ÖNB-Newsletter No. 2003/1, März 2003 - Österreichische ...
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Neuerwerbung<br />
Zick-zack-förmig zugeschnittenes Kapital<br />
„Legenda aurea“ – eine<br />
neue Inkunabel für die <strong>ÖNB</strong><br />
Die Inkunabelsammlung der <strong>ÖNB</strong> bewahrt die ältesten,<br />
bis 1500 entstandenen Drucke und stellt mit 8000<br />
Objekten den wertvollsten Teil des historischen Druckschriftenbestandes.<br />
Die Reichhaltigkeit der Sammlung<br />
und das Preisniveau der angebotenen Objekte machen<br />
Neuerwerbungen selten. Jüngst konnte jedoch eine<br />
Ausgabe der „Legenda aurea“ des Jakobus de Voragine<br />
(INK 34-21) ersteigert werden.<br />
Sie weist keinen Druckervermerk auf. Aufgrund<br />
des Typenmaterials wird sie dem Straßburger Drucker<br />
Georg Husner (ca. 1478) zugewiesen. Husner gründete<br />
um 1470 eine Druckerwerkstatt in Straßburg, die 1473<br />
ihr erstes firmiertes Werk präsentierte. In Straßburg<br />
waren damals bereits einige erfolgreiche Buchdruckunternehmer<br />
tätig. Der Erstdrucker in der Stadt,<br />
Johann Mentelin, hatte 1460 eine 49-zeilige lateinische<br />
Bibel und 1466 die erste Bibel in deutscher Sprache gedruckt.<br />
Ihm folgten sein Schwiegersohn Adolf Rusch,<br />
der umtriebige Unternehmer Heinrich Eggestein und<br />
andere mehr. Straßburg war im Spätmittelalter eine<br />
reiche Handelsstadt, am Handel zwischen <strong>No</strong>rditalien<br />
und Deutschland als auch am Warentransport den<br />
Rhein entlang entscheidend beteiligt. Die für Druckunternehmungen<br />
nötigen Finanzen waren leicht zu<br />
organisieren. Zur Gründung von weiteren Werkstätten<br />
ermunterte die Aussicht auf einen breiten, sowohl<br />
europäische als auch regionale Käufergruppen einschließenden<br />
Markt: lateinische Drucke interessierten<br />
die internationale Gelehrtenwelt, theologische<br />
Literatur bzw. (deutschsprachige) Erbauungsbücher<br />
zielten auf das vielfältige religiöse Leben in der<br />
Bischofsstadt. Das Verlagsprogramm Husners bestand<br />
8 <strong>ÖNB</strong> <strong>Newsletter</strong> Nr.1/<strong>März</strong> <strong>2003</strong><br />
„Legenda aurea“ des Jakobus de Voragine<br />
nicht aus risikoreichen Neuheiten. Mit der „Legenda<br />
aurea“ des Jakobus de Voragine griff er auf einen<br />
Bestseller der Zeit zurück.<br />
Der Dominikaner und spätere Erzbischof von<br />
Genua (1226 – 1298) stellte um 1263/67 eine Sammlung<br />
von 153 Heiligenviten und biblischen Geschichten zusammen,<br />
nach den Heiligengedenktagen im Lauf des<br />
Kirchenjahres angeordnet. Diese „Historia plurimorum<br />
sanctorum“ war unvorstellbar erfolgreich. Sie ist in<br />
ca. 1000 mittelalterlichen Handschriften überliefert,<br />
wurde von Klerikern und gebildeten Laien rezipiert<br />
(gelesen, gehört, erzählt), für Predigten verwendet, erweitert,<br />
in Volkssprachen übersetzt. In der Inkunabelzeit<br />
zählt sie zu den am häufigsten gedruckten Titeln,<br />
mehr als 150 Ausgaben sind bekannt. Die Inkunabelsammlung<br />
der <strong>ÖNB</strong> besitzt 56 Exemplare, darunter<br />
auch Ausgaben in Italienisch, Französisch und<br />
Tschechisch.<br />
Zum materiellen Erscheinungsbild<br />
Auf den ersten 6 (von 422) Blättern sind die Satzanfänge<br />
mit roter Tinte ausgezeichnet (rubriziert, 4 rote<br />
Lombarden in Umrisszeichnung), zum Schmuck und<br />
zur Lesehilfe. Vom Originaleinband, einem spätgotischen<br />
Ledereinband über Holzdeckeln, sind die<br />
Bezüge von Vorder- und Hinterdeckel erhalten und mit<br />
leider schon recht abgeriebenen Stempeln (aus einer<br />
Werkstatt aus Oberösterreich?) verziert. Der zerstörte<br />
Rücken wurde 1971 fachgerecht in Düsseldorf von<br />
Heinz Petersen restauriert. Die besondere Form des<br />
(zick-zack-förmig zugeschnittenen) Kapitals ist<br />
in seinem Werk „Bucheinbände“ (Graz, 1991, S. 162)<br />
publiziert. So ist diese Erwerbung eine besonders<br />
glückliche Symbiose aus mehreren für die Inkunabelkunde<br />
interessanten Aspekten.