52_2006_004 23.11.2006 6:30 Uhr Seite 93<br />

<strong>Hermann</strong> <strong>Broch</strong>. <strong>Ein</strong> <strong>Epiker</strong> <strong>auf</strong> <strong>Abwegen</strong>. <strong>Theater</strong> <strong>und</strong> Film 93

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