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Die Ehe des Herrn Mississippi - Antje Sievert Anzeigen ...

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<strong>Die</strong> <strong>Ehe</strong> <strong>des</strong> <strong>Herrn</strong> <strong>Mississippi</strong>von Friedrich DürrenmattEin rhetorischer Kampf um ein kleines Biedermeiertischchen herum:Hier erfahren wir die Geschichte dreier fanatischer Weltverbesserer,die sich schließlich selbst zum Opfer fallen. Denn sie alle haben das Pech,mit einer Frau zusammenzukommen, die weder zu ändern noch zuretten ist. Es ist ein Kampf von Ideologien, die unterschiedlicher nichtsein könnten und deren Vertreter durch viele unglückliche Bande untrennbarmiteinander verbunden sind – entweder durch ihre Herkunft,durch einen aufzudeckenden Mordfall oder eben durch ihre Liebe zurselben Frau. <strong>Die</strong>se Frau, Anastasia, spielt die Männer und ihre Argumente gegeneinander aus, immer in der Absicht, ihren persönlichenVorteil daraus zu ziehen. So trinken sie um das kleine, zierliche Biedermeiertischchenherum gruppiert ihren Kaffee – nicht ohne Folgen:Affären werden aufgedeckt, Morde gebeichtet, Revolutionen verhindert,Menschen vergiftet, die Wahrheit vernichtet.Dürrenmatt schrieb 1950 seine bitterböse Komödie über drei Outcastsder Gesellschaft, die sich in die Bürgerlichkeit und anschließend an dieSpitze der Gesellschaft abgesetzt haben, um als Staatsanwalt, Politikeroder Arzt ihre Ideen umzusetzen. Hanebüchene und gefährliche Ideen,entstanden in Zeiten der eigenen Not. Aber wo führt er sie hin, ihr Kampfum Gerechtigkeit?Entstanden ist theatrales Experiment, ein unglaubliches undgroteskes Exempel der Spielarten der Macht. Geleitet von Zufall, Berechnung,Leidenschaft oder gar von der Liebe verfolgen die Männerihre Ziele und scheitern schließlich an einer Frau. Und mit ihr am eigenenWahnsinn der Bedingungslosigkeit. So stehen sie am Ende lächer lichund so traurig wie komisch da, verstrickt in ein unendliches Lügennetz.Dürrenmatt war 31 Jahre alt, Vater einer kleinen Tochter undbald von Krankheiten und finanziellen Nöten geplagt, als er das Stückschrieb. <strong>Die</strong> Uraufführung 1952 in den Münchner Kammerspielen beschertedem Schweizer Friedrich Dürrenmatt auch in Deutschlandseinen Durchbruch. 1954 inszenierte der Autor sein Stück selbst in Bern.Auch am Thalia Theater gab es unter der Intendanz von Boy Gobert 1970schon einmal eine Aufführung <strong>des</strong> selten gespielten Schulklassikers.43 Jahre später wird es durch das Publikum im Rahmen einer öffentlichenSpielplanwahl auf Platz eins gewählt und wieder zurück auf dieBühne geholt.


<strong>Die</strong> <strong>Ehe</strong> <strong>des</strong> <strong>Herrn</strong> <strong>Mississippi</strong>von Friedrich DürrenmattAnastasia Cathérine SeifertFlorestan <strong>Mississippi</strong> André SzymanskiFrédéric René Saint-Claude Sebastian ZimmlerGraf Bodo von Übelohe-Zabernsee Mirco KreibichDer Minister <strong>Die</strong>go Matthias LejaDas <strong>Die</strong>nstmädchen Christina GeißeRegie Christine EderBühne Jakobus DurstewitzKostüme Annelies VanlaereMusik Thomas ButtewegLicht Jan HaasDramaturgie Sandra KüpperWir danken der Charlotte Kerr Dürrenmatt-Stiftungfür die großzügige Unterstützung.Regieassistenz Friederike HarmstorfBühnenbildassistenz Heike BöttcherKostümbildassistenz Christina HillertDramaturgieassistenz Anne RietschelInspizienz Barbara Zoppke-McLoughlinSoufflage Pia WerfelRegiehospitanz Helena Bennett, Nadine FröhleMaske Julia WilmsKostümwerkstätten Ann-Katrin MohrGewandmeister/innen Christian Pursch,Susanne Dohrn, Beate DünnwaldTon Ullrich HübenerTonmeister Gerd MauffRequisite Ralf Gebert; Daniela-Christien Hagenah,Uli Lammers, Anika SchickerlingBühnentechnik Ingolf BohseBeleuchtungseinrichtung Hannes BirknerTontechnik Marcel HabbeWerkstättenleitung Thomas MundtMalsaal Marten VoigtTischlerei Peter BrunsSchlosserei Peter BüttnerTapeziererei Michael BreiholzKostümmalerei Klaudia NoltensmeyerProduktionsleitung Thoralf KunzeTechnische Konzeption Andreas <strong>Die</strong>tzTechnische Direktion Uwe Barkhahn, Oliver CanisAufführungsdauer ca.1 Stunde 50 Minuten, keine PausePremiere 13. April 2013 Thalia TheaterAufführungrechte Verlag Felix Bloch Erben, Berlin


K e i n Go t t k an n u n sh e l f e nVon Friedrich Dürrenmatt9Ich bin ein Pfarrerssohn. Ich habe immeran Gott gezweifelt. Im klassischen Sinne.Ich hielt Gott für möglich, aber nicht fürsicher. Meine Eltern hielten diesen Zweifelnicht für verwerflich, sondern mit meinerJugend vereinbar. Der Glaube war etwas fürreife Menschen. Ein reifer Mensch zweifeltnicht. / Ich wurde älter. Gott wurde für micheine faszinierende Fiktion. Sie war nicht zubeweisen, sondern anzunehmen. Ich nahmGott als Fiktion an. Gott faszinierte mich alsParadoxie. Ich begriff, dass man sich an ihrbe geistern konnte. <strong>Die</strong> Frage, ob es Gottgebe, trat in den Hintergrund. / Ich glaubtean Gott, wie viele Mathematiker an Gottglauben: an ein Gedankending wie ZahlenGedankendinge sind. <strong>Die</strong> Existenz Gottesglich der Frage nach der Existenz eines Naturgesetzes.Gibt es dieses, oder legen wirdieses in die Natur hinein? Es ist eine erkenntnistheoretischeFrage. / Seit einigenJahren hat sich meine Einstellung Gott gegenüber aufs Neue verändert:Ich sehe den Grund nicht mehr ein, die Fiktion Gott aufrechtzuerhalten.Genauer: die Fiktion eines persönlichen Gottes. Gott als einWeltprinzip, sagen wir einer Ordnung <strong>des</strong> Existierenden, kann ich mirals Hypothese vorstellen, etwa in Form der Symmetrie, die bald diePhysik gefunden zu haben meint, bald wieder nicht festzustellen inder Lage ist, aber warum soll ich dieses Ordnungsprinzip noch Gottnennen? / Einen persönlichen Gott aber auch nur zu denken, halteich heute mit unseren Ahnungen, die wir von der Welt erreicht haben,für unvereinbar. Ein persönlicher Gott ist eine Konzeption der Liebeund der Furcht. Der Mensch will nicht nur lieben, er will geliebt seinund fürchtet sich vor dem Tod. / Das Verbrechen <strong>des</strong> Christentumsbe steht in der Verdoppelung dieser Furcht durch die Erfindung derHölle und die Verkoppelung <strong>des</strong> To<strong>des</strong> mit der Sünde als deren Sold.Auf diesem Verbrechen beruht die christliche Kultur: Aus Furcht vorder Hölle schossen die Kathedralen in den Himmel und wurde dasChristentum an der Leine der Angst aggressiv. / <strong>Die</strong> heutige Wissenschaftist dem Wunder <strong>des</strong> Lebens auf die Spur gekommen, ohne eslösen zu können, je mehr sie vom Wunder erfasst, <strong>des</strong>to wunderbarer


10 11wird es. Wer wissen will, stößt ins Nichts vor, in die Wunder. / Als solchesist der Mensch das größte Wunder, das wir im Weltall kennen.Haben wir das begriffen, stoßen wir zu einem neuen Humanismus vor,der sich auf die Ehrfurcht vor dem Wunder der Evolution gründet, diewir zu erahnen beginnen: In ihr hat der Tod einen Sinn. Ohne ihn währen[sic] wir Einzeller, uns sinnlos jahrmillionenlang teilend, die Erde miteinem Brei bedeckend. / Der Mensch muss nicht erlöst werden, er stehtvor der viel schwierigeren Aufgabe, sich selbst zu erlösen: Er ist inseine eigene Falle gerannt. <strong>Die</strong> Aufgabe, der sich die Menschheit gegenübersieht,ihr Weiterbestehen zu ermöglichen, ist so schwer, dasskein Gott ihr helfen kann. Nur sie sich selbst. / Wer weiß, weiß, dass erwenig weiß, und dass das, was er weiß, vorläufig ist. Nur wer glaubt,glaubt, dass er weiß. Wahrheit ist ein Wort <strong>des</strong> Glaubens. Niemand vermaggrausamer zu sein, als jene, die im Namen der Wahrheit handeln.Sie handeln auch im Namen der Gerechtigkeit. / <strong>Die</strong> Wahrheit und dieGerechtigkeit sind die größten Massenmörder der Geschichte. Damitwill ich nicht jene angreifen, die an Gott glauben können. Gott ist einerein innerliche Größe, ihr Glaube geht mich nichts an, er ist ihre Sache.Und weil er ihre Sache ist und nur die ihre sein kann, sollten sie bedenken:/ Nicht nur Gott, auch der Glaube an sich ist unbeweisbar. Nichteinmal der Papst kann beweisen, dass er glaubt, woran er zu glaubenvorgibt. / Darum gibt es für mich nichts unanständigeres [sic] alschristliche Parteien: Mit dem, was man nicht beweisen kann, dass manes ist, darf nicht politisch operiert werden. / Jeder Nazi konnte imHandherum behaupten, er sei ein Christ. Nach dem Zusammenbruch<strong>des</strong> Hitler-Glaubensreichs gab es in Deutschland und Österreich diegewaltigste Massenbekehrung zum Christentum der Geschichte, währendsich eine handkehrum zum Marxismus bekehrten, auch zu einerReligion, an die man nur zu glauben vermag. / <strong>Die</strong> Zeit der Khomeinisist angebrochen, nicht nur in Rom, Iran und Israel. Es ist höchste Zeit,sich wieder zum Atheismus zu bekennen.


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W e r d a s S i n n l o s e , d a s H o f f n u n g s l o s e d i e s e r W e l t s i e ht , k a n n v e r z w e i f e l n , d o c h i s t d i e s e V e r z w e i f l u n g n i c ht e i n e F o l g e d i e s e r W e l t , s o n d e r n e i n e A n t w o r t , d i e e ra u f d i e s e W e i s e g i b t , u n d e i n e a n d e r e A n t w o r t w ä re s e i n N i c h t v e r z w e i f e l n , s e i n E n t s c h l u s s e t w a , d i e W el t z u b e s t e h e n , i n d e r w i r o f t l e b e n w i e G u l l i v e r u n t e rd e n R i e s e n . D i e s i s t d e n n a u c h e i n e s m e i n e r H a u p ta n l i e g e n . D i e W e l t ( d i e B ü h n e s o m i t , d i e d i e W e l t b ed e u t e t ) s t e h t f ü r m i c h a l s e i n U n g e h e u r e s d a , a l s ei n R ä t s e l a n U n h e i l , d a s h i n g e n o m m e n w e r d e n m u ss , v o r d e m e s j e d o c h k e i n K a p i t u l i e r e n g e b e n d a r f .Friedrich Dürrenmatt


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W e r d i e E h e b r i c h t m20 21i t j e m a n d e s W e i b e , d er s o l l d e s T o d e s s t e rb e n , b e i d e, E h e b r e c he r u n d E h e b r e c h e r i n .Levitikus / 3. Mose, 20


E n t s t e h t e i n d a u e r n d e r S c h a d en , s o s o l l s t d u g e b e n L e b e n u m Le b e n , A u g e u m A u g e , Z a h n u mZ a h n , H a n d u m H a n d , F u ß u mF u ß , B r a n d m a l u m B r a n d m a l , B eu l e u m B e u l e , W u n d e u m W u n d e .22 23Exodus / 2. Mose, 11


S c h e i te r n a nd e r We l t25Es gehört zum Paradox Dürrenmatt, dass seine Helden (und er mit ihnen)nicht nur in, sondern an der Welt scheitern. Zuallererst Kant fühlteer sich darin verwandt, der „den Menschen lehrte, das Labyrinth zu akzeptieren“.Dürrenmatts Ablehnung von Realismus wie von Formalismenaller Art war keine Frage <strong>des</strong> Stils, sondern der Erkenntnistheorieund, buchstäblich, der Welt-Anschauung.Auch Dürrenmatts Vortrag über Einstein (1979) gipfelt in derBemerkung: „Vielleicht ist das Scheitern <strong>des</strong> Versuchs Einsteins, eineallgemeine Feldtheorie aufzustellen, für die Physik sein wichtigsterBeitrag.“ In seiner Rede über den Maler Jef Verheyen (1980) drehte Dürrenmattden berühmten letzten Satz von Wittgensteins „Tractatus logicophilosophicus“ins Paradoxe: „Wovon man nicht sprechen kann, darübermuss man sprechen. <strong>Die</strong>se paradoxe Fassung <strong>des</strong> Satzes ist mir lieber,zeigt sie doch das Donquijotehafte jeder denkerischen Bemühungauf, deren Kühnheit und deren Grenze, ein erkenntniskritischer Satz,der zugleich die Forderung enthält, die Sprache gleichwohl zu wagen.Er ist eine Devise für Schriftsteller: Dem Scheitern der Sprache stehtihre Notwendigkeit gegenüber.“Am nächsten ist uns Dürrenmatt heute immer dann, wenn ersich aus dem Schiffbruch seiner Dramatik in ein nächstes Scheiternrettet. Wenn er in seiner späten Prosa aufersteht und anhand seinerungeschriebenen Stoffe, diese teils skizzierend, teils „über die Bande“,dennoch schreibend, den Gesetzen seiner Einbildungskraft und damitder eigenen Lebensgeschichte nachspürt. In einer beispiellosenautobiografisch-erzählerisch-essayistischen Mischform, einer Art Ruinenbaumeisterei, stößt er zu einer neuen, multiperspektivischen Formvon Literatur vor und entkommt mit ihr selbst dem Scheitern, indemer es akzeptiert.„Wer das Scheitern nicht wagt“, sagt Dürrenmatt in CharlotteKerrs ‚Portrait eines Planeten‘, „der soll die Hände von der Kunst lassen.Dann geht man in den Keller und sprengt sich in die Luft.“ Dürrenmattwagte das Scheitern immer. Es war Teil seiner Produktion, eines dichterischenVerfahrens, das über „Stoffe“ nicht verfügte, sondern ihnen ausgeliefertwar. <strong>Die</strong>ses Scheitern, beginnen wir zu ahnen, macht DürrenmattsGröße aus.Von Peter Rüedi


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W i r m ü s s e n di e L ä c h e r l i c h ke i t e r t r a g e n .


R a d i ka l e u n di h r e F o lg e nVon Slavoj Žižek312011 war das Jahr der gefährlichen Träume, der Wiederkehr der radikalemanzipatorischen Politik in der ganzen Welt. Etwas mehr als ein Jahrspäter macht jeder Tag deutlich, wie zer brechlich und inkonsistent dieserAufbruch war, wo sich die Zeichen der Erschöpfung zu zeigen beginnen:Der Arabische Frühling versinkt im Kom promiss und im religiösenFundamentalismus; die Occupy-Be we gung verliert in einemsolchen Ausmaß an Schwung, dass die Räumung <strong>des</strong> Zuccotti-Parks undanderer Orte durch die Polizei – als ein freundli cher Fall von „List der Vernunft“– nur als ein verkleideter Segen erschei nen kann, der den immensenVerlust an Schwung verdeckt. Und die gleiche Geschichte wie derholtsich weltweit: <strong>Die</strong> Maoisten in Nepal scheinen von den reaktionärenroyalistischen Kräften ausmanövriert worden zu sein; das „Bolivarianische“Experiment in Venezuela schrumpft immer mehr zu einemCaudillo-Populismus... Was sollen wir in so depri mierenden Zei ten tun,wenn alle Träume zu verblassen scheinen? Haben wir nur die Wahl zwischennostalgisch-narzisstischer Erinnerung an erhabene Mo mente <strong>des</strong>Enthusiasmus und der zynisch-realistischen Erklärung, warum dieseVersuche, die Lage zu verändern, unausweichlich scheitern mussten?Zunächst muss man sagen, dass die untergründige Arbeit derUnzufriedenheit weitergeht: <strong>Die</strong> Wut schwillt an, neue Revol ten werdenfolgen. <strong>Die</strong> unnatürliche Ruhe <strong>des</strong> Frühlings 2012 wird mehr und mehrdurch wachsende Spannungen durchlöchert, die neue Entladungen ankündigen.Was die Lage so unheilvoll macht, ist das über all vorherrschendeGefühl der Blockade: Es gibt keinen eindeutigen Aus weg, die herrschendeElite verliert ihre Fähigkeit zu herrschen. Noch verstörender ist,dass die Demokratie nach den Wahlen in Griechenland und Spanien nichtfunktioniert und die gleiche Frustration bleibt. In seinem Passagen-Projekthat Walter Benjamin den Histori ker Monglond zitiert: „Will man Geschichteals Text be trach ten, dann gilt von ihr, was ein neuerer Autor vonlite rarischen sagt: die Vergangenheit habe in ihnen Bilder niedergelegt,die man mit denen vergleichen könne, die von einer lichtempfindli chenPlatte festgehalten werden. Nur die Zukunft hat Entwickler, die stark genugsind, um das Bild mit allen Details zum Vorschein kommen zu lassen.“Ereignisse wie die Occupy-Proteste, der Arabische Frühling, dieDemonstrationen in Griechenland und Spanien usw. müssen als Zeichenaus der Zukunft verstanden werden: Anstatt sie als Teil <strong>des</strong> Kontinuumsaus Vergangenheit und Gegenwart zu verstehen, sollten wir sie in diePerspektive der Zukunft rücken und sie als begrenzte, entstellte (manchmalgar pervertierte) Fragmente einer utopischen Zukunft nehmen,die in unserer Gegenwart als ihr verborgenes Potenzial schlummert.


M i t M ar x d i e We l t v e r än d e r nDer britische Sozialhistoriker Eric Hobsbawm hat Macht und Scheitern <strong>des</strong>Kommunismus miterlebt. Mit seinen Studien über das „lange 19. Jahrhundert“wurde er berühmt. Im „Philosophie Magazin“ sprach er 2012 darüber,warum heute erst recht die Zeit gekommen ist, sich von Marx den Weg ineine bessere Zukunft weisen zu lassen. Hobsbawm wurde 1917 in Alexandriageboren. 1933 emigrierte er von Berlin nach London, wo er in die KommunistischePartei eintrat. 1971 erhielt er von der Universität London einen Rufals Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, seit 1984 lehrte er Politik undGeschichte an der New School for Social Research in New York. Im Oktober 2012ist er im Alter von 95 Jahren gestorben. Das Gespräch führte Michael Hesse.33Herr Professor Hobsbawm, kann die Lehre von Karl Marxauch heute noch die Welt verändern?Marx hat in der Vergangenheit immer wieder entscheidenden Einflussauf die Weltgeschichte ausgeübt. Warum nicht heute? Mit dem Endeder Sowjetunion wurde Marx’ Lehre davon befreit, mit dem leninistischenMarxismus und dem entsprechenden Regime in eins gesetzt zu werden.Zum anderen ist die These, Marx sei nicht mehr „vom Müllhaufen der Geschichte“zu retten, die nach dem Fall <strong>des</strong> Eisernen Vorhangs kursierte,heute ebenfalls nicht mehr salonfähig. Marx feiert gerade einen ungewöhnlichenposthumen Erfolg.Während der sogenannten Asienkrise im Jahr 1998, als die Tigerstaatenim Osten der Reihe nach fielen, suchten ausgerechnet Kapitalistenin den Marxschen Schriften nach Antworten. Auch in der seit2008 andauernden Wirtschaftskrise sind es paradoxerweise wieder dieKapitalisten und nicht die Sozialisten, die sich Lösungen von Marx’ Lehreerhoffen.Was ist der Grund für diese Aktualität?Marx ist ein universaler Denker, das ist das Besondere an ihm. Er wolltedie Welt als Ganzes verstehen.Man kann ihn als Den kerder Menschlichkeit würdigen,selbstverständlich auch alsPhilosophen. Er gilt als Mitbegründerder neuzeitlichenGesellschafts theorie, als Interpretder Geschichte und alsTheore tiker der politischenÖkonomie. Marx beschrieb denRhythmus <strong>des</strong> Kapitalismus,das beständige Auf und Abwirtschaftlichen Wachs tums,den Wechsel von Triumph undKrise, die immer wiederkehrendenperiodischen Überproduktionsphasen, die Modider Expansion, Konzentrationund Selbsttransformation. Er war davon überzeugt, dass der Kapitalismusnicht selbst in der Lage sein werde, die aus den Krisen hervorgehendengesellschaftlichen Konflikte zu lösen, was letztlich seinEnde bedeuten würde.


34 35Im August erscheint auch hierzulande Ihr Buch über Marx undden Marxismus mit dem vielversprechenden Titel „Wie man die Weltverändert“. Darf man fragen, wie das geht?Eine vollkommen friedliche Weltveränderung ist auch im 21. Jahrhundertunwahrscheinlich. Wird sie durch Politik, das heißt durchStaatsmacht und Staatsentscheidung erreicht, wiewir alle im 20. Jahrhundert fest glaubten? Nein,denn die grundlegenden Probleme können heuteeinerseits nur global gelöst werden, andererseitsgibt es keine globalen politischen Entscheidermehr – zumeist hängt alles von störrischen Nationalstaatenab. Und doch bildet eine Gruppe derGroßstaaten die einzige Macht, welche kollektiveine gewisse Kontrolle über die Ausartungen <strong>des</strong>Weltkapitalismus, beispielsweise die <strong>des</strong> Devisenmarkts,ausüben könnte.Von Marx’ „utopischer Übung“ ist nicht allesbrauchbar, manches hatte fatale Konsequenzen.Unser Urteil über Marx beruht nicht darauf, wie ersich die Dinge dachte, sondern wie man sein Denkenim 20. Jahrhundert interpretierte. Zweifel losist manches in seinem Werk veraltet, vieles hat ernicht zu Ende gedacht. Vor allem aber darf manseine Lehre nicht zur Orthodoxie verkommen lassen.Es gibt keinen richtigen und keinen falschenMarxismus. Marx glaubte an das unausweichlicheEnde <strong>des</strong> Kapitalismus, an die historische Notwendigkeit der proletarischen Revolution. <strong>Die</strong> Konturender „klassenlosen Gesellschaft“ hat er abernur vage umrissen. Es wurde vieles in seine Analysenhineingelesen, was sie nicht enthielten.Hatte die kommunistische „Planwirtschaft“, wie sie dassowjetische Regime errichtete, etwas mit Marx zu tun?Ausgerechnet auf definitive Äußerungen zu ökonomischen Institutionenund Organisationsstrukturen in der klassenlosen Gesellschaftverzichtete Marx. Nach der Oktoberrevolution von 1917 wurde im frischgebackenen Sowjetrussland improvisiert. Man orientierte sich vor alleman dem Modell der Kriegswirtschaft, insbesondere an ihrer in Deutschlandpraktizierten Variante. <strong>Die</strong> Kriegswirtschaft folgte dem Prinzip,die selbst gesetzten Pläne so schnell wie möglich zu verwirklichen,koste es, was es wolle. <strong>Die</strong>sem Modell blieb die Sowjet union auchspäter unter Stalin treu, man musste also um jeden Preis Vorgabenverwirklichen, Ziele erreichen wie: schnelle Industrialisierung, Aufrü s­tung, auf den Mond fliegen. Auf Dauer konnte die Befehlswirtschaftder UdSSR der Konkurrenzmit dem Kapitalismusnicht standhalten.Warum war die Variante<strong>des</strong> Marxismus dannlange Zeit auch in vielenwestlichen Augen so attraktiv?Als der Kapitalismus zwischen1914 und den vierzigerJahren, in dem „Zeitalterder Katastrophen“,einfach zusammenbrach,feierte das sowjetischeModell Erfolge. Schließlichsiegte die Rote Armeeim Zweiten Weltkrieg.<strong>Die</strong> UdSSR brachtees zu enormer technischerSpezialisierungund triumphierte überden Westen. Der Sowjet-Marxismus wurde zurwichtigsten Variante <strong>des</strong>Marxismus. Bis Ende derfünfziger Jahre erschien er vielen Westlinken als Alternative schlechthinzum Kapitalismus. Auch in den „rückständigen“ Staaten, wie denehemaligen Kolonien und anderen Ländern der „Dritten Welt“, die nichtüber die Voraussetzungen für eine wirtschaftliche Entwicklung nachkapitalistischem Vorbild verfügten, baute man auf die stalinistischePlanwirtschaft. Teile der 68er-Bewegung übten im Namen von MarxKritik am doktrinären Sowjet-Marxismus. Es trat mehr und mehr zutage,wie festgefahren der Kommunismus in der Sowjetunion war,


36und dass er nichts mit der gesellschaftlich­historischen Dynamik, dieMarx beschrieb, gemein hatte.Wie kann man vor dem Hintergrund dieser Geschichte <strong>des</strong> Scheiterns erklären,dass Menschen heute wieder Orientierung bei Marx suchen?Er erkannte, was die neoklassische Wirtschaftstheorie übersehen hat:Marx zufolge bedeutet kapitalistisches Wachstum auch Zerstörung.Der Kapitalismus zehrt auf, woraus er seine Kraft bezieht: zunächstdie Familienstrukturen, dann die Umwelt. Meines Erachtens liegt darindas große Problem. Im Lauf <strong>des</strong> vergangenen halben Jahrhundertshat der Kapitalismus die moralischen und sozialen Regeln <strong>des</strong> gesellschaftlichenMiteinanders ausgehöhlt.Welche Art von Menschen kann die Welt verändern?<strong>Die</strong> Jugend! Sie verfügt noch über Idealismus. Das ist eines der wichtigstenDinge, die wir schätzen und unterstützen müssen: Studentenund andere wissen zwar oft nicht, was sie tun. Tatsache aber ist, dasssie etwas ändern wollen. Und Marx sagte auch, wie es möglich wäre,neue Regeln zu schaffen: dass Moralpredigten hierzu nicht ausreichen.Den meisten Menschen mangelt es im Augenblick vollständig an Orientierung.Sie gehen ihren Lebensweg ohne Landkarte und drohen, unheilvolleIrrwege einzuschlagen.Was also tun?Eines der wenigen Dinge, für die wir weiter kämpfen müssen, sind dieWerte der Aufklärung. Wir müssen einsehen, dass es sowohl möglichals auch wünschenswert ist, die Welt zu verändern, dass dies keinechaotische oder anarchische Sache ist, wenn wir uns dabei an gewisseRegeln zwischenmenschlicher Beziehungen halten. Wir müssen unszu einer aufgeklärt­kritischen Haltung gegenüber der Gesellschaftdurchringen, eine Haltung, die uns zur Kritik am Bestehenden befähigt.Marx, der die bestehende Gesellschaft durch ihre Negation umwälzenwollte, lehrt uns dieses kritische Bewusstsein.R u f e d i e Fi n s t e r n i s an , a u s d e rd u g e k o mm e n b i s t !


38 39D i e W a h r h e i t m u ss m a n s c h r e i e n . I ch w e r d e s i e i n d a sZ i m m e r s c h r e i e n .


The revolution will not be televised. Gil Scott-Heron41


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D o44c h , o b w i r a u c h l i e45g e n , h i e r i n d i e s er R u i n e . O b w i r s t e r b e n i n e i n e r M a u e r . I mm e r k e h r e n w i r w i e d e r . I n i m m e r n e u e n Ge s t a l t e n , u n s s e h n e n d n a c h i m m e r f e r n e re n P a r a d i e s e n . A u s g e s t o ß e n a u s e u r e r Mi t t e . G e n ä h r t v o n e u r e r G l e i c h g ü l t i g k e i t .D ü r s t e n d n a c h e u r e r B r ü d e r l i c h k e i t . F e g en w i r h i n ü b e r e u r eS t ä d t e . D r e h e n w i r ke u c h e n d d i e m ä c h t i g e n F l ü g e l . D i e R ä d e rt r e i b e n d e i n e r W e l t , d i e e u c h z e r m a l m t .


S e h r g e eh r t e r H er r B ü r g er m e i s t e rVon Arnold Schwarzenegger47Governor Arnold Schwarzenegger3110 Main StreetSanta MonicaCalifornia 90405<strong>Herrn</strong> Siegfried NagelBürgermeister der Stadt GrazRathausA-1010 GrazAustriaDecember 19, 2005Sehr geehrter Herr Bürgermeister,Wie Sie wissen, war ich immer stolz darauf, Grazer zu sein und ich bines natürlich noch immer. Graz wird für mich immer jener Ort bleiben,der mich in meiner Jugend geprägt hat. Als man 1997 an mich mit derBitte heran trat, dem ehemaligen Stadion Liebenau meinen Namenzu geben, habe ich aus mehreren Gründen zugestimmt.Erstens habe ich in meiner Jugend hier trainiert, zweitens hatteich gehofft, dass mein internationaler Bekanntheitsgrad als Sportlerund Schauspieler auch Graz bekannter machen und möglicherweiseden Tourismus ankurbeln könnte, drittens waren es die Bitten guterGrazer Freunde, die mich dazu bewogen haben und viertens war ichnatürlich schon ein bisschen stolz darauf, auf diese Art in meiner Heimatstadtverewigt zu sein.Nun habe ich gehört, dass es beinahe fix zu sein scheint, dass der GrazerGemeinderat am 19. Jänner 2006 beschließen wird, das Stadion umzubenennen.Der Grund dafür soll eine Entscheidung sein, die ich alsGouverneur von Kalifornien getroffen habe. Ich habe das Gnadengesucheines rechtmäßig verurteilten Vierfachmörders nach sehr gewissenhaftenPrüfungen abgelehnt und dieser wurde nach den Gesetzenunseres Lan<strong>des</strong> hingerichtet. Mit ziemlicher Wahrscheinlichkeitwerde ich als Gouverneur während meiner Amtszeit ähnliche, ebensoschwierige Entscheidungen treffen müssen. Um den verantwortlichenPolitikern der Stadt Graz weitere Aufregungen zu ersparen, entziehe


48 49ich ihnen ab sofort das Recht, meinen Namen in Zusammenhang mitdem Liebenauer Stadion zu verwenden. Sie werden demnächst diesbezüglichauch ein Schreiben meiner Anwälte erhalten.Ich erwarte, dass der Schriftzug bis zum Jahresende 2005 entferntwird und mein Name in Zukunft zu keinerlei Graz-Werbezweckenbenutzt werden darf. Ich habe auch erfahren, dass ein Antrag eingebrachtwurde, mir den Ehrenring der Stadt zu entziehen. Es war einschöner Tag, an dem ich ihn 1999 im Rathaus empfangen habe und ichhatte damals angenommen, dass er das Zeichen einer ehrlichen, freundschaftlichenBeziehung zwischen mir und meiner Heimatstadt seinwürde. Da mich das offizielle Graz aber offensichtlich jetzt nicht mehrals einen der ihren akzeptiert, ist auch dieser Ring für mich wertlosgeworden. Er befindet sich bereits in der Post. Zum Abschluss möchteich noch einmal ausdrücklich betonen, dass ich weiterhin mit ganzemHerzen Grazer, Steirer und Österreicher bleiben werde. Ich werdeGraz auch, sobald es mir meine Zeit erlaubt, wieder gerne besuchen.Mit freundlichen GrüßenArnold Schwarzenegger


Bildnachweis S.9 Jakobus Durstewitz S.11 Ensemble S.12&13 AndréSzymanski, Matthias Leja, Sebastian Zimmler, Cathérine Seifert,Mirco Kreibich S.16&17 Cathérine Seifert, Christina Geiße, SebastianZimmler, André Szymanski S.18&19 Mirco Kreibich, Sebastian Zimmler,Christina Geiße, Matthias Leja, Cathérine Seifert S.21 Matthias Leja,Cathérine Seifert S.22 André Szymanski, Mirco Kreibich S.24Christina Geiße, Mirco Kreibich, André Szymanski, Sebastian ZimmlerS.26&27 Cathérine Seifert, Mirco Kreibich, Sebastian Zimmler, MatthiasLeja, André Szymanski, Christine Eder S.32&33 Christina Geiße,Sebastian Zimmler S.34 Cathérine Seifert, Christina Geiße S.35Mirco Kreibich, Matthias Leja, André Szymanski, Sebastian ZimmlerS.37 Sebastian Zimmler S.39 Sebastian Zimmler, André SzymanskiS.40 Sebastian Zimmler S.42 Christina Geiße, Mirco KreibichS.43 Sebastian Zimmler, André Szymanski, Christina Geiße, MircoKreibich S.45 Christina GeißeTextnachweis Friedrich Dürrenmatt zitiert aus Peter Rüedi: „Dürrenmattoder <strong>Die</strong> Ahnung vom Ganzen“. Diogenes Verlag, Zürich 2011.Friedrich Dürrenmatt: Das Nichtverzweifeln. Aus: Akzente. Zeitschrift fürLiteratur. Carl Hanser Verlag, München. 2. & 3. Buch Mose. In: <strong>Die</strong> Bibel.Nach der Übersetzung von Martin Luther, rev. Fassung von 1984. DeutscheBibelgesellschaft, Stuttgart 2011. Peter Rüedi: Scheitern an der Welt.In: Ders.: „Dürrenmatt oder <strong>Die</strong> Ahnung vom Ganzen“. Diogenes Verlag,Zürich 2011. Slavoj Žižek: Das Jahr der gefährlichen Träume. S. FischerVerlag, Frankfurt/M. 2013. Zum Tod <strong>des</strong> Historikers Eric Hobsbawm – „MitMarx unsere Welt verändern!“ Interview mit Eric Hobsbawn. PhilosophieMagazin Nr. 1/2013. Brief von Arnold Schwarzenegger an die Stadt Graz.In: Bernd Oswald: Der große Sohn ist sauer auf die Heimat. SüddeutscheZeitung, 17. Mai 2010. Weitere Zitate aus „<strong>Die</strong> <strong>Ehe</strong> <strong>des</strong> <strong>Herrn</strong> <strong>Mississippi</strong>“ImpressumSpielzeit 2012.2013 Programmheft Nr. 76Herausgeber Thalia Theater GmbH, Alstertor, 20095 HamburgGeschäftsleitung Joachim Lux (Intendant)Ludwig von Otting (kaufm. Geschäftsführer)Heinz-Werner Köster (Prokurist)Redaktion Sandra Küpper Mitarbeit Anne RietschelGestaltung Bureau Mirko Borsche, Andreas BrüggmannProbenfotos Fabian Hammerl<strong>Anzeigen</strong>verkauf <strong>Antje</strong> <strong>Sievert</strong>antje.sievert@kultur-anzeigen.comDruck Ernst Kabel Druck GmbHFür das Make-up der Darsteller wurden M.A.C-Kosmetikprodukte verwendet.

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