<strong>Die</strong> <strong>Patientensicherheitsziele</strong> <strong>der</strong> Joint CommissionOb <strong>der</strong> Gebrauch <strong>der</strong> chirurgischen Sicherheits-Checklisteüber eine allgemeine Verbesserung <strong>der</strong> Ergebnisse hinaus nuntatsächlich hilft, einen Eingriff an <strong>der</strong> falschen Stelle („wrongsitesurgery“) zu vermeiden, ist nicht bewiesen – und lässtsich bei <strong>der</strong> relativ seltenen Inzidenz solcher Fehler vielleichtauch in Zukunft statistisch nur schwer belegen. Gleichwohlhandelt es sich um Ereignisse, die häufiger vorkommen alsvielleicht angenommen. Kwaan et al. gaben bei Analyse vonKunstfehler-Ansprüchen die Inzidenz von Eingriffen an <strong>der</strong>falschen Stelle mit 1 auf 112 994 Operationen an, solche an<strong>der</strong> Wirbelsäule ausgenommen [59]. <strong>Die</strong> Datenbasis des UKerfasste 152 017 unerwünschte Ereignisse bei 4,2 Millionenchirurgischen Eingriffen im Jahr 2008. Chirurgie an <strong>der</strong> falschenStelle wurde bei 133 Patienten berichtet, entsprechendeiner Inzidenz von 31,6/1 Million Eingriffe [60]. EineAufarbeitung dieser Fälle ergab, dass durch Anwendung <strong>der</strong>Checkliste 28 von 133 Ereignissen (21,1 %) hätten verhin<strong>der</strong>twerden können [61].Eine umfassende Cochrane-Analyse fand bis zum Jahr 2011nur eine einzige Interventions-Studie, die gezielt Maßnahmenzur Reduzierung <strong>der</strong> „Chirurgie an <strong>der</strong> falschen Stelle“überprüfte. Es handelte sich um eine Studie in <strong>der</strong> Zahnarztpraxis,die zeigen konnte, dass durch entsprechendeSchulung des Personals unter Anwendung von Leitlinien dieAnzahl zu Unrecht gezogener Zähne signifikant zurückging.Angesichts dieser sehr spezifischen Situation warnten die Autorenjedoch davor, diese Ergebnisse auf an<strong>der</strong>e chirurgischeEingriffe zu übertragen [62].Eine weitere beson<strong>der</strong>e Gegebenheit scheint die Bandscheibenchirurgiedazustellen: In einer Umfrage amerikanischerNeurochirurgen gaben 50 Prozent <strong>der</strong> Antwortenden an,wenigstens einmal in ihrer Laufbahn die falsche Etage operiertzu haben. <strong>Die</strong> Autoren errechneten aufgrund dieserAussagen eine Prävalenz <strong>der</strong> Etagenfehler von einem auf 3110Eingriffe [63]. Wirbelsäulenchirurgen waren auch unter amerikanischenorthopädischen Chirurgen diejenigen, die amhäufigsten über Eingriffe an <strong>der</strong> falschen Stelle berichteten.Bei insgesamt 1 291 396 orthopädischen Eingriffen aller Artwurden 76 Eingriffe an <strong>der</strong> falschen Stelle gemeldet, am häufigstenbei einstufiger lumbaler Laminotomie [64]. <strong>Die</strong> Markierungdes Eingriffsorts reduzierte diese Fehler nicht signifikant.Nach Einführung des universellen Protokolls wurden 20Eingriffe an <strong>der</strong> falschen Stelle bekannt gemacht, in 18 Fällenwar eine präoperative Markierung erfolgt [64].US-amerikanische Untersuchung: Am häufigstenkamen Verwechslungen in <strong>der</strong> Ophthalmologie und<strong>der</strong> Orthopädie vorStudien über „Chirurgie an <strong>der</strong> falschen Stelle“sind extrem seltenWichtig ist die For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Joint Commission, das universelleProtokoll für alle chirurgischen und nicht-chirurgischeninvasiven Prozeduren zur Vermeidung dieser Fehler einzuführen– womit <strong>der</strong> Name „universelles Protokoll“ auch zutreffen<strong>der</strong>wäre, als nur von einer chirurgischen Sicherheits-Checkliste zu sprechen. So wurden für die Jahre 2001 bis Juni2006 in den Veterans Health Administration (VHA) MedicalCenters 342 inkorrekte invasive Prozeduren (davon 130 Beinahe-Unfälle)erfasst (falscher Patient, falsche Seite, falscheStelle, falscher Eingriff, falsches Implantat) [65]. 50,9 Prozent<strong>der</strong> 212 unerwünschten Ereignisse traten im Operationssaalauf, 49,1 Prozent aber außerhalb. Von den Fächern waren amhäufigsten die Ophthalmologie (1,8 unkorrekte Eingriffe auf10 000 Fälle) und die Orthopädie (1,2 unkorrekte Eingriffe auf10 000 Fälle) betroffen. Der häufigste Fehler war ein falschesImplantat (in 48,9 Prozent <strong>der</strong> ophthalmologischen bzw. 46,2Prozent <strong>der</strong> orthopädischen inkorrekten Eingriffe). Über alleFächer gesehen wurden allerdings als häufigste Ereignisse diefalsche Seite (66 Fälle) und <strong>der</strong> falsche Patient (56 Fälle) dokumentiert.Für den Chirurgen zunächst vielleicht eher beruhigend:das letztere Ereignis wurde in <strong>der</strong> Mehrzahl <strong>der</strong> Fälle(n = 31) nicht im Operationssaal son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> invasiven Radiologiebeobachtet.Auch eine weitere Fehleranalyse von Haftpflichtpolicen einesÄrzteversicherers ging davon aus, dass die Checklisteund ihre Beachtung allein im Operationssaal nur einen <strong>Teil</strong>des Problems lösen kann [66]: Eingriffe am falschen Patientenhatten ihre Ursache mehrheitlich in <strong>der</strong> Diagnostik, un<strong>der</strong>folgten beispielsweise aufgrund von Verwechslung von Pathologiepräparaten,Röntgenbil<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> Laborwerten undwurden am häufigsten in <strong>der</strong> Inneren Medizin beobachtet!Auch Eingriffe an <strong>der</strong> falschen Stelle waren gleich häufig aufchirurgische und nicht-chirurgische Disziplinen verteilt, sodass Stahel et al. die strikte Einhaltung des universellen Protokollsauch bei nicht-chirurgischen Interventionen einfor<strong>der</strong>ten[66]. <strong>Die</strong>s ergibt sich letztlich aus <strong>der</strong> Tatsache, dass die392CHAZ | 14. Jahrgang | 6. Heft | 2013
<strong>Die</strong> <strong>Patientensicherheitsziele</strong> <strong>der</strong> Joint Commissiongenannte Fehlerkategorie (Falsche Person, Falsche Stelle, FalscherEingriff) Fehler darstellt, die komplett vermeidbar seinsollten, weshalb sie auch als „Never Events“, also Ereignisse,die nie auftreten dürfen, bezeichnet werden. Der Gebrauchdes universellen Protokolls bzw. <strong>der</strong> Sicherheits-ChecklisteChirurgie wird unter diesem Gesichtspunkt auch aus forensischenGründen zur Pflicht [67]. ❘ ❙ ❚Literatur1. The Joint Commission (2013). National Patient Safety Goals Effective January1, 2013. Hospital Accreditation Program www.jointcommission.org/assets/1/18/NPSG_Chapter_Jan2013_HAP.pdf] [www.jointcommission.org/assets/1/6/2013_HAP_NPSG_final_10-23.pdf]2. Aktionsbündnis Patientensicherheit e.V. Handlungsempfehlungen zur sicherenPatientenidentifikation [www.aktionsbuendnis-patientensicherheit.de/apsside/08-03-03_PID_Empfehlung_final_0.pdf].Abgerufen Januar 20133. 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