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schemata zur entwicklungsgeschichte i. die fragen des individuums ...

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Heft 34<br />

April 2007


ISSN-1617-9374<br />

Redaktion:<br />

Weiterbildungsheft: Geschäftsstelle<br />

Mitteilungs-Heft: Renate Miegel, Ilse Dürr-Pehl, Monika Feil<br />

Theorie-Heft: Doris Lange, Kerstin Lohmann,<br />

Ingeborg Struck, Jürgen Abresch<br />

Layout: Wolfgang Otto<br />

Korrektur: Doris Lange<br />

Für den Inhalt der Beiträge tragen <strong>die</strong> Autoren <strong>die</strong> Verantwortung.<br />

Redaktionsschluß: 1. Januar 2008<br />

Einsendungen von Beiträgen an:<br />

Praxis Doris Lange, Badborngasse 1A, 35510 Butzbach, Tel. 06033/73232<br />

email: mail@dorislange.de<br />

Das folgende Theorieheft erscheint bereits im Frühjahr 2008,<br />

um <strong>die</strong> Vorträge der Jahrestagung zeitnah zu veröffentlichen<br />

Assoziierte Mitglieder:<br />

Österreichische Arbeitsgemeinschaft Funktionelle Entspannung (Ö.A.F.E.)<br />

Schweizerische Arbeitsgemeinschaft Funktionelle Entspannung (S.A.F.E.)<br />

Mitglieder der A.F.E. erhalten ein Exemplar <strong>des</strong> Heftes kostenlos.<br />

Weitere Exemplare können bei der Geschäftsstelle zum Preis von 5,- €<br />

plus Portogebühren erworben werden.<br />

Die neueren Theorie-Hefte können auch im Internet unter www.afe-deutschland.de<br />

heruntergeladen werden. Dort sind <strong>die</strong> Abbildungen überwiegend farbig<br />

wiedergegeben.


INHALT<br />

Rainer Krause:<br />

Über <strong>die</strong> Bedeutung <strong>des</strong> Körpers für das Selbst- und Fremdverstehen S. 4<br />

Wolfram Schüffel:<br />

Rhythmus, Rätsel, Reim – <strong>des</strong> Lebens.<br />

Funktionelle Erstarrung und das Aus in der FE S. 15<br />

Rolf Johnen:<br />

Der Körper ist <strong>die</strong> tiefste Schicht der Seele.<br />

Verwerfungen <strong>des</strong> Körpers in der Psychotherapie S. 32<br />

Roswitha Mauer-Bittliger:<br />

Du tic(k)st wohl nicht richtig!?<br />

– Psychosomatische Störungen bei Kindern S. 48<br />

Doris Lange:<br />

Vom Symptom zum Affekt<br />

Ein körperpsychotherapeutisches Behandlungskonzept S. 53<br />

Autorinnen und Autoren <strong>die</strong>ses Heftes S. 63<br />

Veröffentlichungen <strong>zur</strong> Funktionellen Entspannung S. 64<br />

3


4<br />

Rainer Krause<br />

Über <strong>die</strong> Bedeutung <strong>des</strong> Körpers<br />

für das Selbst- und Fremdverstehen<br />

Ich beschäftige mich in meinem Vortrag mit der Bedeutung <strong>des</strong> Körpers für das Selbstund<br />

Fremdverstehen. Seine Bearbeitung setzt eine definitorische Eingrenzung voraus,<br />

<strong>die</strong> gleichzeitig eine thematische ist. Ich beschäftige mich nicht mit dem Leib- Seele<br />

Problem, das ich für ungelöst halte. Ich versuche mich dem Gegenstandsgebiet als<br />

empirisch arbeitender Forscher und Kliniker zu nähern. Als definitorischen und forschungsgeleiteten<br />

Einstieg in den Körper im Umfeld <strong>des</strong> Verstehens wähle ich seine<br />

Rezeptoren. Rezeptoren empfangen definitionsgemäß Informationen. Die betreffenden<br />

Vorgänge kann man Intereozeption und Propriozeption nennen. Die Interozeption liefert<br />

uns prinzipiell bewusstseinsfähige Informationen über den Zustand unserer inneren<br />

Organe. Das sind nicht sehr viele; Schätzungen liegen bei 20%; gleichwohl kann man<br />

den Bereich sicher erweitern. So weit ich sehen kann, versuchen manche Übungen der<br />

Funktionellen Entspannung einen solchen Zugang zu gewinnen. Die Propriozeption liefert<br />

uns Informationen über unsere eigenen Bewegungen. Dazu <strong>die</strong>nen uns <strong>die</strong> Muskelund<br />

Spannungsrezeptoren, <strong>die</strong> sich ergänzende Informationen über den Tonus und <strong>die</strong><br />

Art der Aktivierung liefern. Die Informationen aus dem Vestibulärapparat scheinen<br />

zentral für <strong>die</strong> Lokalisierung <strong>des</strong> Körpers und seiner Bewegungen in Relation <strong>zur</strong><br />

Schwerkraft und im Raum.<br />

Auch hier hat <strong>die</strong> Funktionelle Entspannung Lernziele definiert. Die Haut und Gelenkrezeptoren<br />

sind für <strong>die</strong> Monitorierung unserer Bewegungen und der Stellung im Raum<br />

ebenfalls von zentraler Bedeutung. Von den Propriozeptoren kann man <strong>die</strong> Exterozeptoren<br />

unterscheiden. Sie liefern uns Informationen über <strong>die</strong> Bewegungen externer<br />

Objekte. Hier kann man das visuelle, aber auch das auditive und mit Einschränkung <strong>die</strong><br />

Hautrezeptoren als Beispiele betrachten. Es lässt sich aber leicht zeigen, dass selbst<br />

einfach erscheinende Vorgänge wie das Gehen auf einer sehr komplexen Verschaltung<br />

visueller, also exterozeptiver und propriozeptiver Informationen beruhen. Am Vestibulärapparat<br />

kann man <strong>die</strong> Integration <strong>des</strong> Visuellen mit dem proprizeptiven System am<br />

besten untersuchen. Sie sitzen in einem dunklen Zimmer. Das einzige, was Sie sehen,<br />

ist ein Leuchtstab in einem leuchtenden Rahmen. Ihr Stuhl ist in Relation zum Schwerpunkt<br />

angewinkelt. Sie werden <strong>die</strong>se Information dann negieren, wenn <strong>die</strong> Winkelgrade<br />

mit denen <strong>des</strong> Leuchtstabes und <strong>des</strong> Rahmens übereinstimmen. Solche Ausgleichsvorgänge<br />

sind daran gebunden, dass sie in einem definierten Zeitrahmen stattfinden. Beim<br />

Gehen sollte, wenn das eine Bein gehoben wird, das andere bereits wieder auf dem<br />

Boden sein. Auch <strong>die</strong> Arme, <strong>die</strong> Kopfposition, <strong>die</strong> Atmung und vieles andere mehr werden<br />

im Bewegungsvorgang getaktet. Wir wollen solche Vorgänge vorläufig einmal<br />

Selbstsynchronisierung nennen. Wenn sie mit einem anderen bewegten Objekt verbunden<br />

werden müssen, wird <strong>die</strong> Sache noch komplizierter. Die Ausführung eines Zielwurfes<br />

auf ein bewegtes Objekt erfordert Hochrechnungen aus dem visuellen System über<br />

<strong>die</strong> Geschwindigkeit <strong>des</strong> externen Objektes, auf Grund derer der Werfer <strong>die</strong> propriozeptiven<br />

Einstellungen der Körperposition und der Muskulatur so einstellt, dass <strong>die</strong> Bewegung<br />

so ausgeführt wird, dass das Objekt dann und dort getroffen wird, wo es sich nach<br />

der Ausführung <strong>des</strong> Wurfes befindet. Das ist ein ungemein schwieriger Vorgang, und<br />

wir sind weit davon entfernt zu verstehen, wie er genau abläuft. Solche Vorgänge nennen<br />

wir vorläufig - in Abhebung <strong>zur</strong> Selbstsynchronisierung - Fremdsynchronisierung.<br />

Also <strong>die</strong> Taktung von zwei Objekten. Ihre Arbeit am Eigenrhythmus - speziell der<br />

Atmung - kann man als elementare Form der Selbstsynchronisierung betrachten,


Über <strong>die</strong> Bedeutung <strong>des</strong> Körpers für das Selbst- und Fremdverstehen<br />

wohingegen <strong>die</strong> Arbeit mit der eigenen Stimme (also Brummen) und der Hand bereits<br />

eine Kombination von Extero – und Interozeption beinhaltet, <strong>die</strong> wieder als Organisationsrahmen<br />

<strong>die</strong> zeitlichen Abläufe benötigt.<br />

Ich will nun <strong>die</strong>se Einteilung in Selbst- und Fremdsynchronisierung benutzen, um den<br />

Stellenwert der Exterozeption auf <strong>die</strong> Selbstwahrnehmung und umgekehrt der Propriozeption<br />

auf <strong>die</strong> Fremdwahrnehmung zu diskutieren.<br />

Zum Einstieg werde ich Ihnen einen kleinen Filmausschnitt einer natürlichen Alltagsinteraktion<br />

vorführen, um Sie für <strong>die</strong>se Phänomene zu sensibilisieren. So wie Sie den<br />

Eigenrhythmus erfahren und lernen müssen, kann man auch <strong>die</strong> Wahrnehmung <strong>des</strong><br />

Fremdrhythmus erlernen. Das ist nicht notwendigerweise ein naturwüchsiger Vorgang.<br />

In dem Film, den ich ihnen zeigen werde, sitzen 2 junge etwa gleichaltrige Männer mit<br />

gleichem Bildungshintergrund an einem runden Tischchen. Sie haben sich erst vor ca. 4<br />

Minuten kennen gelernt, sich gegenseitig vorgestellt und versuchen nun, einen Konsens<br />

über <strong>die</strong> vier wichtigsten Probleme, <strong>die</strong> wir in Deutschland in den nächsten Jahren lösen<br />

müssen, zu finden. Die letzten 6 Ziffern der Digitaluhr auf dem Schirm zeigen <strong>die</strong> Minuten,<br />

<strong>die</strong> Sekunden und Hundertstelsekunden an. Bei einer Kopfrotation von 45 Grad aus<br />

der frontalen Zuwendung zu Ihnen als Zuschauer haben <strong>die</strong> beiden Blickkontakt<br />

zueinander.<br />

Ich werde Ihnen nun das kurze Filmsegment ohne Ton abspielen, um dann während<br />

meiner Darlegung Beispiele herauszugreifen, <strong>die</strong> im Bereich von Hundertstelsekunden<br />

zu verorten sind. Dazu werden wir einen verlangsamten Ablaufmodus wählen müssen.<br />

Die beiden Herren schaffen es, ihre Köpfe in Bezug auf Schräglage und Nicken auf der<br />

Ebene von Hundertstelsekunden zu takten (04.32.07; 04.44.07). Das gleiche gilt für den<br />

Affektausdruck. Er ist reziprok, d.h. beide bewegen sich fast zeitgleich im hedonischen<br />

Freudebereich. Das Blickverhalten ist in <strong>die</strong>se Feintaktung eingebettet. Es tritt als<br />

mutuelles Geschehen auf dem Höhepunkt der Lächelinnervationen auf.<br />

Was heißt <strong>die</strong>s nun für unsere Frage <strong>des</strong> Zusammenhangs von Extero- und Propriozeption<br />

und <strong>die</strong> Selbst– und Fremdwahrnehmung?<br />

5


6<br />

Rainer Krause<br />

1. Die Ereignisse sind nicht kognitiv abgebildet. Dazu ist das alles viel zu schnell und zu<br />

kurz, sie sind also im besten Fall vorbewusst oder unbewusst.<br />

2. Sie setzen eben wegen der Schnelligkeit ein Mustererkennungssystem auf beiden<br />

Seiten voraus. Die Herren wissen beispielsweise, was eine Zygomaticus Major-Innervation<br />

„bedeutet“.<br />

3. Diese Ereignisabfolgen sind in Zusammenhang mit dem, was man intersubjektive<br />

Erlebnisse und Ereignisse nennt, nicht unerheblich. Solche Kopfschrägsynchronisierungen<br />

beispielsweise sind Teil <strong>des</strong> Werbeverhaltens sexueller<br />

Art und korrelieren in ihrer Häufigkeit sehr hoch mit subjektiven Sympathieeinschätzungen.<br />

(0.60) Sie sind in der hier vorliegenden Form für Männer ganz ungewöhnlich,<br />

bei gemischt geschlechtlichen Liebespaaren sind sie häufig.<br />

4. Es gibt so etwas wie eine Affektansteckung, Affektabstimmung, in unserem Fall finden<br />

wir beispielsweise Abstimmungen der Freudeinnervationen.<br />

5. Man kann <strong>die</strong>se Abstimmungen dahingehend unterscheiden, ob sie gleichsinnig oder<br />

gegensinnig sind. Gleichsinnig wäre beispielsweise beidseitiges Lächeln. Gegensinnig<br />

wäre Lachen und Wut. Wir haben <strong>die</strong>se verschiedenen Muster in unserem Arbeiten<br />

reziprok oder komplementär genannt.<br />

6. Diese dyadische Verhaltensstruktur ist aus vielerlei Gründen bedeutsam; einer davon<br />

ist, dass ein vorwiegend reziprokes Muster zwischen Therapeut und Patient ein Prädiktor<br />

für schlechten Therapieausgang in sitzenden Kurztherapien ist.<br />

7. Die meisten Forscher <strong>die</strong>ses Gebietes geben <strong>die</strong>sen dynamischen Mustern einen<br />

hohen Stellenwert für <strong>die</strong> Entstehung, Aufrechterhaltung und Veränderung intersubjektiver<br />

Vorgänge und der von psychischen Störungen.<br />

„Das Lesen der Gedanken und Gefühle und vor allem der Intentionen anderer Menschen,<br />

<strong>die</strong> Resonanz, <strong>die</strong> Empfindungen anderer in uns wecken, das Miterleben <strong>des</strong>sen,<br />

was ein anderer erlebt, und <strong>die</strong> Fähigkeit, eine beobachtende Aktivität so zu erfassen,<br />

dass man sie imitieren kann, kurz <strong>die</strong> Empathie mit einem anderen Menschen und<br />

<strong>die</strong> Herstellung eines intersubjektiven Kontextes erfordere bzw. beruhe auf solchen<br />

motorischen Bewegungskopien bzw. Abstimmungen“ (Stern, Seite 91).<br />

Als neurobiologische Grundlage dafür werden <strong>die</strong> sogenannten Spiegelneuronen postuliert.<br />

Das ist ein spezifischer Typus von Neuronen, <strong>die</strong> dann feuern, wenn ein Individuum<br />

eine Handlung ausführt und/oder wenn es eine gleiche Aktion eines fremden Individuums<br />

mehr oder weniger gleicher Bauart beobachtet (Rizzolatti, 2005).<br />

Diese Eigenschaft <strong>des</strong> Neuronensystems ist ein Systemmerkmal <strong>des</strong> Primatengehirns,<br />

das intentionsrelevante bildlich visuelle Informationen zusätzlich im korrespon<strong>die</strong>renden<br />

motorischen Kortex abbildet. D.h. wir haben bereits auf <strong>die</strong>ser Ebene eine feste biologisch<br />

vorgegebene Verdrahtung zwischen Exterozeption und Propriozeption, und <strong>die</strong>se<br />

Propriozeption stellt <strong>die</strong> Grundlage für das Fremdverstehen dar.<br />

Eine gesehene intentionale Handlung, <strong>die</strong> nur visuell abgebildet wird, würde keine Informationen<br />

über <strong>die</strong> intentionalen Eigenschaften <strong>des</strong> gesehenen Objektes liefern. Die<br />

Querverbindung dazu, was das für einen bedeutet und welche anderen Handlungen<br />

damit verbunden sind, geschieht nur über <strong>die</strong> propriozeptive und motorische<br />

Repräsentanz. Zwei Antworten können aus der Beobachtung der Handlung abgeleitet


Über <strong>die</strong> Bedeutung <strong>des</strong> Körpers für das Selbst- und Fremdverstehen<br />

werden. „Was tut der Handelnde, und warum tut er <strong>die</strong>s?“ Deshalb sind <strong>die</strong>se Aktivierungen<br />

zentral für das Intentionsverstehen.<br />

Für affektiv relevante exterozeptive Reize gilt <strong>die</strong>s besonders. Das sind <strong>die</strong> Gesichter<br />

der Anderen, aber auch deren Gerüche. Beispielsweise können ekelerregende Gerüche<br />

den gleichen Sektor der vorderen Insula aktivieren wie <strong>die</strong> Wahrnehmung eines geekelten<br />

Gesichtes und/oder Brechgeräusche eines anderen Menschen.<br />

In Anlehnung an <strong>die</strong> Neuropsychologie <strong>des</strong> Handlungsverstehens ist das Fühlen von<br />

Emotionen auch Folge der Aktivierung motorischer Muster. Damit hat, wenn auch auf<br />

zentralnervösem Niveau - <strong>die</strong> Theorie von James und Lange sowie <strong>die</strong> facial-feedbacktheory<br />

von Tomkins (1991) wieder an Aktualität gewonnen. Danach sind es <strong>die</strong><br />

Rückempfindungen der Veränderungen im Bereich <strong>des</strong> Eingeweide- und Muskelsystems,<br />

<strong>die</strong> wir als Gefühle erleben. Ich weine nicht, weil ich traurig bin, sondern ich bin<br />

traurig, weil ich weine. Jetzt heißt das: ich bin traurig, weil ich jemand weinen sehe und<br />

eben <strong>die</strong>ses Bild in mir <strong>die</strong> motorischen Muster aktiviert, <strong>die</strong> mit dem Gefühl verkoppelt<br />

sind. Ohne <strong>die</strong>se Aktivierung verstehe ich das Bild nur als intentionslose und implikationslose<br />

Repräsentation.<br />

Diese Fremdsynchronisierung scheint eine außerordentlich komplizierte Verarbeitung<br />

vorauszusetzen, und man könnte meinen, sie sei eine sehr späte Errungenschaft in der<br />

Entwicklung <strong>des</strong> Menschen. Das ist aber nicht so. Elementare Formen davon findet<br />

man bereits in den ersten Lebensmonaten, und dort sogar sehr intensiv vor allem in der<br />

symbiotischen Phase zwischen 3 und 9 Lebensmonaten (Endres de Oliveira & Krause<br />

1989).<br />

Eigentlich hätte man ja von einem naiven Vorverständnis ausgehend erwarten können,<br />

dass Fremdsynchronisierungen Selbstsynchronisierungen voraussetzen würden. Das<br />

ist aber nicht so. Ehe wir <strong>die</strong>ses rätselhafte Phänomen diskutieren, wollen wir wieder<br />

eine kleine Wahrnehmungschulung mit unseren zwei Protagonisten machen.<br />

Hier sehen wir einige Verhaltensweisen innerhalb einer Person, <strong>die</strong> in einer zeitlichen<br />

Ordnung vorliegen, beispielsweise sind manche Handbewegungen <strong>des</strong> jungen Mannes<br />

auf der linken Seite in enger zeitlicher Abstimmung mit Teilen seiner Mimik. Während<br />

einer weit ausholenden wie schneidend erscheinenden Armbewegung von links nach<br />

7


8<br />

Rainer Krause<br />

rechts, erscheint auf seinem Gesicht ein finsterer bedrohlicher Ausdruck, um genauer<br />

zu sein, eine intensive Depressor Glabellae Innervation und ein Anheben der Nasiolabialfalten.<br />

Parallel dazu eine kurzfristige Blickaufnahme. Was er denkt, wissen wir nicht,<br />

was er spricht, weiß ich, aber Sie nicht. Was hat es nun mit solchen<br />

Selbstsychronisierungen auf sich?<br />

1. Sie sind ebenfalls im besten Falle vorbewusst; häufig sind sie in einem dynamischen<br />

Sinne unbewusst, und zwar meist für den Produzenten.<br />

2. Sie werden unmittelbar durch den Beobachter wahrgenommen und zu einem einheitlichen<br />

Verhaltensereignis zusammengefasst. In <strong>die</strong>sem Falle beispielsweise als Teil<br />

eines bedrohlichen Ärger-Wut-Ereignisses, in dem <strong>die</strong> schneidende Armbewegung<br />

als Intentionsbewegung und <strong>die</strong> Mimik als Subformen <strong>des</strong> Ärgerkomplexes erlebt<br />

wird.<br />

3. Die Selbstsynchronisierung ist bei bestimmten Krankheitsgruppen erheblich verändert.<br />

Beispielsweise haben <strong>die</strong> Schizophrenen häufig ein wenig elegant<br />

erscheinende Taktierung zwischen den einzelnen Verhaltenssegmenten <strong>des</strong> Körpers.<br />

Es ist, als agiere der Kopf gewissermaßen unabhängig vom Rumpf und <strong>die</strong><br />

Mimik von der Gestik, und damit kann man auch ein intentionales virtuelles Zentrum,<br />

in das man <strong>die</strong> Persönlichkeit hinein extrapolieren kann, nicht gut ausmachen. Wahrscheinlich<br />

ist <strong>die</strong>s auch so. Die Kopien motorischer Abläufe im Kleinhirn scheinen für<br />

Identitätsbildung von zentraler Bedeutung. Sie sind bei Schizophrenen nachhaltig<br />

gestört (Krause, 2006).<br />

4. Die zeitliche Taktung <strong>des</strong> eigenen Körpers wirkt unmittelbar auf <strong>die</strong> Wahrnehmung<br />

der Intentionalität. Diese Tatsache wird nicht nur in der Graphologie benutzt. Bewegungsabläufe<br />

mit gestörter Selbstsynchronisierung werden als hölzern, roboterhaft,<br />

irgendwie ein wenig vom Menschlichen entfernt wahrgenommen, vor allem, wenn <strong>die</strong><br />

Beschleunigung und Abbremsung von Bewegungsabläufen unterschiedliche Zeitverläufe<br />

aufzuweisen haben.<br />

5. Die freien Taktierungen folgen nicht nur der Anatomie oder den physikalischen<br />

Eigenschaften <strong>des</strong> Körpers, sondern stehen mit der Intensität und Nachhaltigkeit von<br />

Intentionen und Wünschen in Verbindung. Beim Tanzen werden <strong>die</strong> anatomischen<br />

Grenzen sogar oft überschritten, um den Triumph der Intention über den Körper darzu-stellen.<br />

Personen, <strong>die</strong> sich von einem Geschehen sehr intensiv ergreifen, bewegen<br />

bzw. lassen bzw. selbst <strong>die</strong>se Bewegung schaffen, synchronisieren ihre Körperbewegungen<br />

um <strong>die</strong>se Intentionen herum. Bei unserem Herrn auf der linken Seite ist<br />

<strong>die</strong>s gewiss in Teilen der Fall. Dafür, dass sich <strong>die</strong> beiden erst seit 4 Minuten kennen,<br />

ist das Engagement ungewöhnlich groß. Das ist indikativ für das, was wir in der Psychoanalyse<br />

Besetzungsintensität nennen. Eine hohe Besetzungsintensität führt zu<br />

einem hohen Ausmaß von Selbstsynchronisierung. Beispielsweise gerät dann <strong>die</strong><br />

Sprache, <strong>die</strong>ser Proso<strong>die</strong> mit der Mimik und der Gestik und schlussendlich auch dem<br />

Inhalt in Phase. Das Fehlen <strong>die</strong>ser Phänomene ist ein unspezifischer Indikator für <strong>die</strong><br />

Schwere einer psychischen Störung. Ihr Wiederauftauchen ein Gesundungsindikator.<br />

6. Man kann <strong>die</strong>ses Gesetz in der Behandlung von manchen Störungsbildern benutzen,<br />

beispielsweise kann man sich über <strong>die</strong> Illustratoren und Gestik an den Sprechvorgang<br />

von Stotterern herantasten. Gelingt es ersteren zu mobilisieren, kann der<br />

Sprechvorgang unter dem Schutz der Affekte erfolgen.


Über <strong>die</strong> Bedeutung <strong>des</strong> Körpers für das Selbst- und Fremdverstehen<br />

7. Eine ganze Reihe von selbstorganisatorischen Prozessen liegen außerhalb <strong>des</strong> Zeithofs<br />

der psychischen Gegenwart, den man mit ca. 3-4 Sekunden veranschlagen<br />

kann. Diese „psychische“ Gegenwart ist <strong>die</strong> zentrale Einheit der Phänomenologie der<br />

Wahrnehmung und dauert maximal 1o Sekunden. Es ist <strong>die</strong> Zeit, <strong>die</strong> wir brauchen,<br />

um <strong>die</strong> Mehrheit der Wahrnehmungsstimuli, <strong>die</strong> von anderen Personen ausgehen, zu<br />

bedeutungsvollen Gruppen zusammenzusetzen, um funktionale Einheiten unserer<br />

Verhaltensweisen zu komponieren und um sie bewusst werden zu lassen. In <strong>die</strong>sem<br />

Zeitraum wird <strong>die</strong> Prozessierung wie in einem Standbild festgehalten, und erst daran<br />

anschließend wird neues Material <strong>zur</strong> Wahrnehmung zugelassen. Die erlebte Wahrnehmungswelt<br />

fließt also nicht kontinuierlich, sondern schaltet zeitlich ausgedehnte<br />

Gegenwarten hintereinander. Das ist diskontinuierlich.<br />

8. Die Selbstsynchronisierung ist ein Vorgang, der in der Entwicklung <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> erst<br />

relativ spät erreicht wird und mit höherem Alter und in Erkrankungsprozessen wieder<br />

verloren geht. Denken Sie an <strong>die</strong> Synchronisierung der Gehbewegungen und der<br />

Arme oder der Mimik und der Sprache. Erst ab dem 1o.Lebensjahr ist Letzteres einigermaßen<br />

möglich. Die Desynchronisierung der Gestik - Sprechtaktung ist einer der<br />

Schwereindikatoren bei schizophrenen Psychosen.<br />

9. Die Übungseinheiten der Funktionellen Entspannung bewegen sich, soweit mein<br />

Laienverständnis <strong>die</strong>s entscheiden kann, unterhalb <strong>die</strong>ses Zeithofes. Die Atemeinheit<br />

ist wohl kürzer, ebenso wie <strong>die</strong> Mimik, <strong>die</strong> sich auf der Ebene von 30/ 100-stelsekunden<br />

bewegt. Ein Atemzyklus dauert ungefähr drei Sekunden (Einmal Ausatmen und<br />

Einatmen). Die subjektive Gegenwart bewegt sich im Bereich 2.8 bis 3.5 Sekunden.<br />

Wenn wir <strong>die</strong>se Vorgänge der Propriozeption und Exterozeption in eine klinisch-psychoanalytische<br />

Sprache umsetzen, hört sich <strong>die</strong> wie folgt an:<br />

Auf der Ebene der Körper haben wir so etwas wie Affektansteckung. Die Affektmotorik<br />

<strong>des</strong> einen führt zu gleichsinnigen reziproken oder komplementären motorischen Mustern<br />

beim anderen: Freude / Freude, Ärger / Angst etc. Diese Vorgänge werden nicht<br />

direkt bewusst abgebildet, allenfalls als Gefühl von Sympathie, Dominanz und Unterwerfung.<br />

Die Motorik <strong>des</strong> einen hat direkten Zugang <strong>zur</strong> Motorik <strong>des</strong> anderen. Bei<br />

Gesunden und der Freudeinnervation ist der Zusammenhang in etwa bei 0.60 in Gruppenstatistiken.<br />

In Dyaden mit einem psychisch Erkrankten sind <strong>die</strong> Zusammenhänge<br />

ganz anders. Mit Schizophrenen sind reziproke Ärgermuster häufig (0.60).<br />

9


10<br />

Rainer Krause<br />

Die Motorik <strong>des</strong> einen führt auf zwei Wegen zum Erleben <strong>des</strong> Anderen: nämlich über<br />

<strong>die</strong> Interpretation der visuellen exterozeptiven Reize und <strong>die</strong> der gleichzeitig aktivierten<br />

propriozeptiven Reize. Das macht <strong>die</strong> Entscheidung, ob <strong>die</strong> Gefühle zu einem (Selbst)<br />

oder zum anderen gehören, nicht einfach. Im allgemeinen braucht man dazu Kontextwissen.<br />

Im Wahrnehmungsvorgang ist <strong>die</strong>se Information nicht enthalten. Die schizophrenen<br />

Patienten weisen eine sehr hohe Korrelation zwischen der Mimik ihrer Partner<br />

und der Attribuierung von Gefühlen als Ihre eigenen auf. Man kann 60% der Varianz<br />

<strong>des</strong> vermeintlichen eigenen Erlebens aus der Mimik <strong>des</strong> Partners vorhersagen. Vorgänge,<br />

in denen <strong>die</strong> visuellen Muster <strong>des</strong> anderen <strong>die</strong> eigenen motorischen Muster aktivieren<br />

und sie auch direkt als eigene Gefühle interpretiert werden, wollen wir Introjektion<br />

nennen. Sie sind wohl bei Kleinkindern, Frühgestörten und in regressiven Zuständen<br />

der Regelfall, aber auch bei Gesunden ein wichtiger Zugang zum anderen, der aber<br />

von anderen ergänzt wird.<br />

Zusammenhänge zwischen den propriozeptiven motorischen Mustern und dem Erleben<br />

eines Gefühls als „eigen“ wollen wir als propriozeptive Kongruenz bezeichnen. In Dyaden<br />

von Gesunden ist sie relativ niedrig und taucht wenn überhaupt nur bei positiven<br />

Emotionen auf. Das liegt daran, dass der Einfluss <strong>des</strong> anderen <strong>die</strong> Gefühllage ebenso<br />

stark beeinflusst wie der Binnenzustand, und dass bei Gesunden <strong>die</strong> Affekte im allgemeinen<br />

an kognitive Repräsentanzen aus der Objektwelt – also Dritten, über <strong>die</strong> man<br />

spricht – angeheftet sind. Die in <strong>die</strong>sem Umfeld auftauchenden Affekte werden nicht<br />

zum Systembereich <strong>des</strong> Selbst attribuiert. Das heißt, man kann in einer Dyade viele<br />

negative Affekte zeigen und hinterher angeben, man habe sich sehr froh und glücklich<br />

gefühlt, weil es eben einen unbewussten Attribuierungskontext gegeben hat, über <strong>des</strong>sen<br />

Bedeutung man sich einig ist, dass sie sich auf ein drittes Objekt beziehen, über<br />

das man spricht, und über <strong>des</strong>sen Evaluierung man sich einig ist, keinesfalls aber auf<br />

den Partner und den Selbstbereich. In Dyaden von Gesunden ist <strong>die</strong>s der Regelfall.<br />

Gesunde zeigen viel mehr negative Affekte als <strong>die</strong> meisten psychisch Erkrankten mit<br />

Ausnahme der Hysterischen.


Über <strong>die</strong> Bedeutung <strong>des</strong> Körpers für das Selbst- und Fremdverstehen<br />

Zusammenhänge zwischen den affektiven Ausdrucksmustern und der Attribuierungen<br />

der gleichen Emotion auf den Handlungspartner wollen wir Projektion nennen. Entgegen<br />

den Pfeilen unserer Zeichnung spielt sich <strong>die</strong>ser Vorgang im Kopf Affektproduzenten<br />

in unserem Falle A ab und muss überhaupt keine Entsprechung bei B haben.<br />

Projektive Vorgänge sind allgegenwärtig und Teil <strong>des</strong> Affektsystems. Die pathologischen<br />

Anteile beziehen sich nicht auf <strong>die</strong> Projektion als solche, sondern auf <strong>die</strong> Verleugnung<br />

<strong>des</strong> gleichen Zustan<strong>des</strong> für den Selbstbereich.<br />

Die Zusammenhänge zwischen den Repräsentationen <strong>des</strong> Selbst und <strong>des</strong> Anderen<br />

wollen wir Ähnlichkeit nennen. Das kann von der Symbiose gehen – ich und Du fühlen<br />

das gleiche - bis zu Feststellung maximaler Unähnlichkeit, <strong>die</strong> aber von der Logik her<br />

wieder zu einer sehr engen systemischen Verbindung führt. Die meisten gesunden Personen<br />

weisen ein mittleres Ähnlichkeitserleben auf. Wir können nun mit <strong>die</strong>sem Wissen<br />

einen Vorgang wie den der projektiven Identifikation näher beschreiben:<br />

1. Zwischen Selbst- und Objektrepräsentanz bei einer Person kommt es <strong>zur</strong> Feststellung<br />

von maximaler Unähnlichkeit meist entlang einer komplementären affektiven<br />

Klassifikation (Beispielsweise Trauer, Angst vs. Ärger, Verachtung)<br />

2. Der Projizierende mobilisiert unbewusst Mikroverhaltensweisen, <strong>die</strong> den abgespaltenen<br />

Systemanteil im Anderen implantieren.<br />

3. Dieser verhält sich der Implantation folgend reziprok oder komplementär. Reziproke<br />

Reaktionen eskalieren und führen zum Agieren (Kämpfen oder Abbrechen der Beziehung).<br />

Allerdings ist damit <strong>die</strong> unbewusste Weltsicht <strong>des</strong> Projizierenden bestätigt.<br />

Komplementäre können weitergeführt werden, allerdings auf Kosten <strong>des</strong> Rezipienten.<br />

Dies gilt beispielsweise für Psychotherapien.<br />

Zum Schluss wollen wir <strong>die</strong>ses Analyseschema auf einen Wahrnehmungsvorgang<br />

scheinbar exterozeptiver Art anwenden und ihn entlang seiner Informationen über das<br />

Selbst <strong>des</strong> Wahrnehmenden interpretieren.<br />

„Das sind zwei preußische Polizisten. Hier sieht man <strong>die</strong> Pickelhauben, das ist grüner<br />

Uniformstoff, <strong>die</strong> haben so kleine Bäuche, <strong>die</strong> spucken sich an, da haben sie Schnauzbärte,<br />

und <strong>die</strong> sind in einer heftigen Bewegung aufeinander zu im Vorgang <strong>des</strong> Sich-<br />

Anspuckens“. Dazu macht der Deuter eine ruckartige Bewegung <strong>des</strong> Kopfes in Richtung<br />

auf den Testauswerter.<br />

11


12<br />

Rainer Krause<br />

Hier auf der Tafel 3 sagt jemand: „Das sind zwei Negerinnen, <strong>die</strong> haben hier einen<br />

Kochtopf in der Hand und drehen sich mitsamt dem Kochtopf im Kreis. Man kann <strong>die</strong><br />

Bewegung und auch <strong>die</strong> Körperanspannung, wie sie den Kochtopf hochheben, sehr<br />

deutlich sehen.“<br />

Wie Sie bemerkt haben werden, sind <strong>die</strong>s Antworten auf den „projektiv“ genannten Rorschach<br />

Test: Nach Rorschach und späteren Autoren zufolge sind <strong>die</strong>s sogenannte B-<br />

Antworten, B für Bewegung auf englisch M (Movement). Das Kürzel ist für menschliche<br />

Bewegungen reserviert, also keine tierischen. Dem Testmanual zufolge sind <strong>die</strong>s Vorgänge,<br />

in der in der kinästhetischen Wahrnehmung eine Bewegung auf <strong>die</strong> Tafel projiziert<br />

wird, welche gleichzeitig im deutenden Subjekt mitempfunden wird. Der Proband<br />

kann kein unbeteiligter, bloß registrierender Beobachter mehr bleiben wie etwa bei den<br />

einfachen Formantworten, sondern er engagiert sich individuell durch <strong>die</strong> Projektion der<br />

Bewegung auf <strong>die</strong> Tafel, wobei durch <strong>die</strong>se Projektion Vorstellung und Phantasieinhalte<br />

in <strong>die</strong> Deutung einfließen, <strong>die</strong> aus dem persönlichen Erfahrungs- und Problembereich<br />

<strong>des</strong> Probanden stammen können“.<br />

Neben dem hohen persönlichen Anteil weisen <strong>die</strong> B+ Deutungen auch einen sehr<br />

hohen Verarbeitungswert auf, denn es zeigt von einem guten Strukturierungsvermögen,<br />

ein so differenziertes Konzept wie einen bewegten Menschen mit dem Klecks in eine<br />

genügende Übereinstimmung und dabei persönliche Grundbedürfnisse mit realen<br />

Gegebenheiten in Einklang zu bringen“. Einer der führenden Forscher der Bedeutung<br />

der Bewegungsantworten Schachtel (1966) hat herausgefunden, und das hat sich gut<br />

bestätigt, dass <strong>die</strong> Bewegungsantworten eine Fähigkeit <strong>zur</strong> inneren Verarbeitung indizieren,<br />

d.h. eine Fähigkeit mit Konflikten umzugehen und sie verarbeiten zu können.<br />

Verbunden mit ihrer Verarbeitung ist <strong>die</strong> Fähigkeit zum Triebaufschub. Wenn <strong>die</strong> Phantasie<br />

als Pufferung eingesetzt werden kann und dafür sprechen <strong>die</strong> B-Antworten, ist ein<br />

Aufschub der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung möglich. In der Struktur der Gesamtdeutung<br />

ist <strong>die</strong> Anzahl von positiven B-Antworten ein Indikator für intrapsychische Verarbeitungsprozesse<br />

und damit ein Gegenindikator gegen das sogenannte Agiersyndrom.<br />

Agiersyndrom heißt, dass hereinkommende Reize ohne psychische Verarbeitung<br />

wieder erledigt werden müssen, sei es durch Impulshandlungen oder durch Somatisierungen.<br />

Lassen Sie uns <strong>die</strong>sen Vorgang etwas näher ansehen.


Über <strong>die</strong> Bedeutung <strong>des</strong> Körpers für das Selbst- und Fremdverstehen<br />

Was im Rorschachtext als Projektion beschrieben wird, wird man im Kontext unserer<br />

heutigen Überlegungen wohl besser als Identifikation verstehen. Denn nur auf Grund<br />

<strong>die</strong>ser Identifikation kann der projektive Akt gelingen. Sie setzt eine kinästhetische Verlebendigung<br />

der Figuren voraus. Dazu muss sich der Wahrnehmende in den Reiz hinein<br />

versetzt haben, und zwar weniger auf Grund seiner Formeigenschaften, also den<br />

Umriss in der Textur und den Farbwerten, als auf Grund einer phantasierten Motorik.<br />

Alles andere sind tote Charakteristika, lebendig sind <strong>die</strong> Sinnesempfindungen, Bewegung<br />

ist Leben, vor allem dyadische interaktive synchronisierte Bewegungen. In der<br />

älteren psychophysiologischen Sprache könnte man von Efferenzkopie sprechen, so<br />

hat <strong>die</strong>s Norbert Bischof getan; das würde so gehen, dass der Sehende <strong>die</strong> Bewegung<br />

in <strong>die</strong> Figur hineinsieht, und indem er <strong>die</strong>s tut, eine Kopie seines Innervationsimpulses<br />

an das eigene Zentralnervensystem sendet, dass, obgleich <strong>die</strong> Bewegung nicht ausgeführt<br />

wird, er den Innervationsimpuls als Grundlage der Informationsverarbeitung benutzen<br />

kann. Durch <strong>die</strong> Entdeckung der Spiegelneuronen ist ein solcher Vorgang nicht<br />

mehr so unerklärlich und merkwürdig, wie er früher erschienen ist. Es führt aber dazu<br />

dass wir <strong>die</strong> Vorstellungen über das Fremdseelische, <strong>die</strong> Identifikation, <strong>die</strong> Empathie,<br />

stärker an der Motorik aufhängen müssen.<br />

Was ich nun sagen will ist, dass <strong>die</strong> menschliche Motorik <strong>die</strong> Grundlage aller identifikatorischen<br />

Prozesse ist. Die Kinästhesie der Wahrnehmung, der Rorschachtafeln, geht<br />

so, dass in einem ersten Durchlauf (das braucht im allgemeinen nicht mehr 1o Sekunden)<br />

der Wahrnehmende prüft, ob <strong>die</strong> Figuren für solche identifikatorischen Prozesse<br />

geeignet sind; dann projiziert er <strong>die</strong> entsprechenden motorischen Efferenzkopien auf<br />

den statischen Reiz und lässt sie tanzen. Der prädiktive Wert <strong>zur</strong> Verhinderung <strong>des</strong><br />

Agierens besteht in der Möglichkeit der Vermenschlichung der Figur, <strong>des</strong> sich mit ihr<br />

Identifizierens einmal und zum anderen beschränkt sich das Handeln auf <strong>die</strong> Phantasie,<br />

eben <strong>die</strong>s ist der Gewinn. Weil nicht <strong>die</strong> Motorik eingeschaltet werden muss, kann<br />

gedacht werden. Freuds Idee <strong>des</strong> Denkens als Probehandeln ist hier von hoher neuer<br />

Aktualität. Diesen Freiraum, mit einem anderen Menschen zu denken, mit dem ich interagiere,<br />

ist der entscheidende Sprung in <strong>die</strong> gut integrierte psychische Struktur, so wie<br />

sie das OPD (2001) darstellt. Sie, <strong>die</strong> gut integrierte psychische Struktur, stellt einen<br />

psychischen Innenraum <strong>zur</strong> Verfügung. Das wird nur dann möglich sein, wenn <strong>die</strong> primären<br />

Bezugspersonen dem Kind eben <strong>die</strong>sen Innenraum <strong>zur</strong> Verfügung gestellt<br />

haben, in dem sie sich über <strong>die</strong> kinästhetische Wahrnehmung <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> passgenau in<br />

seiner noch unausformulierten inneren Welt hinein gefühlt und gedacht haben und auf<br />

<strong>die</strong>sem Wege für Trost, Abhilfe, Affektabstimmung und Symbolisierung in eben erträglichen<br />

Dosen gesorgt haben.<br />

13


14<br />

Literatur:<br />

Arbeitskreis OPD (Hrsg.) (2001). OPD. Operationalisierte Psychodynamische<br />

Diagnostik - Grundlagen und Manual. Bern: Huber.<br />

Endres de Oliveira, Gloria & Krause, Rainer (1989) Reagieren Kleinkinder auf<br />

affektive mimische Reize affektiv? Acta Paedopsychiatrica, 52, 26-35.<br />

Rainer Krause<br />

Krause, R. (2006). Emotionen, Gefühle, Affekte – Ihre Bedeutung für <strong>die</strong><br />

seelische Regulierung. In Remmel, A., Kernberg, O., Vollmoeller, W. & Strauß, B.<br />

(Hrsg.). Handbuch Körper und Persönlichkeit – Entwicklungspsychologie,<br />

Neurobiologie und Therapie von Persönlichkeitsstörungen. Stuttgart: Schattauer<br />

Verlag.<br />

Rizzolatti, G. (2005) The mirror neuron system and its function in humans. Anat<br />

Embryol, 210, 419-21.<br />

Schachtel, E. (1966). Experiential Foundations of Rorschach's Test. New York, Basic<br />

Books.<br />

Stern, D.N. (2005). Der Gegenwartsmoment. Veränderungsprozesse in Psychoanalyse,<br />

Psychotherapie und Alltag. Frankfurt/Main:F Bran<strong>des</strong> & Apsel.<br />

Tomkins, S. (1991). Affect - Imagery - Consciousness Volume III. New York, Springer.<br />

Vortrag, gehalten auf der Jahrestagung der AFE in Rothenburg, November 2006


Wolfram Schüffel<br />

Rhythmus, Rätsel, Reim – <strong>des</strong> Lebens.<br />

Funktionelle Erstarrung und das Aus in der FE<br />

Zur Gestalt kommen<br />

Bitte, liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer, Mitgestalterinnen und Mitgestalter <strong>die</strong>ser<br />

Jahrestagung der FE, stellen Sie sich auf eine Behandlungsgeschichte ein, <strong>die</strong> genau<br />

das zum Thema hat, was in der Überschrift steht: Vom Rhythmus zum Aus der FE, vom<br />

Aus der FE in den Rhythmus hinein gelangen. Die Frage wird dann sein: Wie erschließt<br />

sich aus der scheinbaren Erstarrung <strong>des</strong> Symptoms heraus eine Gestalt, <strong>die</strong> auf einen<br />

Menschen in seinem Lebensentwurf hinweist?<br />

1.0 Der Patient<br />

Pelé suchte mich im Februar 2005 auf. Er ist ein groß gewachsener, schlanker Mann<br />

von ca. 25 Jahren, den man mit Hilfe seiner vollen schwarzen Haare, seines dunklen<br />

Teints und den breiten Backenknochen durchaus <strong>die</strong> gemischt indianisch-europäische<br />

Herkunft ansehen kann. Er klagt seit zwei Jahren über eine übermäßige Sekretproduktion<br />

im Munde, <strong>die</strong> seit einem Jahr mehr in eine Schleim-, statt der vorherigen Schaumproduktion<br />

übergegangen ist. In einem Tage könne er ein Wasserglas bis zu einem Drittel<br />

voll spucken. Üblicherweise würde er allerdings das Glas alle drei Stunden leer spülen.<br />

Drei Jahre zuvor war der Speichel mit Blut vermischt gewesen. Überwiesen war<br />

Pelé von seinem Hals-Nasen-Ohrenarzt. Er sollte, so der Vorschlag eines der ca. zehn<br />

vorbehandelnden Ärzte, an Adenoiden operiert werden. Der HNO-Arzt hatte <strong>die</strong>s mit<br />

ihm für <strong>die</strong> kommenden Monate vorgesehen. Er solle aber zunächst zu mir kommen,<br />

also einen Internisten und Psychotherapeuten treffen, der von <strong>die</strong>sen Problemen „eine<br />

Menge“ verstehe. Er solle sich zunächst noch eingehender über seine Beschwerden mit<br />

mir austauschen.<br />

Der Kollege hatte von weiteren Beschwerden Pelés gehört, so von Verdauungsbeschwerden<br />

„tief im Darm“, <strong>die</strong> vor zweieinhalb Jahren auftraten und zu internistischen<br />

und dann zu speziell gastroenterologischen Untersuchungen geführt hatten. Pelé schilderte<br />

<strong>die</strong>se Beschwerden als „unbestimmt“. Er wollte sagen, sie seien „unbestimmter“<br />

Natur gewesen, nicht von Hunger oder Sättigung vielleicht von anderen Geschehnissen<br />

be-Stimmt. – Zwar konnten <strong>die</strong>se Verdauungsbeschwerden tief im Darm durch den<br />

Internisten und <strong>des</strong>sen internistisch-gastroenterologische Situation behoben werden.<br />

Doch seither fühle er sich weitgehend in den unteren Darmabschnitten als „taub“. Im<br />

Leib verspürte er geradezu einstellungsmäßig, dass er Stuhl absetzen müsse, es sei<br />

ein Gefühl, geradezu eine körperlich empfundene Einstellung, als sei es „nie so wie<br />

man’s haben will.“ Das geschehe, obwohl er „ES“ dreimal am Tage versuche. – Der<br />

Umgang mit <strong>die</strong>sem „ES“ bestehe darin, dass er hoffe, demnächst ginge es mit <strong>die</strong>sen<br />

Darmbeschwerden vorbei, er könne weiter zu den Exkursionen <strong>des</strong> Studiums gehen<br />

und vor allem das seit frühester Kindheit gepflegte und geliebte Wandern fortsetzen.<br />

Doch werde der ganze Umgang mit <strong>die</strong>sem Wunsch nach Bewegung dadurch geprägt,<br />

dass er sich als ausgesprochen schwach empfinde.<br />

15


16<br />

Wolfram Schüffel<br />

Fasse ich <strong>die</strong> damalige Begegnung unter den vier Begriffen der Stimmung, Situation,<br />

Einstellung und Umgang zusammen, so würde ich sagen: Pelé war in einer Stimmung<br />

<strong>des</strong> Unbe-Stimmten, <strong>des</strong> Losgelösten; in der Situation fühlte er sich taub. Seine Einstellung<br />

sagte ihm: Nie ist es so, wie man’s haben will; im Umgang empfand er sich, beurteilte<br />

und verhielt er sich schwach gegenüber aller Bewegung.<br />

Pelé kam im Jahre 1980 als drittes Kind deutsch-peruanischer Eltern <strong>zur</strong> Welt. Der<br />

Vater (+31 Jahre) ist Tierarzt, <strong>die</strong> Mutter (+ 31 Jahre) techn. Zeichnerin, nach der Heirat<br />

Hausfrau. Die Schwester (+ 1) ist von robuster Gesundheit und stu<strong>die</strong>rt. Das zweite<br />

Kind ist sein älterer Zwillingsbruder. Als Zwillinge hätten sie der Mutter ganz anders als<br />

<strong>die</strong> zuerst <strong>zur</strong> Welt gekommene Schwester eine schwere Entbindung zugemutet. Erst<br />

nach 24 Stunden sei der ältere Bruder gekommen und danach sei er nach ebenfalls<br />

noch einmal stundenlangen Wehen angekommen. „Beide zusammen“ hätten sie lediglich<br />

3 kg gewogen und hätten über sechs Wochen im Brutkasten verbleiben müssen.<br />

Pelés Aufwachsen war von außen her gesehen unauffällig. Er durchlief <strong>die</strong> Schule als<br />

guter Schüler und schnitt im Abitur sehr gut ab. Das ist bemerkenswert, als der Zwillingsbruder<br />

(bisher stehe es in der Familie nicht fest, ob ein- oder zweieiig) in der<br />

Pubertät an Schizophrenie erkrankte und seither unter medikamentöser Behandlung<br />

steht und zu Hause blieb. Zudem nahm der Bruder über 20 kg an Gewicht zu. Pelé ging<br />

vom Ruhrgebiet aus vor fünf Jahren nach Marburg zum Studium, da er hier zunächst<br />

Naturwissenschaften mit dem Schwerpunkt Anorganische Chemie stu<strong>die</strong>ren wollte.<br />

Schon bald wählte er aber eine Fächerkombination auf der Grundlage einer geologisch<br />

orientierten Geographie, <strong>die</strong> er im Jahre 2007 mit dem Magister abschließen möchte.<br />

Evtl. wird er das höhere Lehramt ansteuern. Seine Seminararbeiten absolviert er mit<br />

Glanz und hat mehrfach Auszeichnungen hierfür erhalten.<br />

2.0 Zum Vorgehen<br />

2.1 Probleme als Rätsel be-Stimmen: <strong>die</strong> Unbe-Stimmtheit <strong>des</strong> Speichels<br />

Aus einer Stimmung der Un-Bestimmtheit heraus erwuchsen für den Patienten und für<br />

mich, den Arzt zwei Probleme unterschiedlicher Art. Sie waren Rätsel für ihn wie für<br />

mich:<br />

Problem <strong>des</strong> Patienten: Er ist beunruhigt, wie aus einem nicht erklärlichen Grund übermäßig<br />

viel Speichel produziert wird.<br />

Für den Arzt: Er sieht keinerlei Zusammenhänge zwischen Speichelproduktion und<br />

Besorgnis, da weder Quantität noch Qualität <strong>des</strong> Speichels hierfür Anlass geben.<br />

Innerhalb unseres ersten Treffens hatte ich Pelés Geschichte von der Speichelproduktion<br />

so verfolgt, dass ich <strong>die</strong> Auswirkungen kennenlernte. Ich spürte <strong>die</strong>ser Speichelproduktion<br />

nach, wie sich der Schleim ansammelte. Während er etwa bei Seminararbeiten,<br />

Hausarbeiten, beim Lesen in der Bibliothek seinerseits <strong>die</strong>sem Speichel nachspürte,<br />

kreisten <strong>die</strong> Gedanken immer mehr um <strong>die</strong> Produktion <strong>die</strong>ses Speichels statt um <strong>die</strong><br />

eigentliche Arbeit. Das mochte noch hingehen. Doch wenn er in Gesellschaft war,<br />

kamen auch <strong>die</strong>se Gedanken hoch. Dann konnte er dem Gespräch nicht folgen und<br />

noch weniger konnte er einen Spucknapf herausholen. So hatte er sich wachsend


Rhythmus, Rätsel, Reim – <strong>des</strong> Lebens. Funktionelle Erstarrung und das Aus in der FE<br />

<strong>zur</strong>ückgezogen und seine intellektuellen Arbeiten mit zunehmender Anstrengung verrichten<br />

müssen.<br />

Nachdem mir der Patient über ca. 15 Minuten in der ersten Stunde unserer Therapie<br />

<strong>die</strong>se Abläufe geschildert hatte, reichte ich ihm ein Klinextuch und bat ihn, mir den Speichel<br />

zu zeigen.<br />

Schweigen trat ein. Er schaute mich erstaunt-ängstlich-besorgt-hoffnungsvoll an. Ob er<br />

jetzt, hier, spucken solle, fragte er. Ich sagte freundlich-bestimmt: „Ja, bitte!“ – Es dauerte<br />

einige Zeit, bis eine ausreichende Menge im Munde gefunden wurde und <strong>die</strong>se auf<br />

dem Klinex lag.<br />

Wir schauten es beide an. Pelé sagte aus einem sich trocken anhörenden Munde<br />

heraus, im Augenblick sei wenig Speichel vorhanden. Sein Mund sei derzeit trocken.<br />

Wiederum 15 Minuten später fragte Pelé in ausgesucht höflich-sanfter Weise, ob er<br />

hier, d. h. in meinem Zimmer und jetzt, d. h. in der Sitzung mit mir aus der mitgeführten<br />

Flasche Mineralwasser trinken dürfe. Ich stimmte sofort zu. Das Taschentuch lag weiterhin<br />

offen, nicht zusammengefaltet zwischen uns. Ich bat Pelé, es in den von mir hoch<br />

gehaltenen Papierkorb zu werfen und zu beschreiben, was das Wasser bewirke. Ob<br />

das Wassertrinken gut tue, fragte ich. Ja, er habe einen trockenen Mund gehabt, sagte<br />

er und jetzt nicht mehr. Ich hätte es schon beim Spucken gemerkt, meinte ich und fragte,<br />

wie es komme, dass er so lange gewartet habe zu <strong>fragen</strong>, ob er hier und jetzt trinken<br />

dürfe. Ich sagte ihm, dass er sich mit seinem Speichel vielen Einschränkungen ausgesetzt<br />

sehe. – Wir sollten <strong>die</strong>se weiter verfolgen und sehen, wie ihnen zu begegnen<br />

sei. Die nächsten zwei Termine wurden vereinbart. Die erste der bisherigen 40 Sitzungen<br />

in einem Zeitraum von 20 Monaten war abgeschlossen. Beide hatten wir uns<br />

zunächst einen Reim darauf zu machen, wie es in der von uns bestimmten Situation <strong>zur</strong><br />

Mundtrockenheit gekommen war, also zum Ausbleiben von Speichel.<br />

2.2 Die Situation be-Stimmen: Stellung-Nehmen <strong>zur</strong> Herkunft<br />

Zum weiteren Ablauf <strong>die</strong>ses Treffens, das bereits von Frau Schweitzer skizziert wurde:<br />

Ich werde nun darstellen, wie der Therapieablauf derzeit, d. h. im Heute aussieht.<br />

Danach werde ich auf <strong>die</strong> Vergangenheit der Therapie eingehen, d. h. das Gestern. Ich<br />

gehe auf <strong>die</strong> Herkunft ein. Das bedeutet eine Herausforderung, deren Bedeutung ich<br />

weiter unten beschreibe. Nach dem Gestern werde ich mich zum angenommenen weiteren<br />

Verlauf äußern, d. h. zum Morgen.<br />

Dieses Morgen wird zu dem überführen, was Frau Schweitzer als „Schaumermal“ skizziert.<br />

Es wird um <strong>die</strong> künftige Ab-Stimmung zwischen Larynx und Pharynx in der<br />

Gemeinschaft anderer gehen, zwischen Atmen und Schlucken. – Frau Schweitzer folgend<br />

würde ich begrüßen, alles für 15 Minuten in Kleingruppen und dann für 10 Minuten<br />

im Plenum geschehen zu lassen. Alles würde auf eine „Stellung-Nahme“ der Gruppe<br />

hinlaufen. Die Gruppe der Anwesenden wird Pelé und seinem Arzt gegenüber formulieren,<br />

was sie, <strong>die</strong> Anwesenden, als möglichen Nächsten Schritt ansehen. – Ich sehe<br />

<strong>die</strong> Chance, dass aus der Bewegung heraus und gefolgt von einem Stellung-Nehmen<br />

17


18<br />

Wolfram Schüffel<br />

vorübergehend ein Therapeutisches Team entsteht. Als behandelnder Arzt könnte ich<br />

Pelé mitteilen, also mit ihm teilen, was heute morgen hieraus als Gestalt entstand. Ich<br />

werde am Montag nach Marburg <strong>zur</strong>ückfahren und eine Art Situationskreis neuer Art<br />

schließen. Ich werde weiterführend mich über eine Gestalt mit Pelé austauschen und<br />

durch meine Hinbewegung von hier nach Marburg eine Art von kreisförmiger Bewegung<br />

gestalten, eben ein Gestaltkreis wird entstehen. Was könnte einem Therapiegespann<br />

Besseres geschehen, als an einem solchen Gestaltkreis teilzunehmen?<br />

Bevor ich nun den Verlauf darstelle, möchte ich sagen, wie ich vorgehen werde, was ich<br />

meine mit der Herkunft. Diese herkunftsorientierte Vorgehensweise bedeutet für mich:<br />

- Ich werde prozessorientiert darstellen; es wird NICHT strukturorientiert geschehen.<br />

- Ich werde vom Hier und Jetzt, dem Heute ausgehen. Erst allmählich nähere ich mich<br />

dem Behandlungsbeginn vor derzeit 19 Monaten an.<br />

- Ich werde mich symptomorientiert verhalten. Das Symptom werde ich als Kondensat<br />

von vier pragmatisch verstandenen Bedeutungen verstehen.<br />

- Eine solche, an der Aktuosität ausgerichtete Darstellungsweise hat <strong>zur</strong> Folge, dass<br />

Symptome, Körperempfindungen, Konflikte und Lösungsansätze <strong>des</strong> Hier und Jetzt<br />

früher beschrieben werden als <strong>die</strong>jenigen Phänomene, <strong>die</strong> am Anfang <strong>des</strong> Therapieverlaufes<br />

zu beobachten waren, d. h. <strong>die</strong> Zeitfolge ist der üblichen entgegengesetzt,<br />

wir gehen in <strong>die</strong> Vergangenheit bzw. sind eben herkunftsgerichtet.<br />

- Mit der aktuositätsbezogenen, der herkunftsgerichteten Darstellung bezwecke ich, <strong>die</strong><br />

therapiewirksamen Faktoren, nicht <strong>die</strong> genetisch-wirksamen Faktoren in den Vordergrund<br />

zu stellen und damit das Empfindens-Erlebnisbedingte aktiv nahe zu bringen.<br />

Der Zuhörer kann sich zunächst regelmäßig <strong>fragen</strong>: Wie war es zum derzeitigen Verhalten<br />

gekommen, aus welchem Symptom-Cocon hatte sich das jetzige Verhalten entwickelt?<br />

- Die Zeit wird subjektiv verstanden, nicht in üblich-normativer Form. Die Grenzen zwischen<br />

heute, gestern und morgen werden durch einschneidende Momente unserer<br />

Beziehungsentwicklung bestimmt. Heute, gestern und morgen sind also nicht Begriffe<br />

eines normierten Zeitverständnisses.<br />

3.0 Zum Ablauf der Therapie<br />

3.1 Das Heute, im Hier und Jetzt: Der Rhythmus der Wasserzeremonie<br />

Ein Zeitraum von September 06 <strong>zur</strong>ück zum Mai 06<br />

Die Sitzungen werden in <strong>die</strong>sem Zeitraum <strong>des</strong> Septembers und <strong>zur</strong>ückreichend in das<br />

Jahr 2005 mit einer von Pelé und mir so bezeichneten „Wasserzeremonie“ eingeleitet.<br />

In ihren Anfängen geht <strong>die</strong>ses Zeremoniell auf den fünften Monat der Therapie <strong>zur</strong>ück.<br />

Ich stellte und stelle eine Flasche Wasser hin, <strong>die</strong> ich aus dem Kühlschrank hole. Pelé<br />

gießt das Wasser in <strong>die</strong> bereitgestellten Gläser und wartet, bis ich das Glas an den<br />

Mund geführt habe.<br />

Pelé wie ich sind an <strong>die</strong>sem Septembertag aus dem Urlaub <strong>zur</strong>ück. Er berichtet über<br />

sein Zusammensein mit Gina, der etwa gleichaltrigen Freundin und Mitstudentin. Er<br />

empfindet nun doch ein Übermaß an Speichel im Munde, nämlich wenn er sich über


Rhythmus, Rätsel, Reim – <strong>des</strong> Lebens. Funktionelle Erstarrung und das Aus in der FE<br />

Gina geärgert hat. In solchen Zeiten spürte er neuerdings sogar <strong>die</strong> längst vergessen<br />

geglaubten Bauchschmerzen. Noch vor den Ferien war das anders gewesen: Sobald er<br />

Ginas Zimmer betrat, war der Speichel im Überschuss verschwunden, den er zuvor<br />

beim Betreten <strong>des</strong> Anwesens von Ginas Eltern gespürt hatte. Gina wohnte nämlich bei<br />

ihren Eltern, und er verachtete ihre Eltern wegen deren Gefühlskälte. – Der Ärger war<br />

entstanden, weil Gina zwar wie er auch nackt im Bett schlafen wollte und schlief. Doch<br />

sie bestand darauf, keinen Verkehr zu haben. Sie hatte ihm erst vor kurzem gesagt, sie<br />

habe dennoch regelmäßig seit zwei Monaten Orgasmus gehabt. Er hatte sich bereits<br />

gewundert, wie sie immer so ruhig eingeschlafen war. Er hatte dagegen alles einsetzen<br />

müssen, trotz erigierten Penis keine Ejakulation zu haben. Gina hatte ausgesprochene<br />

Ängste vor dem Ejakulat. Die Folge war, dass er seinerseits stundenlang nicht hatte<br />

einschlafen können.<br />

Vor den Ferien hatte ihn das alles nicht berührt gehabt. Er war glücklich gewesen, der<br />

bis dahin ängstlich-<strong>zur</strong>ückweisenden Gina nahe gekommen zu sein und wollte sich wie<br />

Gina Zeit gönnen. Sie hatten sich kurz vor der urlaubsbedingten Unterbrechung in der<br />

Therapie erstmals küssen können. Pelé sagte <strong>zur</strong> eigenen Überraschung: „Ich darf den<br />

Saba von Gina in meinem Munde haben.“ Und er hatte entdeckt, dass er <strong>die</strong>sen Saba,<br />

also Ginas Speichel sogar hatte schlucken können.<br />

Er schluckte ihn als eine Art von ihm so empfundenen Fremdkörper, obwohl er noch<br />

immer unter den Folgen einer Bronchopneumonie litt. Sie hatte ihn sehr schwer mitgenommen<br />

und den ansonsten kerngesunden Organismus Pelés tagelang ins Bett<br />

gebannt. Die Bronchpneumonie war im Juli 06 aufgetreten, nachdem wir erarbeitet hatten,<br />

dass Gina keinesfalls eine Prinzessin sondern ein normaler Mensch war. Sie war<br />

aber auch nicht dasjenige personifizierte, von Pelé befürchtete Gift, das in seine letzten<br />

Körperzellen eindringen und <strong>die</strong>se auflösen würde. Dieses hatte er in einer psychotisch<br />

anmutenden Weise geäußert. Er hatte damals dringend zusätzliche Termine erbeten,<br />

<strong>die</strong> ich aber ihm nicht zugestanden hatte. Die damalige Zeit zutiefst existentiell empfundener<br />

Vergiftung hatte er dadurch überwinden können, dass er Gina nachts beim Schlafen<br />

beobachtete. Er stellte fest, dass sie Beide einen unterschiedlichen Schlafrhythmus<br />

hatten. Dieser unterschiedliche Schlafrhythmus hatte ihm geholfen zu sehen, dass sie<br />

zwei verschiedene Körper waren, und dass von ihr keine Gefahr ausging, sie könnte mit<br />

ihm verschmelzen und ihn hierdurch auflösen.<br />

Dass er Gina kannte, hatte ich erst 40 Tage vor seinem eingreifenden Atemwegsinfekt,<br />

also der Bronchopneumonie erfahren. Vier Wochen zuvor im Mai o6, also rund 70 Tage<br />

vor der Bronchopneumonie , hatte sie sich ihm körperlich genähert. Er hatte tief durchgeatmet.<br />

Noch am selben Tage hatte er gespürt, wie eine Entzündung der Atemwege<br />

im Verzuge war. Sie war glücklicherweise weniger dramatisch als <strong>die</strong> Bronchopneumonie<br />

abgelaufen. Als Pelé mir damals, d. h. 40 Tage vor der Bronchopneumonie stehend<br />

mitteilte, welche Bedeutung Gina für ihn hatte, hörte ich auch, dass sie sich<br />

bereits ein Jahr lang, also seit Juni 05 gekannt hatten. Gina nahm in unserer Therapie<br />

aber erst 300 Tage später eine überragende Bedeutung ein, d. h. erst dann nahm ich<br />

sie als Person wahr. Heute sehe ich: Gina trat dann in unsere therapeutische Beziehung<br />

ein, als <strong>die</strong> Wasserzeremonie ausreichend abgesichert war; als Pelé innerhalb der<br />

therapeutischen Dyade trinken konnte, weder einen trockenen Mund bekam oder sich<br />

gar verschluckte. In der Einführung von Gina sehe ich das bevorstehende Ende <strong>des</strong><br />

Heute in seinem prozesshaften Ablauf.<br />

19


20<br />

3.2 Gestern und der Reim: Luft trinken und Wasser trinken reimen sich<br />

Wolfram Schüffel<br />

Das Gestern begann im Mai 06 und führte <strong>zur</strong>ück auf Februar 05. Es umfasste also 15<br />

Monate mit durchschnittlich einer Sitzung pro Woche, bei starker Variation zwischen<br />

Vorlesungszeit und Semesterferien. Durchgehend, wie auch im Abschnitt „Heute“ wurde<br />

das Arbeiten durch eine gestalttherapeutisch-körpernah arbeitende Psychotherapeutin<br />

supervi<strong>die</strong>rt.<br />

Pelé berichtete, wie er immer häufiger einen „Stender“ hatte, wenn er an Gina dachte<br />

oder mit ihr telefonierte. Der „Stender“ konnte bis zu anderthalb Stunden anhalten. Er<br />

sprach darüber, wie er zusätzlich im Analbereich Unempfindlichkeit im Sinn eines Nicht-<br />

Spürens beobachtete. Dabei vollzog er regelmäßig täglich <strong>die</strong> Defäkation. Hier waren<br />

<strong>die</strong> Beziehungen von Gefühlen zu Körperwahrnehmungen äußerst distanziert geschildert.<br />

Selbst <strong>die</strong> Ejakulationen wurden objektivierend beschrieben. Ähnlich distanziert<br />

waren <strong>die</strong> Beschreibungen, wie er Luft einholte und auswarf; lediglich <strong>die</strong> Mundhöhle in<br />

ihrer übermäßig feuchten Fülle wie in ihrer Trockenheit wurde persönlich-individuell<br />

empfindend dargestellt.<br />

Zwei Monate <strong>zur</strong>ück, also im April 06 berichtete er mir über <strong>die</strong> noch immer spürbaren<br />

Nachwehen einer damals lange geplanten Adenoidentfernung (siehe unten). Wiederum<br />

zwei Monate <strong>zur</strong>ück saßen wir mit ausgezogenen Schuhen im Sessel gegenüber. Es<br />

war Winter, im Februar 06. Die Bodenheizung wärmte <strong>die</strong> Füße. Durch <strong>die</strong> große Glasfläche<br />

<strong>des</strong> Behandlungsraumes schien <strong>die</strong> Klare <strong>des</strong> Februartages hinein. Es ging darum,<br />

wie <strong>die</strong> Festigkeit <strong>des</strong> Bodens in den Körper aufgenommen wurde, in den Beckenboden<br />

hinein, im Zwerchfell nachzuspüren war. Es ging um Schlucken und tiefes Durchatmen,<br />

also ein aus der Tiefe aufsteigen<strong>des</strong>, den Schlund schließlich erreichen<strong>des</strong><br />

Empfinden.<br />

Im Dezember 05, also elf Monate vor der jetzigen Niederschrift und drei Monate vor der<br />

Klarheit <strong>des</strong> Februartages mit seiner Beheizung, fühlte sich Pelé durch mich „herangenommen“.<br />

Zu <strong>die</strong>ser Zeit hatte er „Schleim im Überfluss.“ – Das kontrastierte mit dem<br />

Monat zuvor, d. h. mit Oktober 05: Nicht einmal Schleim hatte er damals, um „zu<br />

spucken“, nicht einmal einen Ort „zum Scheißen“ gab es. Im Oktober 05 und übergehend<br />

noch in <strong>die</strong> ersten Novemberphasen war es <strong>zur</strong> „Chaos-Zeit“ gekommen: Unter<br />

wellenartigen Schmerzen musste er fünf bis sechs mal täglich Stuhl absetzen. Er hatte<br />

stärkste Bauchschmerzen.<br />

Parallel hierzu war <strong>die</strong> Rekonvaleszenzperiode nach einer Adenoid-Operation abgelaufen.<br />

Er war im September 05 operiert worden (also zum Zeitpunkt der Niederschrift<br />

13 Monate zuvor und fünf Monate vor dem Februartag) und erlebte nach der Operation<br />

ungeahnte Freiheiten im Nasen-Rachenraum: Er konnte frei durch <strong>die</strong> Nase atmen und<br />

im Rachenraum beobachtete er, wie er L u f t t r i n k e n konnte. Wie berauscht<br />

erzählte er mir hiervon. In <strong>die</strong>sem Abschnitt war er zum Lufttrinker geworden. Er jubelte:<br />

„Ich trinke Luft.“ Er spürte <strong>die</strong>ser Erfahrung inbrünstig nach, indem er Rad fuhr und sich<br />

bis an <strong>die</strong> Grenzen der Belastbarkeit verausgabte. Er schluckte, sein Brustkorb, seine<br />

Bauchdecke senkte sich in einer durchgehenden Bewegung.<br />

Es war kein leichter Entschluss gewesen, sich der Operation zu unterziehen. Er hatte<br />

Angst vor der Narkose. Doch ab Juli beginnend bis in den August 05 hineinziehend,<br />

hatte er sich wachsend sicherer gefühlt: Der Schleim war morgens fast weg, er erstickte<br />

ihn nicht, er musste nicht mehr hiervon aufwachen (vgl. Februar 05). Magen und Darm


Rhythmus, Rätsel, Reim – <strong>des</strong> Lebens. Funktionelle Erstarrung und das Aus in der FE<br />

blieben „still“. Er hatte sich bereits damals vorgenommen, aus der Operation als „Lufttrinker“<br />

hervorzugehen. Als jemand, der zu schlucken vermochte.<br />

Was war vor <strong>die</strong>sem bemerkenswerten Ereignis „Lufttrinker werden und sein“ abgelaufen?<br />

Anfang Juli 05 hatte er <strong>die</strong> Fortsetzung der Therapie mit zwei Forderungen verbunden:<br />

1. maximal einmal wöchentlich kommen statt zweier Sitzungen wöchentlich, wie es<br />

gelegentlich im Semester geschah;<br />

2. wenn er während der Therapie Wasser bekommen würde.<br />

Bevor er <strong>die</strong>se Forderungen stellte, hatte Pelé einen „riesengroßen Stein, doppelt so<br />

groß wie der After geschissen“. Das war im Mai 05 geschehen. Das Defäzieren war mit<br />

einem Geruch der Fäulnis verbunden, als würde eine innerlich vermodernde Zwiebel<br />

gehäutet. – Noch einen Monat zuvor hatte er sich taub, wie ohne Verbindung zwischen<br />

Schlund und Enddarm empfunden. Die Region <strong>des</strong> gesamten Gesäßes fühlte sich für<br />

ihn taub an. Er wusste nicht, ob der Kot ausgetreten war oder weiterhin in der Analregion<br />

Richtung Klobecken hing. In <strong>die</strong>sem Monat, es war durchgehend der April <strong>des</strong> Jahres<br />

2005, fühlte er sich müde und ekelte sich vor sich selber.<br />

Er hatte im März, Februar erlebt, wie <strong>die</strong> Freundin Helga tonsillektomiert worden war. Er<br />

empfand sich ihr in einer ausgesprochenen Weise nahestehend. Er verglich ihre Tonsillen<br />

mit seinen Polypen. Beide gehörten zusammen. Er berichtete mir von <strong>die</strong>ser Zugehörigkeit<br />

Ende Februar 05, also kurz nach Therapiebeginn. Ihm war es inwendig kalt.<br />

Er wachte in den damaligen Tagen von übermäßiger Schleimbildung bedrängt auf.<br />

Beim Weiterverfolgen der Zeitachse würden wir <strong>zur</strong> ersten Begegnung kommen, <strong>die</strong> ich<br />

geschildert hatte. Für mich war aus <strong>die</strong>ser Begegnung <strong>des</strong> ersten Tages haften geblieben:<br />

Er brauchte Flüssigkeit für seine Zunge und für seine Schleimhaut im Mund und<br />

Schlund, um zu sprechen. Sehr nachdrücklich war <strong>die</strong> Frage gekommen: „Wo<br />

bekomme ich HIER das Wasser?“ In meinem Empfinden war das mit der von Pelé nicht<br />

ausgesprochenen Frage verbunden: Wie wird <strong>die</strong>ser Behandler hier mit meinem<br />

Bedürfnis nach Wasser in der Zukunft umgehen? Ich selbst hätte zu <strong>die</strong>ser Zeit nie an<br />

eine derartige Frage gedacht, sie war mir also nicht bewusst, sie war mir nicht „in den<br />

Sinn“ gekommen. In einer sinnlichen Form war sie dagegen durchaus vorhanden. Es<br />

war stimmungsmäßig los-gelöst von allen Quellen, d. h. er hatte Durst. Er wie ich konnten<br />

den Durst situativ nicht benennen: Wir waren taub. Aus therapeutischer Einstellung<br />

heraus sagte ich: generelle sinnliche Taubheit gibt es nicht. Lassen wir uns ein, gehen<br />

wir mit der Aufgabe verantwortungsvoll um.<br />

3.3 Morgen: Trinken in der Gemeinschaft und wie sich scheinbar rätselhafte<br />

funktionelle Erstarrung löst<br />

Das Morgen beginnt im Oktober 2006, also in den derzeit ablaufenden Wochen. Ich<br />

erinnerte vorhin daran, dass es sich um eine Therapie im Fortschreiten handelt, zum<br />

Zeitpunkt der heutigen Tage in Rothenburg und weit, weit in <strong>die</strong> Zukunft hinein reichend.<br />

Pelé schilderte in der ersten Oktobersitzung, wie er seinen Ärger über Gina<br />

nicht nur deutlich verspürte, sondern ihn äußerte. Er hielt es nicht mehr aus, er sagte es<br />

21


22<br />

Wolfram Schüffel<br />

Gina im voraus: Er werde es <strong>zur</strong> Ejakulation kommen lassen. Sie schrie fast auf. Doch<br />

er sagte in bestimmter Form: „Ich übernehme <strong>die</strong> Verantwortung.“ Es kam ihm vor, als<br />

hätte er ein Zauberwort gesagt: Gina entspannte. Als er tatsächlich ejakulierte, zeigte<br />

sich Gina gelassen, fast nahm sie nicht <strong>zur</strong> Kenntnis, wie der Samen zum Teil über ihr<br />

Bein lief.<br />

Ich mache hier, d. h. vor dem Morgen und <strong>des</strong>sen Ungewissheit stehend, einen Schnitt<br />

in meinem Bericht und frage, wie sich in einer Zeit von 19 Monaten Stimmung, Situation,<br />

Einstellung und Umgang verändert haben. Daraus würde <strong>die</strong> Frage resultieren: Wie<br />

könnte aus der Veränderung heraus der Nächste Schritt gestaltet werden?<br />

Die vorher unbestimmte Stimmung war be-Stimmt geworden, durch Pelés Entschiedenheit,<br />

sich selbst zu spüren, seine Quellen zu akzeptieren. – Die Situation hatte sich<br />

dadurch verändert, dass er Gina nicht nur kennenlernte, sondern dass sich <strong>die</strong> Beziehung<br />

zu ihr in ungeahnter Weise intensivierte. Er hatte sich längst von Helga getrennt<br />

(bereits März o5). Er konnte sich in weiten Bereichen empfinden, fühlte sich nicht mehr<br />

taub. Das betraf vor allem den Leib und <strong>die</strong> Analregion. Mich selbst hatte er als be-<br />

Stimmend erlebt. – Die Einstellung war zuversichtlich geworden. Er sagte nicht mehr,<br />

das Gewünschte bliebe aus, sondern er erlebte, wie das Gewünschte sich nicht nur mit<br />

Gina einstellte, sondern von ihm aktiv zu fördern war. – Vorausgegangen war das Empfinden,<br />

trennen zu können, wie er Wasser trinkt und wie er Luft trinkt. - Im Umgang war<br />

er nicht mehr schwach gegenüber aller Bewegung, sondern verfügte jetzt über <strong>die</strong><br />

Bewegung bzw. ließ sie zu. Bewegungsmäßig war Luft trinken in das Wasser trinken<br />

übergegangen, Wasser trinken in das Luft trinken. Diese Bewegung war zu einer Kreisbewegung<br />

geworden. In verdichteter Weise ließ er sinnliche Erregung zu, ließ es <strong>zur</strong><br />

Ejakulation kommen, ließ in Gegenwart Ginas den Schlaf über sich kommen und schlief<br />

ein. Mir, dem Dritten gegenüber berichtete er.<br />

Es ist eine Therapie im Werden, über <strong>die</strong> ich hier berichte. Das Ende <strong>die</strong>ser Therapie ist<br />

zum derzeitigen Lebensabschnitt abzusehen: Mitte nächsten Jahres wird Pelé mit größter<br />

Wahrscheinlichkeit Marburg verlassen. Nunmehr setzt ein Therapieabschnitt ein, an<br />

dem in elementarer Weise und wachsend durch Rhythmus bestimmt Dritte teilhaben.<br />

Sie, liebe TeilnehmerInnen, haben derzeit Teil hieran.<br />

4.0 Funktionelle Erstarrung und das Aus in der Therapie<br />

Ich komme zum letzten Abschnitt, der vier Hauptüberlegungen umfasst: Zum Lufthunger,<br />

<strong>zur</strong> Funktionellen Erstarrung, <strong>zur</strong> Lebendigkeit <strong>des</strong> Symptoms und <strong>zur</strong> Gemeinschaft<br />

als Schöpferin einer Sprache <strong>des</strong> Aus.<br />

4.1 Lufthunger: Die Luft und der Schlund<br />

Von „Lufthunger“ spricht Marianne Fuchs. Die erste Selbsterfahrung <strong>des</strong> Neugeborenen<br />

in seiner Umwelt, so führt sie aus, beruht auf dem Zusammenwirken von Umwelt und<br />

„Lufthunger“. Es geht nicht um das Saugen an der Mutterbrust, sagt Marianne Fuchs.<br />

Es ist <strong>die</strong> Berührung mit der Luft. Sie führt aus: „Schon das Angefasstwerden und noch<br />

vorher <strong>die</strong> Berührung mit der Luft setzt eine sich öffnende Beteiligung <strong>des</strong> Säuglings im<br />

Schlund voraus, <strong>die</strong> zum ersten Schrei führt… Im sensiblen Mundraum liegen …. <strong>die</strong><br />

Werkzeuge bereit…. . Das Wechselspiel von Ein und Aus, von Haben und Hergeben,<br />

von Aufnehmen und Loslassen beginnt. … Weil sich im Rhythmus und der lebendigen


Rhythmus, Rätsel, Reim – <strong>des</strong> Lebens. Funktionelle Erstarrung und das Aus in der FE<br />

Gestalt empfindbare (Kursiv durch den Autor) Veränderungen ausdrücken und verstehen<br />

lassen, können <strong>die</strong>se Bedürfnisse zum Entschlüsseln von Gefühlen, Stimmungen<br />

und Vorstellungen beitragen. …. (Der so empfindende Mensch; der Autor) bekommt<br />

Achtung und Vertrauen in unsichtbare Vorgänge, spürt, ob „es“ stimmt, oder was er für<br />

sich tun oder lassen kann.“ (M. Fuchs, 1988: 154 ff.).<br />

Die Sätze wurden zu dem Zeitpunkt geschrieben, als auf meine Einladung hin im Oktober<br />

1986 in Marburg <strong>die</strong> Arbeitsgruppe „Subjektive Anatomie – Funktionelle Entspannung“<br />

begründet wurde. Rolf Johnen schreibt als Mitbegründer: „Wir konnten uns auf<br />

<strong>die</strong> Formulierung einigen, dass <strong>die</strong> Funktionelle Entspannung eine Methode ist, das<br />

(bisher oder <strong>zur</strong> Zeit) Unbemerkte im Körper zu bemerken (R. Johnen, 1988: 170). In<br />

den folgenden sechs Arbeitsjahren entstand unter Mitwirkung von ursprünglich 17, dann<br />

13 Autorinnen und Autoren ein Buch, das Leser dazu verlocken soll, „…selbst Erfahrungen<br />

mit dem eigenen Körper zu machen und <strong>die</strong>se zu reflektieren“ , wie es in der Einleitung<br />

(1994:VIII) zu <strong>die</strong>sem Buche steht (Armin A. et al., 1994).<br />

Zwei Hauptlinien wurden in <strong>die</strong>ser Gruppenarbeit verfolgt, <strong>die</strong> ich seit der Zeit der<br />

Anamnesegruppengründung im Jahre 1983 (Schüffel, et. al., 1983) im Auge hatte und<br />

an der jetzt als Senioren Marianne Fuchs und Thure von Uexküll teilnahmen : Die Teilnehmer<br />

wollten <strong>die</strong> Entwicklung einer Krankengeschichte verstehen. Sie wollten <strong>die</strong>s<br />

mit Hilfe einer körperbezogenen Psychotherapie, dann wachsend mit Hilfe der Funktionellen<br />

Entspannung tun. Die zweite Hauptlinie war, dass <strong>die</strong> Gruppe sich in einem<br />

langwierigen Prozess auf <strong>die</strong> Ansätze einer gemeinsamen Sprache einigte. Durch <strong>die</strong>sen<br />

doppelten Arbeitsansatz, den ich nun auf dem Boden unserer Körpererfahrungen<br />

wesentlich differenzieren konnte, wurde es mir möglich, in den folgenden Jahren wachsend<br />

<strong>die</strong> Beschwerden meiner Patienten nicht nur zu verstehen, sondern mich auch mit<br />

meinen Mitarbeitern hierüber auszutauschen. Als mir Pelé von meinem Kollegen in der<br />

Hals-Nasen-Ohrenklinik überwiesen wurde, konnte ich sehr schnell wahrnehmen, dass<br />

sein Symptom wesentliche Bedeutungen enthielt. Ich erinnerte mich, eine wie wichtige<br />

Rolle <strong>die</strong> „Hand als Spür- und Beziehungshilfe“ in unseren Gruppendiskussionen der<br />

Subjektiven Anatomie gespielt hatte (1994: 150). Für mich, dem Schlucken <strong>des</strong> Wassers<br />

nachspürend, wurde das Wasser zu einer Hand der Umwelt, <strong>die</strong> sich um Pelés<br />

Schlund gleichsam schmiegte, um Larynx und Pharynx in ihrer so großen Nähe und<br />

zugleich in ihrer so großen funktionellen Unterschiedlichkeit. Ich ließ mich auf den<br />

Rhythmus <strong>des</strong> Wassertrinkens ein, musste (oder durfte?) zunächst <strong>die</strong>se Hand als eine<br />

Art Rätsel sehen. Da mir jedoch in <strong>die</strong>ser Situation das Trinken stimmig erschien,<br />

gelang es allmählich, Larynx und Pharynx in ihrer Funktion gleichermaßen wahrzunehmen<br />

und in ihrer Abstimmung den Reim, eben den Reim <strong>des</strong> Lebens von Pelé zu<br />

erspüren.<br />

4.2 Funktionelle Erstarrung<br />

Ein wesentliches Ergebnis der damaligen körperbezogenen Gruppenarbeit, vielleicht ist<br />

es sogar das zentrale Ergebnis, ist darin zu sehen, dass sechs detailliert abgehandelte<br />

und vor allem kommentierte Krankengeschichten (Kranken-geschichten, 1992) entstanden<br />

sind, <strong>die</strong> sich durch weite Bereiche der Gesamtmedizin hindurchziehen. Sie sind<br />

ausnahmslos ohne Nennung der Autorennamen aufgeführt. Dadurch soll ausgedrückt<br />

werden, dass <strong>die</strong> Gruppe <strong>die</strong> höchste Form der Gemeinschaftsleistung erbracht hat. Die<br />

individuelle Behandlerin bzw. der individuelle Behandler hat sich auf <strong>die</strong> Gruppe einge-<br />

23


24<br />

Wolfram Schüffel<br />

lassen und umgekehrt <strong>die</strong> Mitglieder der Gruppe auf den Behandler und <strong>die</strong> Behandlerin.<br />

– In <strong>die</strong>sen Krankengeschichten ist nun in außerordentlich präziser und regelhaft<br />

neu auftretender Weise beschrieben, wie vorher Verfestigtes aufgelöst wird. So lauten<br />

<strong>die</strong> Formulierungen etwa: „Es ist, als ob etwas Verfestigtes aufgebrochen ist“ (Colitis<br />

ulcerosa, S. 198); das „Ausgegossene“ (Somatische Depression, S. 203); „Zwei Eisenbänder“<br />

(Chronischer Schmerz, S. 208). Verfestigtes, Ausgegossenes, Eisernes werden<br />

hier mit dem Begriff „Erstarrung“ zusammengefasst. Erstarrt ist <strong>die</strong> lebendige Funktion,<br />

<strong>die</strong> im gesunden Leben erwartet wird. In der Therapie geht es um das allmähliche<br />

Auflösen im Loslassen. Doch vermag ich nur das aufzulösen, <strong>des</strong>sen Bedeutung ich<br />

erspüre. Ich muss es nicht notwendigerweise kennen oder gar kausal-genetisch<br />

erklären können. Wichtig ist, dass ich mich auf <strong>die</strong> Stimmung einlasse, also auf Rhythmus<br />

und Reim einschwinge, <strong>die</strong> beide aus der Stimmung erwachsen. Dann wird es mir<br />

möglich, mich auf das Symptom einzulassen.<br />

4.3 Die Lebendigkeit <strong>des</strong> Symptoms erspüren<br />

Für mich ist das Symptom ein Widerstreit und ein Wechselspiel vier verschiedener<br />

Bedeutungen. Es geht um Wünschen, Wegschieben, Aufschieben und Auflösen (Schüffel,<br />

2005).<br />

Pelé wünscht sich eine Beendigung der von ihm so empfundenen Überproduktion von<br />

Schleim. Weggeschoben wird von ihm der Gedanke, dass es hier letztlich um ein<br />

aggressives Entsorgen schleimumhüllter Partikel imaginierter, man könnte sagen virtueller<br />

Art geht, <strong>die</strong> Ärger, Wut und Kampf gegen Abhängigkeit vertreten. Schleim und<br />

Imagination stellen eine Einheit. Es ist wie im vorgeburtlichen Zustand, während<strong>des</strong>sen<br />

nicht zwischen Trinken und Atmen unterschieden wird, vielmehr eine einzige Bewegung<br />

zwischen vorgeburtlichem Subjekt und mütterlicher Umwelt stattfindet. – Aufgeschoben<br />

wird von Pelé eine Wahrnehmung <strong>die</strong>ser Funktionszustände <strong>des</strong> Trinkens und Atmens<br />

in ihrer Unterschiedlichkeit auf immer neue Stufen. – Aufgelöst wird schließlich <strong>die</strong><br />

zugrunde liegende schmerzliche Problematik, wenn im Zusammentreffen mit verschiedensten<br />

Menschen in unterschiedlichsten Umgebungen gemeinsam geatmet und<br />

getrunken werden kann. Je nachdem, in welcher Periode ich mich mit Pelé befand,<br />

rückte eine <strong>die</strong>ser Bedeutungen stärker in den Vordergrund. Meine Aufgabe war, <strong>die</strong>se<br />

vier Bedeutungen als eine Gesamtheit wahrzunehmen und <strong>die</strong>ser Gesamtheit in ihrem<br />

Bedeutungsspektrum nachzuspüren. Auf <strong>die</strong>se Weise konnte ich <strong>die</strong> Dynamik <strong>des</strong><br />

Wechselspieles bzw. <strong>des</strong> Widerstreites empfinden, <strong>die</strong> im Symptom enthalten war.<br />

4.4 Die Gemeinschaft findet <strong>die</strong> Sprache <strong>des</strong> Aus<br />

Diese Veranstaltung steht unter dem Hauptthema „Freud und <strong>die</strong> Folgen.“ – Ich wurde<br />

an anderer Stelle, es war anlässlich <strong>des</strong> <strong>die</strong>sjährigen Maitreffens der Anamnesegruppen<br />

in Wien, zum „Wahn und Sinn in der Medizin“ gefragt, was Freud für mich und mein<br />

Arbeiten gebracht habe. Verursacher <strong>die</strong>ser Frage war Thomas Loew gewesen mit<br />

seinem Vortrag: „Wie weit trägt <strong>die</strong> Anamnese(gruppe)?“ Ich sagte daraufhin den <strong>fragen</strong>den<br />

Studenten und Studentinnen nach einigem Überlegen, ich möchte das als Vierteiler<br />

beantworten: Nichts, sehr viel, sehr viel, sehr viel. Was meine ich damit?<br />

- Nichts, außer Erschwernissen, Freud war nicht im min<strong>des</strong>ten interessiert an der<br />

generellen Erklärung von Körperkrankheiten.


Rhythmus, Rätsel, Reim – <strong>des</strong> Lebens. Funktionelle Erstarrung und das Aus in der FE<br />

- Sehr viel: Denn erst durch <strong>die</strong> Psychoanalyse haben wir erfahren, dass das UBW<br />

wie von Freud beschrieben in 90 % und mehr der Fälle von Körperkrankheiten<br />

wichtig ist.<br />

- Sehr viel: dass durch Freud, Ferenczi und Balint angeregt worden worden sind, zu<br />

erarbeiten, wie stark und wie nachhaltig der Faktor Gegenübertragung wirkt.<br />

- Sehr viel: denn ohne Freud wäre der Widerhall undenkbar, den Menschen wie<br />

Groddeck, von Weizsäcker, Marianne Fuchs, heute Kleinman u. a. fanden, um<br />

vom Narrativ bzw. allgemein von Biographie in der Medizin zu sprechen.<br />

Wir dürfen uns als Freuds kreative Erbinnen und Erben nunmehr darauf konzentrieren,<br />

das Bedeutsame und das Sinn-Volle, eben das Sinnen-Volle jenseits <strong>des</strong> Verbalen zu<br />

erspüren. Von Übertragung und Gegenübertragung geleitet, überlasse ich mich meinen<br />

Empfindungen. Sie verweisen mich auf eine Spur. Die Spur greife ich auf. Diesen Prozess<br />

ermöglicht <strong>die</strong> F. E.<br />

Aus dem Rhythmus einer Wasserzeremonie und ihren Vorläufern war es zunächst zu<br />

Reimen, d.h. zu Schwingungen benachbarter, später weiter entfernter Körperregionen<br />

gekommen. Zwischen Rhythmus und Reim aufgehoben war Rätseln <strong>des</strong> Trinkens,<br />

Schluckens, Atmens und Trinkens nachgespürt worden. Pelé hatte sowohl Wasser wie<br />

Luft getrunken und war nicht erstickt. Der Schleim, der Schlucken gleichermaßen<br />

ermöglicht wie Ersticken herbeiführen kann, war im Rhythmus <strong>des</strong> Lebens eingebunden<br />

worden. Ich meine, dass wir 150 Jahre nach Freuds Geburt unseres erweiterten<br />

Bewusstseins gewiss sein sollten. Aus <strong>die</strong>sem Bewusstsein heraus wird es möglich<br />

werden, in frühe Stufen körperlichen Erinnerns vorzudringen. Wir sind an einem Punkt<br />

angekommen, zu dem wir Entscheiden<strong>des</strong> zu einer Theorie der Medizin beitragen können:<br />

Lebensgestalten<strong>des</strong> können wir beschreiben, das aus der Beziehung erwächst<br />

und uns <strong>die</strong> Gestalt <strong>des</strong> Anderen erspüren lässt.<br />

Als ehemaliges Mitglied der Arbeitsgruppe Subjektive Anatomie wäre ich Ihnen dankbar,<br />

wenn ich mich mit Ihnen zu Ihren Eindrücken zum Luft- und Wasser-trinken austauschen<br />

könnte, mit Ihnen nachspüren würde. Bitte verzeihen Sie mir bereits jetzt, wenn<br />

ich an einigen Stellen unverständlich war und gar Dinge gesagt habe, <strong>die</strong> nicht der F.E.<br />

entsprechen. Ich würde mich freuen, könnten wir hierüber in eine Diskussion kommen.<br />

5.0 Zwischen Zeremonie und Rhythmus – eine Gruppendiskussion in der Arbeitsgemeinschaft<br />

Funktionelle Entspannung zum Nächsten Schritt<br />

„Es muss weit nach hinten, zu den Ohren, feuchte innere Wände; das Aus macht feucht<br />

und geschmeidig. – Das Atmen tief nach hinten, zwischen <strong>die</strong> Ohren führen. Staunen<br />

macht trocken. Wenn Du den Mund trotz Staunens verschließt, wird es besser.“<br />

Marianne Fuchs, am 09.11.2006 in Erlangen über <strong>die</strong> Frage nachsinnend: „Was tut ein<br />

25jähriger mit zu viel Speichel?“<br />

Dieser letzte Abschnitt der Arbeit ist aus einem zeitlichen Abstand von anderthalb<br />

Monaten geschrieben. Er beinhaltet <strong>die</strong> abschließende Diskussion <strong>des</strong> vorliegenden<br />

Textes als Vortrag, Diskussionsgegenstand und vor allem als ein Angebot an eine<br />

Arbeitsgemeinschaft von Frauen und Männern, <strong>die</strong> sich im Gebiet der Funktionellen<br />

25


26<br />

Wolfram Schüffel<br />

Entspannung in beruflicher wie auch persönlicher Weise über das Jahr bewegen.Weiterhin<br />

verfolge ich das herkunftsorientierte (Abschn. 2.2) Vorgehen.<br />

Der Vortrag war als Angebot entworfen worden. Das Angebot lautete: Es findet sich ein<br />

junger 25jähriger, der über eine von ihm absonderlich erlebte Speichelproduktion klagt.<br />

Lassen Sie uns darüber nachsinnen, wie das Vermögen der Einzelnen und <strong>des</strong> Einzelnen<br />

als TeilhaberIn einer Gemeinschaft einzusetzen ist, den Umgang mit dem Speichel<br />

und der Speichelproduktion in einer angemessenen Weise zu gestalten. Dieses<br />

neuerliche Angebot beinhaltet Überlegungen zu nachfolgend aufgezählten Bereichen:<br />

Es hatte eine zeitliche Vorgabe gegeben, um das Angebot aufzugreifen; der Vortrag<br />

hatte vier Schwerpunkte beinhaltet, um <strong>die</strong> Problematik darzulegen; es war zu einer<br />

Großen Pause gekommen, um sich zu erholen und sich miteinander auszutauschen;<br />

im Plenum hatten <strong>die</strong> TeilnehmerInnen gemeinsam ihren Eindrücken nachempfunden;<br />

eine Nachbetrachtung zu Zeremonie, Rhythmus und Nachspüren war eingeleitet worden.<br />

5.1 Zeitliche Vorgabe, um das Angebot aufzugreifen<br />

Es gab eine zeitliche bzw. eine zeitlich-strukturelle Vorgabe: 10 Minuten Einführung, 25<br />

Minuten Vortrag, 15 Minuten Große Pause, 20 Minuten Plenumsdiskussion, einschließlich<br />

eines fünfminütigen Puffers, also eine Gesamtzeit von 75 Minuten. – Zeitlich-strukturell<br />

bedeutet, dass <strong>die</strong> Diskussionsleiterin Dorothe Schweitzer, selber zertifizierte FE-<br />

Ausbilderin und durch zwei Arbeitsgespräche mit dem Autor vorbereitet, sich auf einen<br />

Wechsel zwischen Plenum und Kleingruppenarbeit eingestellt hatte. Ihre Grundeinstellung<br />

formulierte sie mit der Begrifflichkeit „schaumermal“, d. h. lassen wir uns auf das<br />

Angebot ein, spüren einer sich entstehenden Stimmung nach und gestatten uns, soweit<br />

als möglich loszulassen. Das Aus würde im Vergleich zum Ein betont werden.<br />

5.2 Vortrag; <strong>die</strong> Fallgeschichte mit ihren vier Schwerpunkten<br />

Der Vortrag war darauf ausgelegt, aus einer ablaufenden Therapie heraus, <strong>die</strong> also<br />

keineswegs abgeschlossen ist, zu erarbeiten, wie Behandler und Patient, Patient und<br />

Behandler Gestalthaftes herausarbeiten, das auf einen Menschen mit seinen Begabungen<br />

und in seinem Lebensentwurf hinweist und ihm hilft, <strong>die</strong>sen zu ver-wirklichen. – In<br />

der knappen Zeit von 25 Minuten hatte ich mich darauf konzentriert, vier Teile einer<br />

Geschichte mitzuteilen: <strong>die</strong> Speichelproduktion (der „Patient“; erste Stunde und Darstellung<br />

der Doppelproblematik); <strong>die</strong> Geschichte <strong>des</strong> „Saba“ von Gina in ihm (das Heute);<br />

<strong>die</strong> Kontinuität einer Geschichte, <strong>die</strong> eingebettet ist in <strong>die</strong> Wasserzeremonie und in<br />

<strong>die</strong> Erfahrung <strong>des</strong> Lufttrinkens sowie in <strong>die</strong> Erfahrung eines stimmiger reagierenden und<br />

arbeitenden Gastrointestinaltraktes (das Gestern); seine vehement vorgetragene Bereitschaft<br />

<strong>zur</strong> Übernahme von Verantwortung, d.h. für <strong>die</strong> Ejakulation, damit seine eigenen<br />

Bewegungsabläufe zu vertreten (das Morgen).<br />

Kommentierend war ich auf meine eigenen Erfahrungen in der Zeit vor, während und<br />

nach der Arbeitsgemeinschaft „Subjektive Anatomie“ eingegangen. Sie war über viele<br />

Jahre hin Teil einer durchgehend und lebenslang betriebenen körper-bezogenen Gruppenarbeit<br />

in meinen Visiten und Therapien geworden (Schüffel, 1998). Die Erfahrungen


Rhythmus, Rätsel, Reim – <strong>des</strong> Lebens. Funktionelle Erstarrung und das Aus in der FE<br />

während der Zeit in der Arbeitsgemeinschaft „Subjektive Anatomie“ waren dadurch be-<br />

Stimmt gewesen, dass ich er-Fuhr, wie ich während <strong>des</strong> Nachspürens bedeuten, also<br />

das Geschehnis mit einer Bedeutung belegen konnte. Das geschah immer dann, wenn<br />

ich mich auf <strong>die</strong> vorherrschende Stimmung einließ und aus ihr heraus emp-Finden<br />

konnte: Ich konnte in mir Vorliegen<strong>des</strong> finden und das Gefundene mit meinem Befinden<br />

verbinden. - Welcher Stimmung würde ich begegnen, um nun an <strong>die</strong>sem Vormittage<br />

Abläufe in mir zu finden, <strong>die</strong> in mir enthalten sind, <strong>die</strong> sich mit meiner Virtualität in ihrer<br />

Aktualität (vgl. 15. Wartburggespräch; www.schueffel.com) verbinden? - Nach <strong>die</strong>sem<br />

Vortrag waren <strong>die</strong> TeilnehmerInnen in <strong>die</strong> Große Pause gegangen.<br />

5.3 Die Wiedergabe der 15-Minuten-Pause: erholen und austauschen<br />

Die TeilnehmerInnen waren in <strong>die</strong> Pause gegangen. Dort hatten sie Wasser und Wassergläser<br />

vorgefunden, um sich in Gruppen zu zwei bis fünf Personen über das Abgelaufene<br />

zu unterhalten. Nach 15 Minuten waren sie in den Plenumsraum <strong>zur</strong>ückgekommen.<br />

Die Vorgabe der Stimmung; Gefühl und Ver-Stimmung werden angesprochen<br />

Dorothe Schweitzer, <strong>die</strong> Diskussionsleiterin, ging nach der 15-Minuten-Pause auf <strong>die</strong><br />

Stimmung im Raum ein. Ob <strong>die</strong> Stimmung beschreibbar sei, fragte sie in den Raum hinein.<br />

– Die Antworten bezogen sich zunächst auf Gefühle, also nicht auf <strong>die</strong> von ihr<br />

angesprochenen und von mir erwarteten Empfindungen. Entsprechende Formulierungen<br />

wurden gebracht: „Gleich am Anfang war ein Gefühl von Durst da“, „Verworrenes“<br />

wurde gefühlt, „Verkrampftes“ wurde gefühlt. Es wurde kommentiert: „Einige hatten<br />

Durst, Einige gar keinen.“ - Allmählich schälte sich heraus, dass <strong>die</strong> Stimmung als<br />

Gefühl aufgegriffen wurde. Erst allmählich kamen Hinweise auf, vom Empfinden sprechen<br />

zu wollen: „Ich, sagte ein männlicher Teilnehmer, kam gar nicht auf den Gedanken,<br />

mein Empfinden zu merken: Es war etwas Widerliches, von dem ich mich distanzierte.“<br />

– „Ich war sehr bemüht, in Ruhe zu bleiben“ (eine weibliche Teilnehmerin, <strong>die</strong><br />

über Scham und Verwundertsein sprach). In Pelé wurde ein „nicht gewolltes“ Kind vermutet<br />

(von einer weiblichen Teilnehmerin); der Verlust einer Grenze von Innen/Außen<br />

wurde angemerkt, ein Mehr an Information wurde vom Referenten verlangt. Der verwehrte<br />

sich. Daraufhin wurden in ver-Stimmter Weise Be-Schwerden geäußert: Man<br />

wisse nicht, „was“ Arzt und „was“ Patient sei.<br />

Aus der Stimmung <strong>des</strong> Ekels, noch immer überwiegend als „Gefühl“ gemerkt, wurde<br />

eine Stimmung <strong>des</strong> Zwiespalts, gefördert durch nachträglich formulierte sachliche und<br />

körperbezogene Fragen: „Was wird, wenn „man“ nicht schluckt, wenn sich der Speichel<br />

ansammelt, wenn ich als Kind spucke?“ - Natürlich, das Baby, das ganz kleine Baby,<br />

so <strong>die</strong> Antwort, das hat Wasser im Munde, und das ist sein erstes Empfinden. Erst dann<br />

kommt <strong>die</strong> Luft. Erstmals waren Luft, Baby und Empfinden in <strong>die</strong>ser Dreiheit verbunden<br />

zum Gegenstand der Diskussion geworden. Nach der Rückkehr aus der Großen Pause<br />

ging es zunächst um eine kurze Zusammenfassung der Abläufe in <strong>die</strong>ser Pause. Während<br />

der Vortrag dazu ge<strong>die</strong>nt hatte, in einer kognitiven Weise praktisch eine Doppelproblematisierung,<br />

nämlich Problem <strong>des</strong> Patienten, Problem <strong>des</strong> Arztes darzustellen,<br />

war es in der Pause darum gegangen, zu einer Positionierung zu kommen, nämlich <strong>die</strong><br />

27


28<br />

Wolfram Schüffel<br />

Situation wahrzunehmen, für wahr zu nehmen, in der sich Patient und Arzt befunden<br />

haben. Diese Positionierung sollte ermöglichen, <strong>die</strong> Herkunft (siehe Einführung) der beiden<br />

Probleme aufzuzeigen, <strong>die</strong> Arzt und Patient mitbrachten. In der Antwort hierauf ließen<br />

sich deutlich zwei Stufen unterscheiden: Stimmung als Vorgabe und resultierende<br />

Miß-Stimmung; darauf folgend; aversives Gefühl als Zwischenstufe.<br />

Die Zwischenstufe <strong>des</strong> aversiven Gefühles<br />

Es hatte sich um <strong>die</strong> ersten Berichte und Kommentare gehandelt, <strong>die</strong> sich auf <strong>die</strong> Große<br />

Pause bezogen. Nun kam es zu einem weiteren Abschnitt in der Besprechung <strong>des</strong><br />

Pausenverlaufes. Aus <strong>die</strong>sem wurden Informationen nachgeliefert. Eine Teilnehmerin<br />

stellte bei sich ein „aversives Wechselbad“ fest: Die Geschichte, schließlich den Patienten<br />

und Menschen Pelé selbst möchte sie „wie ein Insekt unter dem Mikroskop“<br />

sezieren. Das Aversive setzte sich fort. Eine Teilnehmerin berichtete, wie sie während<br />

der Pause nicht das angebotene Wasser, sondern das mitgebrachte Wasser trinken<br />

wollte. Im Angebotenen, so meinte sie, sei Kohlesäure enthalten, das Mitgebrachte sei<br />

dagegen kohlesäurefrei. Es war, als würden <strong>die</strong> Vergiftungserfahrungen von Pelé<br />

nacherlebt. Die Teilnehmerin führte weiter aus: Da (mit ihrem Wasser) spüre sie, was ist<br />

Luft, was ist flüssig. Schließlich stellte sich heraus: Nur wenige hatten getrunken (!),<br />

keiner berichtete, wie das Wasser durch den Schlund glitt oder gar „<strong>zur</strong> Hand der<br />

Umwelt im Schlund wurde“, wie ich es unter 4.1 beschrieb und kommentierte, wenn sich<br />

Erstarrung löste. – Das war mein Eindruck, den ich auf Dorothe Schweitzers Aufforderung<br />

in <strong>die</strong>sem Stadium kurz nach Ende der großen Pause und nunmehr wieder im<br />

Plenum befindlich einbrachte. Ich betonte, wie hervorragend <strong>die</strong> Stimmung aber auch<br />

Ver-Stimmung <strong>des</strong> Hin- und Her-Gerissen-seins in/aus der von Teilnehmern empfundenen<br />

Symbiose erwuchs. Noch war aber eben <strong>die</strong>ses Empfinden nicht zum Gegenstand<br />

der Diskussion geworden.<br />

Es kam nunmehr <strong>zur</strong> eigentlichen Plenumsdiskussion. Sie stellte <strong>die</strong> besondere Gruppenleistung<br />

<strong>des</strong> Plenums dar. Eingeleitet wurde sie durch <strong>die</strong> provokante Frage der<br />

Diskussionsleiterin : „Ist <strong>die</strong> FE für Pelé nicht möglich?“<br />

5.4 Das Plenum und <strong>des</strong>sen besondere Leistung als Gemeinschaft: Empfinden<br />

aus der Übereinstimmung heraus<br />

„Be-Stimmt“ sei <strong>die</strong> FE in Pelés Situation anwendbar, kam aus dem Plenum <strong>zur</strong>ück.<br />

Doch müssten zunächst „eigene Rhythmusstörungen“ überwunden werden. Hierauf verwies<br />

eine erfahrene Teilnehmerin, <strong>die</strong> bei sich Rhythmusstörungen (<strong>des</strong> Herzens?) festgestellt<br />

hatte. Erst dann hatte sie sich auf den „Fluss“ seiner Geschichte eingelassen. –<br />

Rituale wurden aufgegriffen, wie sie „vom Patienten selbst auf- und eingebracht“ worden<br />

waren. Gemeint war das von ihm eingeführte Trinken und Wasserzeremoniell. Man<br />

schien sich allmählich mit dem Patienten in eine gemeinsame, vorgestellte Therapiesituation<br />

hinein zu bewegen. Es gelte: „Mich selbst in Ordnung bringen“. Das war <strong>die</strong> Forderung,<br />

<strong>die</strong> eine Teilnehmerin an sich selbst stellte. Sie stand in Übereinstimmung mit<br />

ihrer Vorgängerin, <strong>die</strong> von der eigenen Rhythmusstörung gesprochen hatte. Sie griff<br />

Bemerkungen auf, dass Pelé gemerkt hatte, wie seine Öffnungen nicht stimmten, er<br />

kann etwas zeigen. – Er kann zeigen als Vorstufe <strong>des</strong> Deutens und Bedeutens. Erleichtert<br />

sagte <strong>die</strong> Teilnehmerin: „Ich als Mädchen darf auch spucken.“ Sie „spuckte“, indem


Rhythmus, Rätsel, Reim – <strong>des</strong> Lebens. Funktionelle Erstarrung und das Aus in der FE<br />

sie „fest-Stellte“: Sie empfinde zwei Ohrlöcher. Durch sie zöge sich eine Verbindungslinie.<br />

Durch <strong>die</strong> Mitte der Verbindungslinie wiederum empfand sie, zöge sich eine Vertikale<br />

hindurch. Ein kreuzförmiges Gebilde entstehe, das zum Gerüst werde. Ein Mann<br />

pflichtete jetzt (im Präsens!) bei: „Ich suche Struktur im eigenen Gerüst, ich kann es“,<br />

war <strong>die</strong> sich erleichtert anhörende Formulierung <strong>des</strong> empfindenden Teilnehmers. – Eine<br />

andere Teilnehmerin pflichtete nachdenklich bei: Behutsam könne sie nachspüren, um<br />

Verbindungen herzustellen, Abgrenzungen zu merken, <strong>die</strong> ihm, dem Patienten bleiben<br />

sollen.<br />

Noch kurz zuvor drohte das Sollen in ein Müssen überzugehen: Ein männlicher Teilnehmer<br />

forderte nahezu demonstrativ im Sinne <strong>die</strong>ses Müssens, <strong>die</strong> Therapie aufzuteilen in<br />

eine Körpertherapie durch einen FE-Therapeuten und in eine Psychotherapie durch<br />

einen Psychoanalytiker. Aufgefangen wurde <strong>die</strong>se Forderung durch eine Teilnehmerin,<br />

<strong>die</strong> nachdenklich sagte, sie wolle ihrer eigenen Gegenübertragung nachspüren, um <strong>die</strong>sen<br />

beschriebenen Kreuzungspunkt festzu-Stellen. Denn dann greife sie in Pelés Organismus<br />

ein, verschiebe Grenzen, eröffne Räume. Sie solle das nicht tun, sagte sie wie<br />

zu sich selbst. Ich fügte für mich hinzu: Und sie eröffnet Räume, in denen sich neuartige<br />

Gestalten in ungewohnten Rhythmen bewegen, <strong>die</strong> Erstarrung aufgeben. Unübersehbar<br />

erschien mir in <strong>die</strong>sem Abschnitt der Diskussion <strong>die</strong> Häufung der Hilfszeitwörter, also<br />

<strong>des</strong> Könnens, Müssens etc. im Sinne der pathischen Kategorien V. von Weizsäckers<br />

(1952). Das ver<strong>die</strong>nte eine gesonderte Betrachtung.<br />

Die Diskussionsleiterin bot den TeinehmerInnen an, dass sich <strong>die</strong>se in „erdender Form“<br />

in <strong>die</strong> Pause vor den nun anstehenden Seminaren hinein<br />

begeben. – Diese Pause würde nun zu weiteren Veranstaltungen der Funktionellen Entspannung<br />

überleiten, zu denen <strong>die</strong> beiden weiteren Hauptreferate <strong>des</strong> Wochenen<strong>des</strong><br />

gehörten. Die TeilnehmerInnen schienen übereinzustimmen, mehr und mehr nachempfinden<br />

zu können. Eine Gemeinschaft wuchs heran.<br />

5.5 Eine Nachbetrachtung: Zwischen Zeremonie und Rhythmus liegt das Nachspüren<br />

Zu Beginn <strong>des</strong> Abschnittes hatte ich Marianne Fuchs zitiert mit ihrer Forderung, weit<br />

nach hinten in den Rachenraum hinein zu den Ohren hinreichend, in das Feuchte und<br />

Geschmeidige <strong>des</strong> Aus zu gelangen.<br />

In einer erstaunlichen Weise war es der Gemeinschaft gelungen, das Gerüst, <strong>die</strong> Strukturen<br />

herzustellen, <strong>die</strong> ein derartiges Nachempfinden und schließlich Nachspüren erlauben<br />

würden.<br />

Marianne Fuchs hatte aber auch auf Hindernisse hingewiesen, <strong>die</strong> ein derartiges tiefes<br />

Atmen behindern: das Staunen. Erst, so kommentierte sie, wenn der Mund verschlossen<br />

wird und <strong>die</strong>s trotz Staunens geschieht, wird „Es“ besser.<br />

Dieses „Es“ erinnert sehr stark an Groddecks „Es“, das praktisch <strong>die</strong> Bewegung durch<br />

den Körper hindurch darstellt. Zu einer derartigen Bewegung durch Pelés Körper war es<br />

gekommen. Nachdem er sich von dem übel riechenden, von ihm als riesig empfundenen<br />

Kotballen getrennt hatte, war <strong>die</strong> von ihm beklagte Taubheit in den Regionen <strong>des</strong><br />

unteren Rumpfes <strong>zur</strong>ückgetreten. Wärme war aufsteigend vom Boden über <strong>die</strong> Füße,<br />

29


30<br />

Wolfram Schüffel<br />

Beine, in das Becken in den Beckenboden hinein verspürt worden. Ausgelöst war <strong>die</strong><br />

ganze Situation dadurch, dass er staunend wahrnahm, wie ich ihn <strong>zur</strong> Speichelproduktion,<br />

d. h. zum Spucken aufforderte und der Speichel ausblieb. Zu <strong>die</strong>sem Zeitpunkt war<br />

es, wie Marianne Fuchs ohne Kenntnis der Krankengeschichte beschrieb, <strong>zur</strong> Trockenheit<br />

in der Mundhöhle gekommen. Die später erfolgende Wasserzeremonie ermöglichte,<br />

sich auf <strong>die</strong> Vorgänge innerhalb <strong>des</strong> Schlun<strong>des</strong> einzulassen. Die Zeremonie erlaubte<br />

das, was ich als Dramaturgisierung (14. Wartburggespräch) bezeichne: Die Virtualität,<br />

oder auch <strong>die</strong> Potenzen <strong>des</strong> Betreffenden kommen <strong>zur</strong> Geltung. Hier fand Pelé sich in<br />

Körperschwingungen wieder, <strong>die</strong> bis in <strong>die</strong> perinatale und pränatale Zeit hineinreichten.<br />

In seinen ausgesprochen symbiotischen und tiefsten Bezügen hatte Pelé keine Trennung<br />

herstellen können zwischen Luft aufnehmen und Wasser aufnehmen. Das ist der<br />

pränatale Zustand. Als es darum ging, ernsthaft, für ihn in einer existenziellen Weise<br />

<strong>die</strong>se Trennung vorzunehmen, kam es metaphernartig zum „Ver-Schlucken“: Er nahm<br />

<strong>die</strong> Saba von Gina als einen Fremdkörper auf, entwickelte zunächst einen kurzzeitigen<br />

Atemwegsinfekt, wenig später <strong>die</strong> Bronchopneumonie. Das Verschlucken bezieht sich<br />

auf ein ganzheitlich zu betrachten<strong>des</strong> Geschehen: Nicht <strong>die</strong> Luftröhre in Vertretung der<br />

Speiseröhre verschluckt den Fremdkörper, sondern der gesamte Körper verschluckt<br />

sich an Viren und Bakterien.<br />

In der Zeremonie werden Handlungen in der Gemeinschaft durchgeführt. Hier war es<br />

zunächst <strong>die</strong> Zweiergemeinschaft, <strong>die</strong> sich öffnete <strong>zur</strong> Dreiergemeinschaft. – In der<br />

therapeutischen Situation dagegen spürte Pelé seinem inneren Rhythmus nach. Im<br />

Zusammenkommen von Zeremonie und Rhythmus entstand <strong>die</strong> Gemeinschaft; aus der<br />

Gemeinschaft heraus erwuchs wiederum ein tieferes Verständnis für Pelé, dem es zwei<br />

Monate nach Rothenburg nicht nur unverändert gut geht, sondern der sich nunmehr<br />

ernsthaft mit seiner Verantwortung gegenüber Gina auseinandersetzt und zugleich auf<br />

das Ende seiner Stu<strong>die</strong>nzeit vorbereitet. Er ist in <strong>die</strong> Phase der Antizipation (14. Wartburggespräch,<br />

2006) eingetreten.<br />

Die Teilnehmer waren zunächst selbst in eine Erstarrung hineingeraten. Sie hatten sich<br />

aus der Erstarrung gelöst, indem sie sich innerlich wahrnehmen durften. Pele, der<br />

Patient, wurde wachsend in <strong>die</strong>ses Geschehen einbezogen, er war körperlich-leiblich<br />

präsent. Die Gestalt <strong>des</strong> Anderen in seinem Lebensentwurf erwuchs aus der Begegnung<br />

innerhalb <strong>des</strong> Plenums. Diese Bewegungsabläufe würden in Zukunft häufiger aufzeigbar,<br />

wenn Vortrag und Plenumsarbeit samt hiermit verbundener Kleingruppenarbeit<br />

als eine sich bedingende Einheit gesehen werden könnten. So ist es möglich geworden,<br />

und das war <strong>die</strong> große Leistung der Teilnehmerschaft gewesen, eine dem Subjekt<br />

gemäße und herkunftsorientierte Behandlung durchzuführen.


Rhythmus, Rätsel, Reim – <strong>des</strong> Lebens. Funktionelle Erstarrung und das Aus in der FE<br />

Literatur:<br />

Armin, A., Cluß, P., Fuchs, M., , B., Haltenhof, H., Hickmann, B., Jans, G., Johnen,<br />

R., Löhlein, L., Müller-Braunschweig, H., Schüffel, W., Uexküll, Th. von, Woelk, T.:<br />

Vorwort aus: Uexküll, Fuchs, Müller-Braunschweig, Johnen (Hrgb.): Subjektive Anatomie<br />

– Theorie und Praxis körperbezogener Psychotherapie, Schattauer, Stuttgart, 1994<br />

Fuchs, M.: Was bedeutet der Ausdruck für das menschliche Bewegen?<br />

in: Schüffel, W. (Hrsg.): Sich gesund fühlen im Jahre 2000 – der Arzt, sein Patient und<br />

<strong>die</strong> Krankheit; <strong>die</strong> Technologie, das Team und das System<br />

Springer, Berlin, 1988; S. 151 – 156<br />

Johnen, R.:Gründung einer Arbeitsgruppe „Subjektive Anatomie – Funktionelle Entspannung“<br />

in: Schüffel, W., a. a. O.<br />

Krankengeschichten (ohne Autorennennung);<br />

in: Uexküll, von, Th., Fuchs, M., Müller-Braunschweig, H. Johnen, R.: Subjektive Anatomie;<br />

Schattauer, Stuttgart, 1994; S. 185-212<br />

Loew, T.: Wie weit trägt <strong>die</strong> Anamnese(gruppe)? – Vortrag, gehalten anlässlich:<br />

Wahn und Sinn in der Medizin, 26. Maitreffen der Anamnesegruppen, Wien,<br />

25.-28.05.2006<br />

Schüffel, W. (Hrgb.): Sprechen mit Kranken – Erfahrungen studentischer Anamnesegruppen;<br />

Urban u. Schwarzenberg, München, 1983<br />

Schüffel, W.: Das Erstgespräch aus ärztlich-phänomenologischer Sicht: Symptomzentriert<br />

PDP 2005; 4: 68 – 84<br />

Vortrag, gehalten auf der Jahrestagung der AFE in Rothenburg, November 2006<br />

31


32<br />

Rolf Johnen<br />

Der Körper ist <strong>die</strong> tiefste Schicht der Seele.<br />

Verwerfungen <strong>des</strong> Körpers in der Psychotherapie<br />

1. Vorbemerkungen zu den Formulierungen <strong>des</strong> Vortragstitels<br />

a) „Der Körper ist <strong>die</strong> tiefste Schicht der Seele“<br />

In der Sprache der FE liegt <strong>die</strong> „tiefste Schicht“, <strong>die</strong> unserem Spüren zugänglich ist, im<br />

"tragenden Grund". Ich finde <strong>die</strong>sen „Grund“ in der FE, wenn ich eine Antwort auf <strong>die</strong><br />

Frage suche, wo ich den Druck spüre, den mein Körper durch <strong>die</strong> Schwerkraft auf <strong>die</strong><br />

Unterlage ausübt. Dazu heißt es im Glossar, das Marianne Fuchs ihrem Lehrbuch der<br />

Funktionellen Entspannung 1 angefügt hat:<br />

"tragender Grund": "auf Grund haben verwurzelt sein",<br />

"im Grund verwurzelt sein",<br />

"Grund = Mitte: Metapher für eine somatisch evidente,<br />

unerschütterliche Sicherheit in sich selbst".<br />

Wenn ich vom Körper als der "tiefsten Schicht der Seele" spreche, meine ich <strong>die</strong>sen<br />

"Grund". Der spürbare „Grund“ <strong>des</strong> Körpers in Raum und Zeit ist der konkrete<br />

momentane "Grund" der Seele, wobei "Grund" etymologisch zwei verschiedene Bedeutungszusammenhänge<br />

in sich trägt:<br />

(a) Die erste Bedeutung leitet sich von „Erde“ und „Boden“ ab,<br />

(b) <strong>die</strong> zweite von "der Sache auf den Grund kommen".<br />

Von der subjektiv empfundenen räumlichen Dimension (Erde, Boden) leitet sich das<br />

Erspüren und Erfassen kausaler Zusammenhänge (der Sache auf den Grund kommen)<br />

ab – übrigens auch als Grundlage für das Erfassen von Sinn-Zusammenhängen.<br />

b. „Verwerfungen <strong>des</strong> Körpers in der Psychotherapie“<br />

Was ist mit "Verwerfungen <strong>des</strong> Körpers in der Psychotherapie" gemeint? - Der Körper<br />

besitzt seine (sichtbaren oder unsichtbaren) "Verwerfungen" im Sinne von Verformungen<br />

- manchmal von Geburt an, bei uns allen zunehmend im Laufe <strong>des</strong> Älter- und Altwerdens.<br />

Auch Psychotherapie kann zu Verwerfungen <strong>die</strong>ser Art beitragen oder sie<br />

mindern; Menschen in Psychotherapie - wie in anderen intensiven Beziehungen - verändern<br />

sich in ihrer Leiblichkeit. - Daneben kann der Körper in der Psychotherapie verworfen<br />

werden im Sinne von aussondern oder wegwerfen. In meinem Vortrag geht es<br />

vor allem um das "Verwerfen" im Sinne von "Wegwerfen".<br />

2. Exkurs in <strong>die</strong> Etymologie<br />

Wenn der Körper der "Grund der Seele" ist, was ist dann <strong>die</strong> "Seele"? Etymologisch<br />

(nach Kluge) leitet sich "Seele" von der "See" ab, also vom großen Meer. - Dazu passt,<br />

dass den Germanen bestimmte Seen als Aufenthaltsort der Seelen vor der Geburt und<br />

nach dem Tode galten.<br />

Der deutsch-französische Schriftsteller und Übersetzer George-Arthur Goldschmidt hat<br />

in einem 1988 in erster Auflage erschienenen Buch unter dem Titel "Als Freud das<br />

1 Marianne Fuchs: Funktionelle Entspannung. Theorie und Praxis eines körperbezogenen<br />

Psychotherapieverfahrens. Hippokrates, Stuttgart, 6. Auflage 1997


Der Körper ist <strong>die</strong> tiefste Schicht der Seele. Verwerfungen <strong>des</strong> Körpers in der Psychotherapie<br />

Meer sah. - Freud und <strong>die</strong> deutsche Sprache" 1 dargestellt, dass <strong>die</strong> Psychoanalyse<br />

"doch nichts anderes" sei "als eine Frage nach der Sprache, eine Aufdeckung <strong>des</strong>sen,<br />

was sie (<strong>die</strong> Sprache, R.J.) (sich) selber verschweigt oder im Gegenteil hervorhebt, im<br />

Gegensatz zu einer anderen Sprache" (ebd. S. 9). - Und später schreibt er: "Die Sprachen<br />

sind wie das Meer, weit und grenzenlos, alle Küsten sind verschieden, überall ist<br />

das Wasser anders und bleibt dabei doch immer gleich, daher <strong>die</strong> Wichtigkeit <strong>des</strong> freudschen<br />

Sprachabenteuers, es deckt nämlich <strong>die</strong> grundlegende Einheitlichkeit der verschiedenen<br />

Verhaltensweisen auf, <strong>die</strong> sich jeweils auch durch <strong>die</strong> Sprachen hindurch<br />

ausdrücken und ineinander fließen, so dass <strong>die</strong> Frage zu stellen ist, ob und wie eine<br />

Sprache <strong>zur</strong> Aufdeckung der unbewusst gebliebenen Formen <strong>des</strong> Über-Ichs verhelfen<br />

kann" (ebd. S. 13). Auf das Problem <strong>des</strong> Über-Ichs gehe ich später ein.<br />

Goldschmidt vergleicht <strong>die</strong> Tiefen und Untiefen der deutschen und der französischen<br />

Sprache. Er stellt ausdrücklich fest, dass beide Sprachen gleichwertig seien, dass aber<br />

in jeder der beiden Sprachen ein eigenes "sprachliches Unbewusstes" verborgen sei. Er<br />

fragt: " Warum schweigt <strong>die</strong> eine Sprache, wo <strong>die</strong> andere spricht und umgekehrt?" (ebd.<br />

S. 9), und er arbeitet bedeutende Unterschiede zwischen beiden Sprachen heraus:<br />

· Das Deutsche sei eine Volkssprache, <strong>die</strong> sich über Jahrhunderte neben der offiziellen<br />

Kirchensprache (Latein) entwickelt habe. Es zeichne sich u. a. dadurch<br />

aus, dass es dem unmittelbaren Verstehen viel mehr entgegenkomme als das<br />

Französische (ebd. S. 9).<br />

· Die deutschen Wörter seien meist direkt aus der Sprache heraus lesbar, während<br />

viele französische Wörter aus dem Lateinischen und dem Griechischen<br />

abgeleitet seien (ebd. S. 11).<br />

· Das Deutsche habe vor allem besondere Fähigkeiten, <strong>die</strong> konkrete Räumlichkeit<br />

zu beschreiben (ebd. S 12).<br />

Hiermit sind wir in unmittelbarer Nähe der FE. Das Lehrbuch der Funktionellen Entspannung,<br />

<strong>des</strong>sen 1. Auflage vor 32 Jahren erschien, ist nicht zuletzt <strong>des</strong>halb immer noch<br />

aktuell, weil <strong>die</strong> Sprache von Marianne Fuchs so sehr (vielleicht manchmal auch: nur?)<br />

dem unmittelbaren Verstehen zugänglich ist, und weil <strong>die</strong> räumliche Dimension in <strong>die</strong>ser<br />

Sprache eine so besondere Rolle spielt.<br />

Goldschmidt vergleicht zunächst in einer einfachen historischen Perspektive <strong>die</strong> "Fluten<br />

der Sprache" mit den Fluten <strong>des</strong> Meeres: "Erst unlängst, Ende <strong>des</strong> letzten Jahrhunderts,<br />

begann man den Grund <strong>des</strong> Meeres zu erforschen, <strong>zur</strong> gleichen Zeit, als <strong>die</strong> Psychoanalyse<br />

sich aufmachte, <strong>die</strong> Seelengründe <strong>des</strong> Menschen zu entdecken. Man fand,<br />

dass das Sonnenlicht nur 250 bis 300 m unter <strong>die</strong> Oberfläche dringt, und Freud erkannte,<br />

dass nur <strong>die</strong> Oberfläche der Seele bewusst und das Bewusstsein weit davon entfernt<br />

ist, deren Gesamtheit zu durchdringen. Man hielt <strong>die</strong> Tiefen <strong>des</strong> Ozeans für unbewohnt<br />

und wusste noch nichts vom Leben <strong>des</strong> Unbewussten" (ebd. S. 16). – Und in Bezug auf<br />

<strong>die</strong> deutsche Sprache: "Es ist, als berge <strong>die</strong> deutsche Sprache <strong>die</strong> ursprüngliche<br />

Brandung der See, bewahre ihr Wiegen, Ebbe und Flut. … Die ganze deutsche Sprache<br />

ist auf dem Wechsel von Hebung und Senkung <strong>des</strong> Brustkorbes aufgebaut, auf Anund<br />

Abstieg, Hin und Her im Raum. … Im Deutschen geht alles vom Körper aus, kehrt<br />

zu ihm <strong>zur</strong>ück, geht durch ihn hindurch: Der Leib (der das Leben selber ist) hat denselben<br />

Ursprung wie das Leben (la vie, life). Der Leib ist das Leben selbst, das Leben, wie<br />

es leibt und lebt; der Leib (le corps) ist etwas ganz anderes als der Körper (le corps),<br />

1 George-Artur Goldschmidt: Als Freud das Meer sah. Freud und <strong>die</strong> deutsche Sprache. S. Fischer,<br />

Frankfurt am Main 2005<br />

33


34<br />

Rolf Johnen<br />

der dem lateinischen corpus entsprungen ist, der organische Körper und auch der Lehrkörper,<br />

le corps de metier, <strong>die</strong> Körperschaft. Der Leib dagegen ist der Körper, der ich<br />

bin, mein Leib und Leben" (ebd. S. 17). - Die Konsequenzen für <strong>die</strong> Psychoanalyse<br />

sieht Goldschmidt so: "Keine andere Sprache ist so konkret, so räumlich; das Deutsche<br />

ist, genau genommen, unfähig zu jeder Abstraktion. Seine abstrakten Begriffe bezieht<br />

es aus dem Französischen. … Bewahrt nicht das Deutsche in der physischen Präsenz<br />

<strong>des</strong> Körpers eine vage Erinnerung an <strong>die</strong> verlorene Einheit von Leben (Leib) und<br />

Erkenntnis? Und <strong>die</strong> Räumlichkeit trägt noch zum konkreten Charakter der Sprache bei:<br />

Freud musste nur ihren Übergängen folgen, ihren Linien, ihrem Ansteigen und Abfallen"<br />

(ebd. S. 17). - Und weiter unten: "Die Gesamtheit der deutschen Sprache bildet sich<br />

von der Lage und der Bewegung im Raum aus. … Die Sprache ist um einige Grundwörter<br />

wie stehen, liegen, setzen aufgebaut - d.h. um Verben, <strong>die</strong> eine Bewegung im Raum<br />

ausdrücken. … Stehen, <strong>die</strong> Senkrechte, und Liegen, <strong>die</strong> Waagrechte, bestimmen den<br />

Sinn jeder sprachlichen Äußerung im Deutschen. Nicht zufällig hat Luther vor dem<br />

Landtag zu Worms gesagt: "Hier stehe ich und kann nicht anders." Er hätte auch sagen<br />

können: "Darauf bestehe ich."… "Das Wort stehen ist eine der Hauptstützen der deutschen<br />

Sprache, einer der im Meer <strong>des</strong> Sinns au<strong>fragen</strong>den Pfähle… Unermüdlich<br />

schwappt Wasser um <strong>die</strong>se Pfosten, es kommt und geht, steigt und fällt, <strong>die</strong>ses Flüssige,<br />

aus dem <strong>die</strong> Sprache entsteht; See und Sprache sind so eng verwandt, dass im<br />

Deutschen sogar <strong>die</strong> Seele, <strong>die</strong> bei Freud eine so große Rolle spielt, aus dem Wasser<br />

kommt“ (ebd. S. 19). - Und wiederum: "Beim Vergleich <strong>des</strong> Deutschen mit dem Französischen<br />

wird deutlich, dass das Deutsche bis in sein Innerstes an <strong>die</strong> Gebärden und<br />

Begierden <strong>des</strong> Körpers gebunden ist." - Und noch ein weiterer Aspekt: "Das Deutsche<br />

ist auf der Stimme aufgebaut: Allem Sprechen liegt Muskelarbeit zugrunde, durch welche<br />

jenes zutiefst im Körper verankert ist. Die Oberfläche zeigt sich, wenn sie durch <strong>die</strong><br />

eigenen Tiefen gegangen ist; nur einen Augenblick lang treten ihre Wasser an <strong>die</strong> Oberfläche,<br />

ständig werden sie durcheinandergewühlt, auf den Grund <strong>des</strong> Ozeans getrieben<br />

und wieder empor gewirbelt. Das Meer atmet“ (ebd. S. 21).<br />

Zusammenfassend stellt Goldschmidt fest, dass das gesamte Freudsche Unterfangen<br />

darin bestanden habe, "<strong>die</strong> Sprache zum Reden zu bringen und dem, was sie zu sagen<br />

hatte, seine Aufmerksamkeit zuzuwenden" (ebd. S. 24). Das Deutsche sei "eine im<br />

Grunde volkstümliche Sprache, <strong>die</strong> ihre Etymologien aus sich selbst schöpft". Schon<br />

das Wort "deutsch" sei ein altes Wort; es bedeute "volkstümlich", aber auch "heidnisch".<br />

"Dieser volkstümliche, heidnische Charakter ist geradezu das Wesen der deutschen<br />

Sprache; ihre offenbare Unmittelbarkeit stammt vielleicht daher, <strong>die</strong> Bedeutung <strong>des</strong><br />

Raums (auszudrücken, R.J.) und wohl auch <strong>die</strong> Fähigkeit, alles Mögliche zu sagen und<br />

sich den konkreten oder abstrakten Wortschatz dafür nach Belieben zu schaffen“ (ebd.<br />

S. 27/28).<br />

Wenn ich meine Formulierung "Der Körper ist <strong>die</strong> tiefste Schicht der Seele" in <strong>die</strong> Metapher<br />

Goldschmidts übertrage, dann wäre <strong>die</strong> „Seele“ das „Meer“ und <strong>die</strong> „tiefste Seelenschicht“<br />

der „Meeresgrund“ oder <strong>die</strong> „Erde“. - Gibt es also doch eine strikte Trennung<br />

zwischen Körper und Seele? Dem ist - auch in <strong>die</strong>ser Metapher - nicht so: Die Erde<br />

trägt und begrenzt das Meer. Sie ist aber auch in den ewigen Kreislauf <strong>des</strong> Wassers<br />

zutiefst einbezogen. Sie ist - zumin<strong>des</strong>t in ihren oberen Schichten - vom Wasser durchdrungen;<br />

sie wird vom Wasser <strong>des</strong> Meeres befruchtet. Ohne das Meer wäre <strong>die</strong> Erde<br />

tot.


Der Körper ist <strong>die</strong> tiefste Schicht der Seele. Verwerfungen <strong>des</strong> Körpers in der Psychotherapie<br />

3. Der Körper als "Grund" der Seele - Grundgedanken der Psychosomatik<br />

Viele Menschen - auch manche Psychoanalytiker - glauben, Freud habe das Unbewusste<br />

entdeckt. Das ist falsch. Der Philosoph Hegel hat schon 80 Jahre vor Freud viel<br />

Wichtiges und Richtiges über das Unbewusste geschrieben, und Hegel hat sich auf<br />

Leibnitz und andere große Denker gestützt. Hegel beschrieb bereits um 1820 psychosomatische<br />

Zusammenhänge, von denen auch ich annahm, sie seien erstmals im<br />

20. Jahrhundert gesehen worden - bis ich Hegel selbst las 1 .<br />

Richtig ist, dass Freud auf geniale Weise Strukturen <strong>des</strong> Unbewussten beschrieben hat,<br />

und dass er grundlegende Wege zum Verständnis und <strong>zur</strong> Therapie psychischer und<br />

psychosomatischer Störungen gewiesen hat. Vielleicht hat er sich dabei - wie von Goldschmidt<br />

beschrieben - in besonderer Weise von den "Fluten der Sprache" leiten lassen.<br />

Könnte es übrigens sein - gestatten Sie mir <strong>die</strong>sen Gedankensprung - dass Marianne<br />

Fuchs bei ihren Entdeckungen am Körper ähnlich vorgegangen ist?<br />

Die eigentliche Leistung Freuds liegt in der Entdeckung der Bedeutung von Beziehung.<br />

Freud hat als erster gesehen, dass in der Beziehung zwischen Arzt und Patient als solcher<br />

wesentliche - manchmal <strong>die</strong> wichtigsten - therapeutische Kräfte liegen. Dass das<br />

so ist, war jahrzehntelang umstritten. Heute gilt es als Tatsache, <strong>die</strong> in vielfältiger Weise<br />

belegt ist.<br />

· Eine Reihe von jungen wissenschaftlichen Disziplinen (Bindungsforschung,<br />

Säuglingsforschung, Affektforschung u.a.) bringen täglich neue Befunde, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Bedeutung von Beziehung für <strong>die</strong> Entwicklung der Individuen und für "Gesundheit"<br />

belegen.<br />

· Die Hirnforschung arbeitet weltweit schwerpunktmäßig seit einigen Jahren an der<br />

Frage, wie aus Funktionen Strukturen werden (wie sich beispielsweise aufgrund<br />

von Lernprozessen Synapsen bilden).<br />

· Seit der Entschlüsselung <strong>des</strong> genetischen Co<strong>des</strong> vor einigen Jahren ist es still<br />

geworden um <strong>die</strong> ehrgeizigen Bemühungen, menschliches Verhalten aus den<br />

Genen und nicht aus Lernerfahrungen in Beziehungen zu verstehen.<br />

Die Modellvorstellung vom Menschen, <strong>die</strong> heute weltweit in der psychosomatischen<br />

Medizin verwendet wird, stützt sich auf das so genannte "bio-psycho-soziale Krankheitsmodell"<br />

von Engel, das allgemein bekannt ist. Im Zentrum <strong>des</strong> hierarchisch<br />

gegliederten, komplexen Systems Mensch liegt <strong>die</strong> basale Ebene der Moleküle mit physikalischen<br />

und chemischen Gesetzen. Es folgen <strong>die</strong> weiteren Ebenen: Zellen, Gewebe,<br />

Organe, Organsysteme, <strong>die</strong> Person, zwei Personen usw.. Wesentlich ist, dass <strong>die</strong> für<br />

<strong>die</strong> jeweilige Ebene typischen Gesetzmäßigkeiten von Ebene zu Ebene komplexer werden.<br />

Dabei bleiben <strong>die</strong> Gesetze der niedrigeren Ebenen auf den höheren Ebenen erhalten;<br />

<strong>die</strong> Gesetze der höheren Ebenen lassen sich aber nicht vollständig aus den Gesetzen<br />

der niedrigeren Ebenen ableiten. Dieser Sachverhalt wird als "Emergenz" bezeichnet:<br />

von Ebene zu Ebene tauchen neue (höhere) Eigenschaften auf. Niemand weiß, wie<br />

es zu <strong>die</strong>sen Sprüngen kommt; sie lassen sich nicht künstlich reproduzieren. Die Kommunikation<br />

zwischen den Ebenen geschieht durch definierte Zeichenprozesse, <strong>die</strong> hier<br />

nicht näher betrachtet werden können. Die "Seele" (Psyche) stellt in <strong>die</strong>sem Modell <strong>die</strong><br />

Systemebene dar, <strong>die</strong> den ganzen Organismus mit seinen hierarchisch gegliederten<br />

Subsystemen integriert und auf <strong>die</strong> Umwelt bezieht.<br />

1 Hierzu wurde ich angeregt und ermutigt durch einen Vortrag <strong>des</strong> bedeutenden Hegelforschers Prof. B.<br />

Tuschling im Rahmen <strong>des</strong> 13. Wartburg-Gesprächs.<br />

35


36<br />

Rolf Johnen<br />

Die aufsteigende Linie - vom Einfachen zum Komplexen - findet sich nicht nur im real<br />

existierenden komplexen, hierarchisch gegliederten System Mensch, sondern auch in<br />

der zeitlichen Entwicklung <strong>des</strong> Individuums, in der Ontogenese. In der frühesten Entwicklung<br />

wird aus Körpererleben Seelenleben. Der Säugling macht mit Mutter, Vater<br />

und Geschwistern täglich über viele Stunden <strong>die</strong> vielfältigsten Erfahrungen. Bei all <strong>die</strong>sen<br />

Erfahrungen spielt zunächst der Körper eine dominierende Rolle. Das Seelenleben<br />

entsteht durch Speicherung und Verknüpfung der körperlichen Erfahrungen innerhalb<br />

<strong>des</strong> Beziehungskontextes, wobei selbstverständlich genetische Faktoren <strong>die</strong> Möglichkeiten<br />

und das Ergebnis mitbestimmen.<br />

Zusammenfassend lässt sich nach dem heutigen Stand <strong>des</strong> Wissens folgen<strong>des</strong> Bild<br />

darstellen (siehe Anlage):<br />

a) Der Säugling wird mit breit gefächerten genetischen Anlagen geboren, <strong>die</strong> ihn in <strong>die</strong><br />

Lage versetzen, optimal an der menschlichen Gesellschaft teilzunehmen, also selbst<br />

zum Menschen zu werden. Dazu gehören:<br />

· Der Säugling wird mit fünf genetisch bedingten, differenten Antriebs-bzw. Motivationssystemen<br />

geboren, den "motivational-funktionalen Systemen" nach Lichtenberg:<br />

o Streben nach Erfüllung physiologischer Bedürfnisse<br />

o Streben nach nach spezifisch menschlicher Nähe<br />

o exploratives System<br />

o aversives System<br />

o Streben nach sinnlicher Stimulation<br />

· Der Säugling wird mit besonderen Fähigkeiten <strong>zur</strong> Wahrnehmung (differente<br />

Wahrnehmungssysteme) geboren: Gedächtnis, transmodale Wahrnehmung,<br />

Propriozeption, somästhetische Sinnesempfindungen aus dem Körperinneren<br />

und von der Körperoberfläche, Fernsinne. - Die Propriozeption ist für <strong>die</strong> FE von<br />

besonderer Bedeutung; <strong>die</strong> E. ist eine Methode <strong>zur</strong> Aktivierung der Propriozeption<br />

(siehe Fußnote 1 und 2 )<br />

· Der Säugling besitzt <strong>die</strong> Fähigkeit zu affektiven Reaktionen: kategoriale Affekte,<br />

Vitalitätsaffekte.<br />

· Der Säugling verfügt über so genannte "states". Das sind spezifische<br />

Bewusstseinszustände, <strong>die</strong> mit je spezifischen physiologischen Aktivitätsmustern<br />

gekoppelt sind.<br />

b) Im Zusammenwirken mit und abhängig von den Reaktionen der Umwelt kommt es<br />

beim Säugling und Kleinkind zu einer Entwicklung, <strong>die</strong> wir als "frühe Selbstentwicklung"<br />

bezeichnen. Diese Entwicklung ist in den letzten Jahrzehnten von verschiedenen<br />

Forschern mit unterschiedlichen Schwerpunkten dargestellt worden:<br />

· Spitz hat <strong>die</strong> Entwicklung von der koenästhetischen <strong>zur</strong> diakritischen Wahrnehmung<br />

beschrieben.<br />

1 Propriozeption: „Der sechste Sinn, durch den der Körper sich selbst erkennt und mit vollkommener<br />

automatischer, augenblicklicher Präzision <strong>die</strong> Position und Bewegungen aller beweglichen Körperteile, ihr<br />

Verhältnis zueinander und ihre Ausrichtung im Raum erfasst.“ (C.S.Sherrington)<br />

2 Durch <strong>die</strong> Propriozeption erzeugen wir ständig einen Kode, mit dem wir alle anderen<br />

Sinnesempfindungen als „unsere eigenen“ erkennen.<br />

ð „Körperschema“<br />

ð Unterscheidung von „Selbst“ und „Nicht-Selbst“.<br />

ð Beziehung zum kinästhetischen System: <strong>die</strong> Propriozeption erzeugt „ein unbestimmtes<br />

Grundgefühl der Vitalität und Gestimmtheit in Raum und Zeit, das so etwas wie einen<br />

einheitgebenden Rahmen als ständigen Hintergrund unseres Erlebens entwirft“.


Der Körper ist <strong>die</strong> tiefste Schicht der Seele. Verwerfungen <strong>des</strong> Körpers in der Psychotherapie<br />

· Piaget hat <strong>die</strong> Entwicklung sensomotorischer Schemata (Kategorien von Raum,<br />

Zeit und Kausalität) dargestellt.<br />

· In Anlehnung an Peirce haben von Uexküll und andere <strong>die</strong> Entwicklung <strong>des</strong> Zeichengebrauchs<br />

in der frühen Lebenszeit beschrieben (ikonischer - indexikalischer<br />

- symbolischer Zeichengebrauch).<br />

· In der Psychoanalyse wurden <strong>die</strong> Ich-Entwicklung sowie <strong>die</strong> Entwicklung innerer<br />

Bilder von sich selbst und den Objekten erforscht.<br />

· Stern hat <strong>die</strong> Entwicklung der Selbstempfindungen (senses of self) beschrieben,<br />

<strong>die</strong> sich in den ersten beiden Lebensjahren ausbilden und lebenslang Bestand<br />

haben.<br />

Ich möchte an <strong>die</strong>ser Stelle detaillierter auf <strong>die</strong> Entwicklung der senses of self eingehen:<br />

· Empfindung <strong>des</strong> auftauchenden Selbst (Ausbildung der Empfindung von "Struktur<br />

überhaupt", Ausbildung der Kategorien von Raum, Zeit und Kausalität). - Psycho-physische<br />

Vorraussetzung auf Seiten <strong>des</strong> Säuglings ist <strong>die</strong> Fähigkeit <strong>zur</strong><br />

transmodalen Wahrnehmung; seitens der mütterlichen Umwelt ist für das Gelingen<br />

ein Min<strong>des</strong>tmaß an Strukturiertheit erforderlich.<br />

· Empfindung <strong>des</strong> Kernselbst (Ausbildung der Empfindungen, <strong>die</strong> sich direkt am<br />

eigenen Körper ereignen)<br />

o Aktivität<br />

o Affektivität<br />

o Kohärenz<br />

o Kontinuität<br />

· Empfindung <strong>des</strong> subjektiven Selbst (Ausbildung der Empfindung, dass sich hinter<br />

der Physiognomie der anderen eine eigene Welt von Gedanken, Gefühlen und<br />

Phantasien befindet)<br />

· Empfindung <strong>des</strong> verbalen Selbst<br />

Konsequenzen aus dem Konzept der senses of self:<br />

· Die Qualität einer jeden einzelnen Selbstempfindung hängt unmittelbar von der<br />

Qualität der Beziehungen zum Zeitpunkt der Entstehung <strong>die</strong>ser Selbstempfindung<br />

ab.<br />

· Mit Hilfe <strong>des</strong> Konzeptes der senses of self lässt sich <strong>die</strong> Entstehung psychischer<br />

Störungen (von der Psychose über <strong>die</strong> Psychosomatose bis <strong>zur</strong> Neurose) verständlich<br />

machen.<br />

· "Psychische Gesundheit" besteht in der Fähigkeit, zeitlebens mehr oder weniger<br />

über alle Aspekte der verschiedenen Selbstempfindungen zu verfügen, weil sich<br />

<strong>die</strong> Aufgaben <strong>des</strong> Lebens nur so zufriedenstellend lösen lassen. Unsere so<br />

genannte Zivilisation ist von der Dominanz <strong>des</strong> Verbalen geprägt. Psychische<br />

Gesundheit setzt ein beständiges Miteinander und eine Ausgewogenheit zwischen<br />

den verschiedenen senses of self voraus. Insbesondere besteht das Hintergrundgefühl<br />

von Lebendigkeit (das jederzeit den inneren Reichtum unseres<br />

Lebens ausmacht) nur dann, wenn das verbale Selbst beständig von den „früheren“<br />

Selbstempfindungen gespeist wird. Diese entstehen lebenslang aus der<br />

beständigen Interpretation körperlicher Empfindungen (also aus den Signalen,<br />

<strong>die</strong> aus unseren "tieferen Schichten" oder aus dem "Grund" kommen).<br />

· Das Konzept der senses of self ist besonders hilfreich, um einerseits <strong>die</strong> Entstehung<br />

typischer Störungen in der psychischen Entwicklung und andererseits <strong>die</strong><br />

Wirksamkeit von Psychotherapie zu verstehen. Auch <strong>die</strong> unterschiedliche Wirk-<br />

37


38<br />

1 Arno Gruen, Verratenden Liebe - falsche Götter. Klett-Cotta, Stuttgart 2003<br />

Rolf Johnen<br />

samkeit der verschiedenen psychotherapeutischen Methoden lässt sich mithilfe<br />

<strong>des</strong> Konzeptes der senses of self verständlich machen.<br />

c) Eine Eigenart <strong>des</strong> Menschen (wie auch höher entwickelter Säugetiere) liegt in einer<br />

besonderen Reaktion auf "genügend gute" oder un<strong>zur</strong>eichende Reaktionen der "mütterlichen"<br />

Umwelt auf <strong>die</strong> lebenswichtigen Bedürfnisse in der frühen Lebenszeit. Bei dem<br />

Schweizer Psychoanalytiker Arno Gruen 1 findet sich der Satz: „Kinder identifizieren sich<br />

mit der Unfähigkeit ihrer Eltern, sie zu lieben!“ - In meiner psychotherapeutischen Arbeit<br />

habe ich <strong>die</strong>sen Satz immer wieder bestätigt gefunden. Im Hinblick auf <strong>die</strong> menschliche<br />

Entwicklung bedeutet er, dass bereits Säuglinge Vorformen oder "Präkonzepte" von<br />

"Schuldgefühlen" entwickeln, wenn sie das, was sie für ihre "normale" Entwicklung<br />

(genetisch bedingt!) brauchen, nicht bekommen, oder wenn sie schlecht - in Extremfällen<br />

sogar sadistisch - behandelt werden. Das Kind sucht in jedem Fall den Fehler bei<br />

sich und versucht, "es besser zu machen" ("Die Eltern müssen doch wissen, was richtig<br />

ist!"). - Es erfolgt eine tief verankerte grundsätzliche Wendung gegen <strong>die</strong> eigene Person;<br />

Kinder werden durch <strong>die</strong>se spezifische (genetisch bedingte) Reaktion auf Mangelsituationen<br />

und Bestrafung "motiviert", sich möglichst nah und intensiv an den Eltern<br />

zu orientieren. Das psychoanalytische Konzept der Über-Ich-Bildung beschreibt exakt<br />

<strong>die</strong>sen Vorgang. Typische, <strong>die</strong> psychosoziale Entwicklung prägende Mangelsituationen,<br />

in denen Kinder nicht das bekommen, was sie lebensnotwendig brauchen, werden in<br />

der psychoanalytischen Arbeit ebenso wie in der FE oft deutlich. Neben Erfahrungen,<br />

<strong>die</strong> mit der physischen Versorgung (ausreichende Ernährung, geregelter Schlaf usw.)<br />

verbunden sind, geht es vor allem um Erfahrungen, <strong>die</strong> mit menschlicher Nähe und<br />

Geborgenheit zu tun haben. Im Grunde fließen hier alle Erfahrungen aus der frühen<br />

Mutter-Kind-Beziehung ein. Die Mutter-Kind-Beziehung kann als geglückt angesehen<br />

werden, wenn in dem physischen und psychischen Miteinander ein Min<strong>des</strong>tmaß an<br />

„Passung“ besteht; das Kind muss "den Glanz im Auge der Mutter" spüren können<br />

usw.. Es gibt im Alltag der kindlichen Entwicklung jedoch viele typische Situationen, in<br />

denen keine ausreichende "Passung" zwischen dem Kind und der "mütterlichen<br />

Umwelt" zustande kommen kann. Resultat ist immer <strong>die</strong> Ausbildung eines rigiden,<br />

unbarmherzigen Über-Ichs. – Je früher <strong>die</strong> Über-Ich-Bildung stattgefunden hat, umso<br />

weniger ist sie bewusst, und umso mehr ist sie „Ich-synton“.<br />

Die Folgen <strong>die</strong>ser Art von Über-Ich-Bildung sind:<br />

1. Solche Kinder suchen überhaupt <strong>die</strong> Schuld bei sich, "wenn es nicht stimmt". Diese<br />

Tendenz besteht dann lebenslang<br />

2. Es kommt <strong>zur</strong> Ausbildung spezifischer Bewältigungsmechanismen ("Abwehrmechanismen"),<br />

<strong>die</strong> dem Individuum helfen sollen, im Leben besser <strong>zur</strong>echtzukommen.<br />

Die „Wendung gegen <strong>die</strong> eigene Person" hat unterschiedliche Auswirkungen, je nach<br />

dem, ob sie sich auf der psychischen oder der körperlichen Ebene abspielt:<br />

a) Wenn "<strong>die</strong> Wendung gegen <strong>die</strong> eigene Person" im Leben eines Individuums bereits<br />

in der frühesten Lebenszeit eine bedeutende Rolle spielt (wenn Sprache noch nicht ihre<br />

volle Gültigkeit hat: in den ersten Lebensmonaten und -jahren), dann spielt sie sich<br />

bevorzugt auf der körperlichen Ebene ab. Der Körper wendet sich gegen sich selbst;<br />

<strong>die</strong> alten Ärzte sprachen von "autoaggressiven Erkrankungen".- Es wird in solchen Fällen<br />

vor allem <strong>die</strong> Grundlage für Erkrankungen gelegt, <strong>die</strong> auf eine falsche Prägung <strong>des</strong><br />

Immunsystems <strong>zur</strong>ückzuführen sind. Entsprechend findet sich nach meiner Erfahrung<br />

bei Patienten mit Erkrankungen aus dem "immunologischen Formenkreis“ (Neurodermitis,<br />

Psoriasis, Asthma, entzündliche Darmerkrankungen und sog. Autoimmunerkran-


Der Körper ist <strong>die</strong> tiefste Schicht der Seele. Verwerfungen <strong>des</strong> Körpers in der Psychotherapie<br />

kungen: z.B. multiple Sklerose, Morbus Basedow, hämatologische Systemerkrankungen)<br />

besonders häufig eine Persönlichkeitsstruktur, <strong>die</strong> durch ein „rigi<strong>des</strong> Über-Ich“<br />

geprägt ist. In der Regel ergibt in <strong>die</strong>sen Fällen <strong>die</strong> Anamnese (oft dem ersten Blick verborgene)<br />

bedeutende Mängelsituationen bereits in der frühesten Kindheit. Vorstellbar<br />

ist, dass das Immunsystem aufgrund <strong>die</strong>ser frühen "Fehlprägung" im späteren Leben<br />

größeren (psychosozialen) Belastungen nicht gewachsen ist, so dass psychosomatische<br />

Erkrankungen leichter entstehen können.<br />

b) Wenn "<strong>die</strong> Wendung gegen <strong>die</strong> eigene Person“ zu einem späteren Zeitpunkt greift<br />

(zu einer Zeit, da Sprache in der Beziehungsregulation bereits von ausschlaggebender<br />

Bedeutung ist), dann spielt sich der Mechanismus der „Wendung gegen <strong>die</strong> eigene Person“<br />

vor allem auf der psychischen Ebene ab. Die „Wendung gegen <strong>die</strong> eigene Person“<br />

auf der psychischen Ebene stellt ein Synonym für „Depression“ dar. Depression<br />

ist psychodynamisch gleichbedeutend mit einer ständigen, von innen kommenden Tendenz<br />

<strong>zur</strong> Selbsterniedrigung und Selbstentwertung. Die Psychopathologie <strong>des</strong><br />

menschlichen Alltagslebens und insbesondere <strong>die</strong> Verrücktheiten unserer gesellschaftlichen<br />

Organisationen (das Phänomen der Macht!) lassen sich leicht als Abwehr <strong>die</strong>ser<br />

Depression interpretieren.<br />

Der Körper kann in <strong>die</strong> "Wendung gegen <strong>die</strong> eigene Person" auf dreierlei Weise einbezogen<br />

- also gegebenenfalls auch "verworfen" - sein:<br />

· Wenn es sich um sehr frühe Abwehrmechanismen handelt (autistischer Rückzug),<br />

wird der Körper gar nicht wahrgenommen beziehungsweise verleugnet.<br />

· Beim Vorhandensein etwas später entstandener Abwehrmechanismen (Projektionsmechanismen)<br />

wird der Körper wahrgenommen, aber als böse, ekelhaft usw..<br />

· Wenn es sich um reifere Abwehrmechanismen handelt (<strong>die</strong> mit Verdrängung<br />

zusammenhängen), dann wird der Körper wahrgenommen, aber es finden Uminterpretationen<br />

mithilfe von Mechanismen wie Vermeidung, Verschiebung usw.<br />

statt. Affekte werden wahrgenommen, jedoch in falschen Zusammenhängen.<br />

4. Persönliche Bemerkungen zu den Verwerfungen <strong>des</strong> Körpers in der<br />

Psychotherapie<br />

Ich bringe mich in <strong>die</strong>sem Abschnitt mehr persönlich ein. Nicht, weil ich in irgendeiner<br />

Weise das Bedürfnis verspürte, mich zu "outen". Ich bin jedoch überzeugt, dass wir<br />

über psychosomatische Phänomene ernsthaft nur reden können, wenn wir uns als Person<br />

beteiligen und mitteilen.<br />

Warum befasse ich mich hier mit den Verwerfungen <strong>des</strong> Körpers in der Psychotherapie<br />

und nicht in der Somatischen Medizin? Gehört es nicht geradezu zum Selbstverständnis<br />

der Psychotherapeuten, dass sie der somatischen Medizin das vorherrschende<br />

"Maschinenkonzept" vom Menschen zum Vorwurf machen, in dem kein Platz für <strong>die</strong><br />

"Seele" ist? In der Tat gliedert <strong>die</strong> somatische Medizin mit dem Paradigma <strong>des</strong><br />

Maschinenkonzeptes den Leib als lebendigen Organismus ebenso aus, wie <strong>die</strong> Psychotherapie<br />

<strong>die</strong> Leiblichkeit mit dem Paradigma <strong>des</strong> psychischen Apparates leugnet.<br />

Auffallend ist allerdings, dass manche besonders erfahrene und erfolgreiche Ärzte in<br />

ihrem "inoffiziellen" beruflichen Denken und Handeln der Tatsache durchaus Rechnung<br />

tragen, dass sie es nie mit einem bloßen Körper zu tun haben, sondern immer mit<br />

einem lebendigen Menschen. Für sich wissen sie es; und sie erkennen <strong>die</strong> Bedeutung<br />

ihrer eigenen Person für den Heilungsprozess der Patienten an - ohne daraus allerdings<br />

39


40<br />

Rolf Johnen<br />

konzeptionelle Konsequenzen zu ziehen. Das gesamtgesellschaftliche Denken, in dem<br />

auch das Medizinsystem verwurzelt ist, lässt nicht zu, dass aus <strong>die</strong>sem Sachverhalt<br />

Konsequenzen gezogen werden. Unsere "Spaßgesellschaft" würde zu sehr infrage<br />

gestellt. Globale Verdrängungs- und Verleugnungsprozesse, an denen auch <strong>die</strong> Ärzteschaft<br />

lebhaft teilnimmt, verhindern ein humaneres Gesundheitswesen. Veränderungen<br />

wären möglich und leicht durchzuführen, aber es würden Machtstrukturen infrage<br />

gestellt. Hinzukommt, dass der weit verbreitete Machbarkeitswahn <strong>zur</strong> Verleugnung <strong>des</strong><br />

Leidens überhaupt führt.<br />

Ich komme nun zu meinen persönlichen Bemerkungen:<br />

Als Jugendlicher litt ich an der Symptomatik einer Herzneurose. Sie alle kennen den<br />

typischen lebensgeschichtlichen Hintergrund, der <strong>die</strong> Entwicklung <strong>die</strong>ser Symptomatik<br />

ermöglicht bzw. fördert. Bei mir hat einerseits dazu beigetragen, dass ich in das Chaos<br />

<strong>des</strong> Nazi-Terrors und <strong>des</strong> Zweiten Weltkriegs hineingeboren wurde, und andererseits,<br />

dass ich anschließend einer rigiden katholisch-kirchlichen "Renaissance" ausgeliefert<br />

war, <strong>die</strong> sich in weiten Teilen Deutschlands als Antwort auf <strong>die</strong> Verbrechen der Nazis<br />

etabliert hatte. Dies ist aber ein anderes Thema.<br />

Mein "Herzleiden" - ich war 17 oder 18 Jahre alt - wurde vom Hausarzt und meinen<br />

Eltern nicht auf meine neurotischen Konflikte, sondern auf "zu schnelles Wachstum"<br />

<strong>zur</strong>ückgeführt, und ich wurde für sechs Wochen in eine Herz-Kur nach Bad Nauheim<br />

geschickt. Dort gefiel es mir sehr gut, hatte ich doch bis dahin mein Heimatdorf in der<br />

Nordeifel (direkt an der belgischen Grenze) noch nie verlassen. Bad Nauheim war für<br />

mich so etwas wie ein "Fenster <strong>zur</strong> Welt", und ich schaffte es, im nächsten Jahr wieder<br />

für sechs Wochen dorthin geschickt zu werden: ein echter sekundärer Krankheitsgewinn.<br />

Nach dem Abitur stu<strong>die</strong>rte ich zunächst katholische Theologie an einer JesuitenHochschule.<br />

Ausschlaggebend für <strong>die</strong>se berufliche Festlegung war eine bemerkenswerte<br />

Beeinflussung durch einen Religionslehrer, als ich 12 Jahre alt war. Ich höre heute noch<br />

<strong>die</strong> Worte <strong>des</strong> alten Pfarrers, der auf dem Gymnasium das Fach Religion unterrichtete.<br />

Er flüsterte mir am Ende der letzten Stunde der Sexta ins Ohr: "Gott braucht gute Priester!"<br />

– Meine Reaktion war in Übereinstimmung mit der Art der oben skizzierten Über-<br />

Ich-Bildung. Vor Gott gab es für mich damals kein höheres Ziel, als Priester zu werden;<br />

ich musste <strong>die</strong>sem „Ruf“ folgen. Diesen Entschluss habe ich übrigens bis zum Abitur<br />

durchgehalten und für mich behalten. Mein weiterer innerer Weg ist hier wiederum nicht<br />

Thema. Ich habe das Theologiestudium nach vier Jahren, also kurz vor dem Ende,<br />

abgebrochen und Medizin stu<strong>die</strong>rt. Recht bald bin ich auch aus der Kirche ausgetreten.<br />

Es ist wohl auch kein Zufall, dass ich nach Abschluss <strong>des</strong> Studiums (zunächst) Internist<br />

und Kardiologe wurde. In den Mythologien <strong>des</strong> abendländischen Kulturkreises (und<br />

auch in vielen sprachlichen Formulierungen) ist das Herz der "Sitz der Seele". Ich<br />

wurde - wie unter einem Wiederholungszwang - vom "Verwalter und Tröster der Seelen"<br />

zum "Herz-Arzt". - Die Tätigkeit <strong>des</strong> Kardiologen – bekanntlich eine ausgesprochene<br />

"high-tech -Tätigkeit" - hat mich fasziniert, aber nicht zufriedengestellt. Ich<br />

musste immer wieder feststellen, dass ich nicht in der Lage war, mit den mir <strong>zur</strong> Verfügung<br />

stehenden Mitteln zu verstehen, worum es den Menschen, <strong>die</strong> sich mir anvertrauten,<br />

eigentlich ging, warum sie krank wurden. Ich besaß nicht das notwendige geistige<br />

und Selbsterfahrungs-Rüstzeug, um <strong>die</strong>sen Fragen auf den Grund zu gehen und den<br />

Körper als Leib zu verstehen und zu behandeln. Ich war ratlos, wenn unvorhergesehene<br />

Zwischenfälle eintraten. Wenn ich an manche <strong>die</strong>ser Zwischenfälle denke, befällt<br />

mich heute noch ein starkes Gefühl der Beklemmung.


Der Körper ist <strong>die</strong> tiefste Schicht der Seele. Verwerfungen <strong>des</strong> Körpers in der Psychotherapie<br />

Einen ersten Schritt in Richtung Psychotherapie habe ich bereits im Jahr 1972 unternommen,<br />

gleich nach Ende <strong>des</strong> Medizinstudiums. Ich habe mich damals bei der DPV 1<br />

beworben. Es kam mir aber - während <strong>des</strong> Bewerbungsverfahrens - eine Ehescheidung<br />

dazwischen, und ich wollte mich nicht noch zusätzlich zu <strong>die</strong>sem Problem mit den Problemen<br />

einer Analyse belasten (wieder eine Verwerfung; heute sehe ich das natürlich<br />

anders!). Deshalb habe ich <strong>die</strong> Bewerbung bei der DPV <strong>zur</strong>ückgezogen und mich<br />

intensiv der internistischen und kardiologischen Weiterbildung gewidmet; zwischendurch<br />

habe ich noch drei Jahre in der Forschung eines pharmazeutischen Unternehmens<br />

gearbeitet, und ich habe meine zweite Familie gegründet; <strong>die</strong> vier Kinder sind<br />

inzwischen erwachsen.<br />

1984 - also 12 Jahre später - habe ich das "psychotherapeutische Projekt" wieder aufgegriffen.<br />

Ich habe eine Stelle als Internistischer Chefarzt an einer psychosomatischen<br />

Fachklinik angenommen und gleichzeitig eine psychoanalytische Ausbildung bei der<br />

DPG 2 begonnen. Ziemlich genau zu <strong>die</strong>sem Zeitpunkt habe ich Marianne Fuchs kennen<br />

gelernt. Sie hielt 1984 an der Klinik Schömberg einen Vortrag, der mich unmittelbar<br />

berührt hat. Sie machte mit einem Patienten ganz praktisch vor, was Psychosomatik ist.<br />

Ich habe - parallel zu meiner analytischen Ausbildung - bei ihr und Herrn Eberspächer<br />

<strong>die</strong> FE-Ausbildung gemacht.<br />

Neben meiner internistischen Arbeit hatte ich <strong>die</strong> Chance, in der Klinik in einem<br />

bescheidenen Rahmen mit der FE zu experimentieren. Mich interessierte, ob <strong>die</strong> FE<br />

wirklich bei psychischen und psychosomatischen Symptomen wirkt, und wie sie wirkt.<br />

Ich habe eine zeitlang nur Patienten behandelt, <strong>die</strong> als "schwierig" galten, und <strong>die</strong> in der<br />

Klinik keinen Zugang <strong>zur</strong> (überwiegend verbalen) Psychotherapie fanden, <strong>die</strong> <strong>des</strong>halb<br />

<strong>die</strong> stationäre Behandlung abbrechen wollten. In fast allen Fällen konnten sie mithilfe<br />

der FE einen Zugang finden, der dann auch eine weitere Therapie auf der verbalen<br />

Ebene ermöglichte. Diese Ergebnisse habe ich auch publiziert ("Funktionelle Entspannung<br />

im stationären Setting. Erste Ergebnisse einer explorativen Vorstu<strong>die</strong>" 3 ).<br />

Nun zu den Verwerfungen <strong>des</strong> Körpers in der Psychotherapie. Ich gehe auf <strong>die</strong>ses<br />

Thema - auch aus Zeitgründen - nur oberflächlich ein, indem ich eine Auflistung von<br />

Beispielen und Erfahrungen vortrage, auf welche Weise "Verwerfungen" <strong>des</strong> Körpers in<br />

meinem psychotherapeutischen Erfahrungsbereich in den letzten 20 Jahren eine Rolle<br />

spielten.<br />

1. Zu Beginn meiner psychotherapeutischen Laufbahn (vor mehr als 20 Jahren) war es<br />

unter Psychoanalytikern verpönt, sich anders als im psychoanalytischen Diskurs mit<br />

dem Körper zu befassen. Man durfte über den Körper und über Körperempfindungen<br />

reden, aber man durfte keine besonderen Techniken anwenden, wie etwa <strong>die</strong> Spielregeln<br />

der FE. Auch in den Kliniken fand eine Spaltung zwischen den analytischen Psychotherapeuten<br />

und den Körpertherapeuten statt; es bestand eine Unterscheidung in<br />

<strong>die</strong> „eigentlichen“ Therapeuten und in Hilfskräfte. Ich musste, um meine Ausbildung<br />

nicht zu gefährden, im psychoanalytischen Institut meine Arbeit mit der FE weitgehend<br />

verheimlichen.<br />

2. In der Klinik habe ich bevorzugt mit "schwierigen" (frühgestörten) Patienten mit der<br />

FE gearbeitet. Die Ergebnisse waren überraschend positiv. Es tauchte aber das Pro-<br />

1 Deutsche psychoanalytische Vereinigung<br />

2 Deutsche psychoanalytische Gesellschaft<br />

3 R. Johnen: Funktionelle Entspannung im stationären Setting - Erste Ergebnisse einer explorativen vor<br />

Stu<strong>die</strong>. In: F. Lamprecht (Hrsg.): Spezialisierung und Integration in der Psychosomatik und<br />

Psychotherapie, Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York London Paris Tokio 1987<br />

41


42<br />

Rolf Johnen<br />

blem auf, dass meine Arbeit mit der FE nur schwer in <strong>die</strong> bestehende Teamstruktur zu<br />

integrieren war, weil ich Chefarzt war. Es kam zu typischen Entwertungen, d.h. ich<br />

wurde von den frühgestörten, zu Spaltungen neigenden Patienten idealisiert und andere<br />

Therapeuten wurden entwertet. Oft gelang es nicht ausreichend, <strong>die</strong> Entwertungen in<br />

den therapeutischen Teams aufzufangen, weil ich als Chefarzt nicht in <strong>die</strong> Teamstrukturen<br />

integriert war.<br />

3. Als ich 1993 <strong>die</strong> Leitung der Klinik übernahm, habe ich versucht, eine FE-Stelle innerhalb<br />

<strong>des</strong> Teams der Fachtherapeuten ein<strong>zur</strong>ichten. Die Stelle wurde geschaffen, aber<br />

wir fanden keine geeignete FE-Therapeutin.<br />

4. Ich war intensiv an der Arbeitsgruppe "Subjektive Anatomie" <strong>des</strong> DKPM beteiligt, <strong>die</strong><br />

1988 auf Initiative von Herrn Schüffel zustande kam, und <strong>die</strong> auf der Grundlage von<br />

Selbsterfahrung mit der FE das Buch "Subjektive Anatomie. Theorie und Praxis körperbezogener<br />

Psychotherapie" 1 geschrieben hat, das 1994 in erster Auflage und 1997 in<br />

zweiter Auflage erschienen ist. In der Absicht der Verfasser sollte das Buch <strong>die</strong> Grundlagen<br />

für <strong>die</strong> Anwendung aller körpertherapeutischen Methoden beschreiben, um eine<br />

gemeinsame Sprache zwischen den verschiedenen Methoden zu ermöglichen. Das<br />

schien uns vor allem notwendig zu sein, weil damals - wie auch heute noch - eine weit<br />

verbreitete Tendenz bestand, je<strong>des</strong> Körper-Verfahren auf alle möglichen Störungen<br />

anzuwenden, ohne auf <strong>die</strong> jeweils begrenzten Indikationen <strong>des</strong> eigenen Verfahrens zu<br />

achten. - Dass es zu einer zweiten Auflage <strong>des</strong> Buches kam, deutet auf ein gewisses<br />

Interesse seitens der Psychotherapeuten hin. Inzwischen sind neun Jahre vergangen;<br />

das Projekt ist offensichtlich von der Fach-Öffentlichkeit verworfen worden.<br />

5. In der Folge der "Subjektiven Anatomie" kam es zu einer weiteren Verwerfung: Die<br />

Arbeitsgruppe hat sich über einige Jahre weiterhin getroffen, um das Projekt einer "Subjektiven<br />

Pathologie" zu erarbeiten. Wir wollten erforschen und beschreiben, welche<br />

Umstände (vor allem in der frühen Entwicklung) dazu führen, dass ein Mensch seinen<br />

Körper als unvollständig, unangenehm, verzerrt, böse und so weiter wahrnimmt. Es liegt<br />

auf der Hand, dass ein solches Projekt von einer Gruppe nur bearbeitet werden kann,<br />

wenn <strong>die</strong> Erfahrungen mit der eigenen subjektiven Pathologie in <strong>die</strong> Gruppe einfließen<br />

können. Dieses Körperprojekt unterlag der Verwerfung, weil ein Teil der Teilnehmer zu<br />

dem geforderten Ausmaß an Offenheit in der Gruppe nicht bereit war.<br />

6. Ich habe einige Jahre zusammen mit einer erfahrenen KBT-Therapeutin (Dorothee<br />

Schmid) auf den Lindauer Psychotherapietagen einen Kurs angeboten mit dem Titel:<br />

"FE und KBT. Zwei Methoden begegnen sich". Ergebnis war, dass <strong>die</strong> Methoden sich in<br />

der Praxis in idealer Weise ergänzen. Wir haben das gemeinsame Projekt vor ein paar<br />

Jahren aufgegeben, um der jüngeren Generation das Feld zu überlassen. Es wurde bis<br />

heute nicht weitergeführt. Ich vermute, dass das Projekt auch von den Fachgesellschaften<br />

gerne verworfen wurde und wird.<br />

7. Ich arbeite seit 1999 als Arzt für Psychotherapeutische Medizin und analytischer<br />

Therapeut in eigener Praxis. In vielen Situationen habe ich - insbesondere mit Patienten<br />

mit Frühstörungen im Rahmen von modifizierten analytischen Langzeittherapien - Elemente<br />

der FE einfließen lassen. In vielen Fällen war <strong>die</strong>se Settings-Veränderung<br />

offensichtlich hilfreich. Manchmal war ich aber überrascht, wie schwer es mir gelegentlich<br />

fiel, vom analytischen Gespräch umzuschalten <strong>zur</strong> körperbezogenen Arbeit nach<br />

den Spielregeln der FE. Auch manche Patienten zeigten einen deutlichen Widerstand<br />

gegen <strong>die</strong>se Settings-Veränderung. - Möglicherweise beruht <strong>die</strong> Schwierigkeit darauf,<br />

dass Patienten sich in <strong>die</strong>ser Situation (mit Recht?) weigern, eine Veränderung in der<br />

Übertragungssituation zu akzeptieren. Mein Erklärungsversuch für <strong>die</strong>se Schwierigkeit:<br />

1 Uexküll, Fuchs, Müller-Braunschweig und Johnen (Hrsg.): Subjektive Anatomie. Theorie und Praxis<br />

körperbezogener Psychotherapie. Schattauer Verlag Stuttgart, 2. Auflage 1997


Der Körper ist <strong>die</strong> tiefste Schicht der Seele. Verwerfungen <strong>des</strong> Körpers in der Psychotherapie<br />

Ich gehe davon aus, dass Patienten beispielsweise auf <strong>die</strong> Person von Marianne Fuchs<br />

überwiegend eine Mutterübertragung vornehmen, egal, ob sie mit ihnen spricht, oder ob<br />

sie mit ihnen FE macht. Bei mir gehe ich davon aus, dass meine Patienten in der<br />

Gesprächssituation überwiegend eine Vater- oder Mutterübertragung auf mich ausbilden.<br />

Wenn ich mit demselben Patienten FE mache, bildet er vermutlich eher eine<br />

„Geschwister-Übertragung“ (alter-ego-Übertragung nach Kohut) auf mich aus, begebe<br />

ich mich doch mit ihm in <strong>die</strong> "Kinderstube"! Diese veränderte Übertragungssituation verträgt<br />

sich offensichtlich in <strong>die</strong>sen Fällen nicht mit der augenblicklich vorherrschenden<br />

Übertragung.<br />

8. Der vermutlich stärkste Grund für das Verwerfen <strong>des</strong> Körpers in Psychotherapien<br />

könnte aber darauf beruhen, dass <strong>die</strong> Körper-Verfahren nicht als Richtlinien-Verfahren<br />

zugelassen sind, also nicht von den Krankenkassen finanziert werden. Der Narzissmus<br />

der Vertreter der zugelassenen Verfahren verhindert offensichtlich wirkungsvoll, dass<br />

Körpertherapien Richtlinien-Verfahren werden. Andererseits verhindern <strong>die</strong> Größenvorstellungen<br />

der Körpertherapeuten, dass Schritte unternommen werden, um <strong>die</strong> Körper-<br />

Verfahren mit der notwendigen Selbst-Bescheidung in <strong>die</strong> zugelassenen Verfahren zu<br />

integrieren.<br />

5. Zusammenfassung und Folgerungen<br />

1. Wirksame Psychotherapie ist immer dann möglich, wenn frühes Scheitern, das <strong>die</strong><br />

unbewussten neurotischen Konflikte bedingt, sich in der psychotherapeutischen Beziehung<br />

wiederholen kann.<br />

2. Je früher in der Entwicklung eines Menschen das traumatische Scheitern stattgefunden<br />

hat, umso mehr ist in das ursprüngliche Scheitern und in <strong>die</strong> Wiederholungen <strong>des</strong><br />

Scheiterns (in der Übertragungssituation) der Körper einbezogen.<br />

3. Die Verwerfungen <strong>des</strong> Körpers in der somatischen Medizin (und in der Gesellschaft!)<br />

können als massenhafte gesellschaftliche Wiederholungen der frühen Verwerfungen<br />

verstanden werden. Die besonders frühe Ausbildung von Spaltungs- und Verleugnungsmechanismen<br />

(<strong>die</strong> eine ursprüngliche Verwerfung <strong>des</strong> Körpers nach sich ziehen) betrifft<br />

in der Tat immer mehr einzelne Individuen in unserer Gesellschaft, so dass <strong>die</strong> Verwerfung<br />

<strong>des</strong> Körpers zunehmend <strong>die</strong> Situation der ganzen Gesellschaft bestimmt.<br />

4. Die Verwerfungen <strong>des</strong> Körpers in der Psychotherapie sind immer latent vorhanden.<br />

Sie müssen in Form von Wiederholungen in der Therapie auftauchen, damit sie behandelt<br />

werden können.<br />

5. Nach meiner Erfahrung besteht durchaus <strong>die</strong> Möglichkeit, eine Körpermethode wie<br />

<strong>die</strong> FE bei gegebener Indikation auch innerhalb einer analytischen Langzeittherapie<br />

anzuwenden. Aufgrund der dargestellten Übertragungsprobleme scheint es mir jedoch<br />

in manchen Fällen günstiger zu sein, <strong>die</strong> FE-Therapie parallel <strong>zur</strong> analytischen Therapie<br />

durch einen anderen Therapeuten ausführen zu lassen. Diese Möglichkeit scheitert<br />

z.Zt. an den vorhandenen Praxisstrukturen. Es bestehen nur Einzelpraxen für <strong>die</strong> verschiedenen<br />

Richtlinien-Verfahren. Sinnvoll wären Praxisgemeinschaften: bestehend<br />

aus Vertretern verschiedener Richtlinien-Verfahren zusammen mit Vertretern verschiedener<br />

"Fachtherapien" sowie Bewegungs- und Sozialtherapeuten (das Ganze im Gruppen-<br />

und/oder Einzelsetting). - Voraussetzung wäre eine bessere Fähigkeit von Therapeuten<br />

zu einer wirklichen Zusammenarbeit nach dem Team-Prinzip, so wie es früher in<br />

guten psychosomatischen Fachkliniken etabliert war. Diese besondere Form von Teamarbeit<br />

zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass auch über <strong>die</strong> Ebene der Empfindungen<br />

gesprochen werden kann (um <strong>die</strong> es im Vortrag von Herrn Schüffel ging).<br />

43


44<br />

Rolf Johnen<br />

6. Wir sind - auch hier und jetzt - gefordert, Schritte in <strong>die</strong>se Richtung zu unternehmen.<br />

Der erste Schritt könnte in der Einrichtung interdisziplinärer fallbezogener Intervisionsgruppen<br />

bestehen, in denen ein gründlicher und offener Austausch möglich ist<br />

6. Schlussbemerkung<br />

Dies war der "offizielle" Schluss. Wolfram Schüffel hat mich darauf aufmerksam<br />

gemacht, dass ich bei der Darstellung meines psychosomatischen Funktions- und Störungsmodells<br />

<strong>die</strong> "See-" oder "Meeres-Metapher" nicht konsequent weiterverwendet<br />

habe. - Er hat recht. Allerdings wäre eine solche Konzeptualisierung, wollte man sie<br />

konsequent durchführen, ein sehr schwieriges oder gar unmögliches Unterfangen.<br />

Ich mache trotzdem einen Versuch. Überträgt man <strong>die</strong> Meeres-Metapher auf Engels<br />

"bio-psycho-soziales Modell", dann wäre <strong>die</strong> "Seele" eben <strong>die</strong> Schicht unseres Lebensraumes,<br />

<strong>die</strong> von der „See“ und ihren Ausdünstungen sowie von den Ausdünstungen der<br />

Erde geprägt ist: Sie bestimmt <strong>die</strong> Biosphäre um uns herum.<br />

Die Metapher hat natürlich eine prinzipielle Grenze: Die Seele ist - im Vergleich mit der<br />

See - eine unendlich höhere Systemebene. Die wesentlichen Besonderheiten der Seele<br />

lassen sich nicht aus den Gesetzen der See herleiten; letztere bleiben aber in der Seele<br />

in Kraft. Trotzdem lasse ich jetzt meiner Phantasie etwas freieren Lauf in der Hoffnung,<br />

dass aus der Verwendung der Metapher Anregungen kommen, <strong>die</strong> uns helfen, etwas<br />

weiter über unseren Horizont hinaus zu schauen. Das Anregende könnte zuvor Änderungen<br />

unserer Vorstellungen von Weite, Unfassbarkeit und Dynamik <strong>des</strong> Seelenlebens<br />

beitragen.<br />

· Ist nicht mit dem Meer ein "Begriff" von Unendlichkeit verbunden (im Sinne von<br />

"begreifen" oder "erfahren")?<br />

· Leben wir nicht letzten En<strong>des</strong> von den unendlichen Räumen <strong>des</strong> Meeres und von<br />

deren Niederschlag?<br />

· Das Schicksal <strong>des</strong> Lebens auf <strong>die</strong>ser Erde in der Zukunft hängt auch davon ab,<br />

ob wir es schaffen, <strong>die</strong> notwendige Kultivierung der Erde so zu betreiben, dass<br />

<strong>die</strong> lebenserhaltenden Strömungen <strong>des</strong> Meeres (z.B. der Golfstrom) ihre in Millionen<br />

Jahren gefundenen Bahnen weiter nutzen können.<br />

· Wenn <strong>die</strong> Menschheit <strong>die</strong> vorhandenen zivilisatorischen Möglichkeiten nutzt und<br />

weiter wächst, wird sie möglicherweise nur überleben können, wenn sie den<br />

Reichtum der Meere richtig zu nutzen lernt. Das geht auf Dauer nur, wenn wir <strong>die</strong><br />

Autonomie <strong>des</strong> Meeres - mit ihrer ungeheuren Vielfalt der Arten - respektieren<br />

lernen. Wie Sie wissen, hat sich <strong>die</strong> Vielfalt der Arten im Meer bisher besser<br />

gehalten als auf dem Lande. Was ist mit der Autonomie unserer Seelen?<br />

· Die Nutzer und <strong>die</strong> Erforscher <strong>des</strong> Meeres tauchen jeweils in unterschiedliche<br />

Bereiche, und sie tauschen sich über ihre Erfahrungen aus. Auf der "höheren"<br />

(menschlichen) Ebene - <strong>die</strong> auch <strong>die</strong> Ebene der Psychotherapie ist - bedeutet<br />

das: Die Reisenden sprechen nicht nur über Sachliches, sondern auch über ihre<br />

"Empfindungen". - Empfinden hat etymologisch den Sinn von sich Hineinfinden:<br />

Ich finde mich in meinen Empfindungen auf einer "geistigen" Ebene in meine<br />

eigenen Stimmungen, Gefühle, Affekte, Körperwahrnehmungen und Kognitionen<br />

hinein. Wenn ich mich in <strong>die</strong> Empfindungen eines anderen hineinfinde, dann<br />

spricht man (in der Amtssprache) von Empathie. Ich kann das aber nur leisten,<br />

wenn ich auf eigene Empfindungen, <strong>die</strong> aus eigenen Taucherlebnissen stammen,<br />

<strong>zur</strong>ückgreifen kann. In den Genuss der Taucherlebnisse kann ich wiederum<br />

nur mithilfe anderer kommen. - Meine berufspolitische Überzeugung ist, dass im<br />

Gesundheitswesen große - auch ökonomische - Fortschritte erzielt werden könn-


Der Körper ist <strong>die</strong> tiefste Schicht der Seele. Verwerfungen <strong>des</strong> Körpers in der Psychotherapie<br />

ten, wenn <strong>die</strong> Beteiligten in größerem Ausmaß zu solchen professionellen Gruppenbildungen<br />

bereit wären (und wenn man sie ließe!), in denen ein Austausch<br />

<strong>die</strong>ser Art zu Stande kommen kann.<br />

· Was ist nun mit dem Über-Ich? Ist es vergleichbar mit Vereisungen, insbesondere<br />

den Eisbergen, in denen sich Wasserdampf, der durch <strong>die</strong> wärmende Energie<br />

der Sonne aufgestiegen ist, niedergeschlagen hat und gefroren ist? - Dann<br />

wäre <strong>die</strong> Vereisung (ebenso wie <strong>die</strong> Erstarrung in der Depression!) ein Vorgang,<br />

der unvermeidlich und vielleicht sogar lebensnotwendig ist, sozusagen <strong>die</strong> Kehrseite<br />

der Erwärmung, <strong>die</strong> zum Gleichgewicht der Natur gehört. Wir wissen auch<br />

um <strong>die</strong> dramatischen Folgen für unseren Planeten, <strong>die</strong> auf uns zukommen, weil<br />

das Eis an den beiden Polen schmilzt. Werden in vergleichbarer Weise in unserer<br />

Zivilisation <strong>die</strong> Strukturen <strong>des</strong> Über-Ichs eingeschmolzen? - Diese Einschmelzung<br />

führt ja keinesfalls zu „besserer“ Wärme. Die Bilanz von Wärme und Kälte<br />

bleibt erhalten. Die Kälte bleibt im System, sie ist nur überall verstreut und befindet<br />

sich in anderen Aggregat-Zuständen. Sie ist auch weniger leicht zu erkennen;<br />

sie lauert überall und hat so möglicherweise einen stärkeren Einfluss als in<br />

der ursprünglichen, gebundenen Form.<br />

· Patienten, <strong>die</strong> an einer bedeutenden Über-Ich-Problematik leiden, gebe ich gelegentlich<br />

den Rat: "Seien Sie sich selbst eine bessere Mutter!" - Manche Patienten<br />

reagieren auf <strong>die</strong>sen Rat mit Ratlosigkeit und Ärger. Wir brauchen Ideen, wie<br />

wir <strong>die</strong> "Meeres-Metapher" - <strong>die</strong> im Grunde eine Metapher der deutschen Sprache<br />

ist - nutzbar machen können, um Menschen zu helfen, sich selbst eine bessere<br />

Mutter zu sein, also den verheerenden Einfluss <strong>des</strong> Über-Ichs einzudämmen.<br />

45


46<br />

Anlage:<br />

SCHEMATA ZUR ENTWICKLUNGSGESCHICHTE<br />

I. DIE FRAGEN DES INDIVIDUUMS AN DIE FRÜHE UMGEBUNG<br />

Rolf Johnen<br />

1. URSPRÜNGLICHE ANTRIEBE: genetisch bedingte Motivationssysteme<br />

(„motivational-funktionale Systeme“ nach Lichtenberg) für:<br />

· Befriedigung physiologischer Bedürfnisse durch Regulation von:<br />

Atmung, Wärme, Hunger, Durst, Ausscheidung, Schlaf, Wachheit, taktiler<br />

und propriozeptiver Stimulation.<br />

· Regulation von Nähe, Bindung und Verbundenheit durch:<br />

Präferenz für Gesicht, Stimme und Geruch der Mutter; Saug- und<br />

Greifreflexe („Selbst-Objektbedürfnisse“?)<br />

· Selbstbehauptung und Exploration:<br />

z.B. Erprobung von Verhaltensmöglichkeiten; Erleben von Kompetenz.<br />

· „aversive Reaktionen“:<br />

Widerspruch und Rückzug; Fähigkeit zum Nein-Sagen als wesentlicher<br />

Bestandteil eines stabilen Selbst.<br />

· sinnliches Vergnügen:<br />

beim Säugling ist sinnliches Vergnügen vor allem mit taktilen Berührungen<br />

und oralen Aktivitäten verbunden; später kommt <strong>die</strong> Sexualität hinzu.<br />

2. FÄHIGKEITEN ZUR WAHRNEHMUNG:<br />

WAHRNEHMUNGSSYSTEME:<br />

· neurologische Substrate:<br />

· - Propriozeption<br />

· - somästhetische Sinnesempfindungen aus dem Körperinneren<br />

und von der Körperoberfläche<br />

· - Fernsinne<br />

· Fähigkeit <strong>zur</strong> transmodalen Wahrnehmung<br />

· Gedächtnis<br />

3. FÄHIGKEIT ZU AFFEKTIVEN REAKTIONEN:<br />

· kategoriale Affekte:<br />

Freude, Trauer, Wut, Furcht, Ekel, Überraschung, Interesse, Scham.<br />

· Vitalitätsaffekte:<br />

„Intensitätskonturen“, <strong>die</strong> alle lebenswichtigen Tätigkeiten begleiten, und<br />

<strong>die</strong> mit Lust-Unlust-Gefühlen verbunden sind, z.B.:<br />

aufwallend, verblassend, flüchtig, explosionsartig, anschwellend,<br />

abklingend, berstend.


Der Körper ist <strong>die</strong> tiefste Schicht der Seele. Verwerfungen <strong>des</strong> Körpers in der Psychotherapie<br />

4. FÄHIGKEITEN ZU „STATES“:<br />

= verschiedene definierte Bewußtseinszustände, <strong>die</strong> mit physiologischen<br />

Aktivitäts-mustern gekoppelt sind:<br />

· Schreien,<br />

· aufmerksame Wachheit (nach außen? Aktivität? Fernsinne?),<br />

· ruhige Wachheit (nach innen? Spüren?),<br />

· Schläfrigkeit,<br />

· REM-Schlaf,<br />

· NON-REM-Schlaf.<br />

Verbindungen zu: Motivationen, Kognition, Affekten und Verhalten.<br />

II. ANTWORTEN DER UMWELT AUF DIE FRAGEN DES INDIVIDUUMS<br />

- Bereiche der Bezogenheit: von deren Art und Qualität hängt das weitere psychische<br />

Schicksal weitgehend ab.<br />

III. ERGEBNISSE DER AUSEINANDERSETZUNG:<br />

1. SELBSTEMPFINDUNGEN (NACH STERN):<br />

· Empfindung <strong>des</strong> auftauchenden Selbst<br />

· Empfindung <strong>des</strong> Kernselbst<br />

· Aktivität<br />

· Affektivität<br />

· Kohärenz<br />

· Kontinuität<br />

· Empfindung <strong>des</strong> subjektiven Selbst<br />

· Empfindung <strong>des</strong> verbalen Selbst<br />

2. EMOTIONAL- KOGNITIVE ENTWICKLUNG:<br />

(Fühlen, Denken, Phantasie)<br />

· Spitz: koenästhetische -> diakritische Wahrnehmung<br />

· Piaget: Entwicklung sensomotorischer Schemata (Kategorien von Raum, Zeit<br />

und Kausalität)<br />

· Semiotik (Peirce): ikonischer - indexikalischer - symbolischer<br />

Zeichengebrauch<br />

· Psychoanalyse: Entwicklung<br />

innerer Bilder von sich selbst und den Objekten<br />

Vortrag, gehalten auf der Jahrestagung der AFE in Rothenburg, November 2006<br />

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48<br />

Roswitha Mauer-Bittlinger<br />

Du tic(k)st wohl nicht richtig!?<br />

– Psychosomatische Störungen bei Kindern<br />

Als Psychotherapeutin, <strong>die</strong> in einer Kinder- und Jugendpsychiatrischen Ambulanz mit<br />

einem weiten Spektrum psycho-physischer Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen<br />

befasst ist, komme ich nun gerne der Einladung nach, einen kurzen Einblick in <strong>die</strong><br />

spezielle Thematik psychosomatischer Störungen bei Kindern zu geben. Eine Fallvignette<br />

über <strong>die</strong> Behandlung eines Jungen mit Tourette-Syndrom soll meinen kleinen Vortrag<br />

abrunden.<br />

Zur Einstimmung zunächst einen Artikel, der mir kürzlich in der lokalen Tagespresse in<br />

<strong>die</strong> Hände gefallen ist:<br />

Eltern trennen sich – Migräne<br />

Karlsruhe: Der Streit oder <strong>die</strong> Trennung der Eltern und <strong>die</strong> daraus folgende<br />

psychische Belastung kann bei Kindern Migräne oder starke Kopfschmerzen<br />

auslösen. Dies ist das Ergebnis einer bun<strong>des</strong>weiten Stu<strong>die</strong> <strong>des</strong> Robert-<br />

Koch-Instituts. Etwa je<strong>des</strong> zweite Schulkind leidet unter Kopfschmerzen,<br />

rund zwölf Prozent unter Migräne. Neun von zehn Kindern hätten bereits<br />

Erfahrung mit Kopfschmerzen gemacht. „Kopfschmerzen sind nach wie vor<br />

<strong>die</strong> häufigste Störung von Kindern“, so <strong>die</strong> Experten. Ein Fünftel der Schulkinder<br />

habe so starke Schmerzen, dass sie zum Arzt müssten. Migräne bei<br />

Kindern sei erblich, sagen <strong>die</strong> Forscher. Neben Ärger zu Hause oder Problemen<br />

in der Schule werde <strong>die</strong> Krankheit durch „zu viel Fernsehen, wenig<br />

Bewegung und ungesun<strong>des</strong> Essen ausgelöst“.<br />

(Odenwälder Zeitung vom 04.10.06)<br />

Zum einen wird hier auf <strong>die</strong> erschreckend weite Verbreitung psychosomatischer Störungen<br />

bei Kindern, am Beispiel <strong>des</strong> Kopfschmerzes bzw. der Migräne, hingewiesen,<br />

zum anderen wird auch in <strong>die</strong>sem kleinen Artikel schon deutlich, dass neben einer konstitutionellen<br />

Disposition zu einer solchen Störung immer auch Faktoren aus der<br />

Lebensumwelt <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> zu beachten sind. Es geht im weitesten Sinne um <strong>die</strong> verloren<br />

gegangene Fähigkeit, aber auch Möglichkeit <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong>, mit seiner Umwelt angemessen<br />

im Austausch zu stehen.<br />

Bei der Entstehungsgeschichte rückt <strong>die</strong> frühe Mutter-Kind- Interaktion in den Focus,<br />

eben <strong>die</strong> Art und Weise, wie viel Haltgeben<strong>des</strong>, Nähren<strong>des</strong>, Empathisches, gleichzeitig<br />

Abgrenzen<strong>des</strong> von der Mutter ausgegangen ist, inwieweit sie in der Lage war, Beziehung<br />

einzugehen, Nähe, später auch Distanz auszuhalten, wie sehr sie selbst ungestört<br />

war in ihrer Beziehung zu sich selbst, inwieweit <strong>die</strong> Umwelt stabil war bzw. <strong>die</strong> Mutter<br />

oder <strong>die</strong> nahen Bezugspersonen in der Lage, Instabilitäten zu kompensieren.<br />

Diese frühen Beziehungserfahrungen, <strong>die</strong> so elementar für <strong>die</strong> Entwicklung eines<br />

gesunden Körperselbst sind und womit bzw. woran wir als FE- TherapeutInnen, -PädagogInnen<br />

und –BeraterInnen arbeiten, können weiterhin nie isoliert betrachtet werden,<br />

sondern sie unterliegen stets soziologischen und gesellschaftlichen Einflüssen. Alle,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> neuesten Beiträge aus der Familienpolitik mitverfolgen, wissen darum, wie sehr


Du tic(k)st wohl nicht richtig!?– Psychosomatische Störungen bei Kindern<br />

sich Kindheit in den letzten Jahren gewandelt hat, in welchem Umfang sich Schulpolitik<br />

und Betreuungssituation anpassen müssen, und wir es oft mit völlig überbehüteten<br />

oder ganz und gar vernachlässigten Kindern zu tun haben, nicht selten geht bei<strong>des</strong><br />

auch einher.<br />

Kindheit und Familie sind zum Politikum geworden!<br />

Die Psychosomatik bei Kindern ist ein genuines Thema der Funktionellen Entspannung,<br />

eine erste FE-Behandlung erfolgte an einem Kind mit Asthma bronchiale. Mit <strong>die</strong>ser<br />

Behandlung wurde <strong>die</strong> Funktionelle Entspannung sozusagen aus der Taufe gehoben,<br />

viele von uns kennen <strong>die</strong>se Falldarstellung vielleicht sogar aus erster Hand. Auch in<br />

dem 1985 von M. Fuchs und G. Elschenbroich herausgegebenen Buch: „Funktionelle<br />

Entspannung in der Kinderpsychotherapie“, das 1996 neu aufgelegt wurde, widmen<br />

sich zahlreiche Beiträge dem Thema der psychosomatischen Störungen bei Kindern<br />

und Jugendlichen und deren Behandlungsmöglichkeiten.<br />

Die FE bietet vielfältige Behandlungsansätze und Interventionsmöglichkeiten und hat<br />

als tiefenpsychologisch fun<strong>die</strong>rte und den humanistischen Ansätzen zuzuordnende<br />

Methode Zugang zu einer Sichtweise, <strong>die</strong> psychosomatische Störungen zunächst auch<br />

als Beziehungsstörungen begreift, <strong>die</strong> ihren Ursprung in der frühen Mutter-Kind-Beziehung<br />

haben , <strong>die</strong> sich auf <strong>die</strong> Entwicklung und Beziehungsgestaltung zum eigenen<br />

Selbst respektive Körperselbst auswirken und sich schließlich im psycho-sozialen<br />

Umfeld <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> und später dann Jugendlichen abbilden. Schon 1976 haben Karl<br />

und Lotte Rosa-Wolff <strong>die</strong> FE unter dem Aspekt der Psychosomatischen Selbstregulation<br />

beschrieben, und auch Marianne Fuchs betont den Einsatz von FE als Verfahren,<br />

„… das <strong>die</strong> Beziehung zu sich selbst und <strong>zur</strong> Umwelt verändert“ (Lamprecht, F. 1987)<br />

In meiner Arbeit als Psychologin in einer Kinder- und Jugendpsychiatrischen Ambulanz<br />

bin ich auch mit den „klassischen“ psychosomatischen Störungen wie Essstörungen,<br />

expressiven Sprechstörungen, Kopfschmerz und Migräne, Enuresis und Enkopresis<br />

(Einnässen und Einkoten), Ticstörungen, Schlafstörungen etc. befasst, habe aber bei<br />

jeder Anamnese, Diagnostik und Weiterbegleitung bis hin <strong>zur</strong> Therapie von Kindern, Jugendlichen<br />

und deren Familien ebenso <strong>die</strong> psychosomatischen Aspekte von anderen<br />

geschilderten Verhaltensauffälligkeiten, Entwicklungsstörungen und emotionalen wie<br />

Persönlichkeitsstörungen im Blick. Ein genaues Hinsehen auf <strong>die</strong> gesamte psychosoziale<br />

und emotionale Situation <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> ist erforderlich, eine ergänzende neurologische<br />

oder pädaudiologische Untersuchung, z.B. zum Ausschluss einer Hörverarbeitungsstörung,<br />

kann notwendig erscheinen. Es bedarf unter Umständen der Kontaktaufnahme<br />

<strong>zur</strong> Schule; eine Beratung der Eltern erfolgt bis hin zu pädagogischen Maßnahmen<br />

wie Elterntrainings; evtl. muss eine Maßnahme der Jugendhilfe zum Einsatz kommen<br />

, so dass das Kind in seinem Umfeld Entlastung, manchmal auch Schutz erfährt<br />

und dann idealer weise einzeln oder in einer kleinen Gruppe lernen kann, zu sich selbst<br />

Beziehung aufzunehmen, sich zu spüren, eine eigene Sprache dafür im therapeutischen<br />

Dialog zu finden, entsprechende Gefühle zuzulassen bzw. zu identifizieren, und<br />

einen anderen, reiferen, gesünderen Ausdruck seiner Bedürfnisse zu entwickeln.<br />

Diesen zunächst allgemeineren Betrachtungen soll nun eine kurze Fallbeschreibung folgen:<br />

Es handelt sich um einen mittlerweile 14jährigen Jungen mit Verdacht auf ein Tourette-<br />

Syndrom (TS), der im Sommer letzten Jahres bei uns vorgestellt wurde. Das TS ist<br />

nach dem ICD 10 eine Form der Tic-Störung, bei der gegenwärtig oder in der Vergan-<br />

49


50<br />

Roswitha Mauer-Bittlinger<br />

genheit multiple motorische Tics und ein oder mehrere vokale Tics vorgekommen sind,<br />

<strong>die</strong> aber nicht notwendigerweise gleichzeitig auftreten müssen. Die Störung verschlechtert<br />

sich meist während der Adoleszenz und neigt dazu, bis in das Erwachsenenalter<br />

anzuhalten. Die vokalen Tics sind häufig multipel mit explosiven repetitiven Vokalisationen,<br />

Räuspern, Grunzen und Gebrauch von obszönen Wörtern oder Phrasen. Ich<br />

zitiere aus dem Erstkontakt: Der Junge, nennen wir ihn Jan, gibt als Symptome Kopfwerfen<br />

und Geräusche ausstoßen an, vorrangig aber Grimassen und Nase hochziehen<br />

und einen Räuspertic. Seit ca. 6 Wochen sei er medikamentös eingestellt über den<br />

Hausarzt, Tiapridex, eine ½ /1/1 Tablette täglich. Jan sei mit 11 Jahren für ein ½ Jahr in<br />

psychotherapeutischer Einzeltherapie gewesen, danach hätten sich <strong>die</strong> Symptome<br />

gebessert. Auch sei <strong>die</strong> Familie schon in der Erziehungsberatung gewesen. Der Vater<br />

massiere Jan jetzt den Kopf, dann seien <strong>die</strong> Symptome weg. Es waren viele belastende<br />

Erlebnisse bei Jan; <strong>die</strong> Eltern trennten sich im Dezember 2001. Der Opa mütterlicherseits<br />

starb im Sommer 2002 durch Suizid. Nach dem Auszug <strong>des</strong> Vaters musste im<br />

Jahr 2002 ein Hund eingeschläfert werden, einer wurde weggegeben, jetzt haben sie<br />

seit August 2003 wieder einen Schäfermischlingshund. Es gab auch mehrere Umzüge<br />

und im November 2003 <strong>die</strong> Hochzeit der Mutter und im Mai 2005 <strong>die</strong> Hochzeit <strong>des</strong><br />

Vaters. Jan ist sicherheitsbewusst, er mag keine Veränderungen. Er kann auch seine<br />

Tics nicht steuern.<br />

Im psychopathologischen Befund wird Jan als scheu und <strong>zur</strong>ückhaltend beschrieben;<br />

der Kontakt sei schwer herstellbar, er gebe jedoch adäquat Antwort, etwas leise, Stimmung<br />

subdepressiv. Ab und zu gebe es einen Räuspertic, jedoch nicht sehr auffällig.<br />

Zunächst wurde eine psychologische Diagnostik (Leistung und Persönlichkeit) durchgeführt.<br />

Im Leistungsbereich ergab sich ein Ergebnis im Grenzbereich durchschnittliche<br />

/unterdurchschnittliche Intelligenz (HAWIK-III IQ: 88) mit massiven Schwächen im<br />

Bereich der Wahrnehmungsorganisation, in der Verhaltensbeobachtung ist sein häufiges<br />

Nase hochziehen auffällig. Die Persönlichkeitstestung anhand standardisierter Verfahren<br />

ergab Hinweise auf eine gewisse affektive Blockierung in sozialen Konfliktsituationen.<br />

Hinweise auf eine depressive Symptomatik ließen sich nicht finden. Es zeigten<br />

sich jedoch Selbstwertprobleme im Bereich Schule, und es ergaben sich Hinweise auf<br />

eine gespannte Mutter-Kind-Interaktion. Diese Ergebnisse wurden der Familie anschließend<br />

vorgestellt.<br />

Jan landete dann mit einem: „Das ist der Jan, er hat Verdacht auf ein TS, das fällt doch<br />

in deinen Bereich, schau ihn dir mal an!“ bei mir. Unsere damalige Ambulanzleiterin<br />

hatte schon immer einen unbürokratischen Umgang bei der Vermittlung von Patienten,<br />

was mir andererseits einen völlig unvoreingenommenen Eindruck von Jan verschafft<br />

hat: Vor mir steht ein knapp 14jähriger, groß gewachsener, leicht adipöser Junge mit<br />

auffallend schwachem Körpertonus. Sein Händedruck ist nicht spürbar, er meidet den<br />

Blickkontakt, seine Antworten sind leise und teilweise vernuschelt, auf Nachfrage aber<br />

auch laut und deutlich. Er kommt in Begleitung der Mutter und seines 3monatigen Stiefbruders.<br />

Die Mutter erzählt viel; sie wirkt dabei unter Druck, Jan wirkt unbeteiligt. In der<br />

gesamten Zeit zieht er ungefähr 5 mal <strong>die</strong> Nase hoch und räuspert sich, was den Verlauf<br />

<strong>des</strong> Gesprächs aber nicht stört. Die Mutter erzählt, Jan sei schon immer sehr ruhig<br />

gewesen, auch dünn, eine Gewichtszunahme sei im Alter von ca. 7-8 Jahren erfolgt.<br />

Die Tics hätten sich zeitgleich mit der Trennung der Eltern entwickelt. Jan sei der mittlere<br />

von 3 Kindern; zu seinen beiden Schwestern bestünde eine ausgeprägte<br />

Geschwisterrivalität. Seit er Tiapridex erhalte, habe er noch mal 4 Kg zugenommen. Als<br />

Jan gefragt wird, was für ihn wichtig sei, möchte er „nichts unternehmen“ und „nichts


Du tic(k)st wohl nicht richtig!?– Psychosomatische Störungen bei Kindern<br />

verändern“. Jans Kränkung in Bezug auf den nicht mehr so verfügbaren Vater kommt<br />

bereits in der 2. Stunde <strong>zur</strong> Sprache.<br />

Er lässt sich auf Probestunden ein; ein 14tägiger Rhythmus wird vereinbart. Ich erkläre<br />

Jan mein Konzept vom Spürsinn über das Erspüren der eigenen haltgebenden Anatomie,<br />

der Gelenke, <strong>des</strong> Gewichts und der Schwerkraft. Es erscheint mir wichtig, Jans<br />

Bedürfnis nach Sicherheit und Unveränderlichkeit zu akzeptieren, es erst mal im Verbalisieren<br />

zu belassen und <strong>die</strong> Distanz nicht durch zu schnelle Angebote auf der Körperebene<br />

zu unterlaufen. Ein gezeichnetes Strichmännchen, ein Ball, der <strong>zur</strong> Verdeutlichung<br />

der Schwerkraft nach unten fällt, müssen da erst mal genügen. Jan kann in den<br />

folgenden Stunden den Blickkontakt von sich aus aufnehmen, er lächelt schon mal,<br />

auch baut er im Gespräch mehr Spannung auf, in meiner Resonanz auf leiblicher<br />

Ebene erlebe ich ihn vitaler. Im Gespräch kann er über <strong>die</strong> Schule klagen, über einen<br />

langweiligen Erwachsenengeburtstag, und dass das Motorradfahren am Sonntag mal<br />

wieder ausgefallen sei wegen <strong>des</strong> schlechten Wetters. Minibike-fahren ist ein Hobby,<br />

das er mit dem Vater teilt. Im Stehen biete ich ihm als Spürhilfe den Igel-Ball an; es geht<br />

um das Erspüren <strong>des</strong> Bodenkontakts; <strong>die</strong> Ballmassage fängt mit einer Gewichtsverlagerung<br />

an, <strong>die</strong> Fußsohlen sollen geweckt werden für eine andere Empfindungsqualität;<br />

Gelenkverbindungen werden gesucht, ein erster eigener Halt geahnt. Jan gibt sich im<br />

Dialog lustlos, er antwortet folgsam, spüre aber eigentlich nichts, auch keine Veränderungen.<br />

Ich lasse ihm seinen Widerstand, der Halt, der bislang so verlässlich war.<br />

Beim anschließenden Uno-Spiel ist er allerdings voller Spannung und sehr lebendig. Es<br />

macht uns beiden Spaß.<br />

Die Eltern - es ist möglich, mit beiden gemeinsam Gespräche zu führen - haben bereits<br />

vor Therapiebeginn einen Kur- Klinikaufenthalt erwogen, der der Gewichtsreduktion und<br />

Änderung von Jans Sozialverhalten (er sei so bockig und gegen <strong>die</strong> Schwestern provozierend<br />

und gemein) <strong>die</strong>nen soll. In der 5. Stunde erklärt er strahlend, dass er sich<br />

seinen Schwestern gegenüber anders verhalten würde, auch habe er fünf Kg abgenommen,<br />

was deutlich sichtbar ist; eine Kur, <strong>die</strong> er von Anfang an abgelehnt hatte, käme<br />

also erst mal nicht mehr in Frage! Als FE-Intervention biete ich ihm an, mich im Stehen<br />

wegzudrücken: Im nun schon etwas vertrauteren Stand stehen wir Seite an Seite,<br />

Schultern, Hüfte, teilweise auch Fuß kommen in Kontakt; ich drücke auch mal dagegen;<br />

es geht ums Kräfte messen; er spürt seine eigene Kraft, auch meine; sein „Widerstehen“<br />

wird vom Bodenkontakt her aufgebaut. Offensichtlich beginnt Jan, wieder mehr<br />

Kontrolle über sein Leben zu bekommen; er wird offener, in der Beziehung direkter, was<br />

auch konkret spürbar ist. Der Händedruck <strong>zur</strong> Begrüßung und zum Abschied wird auch<br />

ihm wichtig; sein Druck nimmt zu, und es hat den Anschein, als wolle er sich meiner<br />

leibhaftig vergewissern. Wir beginnen, auch im Zuge der Fußball-WM, Lego-Fußball zu<br />

spielen. Es bereitet ihm <strong>die</strong>bische Freude, wenn er mir haushoch überlegen ist; dabei<br />

bleibt er mir gegenüber stets fair und erkennt auch meine Erfolge an. Dieses Spielen<br />

zwischen ihm und mir entwickelt sich zu einem wichtigen Teil der Therapie; <strong>die</strong> zuvor<br />

auf Körperebene (es bleibt beim Erspüren der Struktur im Stehen oder Sitzen) angeregten<br />

Erfahrungen kann er gut umsetzen, er ist impulsiv im Verbalisieren, lustvoll und<br />

spontan, sein Räuspertic ist verschwunden. Zeitgleich kann er Kontakt zu einer Clique<br />

von Jungs aufbauen; sie verbringen viel Zeit am Ba<strong>des</strong>ee. Auch <strong>die</strong>s erleichtert das<br />

häusliche Miteinander.<br />

Wir erarbeiten den Auftrag, dass Jan lernt, besser für sich reden zu können. Immer wieder<br />

ist seine Familie Thema. Er rebelliert heftig gegen <strong>die</strong> Trennung der Eltern, <strong>die</strong> eine<br />

Folge von neuen Stiefeltern, Stiefgeschwistern und Halbgeschwistern nach sich zieht,<br />

so dass sich sein ursprüngliches Familiensystem von 5 Personen auf insgesamt 14 Per-<br />

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Roswitha Mauer-Bittlinger<br />

sonen erweitert hat. Er pendelt jetzt nicht nur zwischen verschiedenen Erziehungssystemen<br />

hin und her, sondern erfährt auch eine massive Abwertung von Seiten der neuen<br />

Stiefmutter, <strong>die</strong> sich mit den eigenen kleinen Kindern von der alten Familie <strong>des</strong> Mannes<br />

deutlich abgrenzt und den Vater immer wieder in <strong>die</strong> Situation bringt, sich zwischen<br />

seinen Kindern aus der ersten Ehe und der neu gegründeten Familie, also ihr, zu entscheiden.<br />

Der Vater, <strong>des</strong>sen erste Ehe schon an seiner mangelnden Konfliktfähigkeit litt, weicht<br />

auch hier dem Konflikt aus. Vieles bleibt unausgesprochen, an den Besuchswochenenden<br />

konkurriert Jan mit der Stiefmutter um den Vater, gleichzeitig wendet er sich von<br />

ihm ab; eine pubertäre Thematik kommt mit aller Wucht dazu. Die Tics tauchen begleitend<br />

immer wieder auf, können nun aber auch allmählich von den Eltern in ihrem Symptomgehalt<br />

gesehen werden. Der Weg dahin, dass das gesamte System beginnt, richtig<br />

zu „ticken“, ist natürlich noch ein langer, und es wird noch vieler Gespräche mit den<br />

Eltern bedürfen, auf ihren Sohn adäquat eingehen zu können, und noch einiger Therapiestunden,<br />

bis der Junge es lernt, sich seinen Impulsen und Bedürfnissen anzuvertrauen<br />

und seine Mitteilungen entsprechender zu artikulieren.<br />

Die Funktionelle Entspannung kommt hier eher „unauffällig“ zum Einsatz, dennoch<br />

glaube ich, dass <strong>die</strong>se elementaren Spürerfahrungen der eigenen Struktur und <strong>des</strong> Halt<br />

gebenden Gerüstes es ermöglicht haben, dem zuvor erlebten massiven Kontrollverlust,<br />

der sich auch in der Tic-Symptomatik wieder spiegelte, etwas entgegenzusetzen, wieder<br />

mehr Kontrolle über das eigene Leben <strong>zur</strong>ück zu gewinnen. Sich anders als z.B.<br />

über Räuspern Gehör zu verschaffen, konnte im Ansatz angebahnt werden.<br />

Ich hoffe, ich konnte mit meinen kurzen Einführungen ihr Interesse für <strong>die</strong> Behandlung<br />

von Kindern und Jugendlichen wecken!<br />

Literatur:<br />

Marianne Fuchs, Gabriele Elschenbroich (Hrsg.): Funktionelle Entspannung in der<br />

Kinderpsychotherapie. Ernst Reinhard, GmbH & Co, Verlag, München 1996 (2.<br />

erweiterte Auflage).<br />

Karl Robert Rosa und Lotte Rosa-Wolff: Psychosomatische Selbstregulation.<br />

Hippokrates Verlag, Stuttgart 1976.<br />

F. Lamprecht (Hrsg.): Spezialisierung und Integration in Psychosomatik und<br />

Psychotherapie, Springer Verlag 1987.<br />

Hans-Christoph Steinhausen: Seelische Störungen im Kin<strong>des</strong>- und Jugendalter,<br />

Klett-Cotta, Stuttgart 2004 (2. erweiterte Auflage).<br />

Klaus Hurrelmann/ Heidrun Bründel: Einführung in <strong>die</strong> Kindheitsforschung, Beltz Verlag,<br />

Weinheim, Basel, Berlin 2003 (2. Auflage).<br />

Vortrag, gehalten auf der Jahrestagung der AFE in Rothenburg, November 2006


Doris Lange<br />

VOM SYMPTOM ZUM AFFEKT<br />

EIN KÖRPERPSYCHOTHERAPEUTISCHES BEHANDLUNGSKONZEPT<br />

Was ist das eigentlich: "Körperpsychotherapie"?<br />

Ich biete Ihnen ein ganz persönliches Bild an:<br />

Ich stehe auf zwei Beinen; mit einem Bein stehe ich in meinem Grundberuf und in<br />

meiner tiefenpsychologischen Therapieausbildung, fest und sicher, vor allem, seit es <strong>die</strong><br />

Säuglingsforschung und <strong>die</strong> psychoanalytische Selbstpsychologie gibt; das andere Bein<br />

steht in meiner F.E.-Weiterbildung, fest und sicher, stabilisierend und genüsslich. In<br />

meiner täglichen Arbeit verlagere ich das Gewicht mal aufs eine Bein, mal aufs andere<br />

Bein. Es ist ein kreativer Prozess, der in allen Gelenken bis hoch zum Kiefergelenk vor<br />

sich geht, mit Schwerpunkt im unteren Kreuz, im Becken als querverbindender Achse<br />

zwischen beiden Beinen, es ist ein Schwingen, ein Spielen, manchmal wage ich auch<br />

ein Tänzchen („Verspieltheit als Entwicklungschance“, wie ein schönes Buch der Tanztherapeutin<br />

Sabine TRAUTMANN-VOIGT heißt).<br />

Die F.E. ist nicht automatisch eine Körperpsychotherapie.<br />

Marianne FUCHS sagte noch zu meinen Selbsterfahrungszeiten höchstpersönlich: „mit<br />

Übertragung und Gegenübertragung haben wir nichts im Sinn“.<br />

Es ist das Schöne und für mich auch das Besondere der AFE, dass sie unter ihrem<br />

Dach <strong>die</strong> verschiedensten Grundberufe versammelt: Lehrer, Heilpädagogen, Seelsorger,<br />

Logopäden, Physiotherapeuten, Pflegeberufe, Ärzte und <strong>die</strong> Gruppe der Psychotherapeuten.<br />

Jeder Grundberuf hat seine F.E.: aus meiner Sicht ein ganz großer Reichtum.<br />

Die Grenze zwischen Körpertherapie und Körperpsychotherapie erscheint mir fließend;<br />

und alles, was „im Fluss“ ist, ist in Bewegung, ist kreativ und vitalisierend.<br />

Gustl MARLOCK lokalisiert im „Handbuch der Körperpsychotherapie“ in einem historischen<br />

Abriss im ersten Kapitel den Standort der Funktionellen Entspannung an <strong>die</strong><br />

Seite der Konzentrativen Bewegungstherapie, aus der Tradition der Leibpädagogik<br />

heraus, und auch Monika Leye, Thomas Loew und ich beschreiben den Weg der F.E. in<br />

<strong>die</strong>sem Buch, aus unseren drei Grundberufen aus Pädagogik, Medizin und Psychologie<br />

heraus wertschätzend und integrierend gemeint.<br />

Im Folgenden stelle ich Ihnen einen Behandlungsverlauf vor; der Schwerpunkt meiner<br />

Darstellung geschieht unter dem Fokus der "Affektnachreifung" und der damit verknüpften<br />

Lockerung der psychosomatischen Symptomatik; <strong>die</strong> Funktionelle Entspannung und<br />

ihre Wirksamkeit wird an den "Schaltstellen" <strong>die</strong>ses Prozesses in den Vordergrund<br />

gestellt und mit Literaturarbeit "unterfüttert".<br />

Ich hatte <strong>die</strong> Pat. insgesamt 100 Stunden in kassengenehmigter Einzeltherapie und für<br />

6 Doppelstunden in einer F.E.-Gruppe. Diese Gruppen stelle ich 1-2 mal im Jahr aus<br />

Patientinnen zusammen, <strong>die</strong> sich in auslaufenden Psychotherapien befinden; 6 Frauen<br />

mit unterschiedlicher Persönlichkeitsstruktur; Traumapatientinnen, psychosomatische<br />

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Doris Lange<br />

Patientinnen; depressive, forsche und ängstliche, dicke und dünne, laute und leise, alte<br />

und junge. Eine Männergruppe habe ich noch nicht zustandebekommen, <strong>die</strong> trauen sich<br />

nicht, vielleicht auch nicht ihren Geschlechtsgenossen, vielleicht auch mir nicht.<br />

Gemischten Geschlechts möchte ich <strong>die</strong> Gruppen nicht zusammenstellen: der Raum ist<br />

klein, mit 6 Matratzen komplett belegt; sexuell missbrauchte Frauen haben auch da<br />

schon ihre Panikattacken, sie brauchen unbedingt einen geschützten Rahmen. Es sind<br />

immer 2-3 von ihnen darunter. Die Gruppe bleibt für 6 Doppelstunden beieinander,<br />

14-tägig, selbst bezahlt und bezahlbar. Den jeweiligen Terminen gebe ich, wie einem<br />

kleinen „Paket“, einen Namen: „Füße“, „Rücken“, „mein innerer Halt/Sich-halten-lassen“,<br />

„Einschlafen/Aufwachen/Aufstehen“, „Haut/Körpergrenze/Körperkontakt“, und eine so<br />

genannte „Verfügungsstunde“, <strong>die</strong> nochmals sehr lebendig ist und den Patientinnen<br />

besonders gut ihre jeweilige Eigenheit und Andersartigkeit nahe bringt. Ich biete <strong>die</strong><br />

Angebote alltagspraktisch und „lernbar“ an. Ich mache <strong>die</strong>se Gruppen <strong>des</strong>halb, weil ich<br />

im Einzelkontakt selten „Hand anlege“ und <strong>die</strong> F.E. für <strong>die</strong> Pat. selten sehr bewusst im<br />

Vordergrund steht. Sie bekommen viel Partnerarbeit angeboten, von mir weg, zu anderen<br />

hin; mit dem Vertrauensvorschuss, dass ich nur gruppenfähige Frauen auswähle,<br />

und auch zu meiner eigenen Sicherheit in mir selbst, dass ich alle gut und lange kenne.<br />

Es ergeben sich Phasen tiefster Regression und Stille, und es gibt Phasen voller Bewegung,<br />

Kraft und Lautstärke. Zum Schluss lege ich ein Musikstück auf, das für mein<br />

Empfinden zum Thema passt.<br />

Ich bitte <strong>die</strong> Frauen, beim Gehen nach der Sitzung möglichst zu schweigen, nicht das<br />

Erlebte zu zerreden, sich nachher noch ein paar Minuten zum Nachspüren zu lassen,<br />

evtl. etwas aufzuschreiben, sich auf jeden Fall alles gut zu merken und am Anfang der<br />

nächsten Stunde zu berichten, auch <strong>die</strong> Effekte an den Tagen dazwischen, um das<br />

Erlebte abzuspeichern, es sich einzuverleiben, damit es wieder-holbar wird. In der Zwischenzeit<br />

finden dann 1-2 Einzelsitzungen statt. Der therapeutische Prozess, <strong>die</strong> Übertragungsbeziehung<br />

soll vornehmlich in der Dyade, in der Einzeltherapie verbleiben. Die<br />

Selbsterfahrung in der Gruppe ist eher additiv, ressourcenorientiert, sich gegenseitig<br />

bereichernd und mit-teilend gedacht und <strong>die</strong>nt der Hinwendung nach außen, „zu den<br />

Geschwistern“ würde man in der Psychoanalyse sagen. Die Gruppe <strong>die</strong>nt damit der<br />

Ablösung aus der Therapie überhaupt.<br />

Jetzt zum Fallbeispiel:<br />

Die Pat. ist zum Zeitpunkt ihrer Anmeldung 63 Jahre alt. Auf dem Überweisungsschein<br />

ihres Hausarztes steht als Überweisungsgrund „depressive Heimwehreaktion“. Ich<br />

begrüße zum Termin eine schmale, burschikos wirkende Frau mit festem, verbindlichem<br />

Händedruck. Sie strahlt mich an und meint mit rauchiger Whiskystimme und norddeutsch-nasalem<br />

Dialekt: „Nu bin ich hier, aber ich weiß gaanich so genau, was ich hier<br />

soll!“- „Na, da findet sich sicher was“, antworte ich; wir lachen beide, <strong>die</strong> Spannung ist<br />

genommen. (Ich bin nicht immer "so"! Im Gegenteil! Bei <strong>die</strong>ser Patientin ist das "so" mit<br />

mir.)<br />

Ich frage sie, was ihr Arzt mit Heimweh meine.<br />

Da fällt in sich zusammen, spricht leise und monoton: sie sei vor 3 Jahren hier hergezogen<br />

zu ihrer Tochter, als <strong>die</strong>se schwanger wurde. Dadurch habe sie <strong>die</strong> Trennung von<br />

ihrem schwer alkoholkranken Ehemann geschafft, der nach seiner Berentung und dem<br />

zeitgleichen Auszug der Tochter zunehmend dauertrunken und zunehmend gewalttätig


Vom Symptom zum Affekt - Ein körperpsychotherapeutisches Behandlungskonzept<br />

geworden sei. Sie schildert Szenarien von nächtlicher Bedrohung mit To<strong>des</strong>angst, Polizeieinsätzen<br />

und Krankenhausverarztungen. Sie habe ihre vorzeitige Rente eingereicht<br />

und sei in einer „Nacht- und Nebelaktion“ hier hergezogen. In Hamburg habe sie einen<br />

engen Kreis von Freunden, Nachbarn und Kollegen um sich herum aufgegeben. Hier<br />

stehe sie immer noch „vor dem Nichts“.<br />

Ihre Stimme wird noch tonloser: Seit <strong>die</strong> Tochter ihr <strong>die</strong> zweite Schwangerschaft mitgeteilt<br />

habe, sei sie in einen Dauerzustand verfallen, wie sie ihn nur „bei der Migräne“ kenne:<br />

bleiern, müde, schwere Augenlider, Übelkeit, Nackenschmerzen, Gliederschmerzen,<br />

trübe Gedanken, Angstphantasien, Schlafstörungen. Sie müsse sich morgens aus<br />

dem Bett quälen und sehe überhaupt keinen Sinn mehr in allem. Sie habe ein Leben<br />

harter Arbeit hinter sich. Sie kenne sich so nicht und schäme sich „entsetzlich“ dafür.<br />

Die Migräne kenne sie schon seit der Pubertät, damals zyklisch monatlich vor Beginn<br />

der Regelblutung, später dann auch manchmal häufiger; seit sie hier wohne, fast je<strong>des</strong><br />

Wochenende, wenn sie allein in der Wohnung sei, und seit kurzem müsse sie <strong>die</strong><br />

Tabletten fast täglich nehmen, um überhaupt noch „zu was zu taugen“.<br />

Ich frage sie, was es denn sei, was sich mit einem zweiten Enkelkind noch weiter verschlechtern<br />

werde. Sie antwortet zunächst nicht, dann meint sie leise, kaum hörbar:<br />

„Wissen Sie, man denkt doch, dass man von Kindern geliebt wird und mit Respekt<br />

behandelt wird, aber bei meiner Tochter ist das nicht so. Ich habe sie verwöhnt. Sie war<br />

mein Ein und Alles. Aber jetzt hält sie nur noch <strong>die</strong> Hand auf, will ständig Geld, wo ich<br />

doch selbst kaum was zum Leben habe. Sie geht arbeiten, ich nehme den ganzen Tag<br />

das Kind. Die Kinder sind heute lebhaft und schlecht erzogen. Ich schaffe das doch gar<br />

nicht mehr mit noch einem Baby jeden Tag. Ich bin verbraucht, fix und alle.“<br />

Während sie spricht, spüre ich eine zunehmende Gereiztheit in mir hochsteigen. Ich<br />

richte mich ruckartig auf und sage mit sehr fester Stimme, ohne dass ich das irgendwie<br />

hätte kontrollieren können: „Dann sind Sie ja vom Regen in <strong>die</strong> Traufe gekommen!“ Und<br />

dann wird mir fast schlecht vor lauter Schrecken über <strong>die</strong>sen Satz.<br />

Daniel STERN schreibt: „Der Therapeut wird auf einmal aus seinem Gleichgewicht<br />

geworfen. Er weiß nicht mehr, was passiert, und wenn er ganz ehrlich ist, weiß er auch<br />

nicht, was er tun soll.... Diese `now-moments´ sind sehr geladene Situationen, und der<br />

Angstpegel, insbesondere beim Therapeuten, steigt. In <strong>die</strong>sen Augenblicken sind er<br />

und der Patient hundertprozentig in der Gegenwart... Dieser Jetzt-Augenblick wird oft<br />

als Bedrohung oder Herausforderung für <strong>die</strong> übliche Arbeitsweise empfunden. Die<br />

Beziehung wird plötzlich auf den Tisch gelegt. Der Therapeut entdeckt, dass sowohl ein<br />

großes Risiko als auch gleichermaßen eine große Chance vorhanden ist. Es gibt eine<br />

große Chance für eine positive therapeutische Veränderung, und es gibt auch das Risiko,<br />

dass <strong>die</strong> ganze Therapie den Bach runtergeht, dass <strong>die</strong> Auswirkungen sich als<br />

schädlich erweisen“ (STERN, D., S. 91). An anderer Stelle schreibt er: „Das eigentliche<br />

Thema besteht doch darin, dass wir uns vielleicht viel zu viel Gedanken <strong>zur</strong> Übersetzung<br />

von implizitem Wissen in explizites Wissen machen. Denn <strong>die</strong> meisten Veränderungen<br />

im impliziten Wissen über eine Beziehung sind möglich, ohne dass man darüber<br />

sprechen muss. Sie müssen nur durchgeführt, umgesetzt werden“ (STERN, D., S.<br />

95).<br />

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Doris Lange<br />

Was war hier passiert? In meinen Körper, in meinen Affekt, in meine Gedanken war<br />

etwas sozusagen „hineingeschossen“ und wieder „herausgeschossen“, was <strong>die</strong> Pat.<br />

nicht empfinden konnte, ein Leben lang nicht hatte grenzsetzend empfinden können,<br />

und das sie im momentanen Dialog in meine Gegenübertragungsreaktion hineintransportiert<br />

hatte: Ärger!<br />

Die Pat. antwortet spontan: „Stimmt!“ Und wirkt sehr vitalisiert, wach, präsent.<br />

Migräne wird im entsprechenden Kapitel in UEXKÜLLS Handbuch „Psychosomatische<br />

Medizin“ konzipiert als „Folge eines zu Beginn der vegetativen Vorbereitung gehemmten<br />

aggressiven Aktes, der mit einer erhöhten Blutzufuhr im Gehirn bei gleichzeitiger<br />

Blockierung der Muskelaktion einhergeht.... der Konflikt besteht in dem aggressiven Akt<br />

und den gegengerichteten Impulsen, <strong>die</strong> den Akt hemmen“ (UEXKÜLL, S. 559).<br />

Nach psychoanalytischen Stu<strong>die</strong>n charakterisiert <strong>die</strong> biographische Entwicklung von<br />

Personen mit Migräne in der frühen Kindheit eine affektive Mangelkonstellation, <strong>die</strong><br />

durch mütterliche Kühle, Zwanghaftigkeit und Härte bedingt ist... Bei den Müttern der<br />

Migräniker fanden sich vermehrt trieb- und sexualfeindliche Strebungen, bei den Vätern<br />

Weichheit und Nachgiebigkeit, insgesamt eine eher verwöhnende Haltung gegenüber<br />

den Patienten. Die Migräniker übernehmen sehr hohe Leistungsideale von Eltern in<br />

Form einer positiven Identifikation“ (UEXKÜLL, S. 559-560).<br />

Soweit <strong>die</strong> Psychosomatik der 2.Hälfte <strong>des</strong> letzten Jahrhunderts, zu der <strong>die</strong> Pat. auch<br />

vom Alter her passt: sie ist im Krieg geboren, in materiell und auch emotional karger<br />

Umgebung, bei einer bäuerlich überlasteten und puritanisch-strengen Mutter. „Bei uns<br />

gab es das nicht, sich mal in den Arm nehmen oder gar Zärtlichkeit. Meine Mutter<br />

musste nicht einmal schreien; sie hat uns nur angeschaut, da haben wir schon pariert.“<br />

Der Vater war Spätheimkehrer, kriegsversehrt, traumatisiert, in sich <strong>zur</strong>ückgezogen,<br />

später melancholischer Alkoholiker, für <strong>die</strong> Familie eher eine Last. Die Pat. fühlt sich<br />

ihm wesensähnlich verbunden, auch über seinen Tod hinaus.<br />

In den Sitzungen bleibt <strong>die</strong> Pat. meist in sich verschlossen, ausdrucksarm und anklagend:<br />

sie klagt über <strong>die</strong> Tochter, den Schwiegersohn, <strong>die</strong> hessischen Ärzte, <strong>die</strong> hessischen<br />

Hügel: sie sei schöne Fahrradtouren von zu Hause gewohnt, aber hier komme<br />

man kaum aus dem Haus, schon habe man den ersten Hügel vor der Nase; in Norddeutschland<br />

sei alles flach. Ich betätige mich als Entertainerin, beschreibe Fahrradstrecken<br />

an der Lahn entlang, Cafés, Thermalbäder. Regressionsfördernde F.E.-Angebote<br />

in den Sitzungen lehnt sie ab; wenn ich ihr hin und wieder doch etwas anbiete,<br />

schaut sie mich an, als sei ich verrückt. Deshalb verlege ich meine Angebote "nach<br />

außen": ich beschreibe ihr, wie schön man entspannen kann, wenn man auf dem<br />

Rücken im warmen Thermalbecken abends draußen liegt und in den Sternenhimmel<br />

guckt; ich beschreibe ihr, wie man im Dachcafé in Gießen sitzt und über <strong>die</strong> Stadt und<br />

den Alten Friedhof guckt; sie spricht davon, dass sie früher immer so gern getanzt hat,<br />

ich nenne ihr Kurorte in der Gegend, da gibt es sicher auch Tanzcafés; ich beschreibe<br />

ihr und mache es ihr vor, wie man mit dem Fahrrad den Hügel hochfährt und <strong>die</strong><br />

Anstrengung "in <strong>die</strong> Pedale hinein"tritt und nicht in den Kopf.<br />

Ich komme mir vor wie Kasperle im Kaspertheater; sie sitzt davor, manchmal staunt sie,<br />

manchmal lächelt sie. Ich frage sie, was sie von der letzten Stunde noch behalten hat,<br />

und wenn sie es nicht mehr weiß, erzähle ich es ihr. Ich rege ihre Erinnerungsfähigkeit


Vom Symptom zum Affekt - Ein körperpsychotherapeutisches Behandlungskonzept<br />

an sich selbst und an ihre eigenen inneren Zustände an: "Letztes Mal haben Sie doch<br />

erzählt..."- "Letztes Mal haben Sie doch gelacht, als Sie erzählt haben..."- "Letztes Mal<br />

haben Sie sehr geweint, wissen Sie noch?"--- Mir geht es dabei auch darum, sie selbst<br />

mit ihren eigenen Gefühlen zu verknüpfen. Sie auch mit ihrem Körper zu verknüpfen,<br />

gelingt mir weniger.<br />

In der Literatur <strong>zur</strong> „Alexithymie“ ist das Verhalten der Patientin gut beschrieben.<br />

Wolfgang Milch, psychiatrieerfahrener Giessener Oberarzt in der Psychosomatischen<br />

Unikliniik, schreibt: "Bei vielen psychosomatischen Patienten liegt eine Störung <strong>des</strong><br />

Selbst vor. Nach Wolf ... handelt es sich um eine primäre Störung <strong>des</strong> Selbst aus der<br />

Phase <strong>des</strong> 'präemergenten' Selbst. Damit ist eine Störung aus der Zeit vor dem Spracherwerb,<br />

also vor der Fähigkeit <strong>zur</strong> Symbolisierung gemeint (Stern 1985, Schöttler 1998).<br />

In seinen Arbeiten <strong>zur</strong> Kleinkindforschung geht Lichtenberg (1987) davon aus, dass bis<br />

<strong>zur</strong> Mitte <strong>des</strong> 2.Lebensjahres keine Symbolisierung stattfindet. Kinder bis zu <strong>die</strong>sem<br />

Alter sind also noch nicht in der Lage, symbolisch zu denken, wie es unserem üblichem<br />

Denkmodus als Erwachsenem entspricht. Bevor Säuglinge und Kleinkinder <strong>die</strong> Fähigkeit<br />

<strong>zur</strong> Symbolisierung erlangt haben, können sie sich nur auf der Verhaltensebene<br />

gegen aversive Stimuli wehren. Erst wenn das Kind <strong>die</strong> Fähigkeit <strong>zur</strong> Symbolisierung<br />

gewonnen hat, verändert sich <strong>die</strong> Selbstregulation entscheidend: Während <strong>die</strong>se<br />

zunächst von der Regulation durch <strong>die</strong> Bezugsperson abhängig war, <strong>die</strong> konkret und<br />

körpernah abläuft, entwickeln Kinder später komplexe mentale Prozesse, wie Phantasiefähigkeit,<br />

inneren Dialog, Verdrängung, Abwehrmechanismen und vieles mehr. Da<br />

Sprache das übliche Medium für Psychotherapie ist, stellt es sich als recht schwierig<br />

dar, aus den Schilderungen von Erwachsenen auf <strong>die</strong> präsymbolische Zeit zu <strong>zur</strong>ückzuschließen.<br />

Erfahrungen von <strong>die</strong>sen frühen regulativen Prozessen stellen sich später<br />

beim Erwachsenen als selbstregulative Fähigkeiten oder als charakteristische interaktive<br />

Regulationen im intersubjektiven Kontext dar, <strong>die</strong> von Lichtenberg (1989) als<br />

Modellszenen beschrieben werden. Diese sind hilfreich, um den Fokus der Behandlung<br />

auf <strong>die</strong> nichtverbale Dimension zu legen." (Milch / Leweke 2006).<br />

In der Arbeit mit der Patientin bietet sich eine solche Modellszene an, als sie davon<br />

erzählt, wie sie an der Hand <strong>des</strong> Vaters durch das zerbombte Hamburg geht, <strong>die</strong> Stadt,<br />

<strong>die</strong> sie als Ort der Freude und <strong>des</strong> Staunens vor dem Krieg in Erinnerung gehabt hatte.<br />

Wir arbeiten <strong>die</strong>se Bilder, <strong>die</strong>sen Schrecken in ihrer Seele und in ihrem Körper, und<br />

gleichzeitig das Gehaltenwerden durch ihren Vater, in allen Facetten durch, vor allem<br />

auch "im Hier und Jetzt". Ich beschreibe ihr ihre Körperhaltung, wie ich sie wahrnehme:<br />

<strong>die</strong> zusammengeballten Hände, <strong>die</strong> hochgezogenen Beine, <strong>die</strong> angespannten Kiefergelenke,<br />

<strong>die</strong> zerfurchte Gesichtshaut, der flache Atem, <strong>die</strong> gepresste Stimme; und <strong>die</strong> Verknüpfung<br />

<strong>des</strong> Gefühls "Angst". Das Gehaltenwerden durch den Vater ist nicht im Körper<br />

spürbar, vermutlich weil er selbst in seinem eigenen Trauma erstarrt war.<br />

Sie hat Albträume, erzählt ihrer Tochter davon, zeigt sich ihr endlich auch einmal in<br />

ihrer eigenen Verletzlichkeit.<br />

Hans-Peter HARTMANN und Kerstin LOHMANN beschreiben in ihrem Artikel „Selbstregulierung<br />

und Kreditierung in der kindlichen Entwicklung und in der therapeutischen<br />

Beziehung“ <strong>die</strong> verschiedenen Aspekte der Selbstregulierung: Fremdregulierung, Evozierung<br />

und Spiegelung von Affekten, wechselseitige Regulation von Mutter und Kind,<br />

Kreditierung, Mentalisierung. In der Rückschau auf den hier beschriebenen Prozess<br />

habe ich sie alle gefunden. Sie haben mich in der Durststrecke <strong>des</strong> Anfangs der<br />

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Doris Lange<br />

Behandlung am Leben gehalten, und sie haben <strong>die</strong> Patientin belebt oder auch wiederbelebt,<br />

wie sich herausstellte.<br />

Sie wird von einer Nachbarin in einen Western-Club mitgenommen, wo Squaredance<br />

getanzt wird, wovon ich selbst keine Ahnung habe. Sie erzählt von Stampfschritten, <strong>die</strong><br />

sie besonders gern tanzt. Ich frage sie, ob sie´s mir vormachen könne. Sie guckt mich<br />

wieder mit <strong>die</strong>sem Blick an, als sei ich verrückt. Ich erkläre ihr dann, dass <strong>die</strong> Erschütterung<br />

ihrer Wirbelsäule eine Lockerung im Nacken bringe und <strong>des</strong>halb gut gegen ihre<br />

Migräne sei, aber nur, solange ihr das Spaß mache, nicht zu heftig, das sei wiederum<br />

schlecht für <strong>die</strong> Gelenke.<br />

Es fängt an, bewegter und vergnügter zu werden. Ich brauche nichts mehr vorzumachen;<br />

<strong>die</strong> Pat. erzählt jetzt von sich aus, was sie erlebt, was sie unternimmt, und verknüpft<br />

<strong>die</strong>se guten Erlebnisse mit guten Erfahrungen aus ihrer Kindheit: abgeerntete<br />

Kartoffeläcker absuchen, Äpfel und Birnen klauen, Quittengelee kochen. Sie fängt jetzt<br />

an, auch mich zu beleben; wir beleben uns gegenseitig, stecken uns wechselweise an<br />

mit unserem jeweils trockenen Humor. Sie gewinnt an Vitalität, verliert Depressivität; sie<br />

kauft sich ein Wasserbett, <strong>die</strong> Schlafstörungen mildern sich; <strong>die</strong> Migräne mildert sich.<br />

Sie freut sich über das kleine Enkelkind, einen "strammen Burschen", wie sie ihn mir oft<br />

voller Stolz szenisch unter Einsatz ihrer eigenen Kraft beschreibt. Ich frage sehr ausführlich<br />

nach, wie sich das anfühlt, wenn sie das Baby auf dem Arm hat; spiegelnd<br />

beschreibe ich ihr: "Wenn Sie so strahlen, sehen Sie aus wie frisch geliftet!" Wir lachen,<br />

wie so oft. Sie weist mehr und mehr <strong>die</strong> ausplündernden Ansprüche ihrer Tochter<br />

<strong>zur</strong>ück zugunsten regenerierender Unternehmungen in ihrer Freizeit.<br />

Sie kann sich kaum vorstellen, dass <strong>die</strong> Therapie bald zu Ende ist, weint manchmal<br />

<strong>des</strong>wegen. Ich biete ihr <strong>die</strong> Teilnahme an einer neu zusammengestellten Gruppe an,<br />

bin mir selbst nicht ganz sicher, ob sie hineinpasst.<br />

In der ersten Gruppenstunde breite ich einen Parcours an Unterlagen auf dem Boden<br />

aus. Das Angebot besteht darin, jeweils eine Unterlage (zusammengefaltete Decken,<br />

dicke mit Schaumstoff-Flocken gefüllte Kissen, weiche Stoffbälle, kratzige Fußmatten,<br />

Wellpappe, Lammfell, Igelbälle, Bleistifte und anderes mehr) mit den Fußsohlen zu<br />

erspüren, sich draufzustellen oder damit zu spielen, dann wieder auf den Teppichboden<br />

zu treten, als „neutralen Boden“ sozusagen, und nachzuspüren: was macht <strong>die</strong> Unterlage<br />

mit den Gelenken, Fußzehen bis hoch <strong>zur</strong> HWS und zu den Kiefergelenken? Was<br />

macht <strong>die</strong> Unterlage mit der Muskelspannung? Und was hat das miteinander zu tun?<br />

Gibt es eine Lieblingsunterlage, und warum? Gibt es eine Unterlage, <strong>die</strong> Ablehnung<br />

hervorruft, und warum?<br />

In einem zweiten Durchgang soll parallel zum Spüren in den Körper auch ein Wahrnehmen<br />

ins Gefühl hinein stattfinden.<br />

Im Austausch in der Gruppe dann, im Schritt vom Körperleben <strong>zur</strong> Symbolisierung i.F.v.<br />

Sprache soll danach eine Verknüpfung von Affekt und Körper stattfinden; also etwa folgendermaßen:<br />

„Meine Lieblingsunterlage ist das Lammfell. Wenn ich darauf stehe, dann<br />

fangen meine Zehen an zu greifen, meine Knöchel bewegen den Fuß hin<br />

und her, mein Becken schwingt mit, meine Kiefergelenke entspannen, meine<br />

Wadenmuskeln auch. Es ist ein Gefühl von Geborgenheit.“ –<br />

Oder:


Vom Symptom zum Affekt - Ein körperpsychotherapeutisches Behandlungskonzept<br />

„Wenn ich auf <strong>die</strong> Kratzematte trete, zieht sich alles zusammen, <strong>die</strong> Gelenke<br />

werden fest, <strong>die</strong> Gesichtshaut zieht sich in Falten, ich spüre sofort Ekel und<br />

will wieder runter.“ –<br />

Ich biete <strong>die</strong>se F.E.-Stunde gern am Anfang einer neuen Gruppe an; <strong>die</strong> Arbeit<br />

geschieht noch am knöchernen Gerüst; unter den Gruppenmitgliedern bleibt <strong>die</strong> Thematik<br />

noch „handfest“, kann eher spielerisch und eher sachorientiert angegangen werden;<br />

<strong>die</strong> Benennung von Gefühlen bringt jedoch auch schon eine emotionale Öffnung<br />

der Gruppenmitglieder. Es ist immer wieder verblüffend, nicht nur für mich, wie unterschiedlich<br />

<strong>die</strong> Bedürfnisse der Teilnehmerinnen sind: was der einen ihre Lieblingsunterlage,<br />

ist der anderen ihr am meisten abgelehntes Objekt.<br />

Diese Patientin zeigt in <strong>die</strong>ser ersten Gruppensitzung einen mir ganz neuen, sehr heftigen<br />

Affekt: sie betritt das große Kissen mit den Schaumstoff-Flocken nicht, bleibt davor<br />

stehen, blockiert und aufgewühlt, bricht in Tränen aus und sagt für alle hörbar und irritierend:<br />

„Da kann ich doch nicht darauftreten! Ich darf doch nicht mit den Füßen auf ein<br />

Kissen treten! Meine Mutter würde mir eine schallende Ohrfeige geben!“ Ich sage beruhigend:<br />

„Tun Sie nur das, was Sie möchten. Sie müssen nicht auf das Kissen treten.<br />

Aber das ist auch ein Kissen, das nicht auf einem Sofa oder einem Bett liegt. Die Kinder<br />

spielen hier in der Therapie auch ähnlich damit. Es ist nur für <strong>die</strong>se Zwecke hier.“ Die<br />

Affektivierung der Pat. kommt noch einmal kurz hoch im Gruppengespräch, ich reagiere<br />

wieder de-eskalierend, weil mein Gruppenkonzept nicht prozessorientiert ausgerichtet<br />

ist, wie es eine Gruppenpsychotherapie wäre. –<br />

In der Einzelsitzung bin ich schon neugierig, was <strong>die</strong> Pat. zu berichten hat. Sie erwähnt<br />

<strong>die</strong> Inszenierung ihres heftigen, aus dem tiefsten Unbewussten kommenden Affektausbruchs<br />

in der Gruppe in keiner Weise.<br />

Gerald HÜTHER schreibt hierzu in dem kürzlich erschienen Buch „Embodiment“: „Ein<br />

leider noch immer sehr entscheidender Auslöser für <strong>die</strong> fortwährende Anpassung der<br />

inneren Bilder (eines Menschen) an <strong>die</strong> in der jeweiligen Familie, der Sippe oder jeweiligen<br />

Gemeinschaft herrschenden Strukturen ist <strong>die</strong> Angst – entweder <strong>die</strong> Angst vor einer<br />

angedrohten Strafe oder <strong>die</strong> Angst vor Verweigerung einer Belohnung in Form von<br />

Zuwendung oder Wertschätzung, <strong>die</strong> das betreffende Kind erfährt. In beiden Fällen<br />

kommt es <strong>zur</strong> Aktivierung der emotionalen Zentren im Gehirn, <strong>des</strong> limbischen Systems.<br />

Mit <strong>die</strong>ser Aktivierung geht eine vermehrte Produktion und Ausschüttung von Botenstoffen<br />

einher, <strong>die</strong> im normalen Routinebetrieb <strong>des</strong> Gehirns nie in <strong>die</strong>sem Menschen<br />

freigesetzt werden (Dopamin, Neuropeptide, Enkephaline). Durch <strong>die</strong> Wirkung <strong>die</strong>ser so<br />

genannten neuroplastischen Botenstoffe werden nachfolgende Nervenzellen in den<br />

höheren assoziativen Bereichen <strong>des</strong> Gehirns dazu veranlasst, vermehrt Fortsätze<br />

auszubilden, neue synaphische Verbindungen herzustellen bzw. bestehende Kontakte<br />

enger zu knüpfen. Auf <strong>die</strong>se Weise kommt es zu einer außerordentlich effektiven Stabilisierung<br />

und Bahnung der <strong>zur</strong> Lösung eines bestimmten Problems (<strong>zur</strong> Vermeidung der<br />

angedrohten Bestrafung oder <strong>zur</strong> Erlangung der in Aussicht gestellten Belohnung ) aktivierten<br />

neuronalen Verknüpfung und synaphischen Verschaltungen. So lernt je<strong>des</strong> Kind<br />

bereits sehr früh und auch entsprechend nachhaltig all das, worauf es für ein möglichst<br />

ungestörtes Zusammenleben in seiner jeweiligen Gemeinschaft ankommt“ (HÜTHER,<br />

S. 89).<br />

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Doris Lange<br />

„Zusätzlich gehen in <strong>die</strong> neuronalen Erregungsmuster, <strong>die</strong> sich herausbilden, auch alle<br />

so genannten Abwehrvorgänge ein. Dies betrifft z.B. <strong>die</strong> Abwehr von schmerzvollen,<br />

traurigen oder wütenden Gefühlen, <strong>die</strong> in einer Beziehung, <strong>die</strong> wenig Sicherheit bietet,<br />

nicht gezeigt werden dürfen, darum unterdrückt werden müssen und natürlich schwer<br />

auszuhalten sind. Diese Abwehr von Gefühlen geht mit muskulärer Anspannung einher.<br />

Dadurch verändern sich Haltung und Atmung. Je häufiger und je früher das geschieht,<br />

<strong>des</strong>to stärker werden <strong>die</strong>se körperlichen Abwehrmuster verfestigt. Alle Sinneseindrücke,<br />

<strong>die</strong> mit den alten Erfahrungen assoziiert werden, rufen auch <strong>die</strong> alten Gefühle wieder<br />

wach. Darauf reagiert der Körper mit erneuten Anspannungen. Vor allem seelische Verletzungen,<br />

<strong>die</strong> während der frühen Kindheit mit dem Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit,<br />

Abwertung und Entwertung einhergehen, werden auf <strong>die</strong>se Weise sehr nachhaltig<br />

`verkörpert` (HÜTHER, S. 91).<br />

Aber wie wir berufserfahrenen F.E.-Praktiker schon lange wissen, muss es dabei nicht<br />

bleiben. Seit der Entdeckung der Spiegelneurone sehen wir uns neurowissenschaftlich<br />

untermauert, unterfüttert und sogar bewiesen:<br />

(noch einmal Gerald HÜTHER, ich höre und lese ihn für mein Leben gern und lasse Sie<br />

auch nochmals in den Genuss kommen:)<br />

"Wir müssten uns also auf <strong>die</strong> Suche nach dem machen, was unser ursprüngliches,<br />

'wahres Selbst' ist, nämlich Eins zu sein, und zu Hause zu sein in unserem Körper.<br />

Konkret heißt das: Änderung ist möglich. Aber dazu müssten wir unseren Körper wieder<br />

entdecken. Und das ist ... vielleicht gar nicht so schwer. Über Gesten und Veränderungen<br />

von Haltungen und Spannungsmustern der willkürlichen und unwillkürlichen Muskulatur,<br />

der Faszien und Gelenke,... durch Veränderungen der Atmung und <strong>des</strong> Stimmausdrucks<br />

wird <strong>die</strong> emotionale Befindlichkeit geprägt. Sie kann daher von dort aus auch<br />

gezielt verändert werden. Wenn es gelingt, <strong>die</strong> alten Signalmuster vom autonomen Nervensystem,<br />

von den Propriorezeptoren, <strong>die</strong> Rückmeldung über Gelenkstellung und Haltung<br />

zu liefern, und von den Enterorezeptoren, <strong>die</strong> Rückmeldung über <strong>die</strong> Funktion der<br />

inneren Organe bereitstellen, von den verschiedenen Rezeptoren der Muskeln und der<br />

anderen Sinnesorgane zu verändern, verändern sich automatisch auch <strong>die</strong> Gefühle.<br />

Und mit den veränderten Gefühlen verändert sich auch das Denken. Und damit auch<br />

<strong>die</strong> Erinnerung an das Alte und <strong>die</strong> Wahrnehmungsfähigkeit für das Neue.<br />

Sie glauben nicht, dass solche Veränderungen möglich sind? Dass eine schon seit der<br />

Kindheit angewöhnte und antrainierte, gedrückte, in sich zusammengesunkene oder in<br />

anderer Weise 'schief und krumm' gewordene Körperhaltung sich wieder aufrichten<br />

lässt und aufgerichtet bleiben kann? Dass es möglich ist, eine verklemmte Mimik und<br />

Gestik später im Leben noch einmal umzuformen? Es geht. Sie müssen es nur wollen."<br />

Soweit Gerald HÜTHER.<br />

Vorerst „will“ erst einmal nur ich, <strong>die</strong> Therapeutin, und ich frage <strong>die</strong> Pat. in der nächsten<br />

Einzelstunde, ob sie sich noch an „<strong>die</strong> Sache mit dem Kissen“ erinnert. Sie kommt<br />

sofort wieder in Aufregung, fast mit den gleichen Worten. Ich antworte ihr mit dem mir in<br />

ihren Sitzungen schon vertrauten „Biss“: „Aber ich bin hier <strong>die</strong> Chefin, nicht Ihre Mutter.<br />

Das Kissen gehört mir, und Sie dürfen damit machen, was Sie wollen, nur nicht kaputtmachen.“<br />

Sie lacht, wir beide lachen. Sie sagt: „In echt?“ Ich stehe auf, wir ziehen <strong>die</strong>


Vom Symptom zum Affekt - Ein körperpsychotherapeutisches Behandlungskonzept<br />

Schuhe aus, gehe ihr voran nach nebenan, wo ich das Kissen schon mitten auf den leeren<br />

Boden bereitgelegt habe. Sie hockt sich davor und betastet es mit den Händen:<br />

„Weich, flauschig, darf ich mich darauf setzen?“ Und setzt sich bereits. „Wie Prinzessin<br />

auf der Erbse.“ Und dann stellt sie sich. „Bin ganz schön aufgeregt, kann ich Ihnen<br />

sagen.“ Sie hebt vorsichtig ein Bein, dann das andere, Tränen kommen, dann fängt sie<br />

an zu kichern: „Ich komme mir vor wie solche Winzer, <strong>die</strong> ihre Trauben in den Bottichen<br />

so zermatschen.“ – „Na, dann matschen Sie mal“, sage ich. Sie fängt an zu hüpfen, hört<br />

gleich wieder auf.<br />

"Kommen <strong>die</strong> Verbote Ihrer Mutter wieder hoch?“ – „Ja, wenn Sie so zugucken, denke<br />

ich, meine Mutter guckt.“ Sie mag sich wieder setzen. Ich bitte sie, im Sitzen noch einmal<br />

nachzuspüren. Sie spürt noch das Weiche <strong>des</strong> Kissens und <strong>die</strong> lösende Wirkung<br />

<strong>des</strong> Hüpfens auf ihre Gelenke bis hoch zum Nacken. Von Stunde zu Stunde wird ihre<br />

Selbstwahrnehmung differenzierter, nicht nur für ihren Körper, sondern auch für ihre<br />

Gefühle und vor allem ihre autonomen Impulse, <strong>die</strong> immer wieder von Affekten wie<br />

Freude und Lust, aber auch von grenzsetzendem Ärger gespeist werden.<br />

In den wenigen Stunden bis zum Ende der Therapie konnte ich gut damit arbeiten. Der<br />

Wechsel zwischen Gruppe und Einzelsetting erwies sich als gutes Ablösungsangebot<br />

aus der Dichte der therapeutischen Übertragungsbeziehung. Fast „so nebenbei“ teilte<br />

sie mir ihre Entscheidung mit, wieder nach Hamburg <strong>zur</strong>ückgehen zu wollen. Ihr altes<br />

soziales Netz war offenbar immer noch vorhanden, Freunde suchten für sie bereits eine<br />

Wohnung. Sie wollte nur noch den ersten Geburtstag ihres Enkels abwarten und bis<br />

dahin noch viel mit ihm zusammensein. Sie habe <strong>die</strong> Scheidung eingereicht, damit sie<br />

nicht wieder „rückfällig“ werde; grinsend sagte sie das, mit dem ihr immanenten<br />

trockenen Humor (jetzt „mit Biss“).<br />

61


62<br />

Literatur:<br />

MARLOCK,G., WEISS,H. (Hrsg.): Handbuch der Körperpsychotherapie. Stuttgart<br />

(Schattauer) 2006<br />

UEXKÜLL, Thure von (Hrsg.): Psychosomatische Medizin. München 1990/ 4.Aufl.<br />

BAUER, Joachim: Das Gedächtnis <strong>des</strong> Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile<br />

unsere Gene verändern. München (Piper) 2005 /4.Aufl.<br />

KUTTER, Peter: Affekt und Körper. Neue Akzente der Psychoanalyse. Göttingen<br />

(Vandenhoeck&Ruprecht) 2001<br />

Doris Lange<br />

STERN, Daniel: Der Gegenwartsmoment. Veränderungsprozesse in Psychoanalyse,<br />

Psychotherapie und Alltag. Frankfurt (Bran<strong>des</strong> und Apsel) 2005<br />

STORCH, M., CANTIENI, B., HÜTHER, G., TSCHACHER, W.: Embodiment. Die Wech<br />

selwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen. Bern (Huber) 2006<br />

GEISSLER, Peter (Hrsg.): Was ist Selbstregulation? Eine Standortbestimmung.<br />

Gießen (psychosozial) 2004<br />

BERLINER, Jaques: Beitrag der Gruppenarbeit zum individuellen Prozess in der<br />

körpervermittelten, analytischen Psychotherapie. in: GEISSLER, P. (Hrsg.):<br />

Psychoanalyse und Körper. Gießen (psychosozial) 2001, 2. Aufl., S.175-247<br />

MILCH, W., LEWEKE,F.: Alexithymie und Affektregulation. Psychosomatische<br />

Krankheiten als Störungen der Selbstregulation. in: Selbstpsychologie 17/18,<br />

238-274<br />

TRAUTMANN-VOIGT,S., VOIGT,B. (Hrsg.): Verspieltheit als Entwicklungschance. Zur<br />

Bedeutung von Bewegung und Raum in der Psychotherapie. Gießen<br />

(psychosozial) 2002<br />

Vortrag, gehalten auf der Jahrestagung der AFE in Rothenburg, November 2006


Autoren und Autorinnen Heft 34<br />

Johnen, Rolf, Dr. med., Arzt für Innere Medizin und Kardiologie, ehem. Internistischer<br />

Chefarzt und Ärztlicher Direktor der Psychosomatischen Klinik Schömberg,<br />

Psychoanalytiker, niedergelassen in eigener Praxis, FE-Zertifikatsinhaber, Mitarbeit in<br />

der Arbeitsgruppe "Subjektive Anatomie"<br />

Eduard-Conz-Str. 20/1, 75365 Calw<br />

Krause, Rainer, Prof. Dr. phil., Dipl.-Psych., Psychoanalytiker, Inhaber <strong>des</strong> Lehrstuhls<br />

für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität <strong>des</strong> Saarlands in<br />

Saarbrücken,<br />

Campusgebäude 1.1, Postfach 151150, 66041 Saarbrücken<br />

Lange, Doris, Dipl.-Psych., Psychologische Psychotherapeutin (TP) und Kinder- und<br />

Jugendlichen-Psychotherapeutin (TP) in eigener Praxis, Lehrbeauftragte in der A.F.E.,<br />

Badborngasse 1A, 35510 Butzbach<br />

Mauer-Bittlinger, Roswitha, Dipl.-Psych., tätig in der Kinder- und<br />

Jugendpsychiatrischen Ambulanz <strong>des</strong> Zentrums für Sozialpsychiatrie Riedstadt,<br />

Lehrbeauftragtenanwärterin in der A.F.E.,<br />

Kantstr. 21a, 64668 Rimbach<br />

Schüffel, Wolfram, Prof. em. Dr. med., Psychotherapeut und Internist, ehem. Inhaber<br />

<strong>des</strong> Lehrstuhls für Psychosomatische Medizin im Zentrum für Innere Medizin der<br />

Philipps-Universität Marburg, niedergelassen in eigener Praxis, Mitarbeit in der<br />

Arbeitsgruppe "Subjektive Anatomie"<br />

Kaffweg 17a, 35307 Marburg<br />

63


64<br />

Veröffentlichungen <strong>zur</strong> Funktionellen Entspannung<br />

Joraschky, P., v. Arnim. A., Loew, T. & Tritt, K. (2002) Körperpsychotherapie bei<br />

somatoformen Störungen. In: Strauß, B. (Hrsg.) Psychotherapie bei körperlichen<br />

Erkrankungen. Jahrbuch für Medizinische Psychologie 21. Göttingen: Hogrefe, 81-95.<br />

Loew, T. H.; Tritt, K.; Siegfried, W.; Bohmann, H.; Martus, P.; Hahn, E. G. : Efficacy of<br />

'functional relaxation' in comparison to terbutaline and a 'placebo relaxation' method in<br />

patients with acute asthma. A randomized, prospective, placebo-controlled, crossover<br />

experimental investigation, Psychotherapy And Psychosomatics (im Druck)<br />

Loew, T. H.; Sohn, R.; Martus, P.; Tritt, K.; Rechlin, T.: Functional relaxation as a<br />

somatopsychotherapeutic intervention: a prospective controlled study, Alternative<br />

Therapies In Health And Medicine, Volume 6 (im Druck)<br />

Röhricht, F., Borkenhagen, A., Joraschky, P., Lausberg, H., Lemche, E., Loew, T.,<br />

Porsch, U., Schreiber-Willnow, K., Seidler, K.-P., Tritt, K.: Konsensuspaier <strong>zur</strong><br />

terminologischen Abgrenzung von Teilaspekten <strong>des</strong> Körpererlebens in: Forschung und<br />

Praxis in: Psychotherapie Psychosomatik Medizinische Psychologie<br />

Röhricht, F., Seidler. K.P., Joraschky, P., Borkenhagen. A., Lausberg, H., Lemche, E.,<br />

Loew, T., Porsch, U., Schreiber-Willnow, K., Tritt, K. (2005) Konsensuspapier <strong>zur</strong><br />

terminologischen Abgrenzung von Teilaspekten <strong>des</strong> Körpererlebens in: Forschung und<br />

Praxis. Psychotherapie, Psychosomatik und medizinische Psychologie, 55: 183-190. IF<br />

1,3<br />

Sokoliuk, M., Loew, T.H.: Veränderungen der Befindlichkeit durch Funktionelle<br />

Entspannung Change of the state of health by Functional Relaxation.<br />

Psychodynamische Psychotherapie (2003) 2:192-197.<br />

Loew, T.H., Siegfried, W., Bohmann, H., Martus, P., Tritt, K., Hahn, E.G.: Efficiency of<br />

“functional relaxation“- in comparison to terbutaline and a “placebo relaxation“ method in<br />

patients with acute asthma. A randomized prospective placebo controlled experimental<br />

investigation. Psychother Psychosom, 70 (2001) 151-157 IF 4,0<br />

Loew, T.H., Sohn, R., Martus, P., Tritt, K., Rechlin, T.: Funktional Relaxation as a<br />

somatopsychotherapeutic intervention: a prospective controlled study. Alt Ther Health<br />

Med, 6 (2000) 70-75 IF 0,9<br />

Loew, T.H., Siegfried, W., Martus, P., Tritt, K., Hahn, E.G.: Functional Relaxation<br />

Reduces Acute Airway-Obstruction in Asthmatics as Effectively as Inhaled Terbutaline.<br />

Psychother Psychosom, 65 (1996) 124-128 IF 4,0<br />

Loew, T.H., Weber, A., Martus, P., Hahn, E.G., Siegfried, W.: Die Wirkung von<br />

Funktioneller Entspannung bei akuter Bronchokonstriktion- Vergleichbar mit dem Effekt<br />

eines Sympathomimetikums? Forschende Komplementärmedizin, 3 (1996) 110-115 IF<br />

0,6<br />

Loew, T.H., Martus, P., Rosner, F., Zimmermann, T.: Die Wirkung von „Funktioneller<br />

Entspannung“ im Vergleich mit Salbutamol und einem Placebo-Entspannungsverfahren


ei akutem Asthma bronchiale. Eine prospektive randomisierte Stu<strong>die</strong> mit Kindern und<br />

Jugendlichen. Monatsschr. Kinderheilkd. 144 (1996) 1357-1363 IF 0,1<br />

Loew, T.H. Wahrnehmen - Erinnern - Verändern - Ein Vergleich zwischen<br />

Gestalt-therapeutischem Vorgehen und der Funktionellen Entspannung. Psycho 21<br />

(1995) 260-267<br />

Loew, T., Weber, A., Fuchs, M., Seidemann, S., Hahn, E.G., Siegfried, W.<br />

Reproduzierbare Broncholyse durch Funktionelle Entspannung bei Patienten mit<br />

obstruktiven Atemwegserkrankungen. Atemwegs- und Lungenerkrankungen 19 (1993)<br />

365-66<br />

Übersichten / Editorials<br />

Loew, T., Tritt, K., Lahmann, C., Röhricht, F., Joraschky, P. Körperpsychotherapie -<br />

alles nur Humbug? Übersicht zu den publizierten, empirisch-statistisch geprüften<br />

Körperpsychotherapien. Psychodynamische Psychotherapie<br />

Loew, T.H.: Funktionelle Entspannung Psychodynamische Psychotherapie (2003) 3:<br />

187-191<br />

Buchbeiträge und Bücher<br />

Joraschky, P., Arnim, A., Loew, T., Tritt, K. (2002) Körperpsychotherapie bei<br />

somatoformen Störungen. In: Strauß, B. (Hrsg.) Psychotherapie bei körperlichen<br />

Erkrankungen. Jahrbuch für Medizinische Psychologie 21. Göttingen: Hogrefe, 81-95<br />

(Buchbeitrag)<br />

Loew, T.H., Joraschky, P.: Körperorientierte Verfahren. In: Rudolf, G., Henningsen, P.<br />

(Hsg.) Somatoforme Störungen. Theoretisches Verständnis und Therapeutische Praxis.<br />

Stuttgart Schattauer Verlag (1998) S. 133-142<br />

Joraschky, P., Arnim, A. v., Loew, T.H.: Zur Wirkung körpertherapeutischer<br />

Interventionen bei funktionellen abdominellen Beschwerden. In: Herold, R., Keim, J.,<br />

König, H., Walker, C. (Hsg.) Ich bin doch krank und nicht verrückt; moderne Leiden; das<br />

verleugnete und unbewußte Subjekt in der Medizin. Attempto Verl.: Tübingen (1997) S.<br />

81-97<br />

Loew, T.H., D. Heinrich, A. v. Arnim: Effekte einer 10 stündigen Kurztherapie bei Colon<br />

Irritabile Patienten in Kleinstgruppen mit Funktioneller Entspannung im Vergleich zu<br />

Placebo. In: F. Lamprecht, R. Johnen: Salutogenese, ein neues Konzept in der<br />

Psychosomatik. Verl. für Akademische Schriften, Frankfurt 1994, 621-628<br />

65


66<br />

Loew, T.H., Siegfried, W., Martus, P., Tritt, K., & Hahn, E.G. (1996) "Functional<br />

Relaxation" Reduces Acute Airway-Obstruction in Asthmatics as Effectively as Inhaled<br />

Terbutaline. Psychother. & Psychosom; 65:124-128.<br />

Loew, T.H., Sohn, R., Martus, P., Tritt, K. & Rechlin, T. (2000) "Functional Relaxation" -<br />

Somato-psychotherapeutic interventions reduce tension headaches:<br />

a prospective placebo-controlled randomized study. Journal of Alternative Therapies in<br />

Health & Medicine, 6: 70-75.<br />

Loew, T.H., Tritt, K., Siegfried, W., Bohmann, H., Martus, P., K. & Hahn, E.G. (2001)<br />

Efficacy of „Functional Relaxation“ – in Comparison to terbutaline and a „Placebo<br />

Relaxation“ Method in Patients With Acute Asthma. Journal of Psychotherapy &<br />

Psychosomatics; 70: 151-157.<br />

Lahmann, C., Tritt, K., Leiberich, P., Nickel, M., Klische, A. & Loew, T.H. (submitted)<br />

Efficacy of a combined approach with a psychosomatic education program and<br />

“functional relaxation” in the treatment of functional heart disorders – a pilot study.<br />

Tritt, K., Loew, T., Lahmann, C. & Joraschky, P. (submitted) Körperpsychotherapie -<br />

alles nur Humbug? Übersicht zu den publizierten, empirisch-statistisch geprüften<br />

Körperpsychotherapien.<br />

http://www.aerztblatt.de/v4/archiv/heftinhalt.asp?heftid=2790<br />

²²²²²²²²²²²²²


Krause, Walter H., Lohmann, Kerstin (1998).<br />

Die Bedeutung der Funktionellen Entspannung bei multimorbiden Patienten während<br />

der stationären Rehabilitation.<br />

in: Energie & Charakter, Zeitschr. F. Biosynthese und Somatische Psychotherapie, Bd.<br />

18, Berlin 1998<br />

Krause, Walter H., Lohmann, Kerstin (1997)<br />

Die Bedeutung der Funktionellen Entspannung <strong>zur</strong> Integration.<br />

in: abstracts der 46. Arbeitstagung <strong>des</strong> Deutschen Kollegiums für Psychosomatische<br />

Medizin vom 6. – 8. März 1997 in Berus und Saarlouis, S. 26f.<br />

Krause, Walter H., Lohmann, Kerstin , Höger, D. (2002)<br />

Wirksamkeit der Funktionellen Entspannung in der psychosomatischen Rehabilitation.<br />

aus: abstracts der 53. Arbeitstagung <strong>des</strong> DKPM vom 6.-9.März 2002 in Ulm, in:<br />

Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychotherapie (PPmP), 2/2002, S.100,<br />

Stuttgart 2002<br />

Krause, Walter H., Höger, D., Lohmann, Kerstin (2002).<br />

Zur Wirksamkeit der Funktionellen Entspannung in der psychosomatischen stationären<br />

Rehabilitation.<br />

aus: abstracts <strong>des</strong> 11. Rehabilitationswissenschaftlichen Kolloquiums <strong>des</strong> Verban<strong>des</strong><br />

der Deutschen Rentenversicherungsträger zum Thema: Teilhabe durch Rehabilitation.<br />

4.-6-März 2002 in München.<br />

in: DRV-Schriften, Band 33, S.500f<br />

Hartmann, Hans-Peter, Lohmann, Kerstin (2004).<br />

Selbstregulation.<br />

in: Peter Geißler (Hg.) (2004). Was ist Selbstregulation? Eine Standortbestimmung.<br />

Gießen. Psychosozial-Verlag. S. 41-65.<br />

²²²²²²²²²²²²²<br />

LANGE, D., LEYE, M., LOEW, T.: „Phänomenologie in der Körperpsychotherapie“. in:<br />

MARLOCK / WEISS (Hrsg.): Handbuch der Körperpsychotherapie. Stuttgart<br />

(Schattauer) 2006<br />

LANGE, D.: „Selbstfürsorglichkeit. Die körperpsychotherapeutische Behandlung <strong>des</strong><br />

‚frühen Mangels‘ mit der Methode der Funktionellen Entspannung“. in: Psychoanalyse<br />

und Körper, Heft 9/2006 (Psychosozial-Verlag)<br />

67


68<br />

Geschäftsstelle der A.F.E.<br />

Killingerstr. 66<br />

91056 Erlangen<br />

Tel.Nr.: 09131/43 01 27<br />

Fax-Nr.: 09131/43 09 93<br />

E-Mail-Adresse: info@afe-deutschland.de<br />

Internet-Adresse: www.afe-deutschland.de<br />

Anrufzeiten direkt: Montag und Mittwoch 15 - 17 Uhr<br />

Dienstag und Donnerstag 9 - 11 Uhr<br />

Bankverbindung: Sparkasse Erlangen<br />

BLZ 763 500 00<br />

Konto-Nr. 30-001 804<br />

DV-System: Pentium III mit Windows 98<br />

Geschäftsführerin ist Erika Pokorny, FE-Lehrbeauftragte,<br />

Geschäftsstellenleiterin ist Christl Martin, Übersetzerin.<br />

Mitglieder der A.F.E. erhalten ein Exemplar <strong>die</strong>ses Heftes<br />

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Weitere Exemplare können bei der Geschäftsstelle zum Preis von<br />

5 € plus Portogebühren erworben werden.

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