Die Zukunft der Dörfer - Stiftung Schloss Ettersburg
Die Zukunft der Dörfer - Stiftung Schloss Ettersburg
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Tagungsband<br />
<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong><br />
Zwischen Stabilität und demografi schem Nie<strong>der</strong>gang
Tagungsband<br />
<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong><br />
Zwischen Stabilität und demografi schem Nie<strong>der</strong>gang<br />
Veranstaltungen <strong>der</strong><br />
<strong>Stiftung</strong> <strong>Schloss</strong> <strong>Ettersburg</strong><br />
14.12.2011, <strong>Ettersburg</strong><br />
16.1.2012, Romrod<br />
<strong>Ettersburg</strong>, Juni 2012
Vorwort<br />
In Deutschland werden im Jahr 2050 voraussichtlich rund zehn Millionen Menschen<br />
weniger leben als heute, wobei die Entwicklung zwischen sich entleerenden ländlichen<br />
Gebieten und überwiegend weiter wachsenden Verdichtungsräumen wie Metropolen<br />
und Ballungszentren sehr ungleichmäßig verläuft. Entlegene ländliche Regionen erfahren<br />
meist einen beson<strong>der</strong>s dramatischen Bevölkerungsrückgang – struktureller und demografi<br />
scher Wandel verstärken die Landfl ucht. Eine Schrumpfungsspirale aus weniger<br />
Menschen, Überalterung <strong>der</strong> verbleibenden Bevölkerung, schlechterer Versorgung und<br />
sinken<strong>der</strong> Attraktivität droht. Schlichtweg Resignation sollte diese Tatsache allerdings<br />
nicht hervorrufen, son<strong>der</strong>n vielmehr die Fragen provozieren: Wie gehen wir mit dem<br />
Weniger um ? Welche Perspektiven bieten sich für entleerende Räume ? Wie kann man<br />
dortige Potenziale identifi zieren und heben ?<br />
Den <strong>Dörfer</strong>n ist weitestgehend ihre historische Existenzberechtigung, die sich auf <strong>der</strong><br />
Nähe von Arbeitsplatz Acker und bäuerlichem Wohnen gründete, verloren gegangen.<br />
Immer vollkommenere Industrialisierung <strong>der</strong> Landwirtschaft und wirtschaftlicher Strukturwandel<br />
führten in den letzten Jahrzehnten zum massiven Abbau von Arbeitsplätzen in<br />
ländlichen Räumen. Viele, insbeson<strong>der</strong>e junge Menschen wan<strong>der</strong>ten aus diesen Gebieten<br />
ab in die urbanen Zentren – zu Ausbildung, mo<strong>der</strong>nen Jobs, Kultur und Kreativität.<br />
Unsere <strong>Dörfer</strong> stehen an einem Scheideweg: Entwe<strong>der</strong> es gelingt ihnen, neue Motive für<br />
ein Wohnen in ihren Strukturen zu fi nden, o<strong>der</strong> sie werden sich stetig weiter entvölkern<br />
und an Bedeutung verlieren, viele bis an die Grenze ihrer Existenzfähigkeit.<br />
Innovationen und alternative Konzepte – denken wir nur an dezentrale passgenaue Ver-<br />
und Entsorgungssysteme, fl exible mobile Handels- und <strong>Die</strong>nstleistungseinrichtungen<br />
o<strong>der</strong> unsere zukünftige Energieerzeugung aus regenerativen Energiequellen, die ohne<br />
die Flächen im ländlichen Raum undenkbar ist – könnten unsere ländlichen Räume<br />
zu einem <strong>Zukunft</strong>slabor <strong>der</strong> gesellschaftlichen Entwicklung machen. Denn für die Gestaltung<br />
des demografi schen Wandels gibt es kein Patentrezept. Wir sind von jeher gewohnt,<br />
Wachstum zu denken und zu gestalten – für Schrumpfung haben wir bislang<br />
keine Strategie. Gesellschaft und Politik stehen vor einem über Generationen wirkenden<br />
Prozess, dessen Konsequenzen in ihrer Komplexität, Tiefe und Verfl echtung nahezu unüberschaubar<br />
sind – aber gerade deswegen mutiger, aktiver Gestaltung bedürfen.<br />
<strong>Die</strong> im November 2011 publizierte gemeinsame Studie <strong>der</strong> <strong>Stiftung</strong> <strong>Schloss</strong> <strong>Ettersburg</strong><br />
und des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung » <strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong> –<br />
Zwischen Stabilität und demografi schem Nie<strong>der</strong>gang « zeigt Kriterien für Stabilität und<br />
Nie<strong>der</strong>gang dörfl icher Siedlungsstrukturen auf und bildet die Grundlage für die beiden<br />
Vorwort 3
4<br />
gleichnamigen Veranstaltungen am 14.12.2011 und 16.1.2012 in <strong>Ettersburg</strong> und Romrod.<br />
In den Tagungen wurden die Erkenntnisse <strong>der</strong> Studie mit zahlreichen Akteuren vor<br />
Ort, Landräten, Bürgermeistern, Vertretern aus Verwaltung und Politik auf Kommunal-<br />
und Landesebene, <strong>der</strong> lokal tätigen Wirtschaft, Regionalplanern und Demografi e-<br />
Netzwerkern diskutiert und mit ausgewählten Aspekten aus <strong>der</strong> Praxis unterlegt.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong>sfähigkeit schrumpfen<strong>der</strong> ländlicher Räume hängt entscheidend ab vom Engagement<br />
und Gestaltungswillen ihrer Bewohner. Neben den politisch Handelnden gewinnen<br />
auch an<strong>der</strong>e gesellschaftliche Gruppen zunehmend Bedeutung und übernehmen<br />
Verantwortung für Geschicke in ihrer Region. Aufgezeigte Beispiele in <strong>der</strong> vorliegenden<br />
Dokumentation verstehen sich als durchaus übertragbare Denkanstöße.<br />
Eckart Drosse Dr. Norbert Mager<br />
Geschäftsführen<strong>der</strong> Vorstand, Vorstand,<br />
<strong>Stiftung</strong> <strong>Schloss</strong> <strong>Ettersburg</strong> <strong>Stiftung</strong> <strong>Schloss</strong> <strong>Ettersburg</strong><br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«
Inhalt<br />
Grußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7<br />
Dr. Birgit Richtberg, Bürgermeisterin <strong>der</strong> Stadt Romrod<br />
Grußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />
Rudolf Marx, Landrat des Vogelsbergkreises<br />
Zeit zu Handeln – Chancen und Risiken ländlicher Räume im demografi schen Wandel . . . . . . . . . . . . . . 11<br />
Christian Carius, Th üringer Minister für Bau, Landesentwicklung und Verkehr<br />
<strong>Zukunft</strong> gestalten: Ländliche Räume im demografi schen Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17<br />
Steff en Saebisch, Staatssekretär im Hessischen Ministerium für Wirtschaft,<br />
Verkehr und Landesentwicklung<br />
<strong>Dörfer</strong> zwischen Stabilität und demografi schem Nie<strong>der</strong>gang – Vorstellung <strong>der</strong> Studienergebnisse . . . . . . 23<br />
Prof. Dr. Dr. Wulf Bennert, Wissenschaftlicher Direktor <strong>der</strong> <strong>Stiftung</strong> <strong>Schloss</strong> <strong>Ettersburg</strong><br />
<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong> im Fokus regionaler Kreditwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37<br />
Helmut Schmidt, Vorstandsvorsitzen<strong>der</strong> <strong>der</strong> Kreissparkasse Saale-Orla<br />
Finanzwirtschaft im ländlichen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43<br />
Günter Sedlak, Vorsitzen<strong>der</strong> des Vorstandes <strong>der</strong> Sparkasse Oberhessen<br />
<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong> im Fokus kommunaler Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51<br />
Heiko Stock, Bürgermeister <strong>der</strong> Gemeinde Lautertal / Vogelsbergkreis<br />
Herausfor<strong>der</strong>ungen aus Sicht <strong>der</strong> Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57<br />
Dr. Maren Heincke, Diplom-Agraringenieurin, Referentin für den Bereich » Ländlicher Raum «<br />
<strong>der</strong> Ev. Kirche in Hessen und Nassau (EKHN)<br />
Dorfkirchen im demografi schen Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63<br />
Frie<strong>der</strong>ike Costa, Pastorin <strong>der</strong> <strong>Die</strong>trich-Bonhoeff er-Gemeinde Jena<br />
Praxisorientierte Unterstützung für Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67<br />
Susanne Schaab, Projektleiterin » Kompetenznetz Vitale Orte 2020 « und<br />
Bürgermeisterin <strong>der</strong> Stadt Schotten / Vogelsbergkreis<br />
Auszüge aus den Diskussionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71<br />
Inhalt 5
Grußwort<br />
Dr. Birgit Richtberg, Bürgermeisterin <strong>der</strong> Stadt Romrod<br />
Sehr geehrte Damen und Herren,<br />
ich darf Sie im Namen des Magistrats <strong>der</strong> Stadt Romrod hier in unserem kleinen, aber<br />
feinen Städtchen sehr herzlich willkommen heißen. Wir freuen uns ganz beson<strong>der</strong>s, dass<br />
Sie mit einer so bedeutsamen Tagung nach Romrod gekommen sind – nicht zuletzt deshalb,<br />
da wir uns als Parlament, aber auch ich ganz persönlich, schon sehr lange mit dem<br />
Th ema Demografi e und ihren Auswirkungen befassen.<br />
Wir sind <strong>der</strong> <strong>Stiftung</strong> <strong>Schloss</strong> <strong>Ettersburg</strong> und auch dem Berlin-Institut für Bevölkerung<br />
und Entwicklung zu großem Dank verpfl ichtet, dass sie sich dieses Th emas in dieser<br />
Form angenommen haben. Zum einen, weil das Einbringen von Wissenschaftlichkeit in<br />
emotionale Diskussionen stets för<strong>der</strong>lich ist, zum an<strong>der</strong>en, weil hier eine Hinwendung<br />
zu einem vernetzten Denken erfolgt. Statt dem unkritischen Beharren auf einem in gewisser<br />
Weise monokausalen Wachstumspostulat wird anerkannt, dass die Wirklichkeit<br />
inzwischen oftmals an<strong>der</strong>s aussieht: Diff erenzierte Entwicklungen erfor<strong>der</strong>n diff erenzierte<br />
Strategien.<br />
Viele Kommunen, und wir zählen dazu, haben einen Zeitpunkt erreicht, wo sich die tatsächlichen<br />
Gegebenheiten beson<strong>der</strong>s deutlich manifestieren. Für uns gelten nach wie vor<br />
die Maßstäbe einer Wachstumsregion – diesen Pfad haben wir jedoch verlassen. Der Mismatch<br />
führt zunehmend dazu, dass die Instrumente, mit denen agiert, die Standards, die<br />
angelegt werden, immer weniger greifen, immer weniger erfüllbar und verkraftbar sind.<br />
<strong>Die</strong> Masterschablone passt nicht mehr. In <strong>der</strong> Konsequenz bedeutet dies, dass unser ausschließlich<br />
auf Wachstum programmiertes System in unseren Räumen scheitert. Und es<br />
scheitert insbeson<strong>der</strong>e im Hinblick auf unsere fi nanziellen Möglichkeiten. An die Stelle<br />
von Wachstum tritt Schrumpfung und statt dem positiven Begriff des Gesundschrumpfens<br />
tritt bei uns etwas ein, was Verarmung heißt. <strong>Die</strong>s geschieht sicherlich nicht von<br />
heute auf morgen, son<strong>der</strong>n schleichend – aber deshalb nicht weniger dramatisch. Zuerst<br />
werden wir es vereinzelt in den Portemonnaies <strong>der</strong> Menschen spüren, aber zunehmend<br />
werden sich auch Eigentümer großer Grundstücke fragen, ob sie die steigenden Belastungen<br />
durch die Beitragszahlungen für ihre Infrastruktur weiter tragen können.<br />
Das geltende Postulat gleichwertiger Lebensbedingungen wird in sogenannten Entleerungs-<br />
o<strong>der</strong> Schrumpfungsräumen massiv in Frage gestellt, aber auch für diese Gebiete<br />
existiert eine soziale Verantwortung, die es wahrzunehmen und auch zu fi nanzieren<br />
gilt. Welche volkswirtschaftlichen Kosten produziert man, wenn man diese Regionen<br />
abschreibt ? Auch deshalb habe ich mit großer Spannung die vorliegende Studie gelesen<br />
Grußwort 7
8<br />
und fi nde dort sehr wichtige Anhalts- und Ansatzpunkte, um Möglichkeiten zur Stabilisierung<br />
schrumpfen<strong>der</strong> Regionen auszuloten. Noch haben Regionen wie die unsere das<br />
Potenzial und die Kraft sich zu stabilisieren. Und dass diese Anstrengung lohnenswert ist,<br />
weil Menschen gern hier wohnen, zeigt mir auch das Bemühen in vielen Stadtquartieren,<br />
ländliche Beson<strong>der</strong>heiten wie die <strong>der</strong> Nachbarschaft und des Gemeinlebens nachzuahmen.<br />
Genau diese Potenziale machen die Qualität und den Reichtum unserer Regionen<br />
aus. Auch in den natürlichen Ressourcen liegen Potenziale. Denn wo wird <strong>der</strong> Wandel in<br />
<strong>der</strong> Energiewirtschaft stattfi nden ? Wo wird er sich manifestieren ? Im ländlichen Raum!<br />
Dabei gilt es auch, rechtzeitig die Weichen für eine gerechte Verteilung <strong>der</strong> Lasten zu<br />
stellen. Ich erinnere an das Beispiel Wasserversorgung: <strong>Die</strong> Menschen im Vogelsberg<br />
müssen für ihr Wasser mehr bezahlen als die Menschen in den Ballungsräumen, obwohl<br />
das gleiche Wasser fl ießt und noch dazu die Aufl agen allein in <strong>der</strong> ländlichen Region<br />
geschultert werden.<br />
Wir brauchen in unseren ländlichen Gebieten Handlungsspielräume für notwendige Anpassungen,<br />
Stabilisierung und Gestaltung unserer <strong>Zukunft</strong>. Uns hilft kein Zusehen, wie<br />
wir zur Last werden, zum Hemmschuh, zum lästigen Anhängsel <strong>der</strong> Metropolregionen.<br />
Das wollen und das müssen wir nicht sein ! Ich bin fest davon überzeugt, dass es – nicht<br />
nur aus Kostengründen, son<strong>der</strong>n vor allem aus Gründen des Respekts für die Eigenständigkeit<br />
<strong>der</strong> ländlichen Räume, ihrer kleinen Kommunen und insbeson<strong>der</strong>e ihrer<br />
Menschen – gelingen wird, erfolgreiche und zukunftsfähige Ansätze zu fi nden.<br />
Ihre Studie leistet einen wertvollen Beitrag dazu, aber genauso wertvoll ist Ihrer aller<br />
Beitrag heute hier in Romrod, denn es gibt Alternativen und die müssen wir gemeinsam<br />
diskutieren. Ich bedanke mich noch einmal herzlich, dass Sie so zahlreich <strong>der</strong> heutigen<br />
Einladung gefolgt sind und freue mich auf unsere Vorträge sowie spannende Diskussionen<br />
mit Ihnen. Insbeson<strong>der</strong>e freue ich mich aber auf Ihrer aller Wirkung als Multiplikatoren<br />
im Sinne <strong>der</strong> Stabilisierung unserer ländlichen Region !<br />
Ihre<br />
Dr. Birgit Richtberg<br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«
Grußwort<br />
Rudolf Marx, Landrat des Vogelsbergkreises<br />
Sehr geehrte Damen und Herren,<br />
lassen Sie mich eins vorweg sagen: Es wird weitergehen ! Wir werden kraftvoll diese Region<br />
gestalten, davon bin ich überzeugt. Wir haben an dieser Stelle bereits mehrere ähnliche<br />
Veranstaltungen erfolgreich durchgeführt. Beson<strong>der</strong>s hervorheben möchte ich die<br />
Gründungsveranstaltung des Bündnisses für Familie im Jahr 2008. Das Bündnis wurde<br />
mit über 100 Teilnehmern hier im Bürgerhaus Romrod ins Leben gerufen und diese<br />
Initiative ist bis heute stetig gewachsen und arbeitet kraftvoll daran, die demografi sche<br />
Entwicklung in unserem Landkreis positiv zu gestalten.<br />
Der demografi sche Wandel ist ein großes gesellschaftliches Th ema und deswegen begrüße<br />
ich es ganz außerordentlich, dass im Auftrag Ihrer <strong>Stiftung</strong> <strong>Schloss</strong> <strong>Ettersburg</strong> die Studie<br />
zur <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong> mit dem diskussionsträchtigen Untertitel » Zwischen Stabilität<br />
und demografi schem Nie<strong>der</strong>gang « durchgeführt wurde. Mein Dank geht an die <strong>Stiftung</strong><br />
und an das Hessische Wirtschaftsministerium dafür, dass sich <strong>der</strong> Vogelsbergkreis<br />
als Teilnehmer dieses Pilotvorhabens mit seinen Kommunen und mit dem Kampfwillen<br />
<strong>der</strong> Kreisverwaltung konstruktiv in den Prozess einbringen konnte und im Ergebnis zu<br />
verwendbaren Daten und Ergebnissen für weiterführende Diskussionen und Handlungsansätze<br />
beiträgt. <strong>Die</strong> Bedeutung <strong>der</strong> Studie liegt in meinen Augen insbeson<strong>der</strong>e auch<br />
darin, dass sie uns wegführt von einem sogenannten gefühlten Demografi eproblem hin<br />
zu belastbaren Daten, die uns die Möglichkeit eröff nen, den Kontext besser beurteilen<br />
und Handlungsoptionen zielsicherer identifi zieren zu können. <strong>Die</strong> Resonanz <strong>der</strong> Veranstaltung<br />
zeigt, dass die Th emen Demografi e und die <strong>Zukunft</strong> des ländlichen Raumes im<br />
Fokus <strong>der</strong> Betrachtung liegen und bei breitem Publikum auf sehr großes Interesse stoßen.<br />
Sehr geehrte Gäste, herzlich willkommen hier in diesem schönen Landkreis. Willkommen<br />
in diesem Landkreis in <strong>der</strong> Mitte Hessens auf dem Vulkan, <strong>der</strong> schon lange nicht<br />
mehr unter uns brodelt – aber deshalb noch lange nicht erloschen ist, son<strong>der</strong>n durch<br />
vielfältige Aktivitäten auf seiner Oberfl äche quicklebendig bleibt.<br />
Wir alle kennen die Zahlen zur Bevölkerungsentwicklung und die gängigen Prognosen<br />
für den Vogelsbergkreis auf kommunaler Ebene und jetzt sogar auf <strong>der</strong> Ebene noch kleinerer<br />
Siedlungsstrukturen. Wir wissen, dass Dorf nicht gleich Dorf ist und die <strong>Zukunft</strong>sfähigkeit<br />
kaum zentral steuerbar sein wird. Zwei entscheidende Aspekte für den Umgang<br />
mit <strong>der</strong> demografi schen Entwicklung und die <strong>Zukunft</strong>schancen von <strong>Dörfer</strong>n möchte ich<br />
deshalb an dieser Stelle ansprechen. Erstens: <strong>Die</strong> ehrliche Information <strong>der</strong> Bürgerschaft<br />
ist unverzichtbar und unaufschiebbar. Zweitens: <strong>Die</strong> verantwortliche Politik muss das<br />
Grußwort 9
10<br />
bereits wahrnehmbare starke bürgerschaftliche Engagement als Motor für Stabilität weiter<br />
ausbauen, ermutigen und unterstützen.<br />
Mir ist um die <strong>Zukunft</strong> unserer Region nicht bange, wenngleich wir unbestritten vor<br />
großen und vielschichtigen Herausfor<strong>der</strong>ungen stehen. Wir haben uns zum Ziel gesetzt,<br />
den Vulkan Vogelsberg in die <strong>Zukunft</strong> zu führen: mit unseren Stärken und mit den<br />
vorhandenen Ressourcen, damit meine ich vor allen Dingen die gute Vernetzung <strong>der</strong> regionalen<br />
Akteure und die erprobten Beteiligungsmodelle. Vernetzung scheint in <strong>der</strong> Tat<br />
unsere Kernkompetenz zu sein, ja strategisch unser Markenzeichen. <strong>Die</strong>s stärkt uns bei<br />
<strong>der</strong> gemeinsamen strategischen und integrativen Bearbeitung wichtiger Th emen wie z. B.<br />
<strong>der</strong> Daseinsvorsorge. Wir wollen neue Modelle erproben und heute die Weichen für die<br />
<strong>Zukunft</strong> stellen. <strong>Die</strong> Dorf- und Regionalentwicklung des Landes Hessen ist dabei ein sehr<br />
hilfreiches Instrument. Dass wir auf einem guten Weg sind, zeigen zahlreiche Projekte,<br />
von denen ich einige beispielhaft herausgreifen möchte: die Projektgruppe Demografi e<br />
aus Vertretern von Kommunen, externen Fachexperten und Kreisvertretern sowie den<br />
Runden Tisch zur Sicherstellung <strong>der</strong> hausärztlichen Versorgung mit Kommunalvertretern,<br />
Ärzten und dem Landrat. Des Weiteren sind wir eine <strong>der</strong> 25 bundesweiten Energieregionen,<br />
wir etablieren einen Geo-Park in engem Kontext zum Naturschutzgroßprojekt des<br />
Vogelsbergkreises. Als Modellregion im Aktionsprogramm MORO des Bundesbauministeriums<br />
erarbeiten wir eine Regionalstrategie Daseinsvorsorge, die sich den drei zentralen<br />
Th emenbereichen » Technische Infrastruktur und Siedlungsentwicklung «, » Senioren, Pfl ege<br />
und ärztliche Versorgung « sowie » Jugend, Bildung und Fachkräftesicherung « widmet.<br />
Wir, alle Vertreter des ländlichen Raumes, werden unsere gemeinsamen Anstrengungen<br />
erheblich verstärken müssen, damit die beson<strong>der</strong>en <strong>Zukunft</strong>sanfor<strong>der</strong>ungen ländlicher<br />
Gebiete angemessene Berücksichtigung auf allen politischen Entscheidungsebenen fi nden.<br />
<strong>Die</strong> ländlichen Räume benötigen diff erenzierte Standards gegenüber den städ tischen<br />
Ballungszentren und es liegt an uns, Än<strong>der</strong>ungsvorschläge einzubringen und Einfl uss zu<br />
nehmen auf Vorschriften, Normen, Standards und angewandte Maßstäbe. <strong>Die</strong>se unverzichtbare<br />
und berechtigte Lobbyarbeit werden wir überzeugen<strong>der</strong> leisten können, wenn<br />
wir erkennbar und glaubwürdig eigene Handlungsoptionen anpacken und umsetzen. Gezielte<br />
Modellvorhaben und wissenschaftliche Studien – wie diese zur <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong> –<br />
können Grundlagen und Plattform dafür sein, die begonnene Diskussion um Diff erenzierung,<br />
um Standardanpassungen für ländliche Räume und für mehr Eigenverantwortung<br />
und Entscheidungskompetenzen mit größter Durchschlagskraft weiter zu führen.<br />
Ich bin gespannt auf die heutigen Beiträge zur Gestaltung <strong>der</strong> <strong>Zukunft</strong> im ländlichen<br />
Raum aus Sicht <strong>der</strong> Landesregierung, aus Forschung und Lehre und <strong>der</strong> Regionalakteure<br />
vor Ort. Ich wünsche uns hilfreiche Erkenntnisse zum Th ema Demografi e im ländlichen<br />
Raum. Ich wünsche uns im ländlichen Raum und auf dem Vulkan eine gute und entwicklungsfähige<br />
<strong>Zukunft</strong> !<br />
Ihr Landrat,<br />
Rudolf Marx<br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«
Zeit zu Handeln –<br />
Chancen und Risiken ländlicher Räume<br />
im demografi schen Wandel<br />
Christian Carius, Thüringer Minister für Bau, Landesentwicklung und Verkehr<br />
Wir sehen hier ein wun<strong>der</strong>schönes Bild, geradezu eine dörfl iche Idylle, was uns gleich<br />
zweierlei verdeutlicht: Der ländliche Raum ist einzigartig und idyllisch, wie beispielsweise<br />
hier in Kälberfeld, aber gleichzeitig wissen wir, dass uns <strong>der</strong> demografi sche Wandel<br />
beson<strong>der</strong>s in diesen Regionen vor riesige Herausfor<strong>der</strong>ungen stellt und fast alles, was wir<br />
bisher kennen, verän<strong>der</strong>n wird. Sich dieser Erkenntnis zu stellen, bedeutet keinesfalls, die<br />
Idylle einzutrüben und dem Verfall preiszugeben. Vielmehr geht es darum, unsere ländliche<br />
Idylle, unsere ländlichen Räume auf die <strong>Zukunft</strong> auszurichten, sie zukunftssicher<br />
zu machen. Das ist unsere Aufgabe, und als erster Schritt ist notwendig, dass wir die<br />
Tatsachen ungeschönt zur Kenntnis nehmen und sie akzeptieren.<br />
Th üringen wird in einigen Jahren deutlich weniger Einwohner haben. Und – es ist keine<br />
Übertreibung: Der demografi sche Wandel wird vieles verän<strong>der</strong>n.<br />
1. Das Gesicht Th üringens wird sich verän<strong>der</strong>n. Als erstes wird es sich unmittelbar und<br />
wahrnehmbar in unseren, in Ihren Kommunen verän<strong>der</strong>n.<br />
2. Th üringen wird zum Zuzugsland werden. Th üringen muss zum Zuzugsland werden !<br />
Nur so können wir die Folgen <strong>der</strong> Demografi e dämpfen.<br />
Aber zunächst möchte ich Sie etwas fragen: Was ist eigentlich ländlicher Raum ? Ist es die<br />
Unterscheidung zwischen Landkreis und kreisfreier Stadt ? Würde man so den ländlichen<br />
Zeit zu Handeln – Chancen und Risiken ländlicher Räume im demografi schen Wandel 11
12<br />
Raum defi nieren, wäre die Mehrheit <strong>der</strong> über 2,2 Millionen Th üringer Landbewohner.<br />
O<strong>der</strong> gehen wir eher nach geringer Bevölkerungsdichte ? Ein häufi g angewandter Wert<br />
sind rund 150 Einwohner pro Quadratkilometer. Mit einem Anteil ländlicher Bevölkerung<br />
von rund 45 Prozent liegen wir deutschlandweit gleichauf mit Brandenburg und<br />
Sachsen-Anhalt. Nur Mecklenburg-Vorpommern hat einen noch größeren Anteil ländlicher<br />
Bevölkerung. Zugleich wohnen etwa 40 Prozent <strong>der</strong> Einwohner in Th üringen in<br />
Gemeinden mit weniger als 5.000 Einwohnern. Oft sind gerade diese dörfl ich geprägten,<br />
dünn besiedelten Gebiete vom Einwohnerrückgang beson<strong>der</strong>s betroff en.<br />
<strong>Dörfer</strong> haben ihre Funktion – Wohnen in <strong>der</strong> Nähe von ländlichen Arbeitsplätzen – weitgehend<br />
verloren. Ältere Erwerbstätige nehmen das Pendeln in umliegende Städte zwar<br />
noch in Kauf, viele Jüngere ziehen jedoch weg. Sie suchen sich bessere Jobs o<strong>der</strong> suchen<br />
die Nähe zu den kulturellen Angeboten <strong>der</strong> Städte. <strong>Die</strong> Gemeinden, die am weitesten von<br />
städtischen Zentren entfernt liegen, haben in <strong>der</strong> Regel die schlechteren Aussichten.<br />
Eine Tatsache <strong>der</strong> letzten 20 Jahre ist: <strong>Die</strong> <strong>Dörfer</strong> im Umfeld von Großstädten hatten die<br />
besten Entwicklungschancen. Doch: Neben <strong>der</strong> geografi schen Lage erweisen sich vor allem<br />
die <strong>Dörfer</strong> als zukunftsfähig, die für sich neue Funktionen fi nden. Sei es beispielsweise<br />
als Touristenziel o<strong>der</strong> Wohnort für Pendler aus nahegelegenen Stadtregionen.<br />
Wir sind uns sicher einig: Den ländlichen Raum gibt es nicht, die Begriffl ichkeit hängt<br />
eng zusammen mit unterschiedlichen Funktionsszenarien, Verfl echtungen und Raumstrukturtypen.<br />
Eingebettet in diesen Kontext ergeben sich oft große Unterschiede in <strong>der</strong><br />
Beurteilung. Wir als Politiker, ob auf Kommunal-, Kreis- o<strong>der</strong> Landesebene, stehen vor<br />
<strong>der</strong> Aufgabe zu defi nieren, welche Funktionen dem ländlichen Raum und den ländlichen<br />
Gemeinden zukommen. <strong>Die</strong> traditionelle Funktion, die in <strong>der</strong> Wirtschaftseinheit<br />
Feld/Viehzucht und benachbartes Wohnen bestand, ist durch den Strukturwandel in <strong>der</strong><br />
Landwirtschaft in den letzten Jahrzehnten verloren gegangen.<br />
Deswegen ist es auch kein Wun<strong>der</strong>, dass unsere <strong>Dörfer</strong> vor allem dann sehr gute Chancen<br />
auf Stabilität und Prosperität haben, wenn sie in <strong>der</strong> Nähe größerer Städte liegen. Dann<br />
sind Arbeitsplätze erreichbar, die es Pendlern ermöglichen, in ihrem Dorf wohnen zu<br />
bleiben. <strong>Die</strong> Entfernung zum nächsten Zentrum bestimmt natürlich neben Erwerbsmöglichkeiten<br />
auch entscheidend den Zugang zu kulturellen Angeboten und vielen Handels-<br />
und <strong>Die</strong>nstleistungseinrichtungen. Weitere Funktionen des ländlichen Raums könnten<br />
sein touristische Nutzung und Naherholung. Das ist ein wichtiges Kriterium, wenn nicht<br />
gar <strong>der</strong> entscheidende Vorteil gegenüber dem Wohnen in <strong>der</strong> Stadt.<br />
Wichtig ist: Ländlicher Raum ist kein einheitliches, in <strong>der</strong> Fläche gleichermaßen betroff<br />
enes Gebilde. Er zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es verschiedene Funktionsdefi<br />
nitionen und Funktionszusammenhänge gibt. In dieser Vielfalt steckt letztlich seine<br />
Lebens- und, dessen bin ich mir sicher, auch Überlebensfähigkeit.<br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«
Ein gutes Beispiel ist das sportlichste Dorf Th üringens – Oberhof. Der Ort hat zwar<br />
Stadtrecht, was wir natürlich nicht unterschlagen wollen, aber mit nur rund 1.500 Einwohnern<br />
fühlt man eher eine dörfl iche Struktur. Oberhof liegt abseits größerer Städte, ist<br />
aber touristisch sehr attraktiv und durchaus ein Magnet.<br />
Im Gegensatz dazu sehen wir in <strong>der</strong> Nachbarschaft die kreisfreie Stadt Suhl, selbst Mittelzentrum<br />
mit oberzentralen Funktionen, optimal an die Autobahn angeschlossen und<br />
genauso umgeben von Bergen und Wald – dieser Ort hat jedoch erheblich an Attraktivität<br />
verloren und ihm droht <strong>der</strong> größte Bevölkerungsschwund in Th üringen.<br />
Was ich mit diesem kleinen Beispiel illustrieren möchte, ist, dass es im demografi schen<br />
Wandel keine allgemeingültigen Regeln des Wandels gibt. Viele Faktoren werden über<br />
Erfolg o<strong>der</strong> Misserfolg eines Dorfes o<strong>der</strong> einer Gemeinde letztlich entscheiden und es ist<br />
unmöglich, allgemeingültige Lösungen zu erarbeiten.<br />
Auch die Serviceagentur Demografi scher Wandel wird solche Lösungen nicht liefern können.<br />
Ich bin aber <strong>der</strong> <strong>Stiftung</strong> <strong>Schloss</strong> <strong>Ettersburg</strong> sehr dankbar dafür, dass wir diese<br />
gemeinsame Initiative starten konnten. Nicht nur aus den gesellschaftspolitischen Erwägungen<br />
einer solchen Kooperation zwischen Administration und Zivilgesellschaft, son<strong>der</strong>n<br />
auch unter <strong>der</strong> Prämisse, möglichst viele Wissensträger in die Prozesse zu integrieren.<br />
Ich glaube, dass die <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> öff entlichen Hand nur dann wirklich gut bestellt ist,<br />
wenn wir darauf setzen, neben unseren Beamten auch gesellschaftliche Akteure an<strong>der</strong>er<br />
Bereiche, vom Bürgermeister o<strong>der</strong> Vereinsvorsitzenden bis zum Unternehmer, in die Gestaltung<br />
des demografi schen Wandels einzubinden.<br />
Wir haben uns in <strong>der</strong> Serviceagentur auf eine Lesart dieses Wandels verständigt, die in<br />
meinen Augen sehr innovativ ist. Wir begreifen den demografi schen Wandel natürlich<br />
auch als eine Chance, sagen aber gleichzeitig sehr deutlich, dass die in diesem Th ema<br />
liegende Chance nur dann greifbar wird, wenn man den Wandel als einen Wettbewerb<br />
begreift – als einen Wettbewerb um die besten Lösungen, um innovative Lösungen für<br />
die eigene Infrastruktur, aber auch für die eigene Funktionsbestimmung.<br />
Beides hängt unmittelbar miteinan<strong>der</strong> zusammen. Es ist uns wichtig, überzeugende Antworten<br />
für Kommunen und Regionen zu entwickeln und um dies zu unterstützen, wurde<br />
kürzlich ein Demografi e-Preis durch die Ministerpräsidentin ausgelobt. Mit diesem Preis<br />
sollen Lösungen prämiert und gewürdigt werden, die als » best practice « dienen können<br />
und sich möglichst auch auf an<strong>der</strong>e Gebiete transponieren lassen.<br />
Bevor man Antworten fi ndet, gilt es jedoch ehrliche Analysen vorzunehmen. Nur wenn<br />
wir die Tragweite des demografi schen Wandels anerkennen, werden wir zukunftsfähige<br />
Lösungen entwickeln können. <strong>Die</strong> meisten Kommunen werden mit schrumpfenden<br />
Bevölkerungszahlen zu kämpfen haben, bei gleichzeitig durchschnittlich älterer Bevölkerung,<br />
d.h. wir werden uns mit einer Neuorganisation vorhandener Infrastrukturen<br />
Zeit zu Handeln – Chancen und Risiken ländlicher Räume im demografi schen Wandel 13
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auseinan<strong>der</strong>setzen müssen. Das wird sich bis hin zu den Gebühren und Aufl agen <strong>der</strong><br />
Abwasser- o<strong>der</strong> Wasserzweckverbände o<strong>der</strong> auch bei Straßenausbaustandards auswirken.<br />
Generell gilt die Faustregel <strong>der</strong> Kostenremanenz: Hälfte <strong>der</strong> Bevölkerung, doppelte Kosten.<br />
Entstehende Kosten werden sich auf weniger Schultern verteilen, was die Notwendigkeit<br />
kostengünstiger Alternativen erhöht. Ich bin deswegen sehr dankbar, dass es uns<br />
gelungen ist, einen gemeinsamen Antrag im Landtag auf den Weg zu bringen, um uns<br />
<strong>der</strong> Frage zu stellen, welche Standards wir uns denn in <strong>Zukunft</strong> eigentlich wo und wie<br />
leisten können und müssen.<br />
Lassen Sie mich das Beispiel Kin<strong>der</strong>garten anführen. Es ist naheliegend, dass ein Kin<strong>der</strong>garten<br />
für die <strong>Zukunft</strong>sfähigkeit einer Gemeinde relativ stark entscheidend ist. Trotzdem<br />
stellt sich auch da die Frage, ob <strong>der</strong> vorzunehmende Standard im Ausbau, also <strong>der</strong><br />
baulichen Hülle eines solchen Kin<strong>der</strong>gartens, tatsächlich langfristig trägt o<strong>der</strong> ob es sein<br />
könnte, dass das Gebäude auf bestehendem Niveau, insbeson<strong>der</strong>e mit Blick auf die zu erwartenden<br />
Kin<strong>der</strong>zahlen in <strong>der</strong> Gemeinde, auch ohne große Investitionen genauso ausreichend<br />
zukunftsfähig ist. Ich richte mich vor allem an die Bürgermeister unter Ihnen<br />
mit <strong>der</strong> Zusage, dass wir gemeinsam versuchen werden, Lösungen zu entwickeln. Dabei<br />
werden wir auch punktuelle Standardabsenkungen diskutieren, um Ihnen letztlich<br />
etwas mehr Spielraum zu geben, Ihr gemeindliches Ermessen vernünftig auszufüllen.<br />
Auch im Bereich Bauen und Wohnen treff en wir natürlich auf einige Herausfor<strong>der</strong>ungen.<br />
Ich nenne das Th ema Barrierefreiheit. Barrierefreiheit <strong>der</strong> <strong>Zukunft</strong> wird weit über<br />
den bisherigen Fokus rollstuhlgerechter Zugangsmöglichkeiten und die entsprechende<br />
Ausstattung vorwiegend öff entlicher Gebäude hinausgehen, wenn wir uns einer in erheblichem<br />
Ausmaß alternden Bevölkerung stellen. Unsere Gedanken und Planungen dürfen<br />
nicht länger hauptsächlich um Neubauten kreisen, son<strong>der</strong>n vielmehr müssen wir unsere<br />
Bestandsbauten in den Mittelpunkt rücken. Hier stehen wir sogar vor einer doppelten<br />
Herausfor<strong>der</strong>ung: Nur wenn <strong>der</strong> gegenwärtige Gebäudebestand verstärkt barrierefrei<br />
wird, können wir ihn letztlich <strong>der</strong> alternden Bevölkerung eröff nen, zugleich müssen wir<br />
aber auch energetische Sanierungen mit dem Ziel verbesserter Energieeffi zienz voranbringen.<br />
Im ländlichen Raum, mancherorts deutet es sich bereits an, werden künftig sogar auch<br />
Einfamilienhäuser leer stehen. Bisher kennen wir leerfallende Wohnblocks, die nach<br />
einer Weile meist entschlossen durch Abriss beseitigt werden. Leere private Einfamilienhäuser<br />
stellen eine an<strong>der</strong>e Problematik dar, die von den verantwortlichen Gemeinden<br />
irgendwie gelöst werden muss.<br />
Ich kann nur dazu ermuntern, sich rechtzeitig mit <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Altersstruktur <strong>der</strong> eigenen<br />
Gemeinde auseinan<strong>der</strong>zusetzen und sich den anstehenden Herausfor<strong>der</strong>ungen gezielt<br />
zu stellen. Dass engagierte Maßnahmen durchaus Erfolg bringen, zeigen Beispiele,<br />
bei denen es gelang, neue Einwohner für alte Immobilien zu gewinnen. <strong>Die</strong>s bringt<br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«
nicht zuletzt auch einen monetären Vorteil für die Gemeinschaft <strong>der</strong> verbleibenden Bewohner,<br />
denn je mehr Einfamilienhäuser leer stehen, desto deutlicher sinkt <strong>der</strong> Immobilienpreis<br />
im betreff enden Marktsegment – und umgekehrt hält geringer Leerstand die<br />
Preise stabil.<br />
Was kann man denn nun unternehmen, was können wir alle, was können Sie als Bürgermeister<br />
tun ? Haben wir überzeugende Konzepte, die unsere Kommune attraktiver<br />
als den Nachbarn erscheinen lässt ? Was macht unsere Kommune attraktiv im Umfeld<br />
einer Stadt, sind wir beispielsweise interessant und lebenswert für junge Familien ? Dem<br />
Einwand, ein <strong>der</strong>artiger Attraktivitätswettbewerb unter den Kommunen sei ein Nullsummenspiel<br />
und helfe deshalb niemandem, möchte ich an dieser Stelle noch einmal<br />
ausdrücklich begegnen: Der demografi sche Wandel stellt uns vor die Aufgabe, ihn gemeinsam<br />
aktiv und zukunftswirksam zu gestalten. In diesem Sinne stehen wir in einem<br />
Wettbewerb um die besten Ideen, um engagierte Lösungsansätze, um tragfähige <strong>Zukunft</strong>sstrategien.<br />
Mir geht es jedoch darum, dass wir diesen Wettbewerb nicht im Sinne<br />
ellenbogengelenkter Konkurrenz interpretieren, son<strong>der</strong>n vielmehr als kreativen Prozess<br />
begreifen, dessen Chancen wir zu unser aller Wohl entschlossen nutzen müssen.<br />
Ein solcher Prozess, <strong>der</strong> uns vor vielfältige Herausfor<strong>der</strong>ungen stellt, stellt uns auch<br />
vor Herausfor<strong>der</strong>ungen des Umdenkens. Unser Streben nach vorrangig quantitativem<br />
Wachstum greift zu kurz, künftige Lösungen werden wir wohl verstärkt in qualitativem<br />
Wachstum fi nden. Wichtig ist mir, dass wir nicht nur versuchen diesem ganzen Szenario<br />
etwas Tröstliches abzugewinnen, son<strong>der</strong>n dass wir in erster Linie konsequent nach Perspektiven<br />
schauen und mutig nach vorn gehen.<br />
<strong>Die</strong> Perspektiven liegen im Grunde auf <strong>der</strong> Hand:<br />
1. Statt reiner Wachstumsquantität müssen wir auf Wachstumsqualität setzen.<br />
2. Mit einer positiv besetzten Strategie für unser Land können wir die Entwicklung<br />
weiter voranbringen.<br />
Denkbar schlecht wären wir beraten mit <strong>der</strong> Botschaft: Wir werden jetzt weniger, wir<br />
werden dazu auch deutlich älter, alles wird schwieriger und »nun packen wir ein«. Unsere<br />
Nachricht muss sein: Wir werden weniger, wir werden älter, wir akzeptieren diese Fakten<br />
und stellen uns aktiv den daraus erwachsenden Anfor<strong>der</strong>ungen. Wir entwickeln Alternativen,<br />
wo bestehende Systeme nicht mehr funktionieren und richten hohes Augenmerk<br />
auf stabilisierende und zukunftsorientierte Bereiche.<br />
Nie<strong>der</strong>schlag fi ndet letzteres beispielsweise im Bereich <strong>der</strong> wachstumsorientierten Ausgaben,<br />
dies sind in <strong>der</strong> Hauptsache unsere Investitionen für Infrastruktur, Bildung und<br />
Wissenschaft. So hat <strong>der</strong> Freistaat Th üringen jedes Jahr durchschnittlich etwas mehr als<br />
600 Euro pro Einwohner in wachstumsorientierte Ausgaben investiert. Im letzten Jahr<br />
waren es sogar 632 Euro. <strong>Die</strong> an<strong>der</strong>en jungen Län<strong>der</strong> investieren in diese Bereiche weniger<br />
als 500 Euro. <strong>Die</strong> fi nanzschwachen Flächenlän<strong>der</strong> West sogar weniger als 400 Euro.<br />
Zeit zu Handeln – Chancen und Risiken ländlicher Räume im demografi schen Wandel 15
16<br />
Wir haben auf diese Weise bewusst in Beton, aber auch in Köpfe investiert. Das ist ein<br />
gutes Fundament, um <strong>der</strong> demografi schen Entwicklung in Th üringen die Schärfe zu<br />
nehmen. Sie werden jetzt fragen: Wie soll das funktionieren ?<br />
Nehmen wir das Beispiel Beton: Th üringen, in <strong>der</strong> Mitte Deutschlands gelegen, zeichnet<br />
heute ein erstklassiges Autobahnnetz aus. Auch Bundes- und Landstraßen sind gut<br />
entwickelt. Th üringen wird ein bedeutendes ICE-Land werden. Zugleich haben wir in<br />
Hochschulbauten in Jena, Ilmenau, Weimar und Erfurt investiert.<br />
Beispiel Köpfe: Wir haben Forschung und Entwicklung vorangetrieben. Ebenso die Entwicklung<br />
unserer Betriebe durch beispielsweise einzelbetriebliche För<strong>der</strong>ung. Zugleich<br />
bieten wir in Th üringen Studienplätze ohne Studiengebühren an. Auch das ist eine Investition<br />
in Köpfe.<br />
Sichtbare Erfolge unserer Investitionen sind:<br />
1. Ansiedlungsboom von Unternehmen durch ausgebaute Infrastruktur.<br />
Th üringen hat fast die Industriedichte von Baden-Württemberg durch gezielte För<strong>der</strong>politik<br />
erreicht. Der Unterschied liegt in den Betriebsgrößen. 15 Mitarbeiter stellen<br />
in Th üringen einen mittelständischen Betrieb dar. In Baden-Württemberg sprechen<br />
sie vom Mittelständler de Luxe mit 500 Mitarbeitern aufwärts. In diesem Unterschied<br />
liegen die Möglichkeiten für Th üringen. Unsere Betriebe werden wachsen. Sie<br />
brauchen Arbeitskräfte. <strong>Die</strong>se Arbeitskräfte werden zunehmend auch von außerhalb<br />
Th üringens kommen. Das bedeutet Zuzug !<br />
2. Th üringen hat schon jetzt ein beachtliches »Mehr« an Studenten.<br />
Auch das bedeutet Zuzug. Mit neuen und mehr Arbeitsplätzen haben wir gute Chancen,<br />
sie hier in Th üringen zu halten. Im letzten Jahr konnten wir in Th üringen, trotz<br />
des weiter andauernden Negativsaldos in <strong>der</strong> Bevölkerungsentwicklung, einen neuen<br />
Rekordzuzug von außerhalb Th üringens verzeichnen. Das hat etwas mit unseren Universitäten<br />
und den vielen Firmenansiedlungen zu tun. Es hat etwas mit den wachsenden<br />
Betriebsgrößen in Th üringen zu tun.<br />
Zusammenfassend möchte ich uns allen mit auf den Weg geben: Wir haben eine Perspektive<br />
! Wir müssen den demografi schen Wandel als Herausfor<strong>der</strong>ung anerkennen, wozu<br />
auch gehört, dass wir uns die damit verbundenen negativen Entwicklungen realistisch<br />
vor Augen führen – aber dann müssen wir schauen, welche Alternativen sich bieten, um<br />
die Prozesse positiv zu beeinfl ussen, und diese Alternativen müssen wir beherzt ergreifen<br />
und umsetzen.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> unserer ländlichen Räume liegt in ihrer Gestaltung als attraktive, vielfältige<br />
und einzigartige Lebensräume. <strong>Die</strong> Chancen, die sich daraus für einen Teil <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong><br />
und Kommunen in Th üringen ergeben, müssen konsequent genutzt werden. Zugleich<br />
soll Th üringen zum Zuzugsland werden ! Wenn wir diesen beiden Handlungsoptionen<br />
folgen, lassen sich die Chancen des demografi schen Wandels vernünftig nutzen.<br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«
<strong>Zukunft</strong> gestalten: Ländliche Räume<br />
im demografi schen Wandel<br />
Steffen Saebisch, Staatssekretär im Hessischen Ministerium für<br />
Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung<br />
Romrod scheint ein guter Ort zu sein, um über den demografi schen Wandel zu diskutieren.<br />
Ich denke mit großer Freude daran, dass wir am 9. März 2011, also vor zehn<br />
Monaten, hier das Kompetenznetz Vitale Orte 2020 aus <strong>der</strong> Taufe gehoben haben. Uns<br />
allen ist bewusst, dass wir die Herausfor<strong>der</strong>ungen, vor denen wir im ländlichen Raum<br />
stehen, nicht isoliert, nicht einzeln je<strong>der</strong> für sich angehen können – wir können ihnen nur<br />
gemeinsam begegnen, über Parteigrenzen und staatliche Ebenen hinweg.<br />
Meine erste persönliche Erfahrung mit dem demografi schen Wandel sammelte ich als<br />
wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag, als ich die Kommission »Demografi<br />
scher Wandel« in ihrer Endphase begleiten durfte. <strong>Die</strong>se Kommission trug zwölf<br />
Jahre lang Erkenntnisse zusammen, erarbeitete Lösungskonzepte und stellte die Ergebnisse<br />
einer breiten Öff entlichkeit im Jahre 2001 vor. Vieles von dem, was vor zehn Jahren<br />
im Deutschen Bundestag festgehalten wurde, gilt bis heute.<br />
Aber es war eine weitaus abstraktere Situation und Diskussion – heute ist <strong>der</strong> Wandel in<br />
den Kommunen jedoch konkret erlebbar. Gerade im ländlichen Raum sehen wir spürbare<br />
Bevölkerungsrückgänge. Es stellen sich viele Fragen: Wie geht man mit einer Verwaltung<br />
um, wie geht man mit Rechtsetzung, mit Rechtsprechung um, die immer noch<br />
auf Wachstum setzt ? Deshalb herzlichen Dank <strong>der</strong> <strong>Stiftung</strong> <strong>Schloss</strong> <strong>Ettersburg</strong>, dass Sie<br />
mit Ihrer Studie den Erkenntnisprozess weiter beför<strong>der</strong>t haben, denn <strong>der</strong> demografi sche<br />
Wandel und auch die Lösungskonzepte, die für seine Beherrschbarkeit notwendig sind,<br />
verän<strong>der</strong>n sich im Laufe <strong>der</strong> Jahre und bedürfen <strong>der</strong> Fortschreibung und Anpassung.<br />
Wir müssen uns auf <strong>der</strong> kommunalen Ebene, auf Landesebene, aber auch auf Bundes-<br />
und Europaebene stärker über demografi sche Herausfor<strong>der</strong>ungen und ihre Konsequenzen<br />
unterhalten. Viel wird über Haushaltskonsolidierung diskutiert, über Generationengerechtigkeit,<br />
wie wir den ländlichen Raum generationenfest und zukunftssicher machen.<br />
Zugleich manifestiert sich aber auch <strong>der</strong> Eindruck, dass immer mehr zusätzliche Aufgaben<br />
auf die Län<strong>der</strong>, auf die Kommunen übertragen werden, in <strong>der</strong> Regel ohne Ausgleich<br />
für die neuen Verwaltungsaufgaben. Wir müssen uns auf allen staatlichen Ebenen die<br />
Frage stellen, ob wir diesen Trend wachsen<strong>der</strong> Regulierung und ständig steigen<strong>der</strong> Auflagen<br />
in unserer alternden Gesellschaft mit knapper werdenden fi nanziellen und menschlichen<br />
Ressourcen weiterhin fortführen sollten.<br />
<strong>Zukunft</strong> gestalten: Ländliche Räume im demografi schen Wandel 17
18<br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«
<strong>Zukunft</strong> gestalten: Ländliche Räume im demografi schen Wandel 19
20<br />
Der gesellschaftliche Diskurs zur Verän<strong>der</strong>ung beginnt in den Kommunen und wird<br />
von dort auf die Landes-, Bundes- und Europaebene getragen. Ein zentraler Aspekt in<br />
diesem Prozess ist <strong>der</strong> Vernetzungsgedanke: die Schaff ung von Strukturen, um Erfahrungen<br />
auszutauschen, Praxisbeispiele und Lösungsmuster zu vergleichen, sie vielleicht<br />
zu übertragen und voneinan<strong>der</strong> zu lernen.<br />
Genau diesem Gedanken folgt das Kompetenznetz Vitale Orte 2020. <strong>Die</strong> Gestaltung<br />
des demografi schen Wandels ist ein Wettbewerb um die besten Ideen, und wir wollen<br />
Projektstrukturen schaff en, in denen diese Ideen und die von Kommune zu Kommune<br />
durchaus unterschiedlichen Lösungsansätze diskutiert und verglichen werden. In diesem<br />
Kompetenznetz engagieren sich unter an<strong>der</strong>em das Land, kommunale Spitzenverbände,<br />
die Regierungspräsidien und weitere staatliche Einrichtungen, <strong>der</strong> Bauernverband und<br />
weitere Institutionen und ehrenamtliche Personen. Darüber hinaus stellen wir Informationsplattformen<br />
zur Verfügung, beispielsweise Daten zum Flächenmanagement, um die<br />
regional- und kommunalplanerischen Möglichkeiten <strong>der</strong> Ansiedlung und Flächennutzung<br />
zu optimieren. <strong>Die</strong> Systeme befi nden sich <strong>der</strong>zeit in <strong>der</strong> Erprobung im Modellprojekt.<br />
Vernetzung ist wichtig, Vernetzung ist sogar strategisch ein ganz wesentlicher Punkt, aber<br />
allein ist sie nicht ausreichend. Der zweite zentrale Aspekt, <strong>der</strong> die Beherrschbarkeit des<br />
demografi schen Wandels immens beeinfl usst, ist <strong>der</strong> fi nanzielle Handlungsspielraum aller<br />
Akteure. Und um diesen zu erhalten, muss <strong>der</strong> ländliche Raum auch weiterhin an <strong>der</strong><br />
wirtschaftlichen Entwicklung und ihren Erträgen partizipieren. Es gilt zu verhin<strong>der</strong>n,<br />
dass »Biotope« entstehen, in denen keine wirtschaftliche Entwicklung mehr stattfi ndet<br />
o<strong>der</strong> gar ganze Landstriche veröden. Ich möchte Ihnen vier Maßnahmenpakete nennen,<br />
mit denen die Landesregierung dem entgegenwirkt.<br />
Zum ersten unser Dorferneuerungsprogramm: Mit diesem Instrument investieren wir<br />
über einen För<strong>der</strong>zeitraum von zehn Jahren eine Viertelmilliarde Euro in den ländlichen<br />
Raum, in die <strong>Dörfer</strong>, in die Regionen. Vieles ist bereits in wenigen Jahren bewegt worden,<br />
und es gibt Orte, die bereits zum zweiten Mal teilnehmen. <strong>Die</strong> Prioritäten sind vielfältig<br />
gesetzt, die Dorferneuerungsstrategien reichen von Sanierungsvorhaben bis zur Breitbandversorgung<br />
– umgesetzt wurden allein aus dem Dorferneuerungsprogramm in den<br />
vergangenen zwei Jahren 3.350 Einzelmaßnahmen.<br />
Beson<strong>der</strong>s hervorheben möchte ich, dass das Dorferneuerungsprogramm nicht lediglich<br />
einen entsprechenden Finanzierungszufl uss in den ländlichen Raum bedeutet, son<strong>der</strong>n<br />
vielmehr eines <strong>der</strong> wenigen För<strong>der</strong>ungsprogramme ist, welches unmittelbar Folgeinvestitionen<br />
auslöst. Beispielsweise lässt sich beobachten, dass die Bereitschaft von Privatpersonen<br />
spürbar steigt, sich an entsprechenden Sanierungsmaßnahmen in den <strong>Dörfer</strong>n zu<br />
beteiligen. Von uns in Auftrag gegebene Studien belegen, dass für jeden Euro För<strong>der</strong>geld<br />
Folgeinvestitionen in Höhe von vier bis fünf Euro getätigt werden. <strong>Die</strong>s bedeutet ein<br />
Volumen von über 1 Mrd. Euro für den ländlichen Raum im För<strong>der</strong>zeitraum von zehn<br />
Jahren. Und ganz entscheidend dabei ist: <strong>Die</strong>sen Umsatz erwirtschaften vor allem Hand-<br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«
werker sowie kleine und mittelständische Unternehmen vor Ort. <strong>Die</strong> Wertschöpfung<br />
fi ndet in <strong>der</strong> Region, manchmal sogar beim Handwerker auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Straßenseite,<br />
statt. Das ist ein ganz wichtiges Element <strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung und Stabilisierung des ländlichen<br />
Wirtschaftsraums.<br />
Ein zweiter Schwerpunkt <strong>der</strong> letzten drei Jahre war die Breitbandversorgung, und wir<br />
sind stolz, dass in Hessen heute eine fl ächendeckende Grundversorgung verfügbar ist und<br />
wir damit im Bundesvergleich eine Spitzenposition einnehmen. Wir wollen uns jedoch<br />
auf <strong>der</strong> erreichten Grundvollversorgung nicht ausruhen, denn 1 bis 2 MBit sind für die<br />
meisten heutigen Internetanwendungen zu wenig. Gerade in ländlichen Gebieten wird es<br />
eine zunehmende Rolle spielen, ob den Bewohnern adäquate Möglichkeiten zur Verfügung<br />
stehen, um <strong>Die</strong>nstleistungen, die sie nicht (mehr) vor Ort haben, virtuell einzuholen.<br />
Ist dies nicht gegeben, werden sie darüber nachdenken, in Ballungsräume zu ziehen,<br />
in denen Angebote erreichbar und direkt nutzbar sind.<br />
Gleichermaßen sind Hochleistungsnetze auch für die Wirtschaft ein wichtiger Standortfaktor.<br />
Aus diesen Gründen haben wir die Hessische Breitbandinitiative entwickelt.<br />
<strong>Die</strong>se Strategie verbindet fi nanzielle Rahmenbedingungen wie Landesbürgschaften mit<br />
einer kommunalen Projektstruktur und wird Landkreis für Landkreis umgesetzt. Auf<br />
dem Bundes-IT-Gipfel wurden wir als Vorbildland für die Bundesrepublik Deutschland<br />
gewürdigt, weil bei uns statt vereinzelter Leuchtturmprojekte fl ächendeckend auf kommunaler<br />
Ebene, sozusagen von unten nach oben, entwickelt wird. Erneut bedeutet dies<br />
auch zugleich wie<strong>der</strong> den Vorteil <strong>der</strong> Wertschöpfung insbeson<strong>der</strong>e für kleinere, regional<br />
tätige Firmen.<br />
Als dritten wichtigen Punkt haben wir die Möglichkeit geschaff en, Gesundheitszentren<br />
und Ärztehäuser im ländlichen Raum gezielt durch Wirtschafts- und Infrastrukturför<strong>der</strong>ung<br />
zu unterstützen, um die ärztliche Grundversorgung auch weiterhin überall in<br />
Hessen zu gewährleisten. Auch wenn Ärzte bei uns in Deutschland sicherlich nicht den<br />
unteren Einkommensschichten angehören, ist es gerade für junge Mediziner eine Frage,<br />
wie sie Kredite zurückzahlen und die eröff nete Praxis dauerhaft unterhalten können. Im<br />
ländlichen Raum ist dies aufgrund einer an<strong>der</strong>en Gebührensatzung wesentlich schwieriger<br />
als in einer Metropolregion. <strong>Die</strong>se Hürde muss man anerkennen, und deswegen helfen<br />
wir bei <strong>der</strong> Finanzierung ländlicher Ärztehäuser, deswegen helfen wir bei <strong>der</strong> Finanzierung<br />
<strong>der</strong> Einrichtung von Praxen. Wir haben das Ziel, die medizinische Grundversorgung<br />
auch auf dem Land langfristig sicherzustellen.<br />
Und als vierten Punkt nenne ich die Erhaltung unserer Verkehrsinfrastruktur, denn die<br />
verkehrliche Anbindung einer Kommune entscheidet über ihre Wirtschaftsentwicklung.<br />
Hessen wird weiterhin in seine Landesstraßen investieren. Das Geld dient nicht nur zur<br />
Erhaltung, son<strong>der</strong>n auch zur weiteren Erschließung. <strong>Die</strong> vorliegende Studie weist ausdrücklich<br />
darauf hin, dass die Lebensqualität ein entscheidendes Kriterium für die Attraktivität<br />
und <strong>Zukunft</strong>sfähigkeit eines Dorfes ist. Eine Durchgangsstraße mitten durch das<br />
Dorf vermin<strong>der</strong>t dessen Attraktivität sehr deutlich.<br />
<strong>Zukunft</strong> gestalten: Ländliche Räume im demografi schen Wandel 21
22<br />
<strong>Die</strong> genannten Punkte werden trotz ihrer Bedeutsamkeit we<strong>der</strong> einzeln noch gemeinsam<br />
ausreichen, den demografi schen Wandel zu bewältigen, son<strong>der</strong>n es wird die Initiative<br />
vieler engagierter Menschen erfor<strong>der</strong>n, ihn zu gestalten. Deswegen freue ich mich über<br />
die große Resonanz <strong>der</strong> heutigen Tagung und die Vielfalt <strong>der</strong> Teilnehmer. Demografi -<br />
scher Wandel fi ndet in je<strong>der</strong> Firma statt, in Behörden, Institutionen, in allen Bereichen<br />
<strong>der</strong> Wirtschaft und Gesellschaft. Je<strong>der</strong> Einzelne an seinem jeweiligen Platz repräsentiert<br />
einen Teil davon und kann dort mitgestalten. Das beginnt bei einer besseren Vereinbarkeit<br />
von Familie und Beruf. Ich appelliere an Arbeitgeber, wo immer es geht, ihren<br />
Mitarbeitern fl exible Arbeitszeiten und -modelle zu ermöglichen. Das führt weiter auf<br />
die kommunale Ebene, wo man sich Gedanken machen könnte, wie <strong>Die</strong>nstleistungen in<br />
<strong>der</strong> Kommune intelligent, das heißt passend zur Nachfrage und trotzdem kostengünstig,<br />
erbracht werden können o<strong>der</strong> wie man Teilbereiche sinnvoll vernetzt, um Synergien zu<br />
erzeugen.<br />
Wir stehen vor einem Generationenprojekt. Unsere Gesellschaft, wir alle, haben uns –<br />
wenn auch unbewusst – vor geraumer Zeit für einen Entwicklungspfad entschieden, <strong>der</strong><br />
gekennzeichnet ist durch weniger Kin<strong>der</strong> und eine gleichzeitig steigende Lebenserwartung.<br />
<strong>Die</strong>ser Trend ist im Übrigen weltweit nicht einmalig. An<strong>der</strong>e Län<strong>der</strong>, z. B. Japan,<br />
durchlaufen eine ganz ähnliche Entwicklung. <strong>Die</strong>sen Wandel können wir in seiner Dimension<br />
nicht aufhalten o<strong>der</strong> gar umkehren, aber gerade deshalb ist es unser aller Verpfl<br />
ichtung, ihn möglichst positiv und zukunftsorientiert zu gestalten. Ich bin überzeugt,<br />
wenn wir das mit viel Kraft, Ausdauer und auch ein stückweit Mut angehen, dann gelingt<br />
es uns, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, statt es lediglich zu erleiden.<br />
<strong>Die</strong> Landesregierung ist dazu bereit, ich weiß, die kommunale Ebene auch, ich weiß, die<br />
Bürgerinnen und Bürger auch. Also: Lassen Sie uns beginnen !<br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«
<strong>Dörfer</strong> zwischen Stabilität und<br />
demografi schem Nie<strong>der</strong>gang –<br />
Vorstellung <strong>der</strong> Studienergebnisse<br />
Prof. Dr. Dr. Wulf Bennert, Wissenschaftlicher Direktor <strong>der</strong><br />
<strong>Stiftung</strong> <strong>Schloss</strong> <strong>Ettersburg</strong><br />
Es hat uns heute die Sorge um die <strong>Zukunft</strong> unserer <strong>Dörfer</strong> hier zusammengeführt und<br />
diese Sorge hat einen ganz wesentlichen Grund: <strong>Die</strong> <strong>Dörfer</strong> in Deutschland haben ihre<br />
historische Existenzberechtigung verloren. <strong>Die</strong>se Existenzberechtigung lag ursprünglich<br />
und über Jahrtausende in <strong>der</strong> unmittelbaren Nähe zwischen Arbeitsort Acker und dem<br />
bäuerlichen Wohnplatz. Es siedelten sich landwirtschaftsnahe Handwerke an, Versorgungseinrichtungen,<br />
Gastwirtschaft und Pfarramt, und diese ländlichen Strukturen<br />
hatten Stabilität bis ins vorige Jahrhun<strong>der</strong>t. Nicht nur das, sie haben mit ihrem Bevölkerungsüberschuss<br />
auch das schnellere Wachstum <strong>der</strong> Städte ermöglicht. Im vergangenen<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t entwickelte sich die Landwirtschaft jedoch zur Landindustrie. <strong>Die</strong> Zahl <strong>der</strong><br />
Beschäftigten sank prozentual zwischen 1900 und 2003 von 38 % auf 2,0 % und dies<br />
ist nicht <strong>der</strong> Endpunkt <strong>der</strong> Entwicklung. <strong>Die</strong> heutige Technik ermöglicht es, dass zwei<br />
Menschen mit GPS-gesteuerten Geräten 1.000 ha Land bewirtschaften und das Schweizer<br />
Institut Prognos triff t die Aussage, dass die Landwirtschaft in Deutschland bis 2020<br />
noch einmal 40 % ihrer Beschäftigten verlieren wird. Damit ist die Landwirtschaft die am<br />
stärksten schrumpfende Branche. In Ostdeutschland lag 2004 <strong>der</strong> Arbeitskräftebesatz pro<br />
100 ha bei 1,5 Personen, in Westdeutschland bei 3,6. Ebenfalls signifi kant unterscheidet<br />
sich die Betriebsgröße. In Ostdeutschland schuf die Zwangskollektivierung Voraussetzungen<br />
für eine sehr eff ektive Landwirtschaft.<br />
1900* 1950* 1970* 1990 2003/<br />
2004<br />
Arbeitskräftebesatz (Arbeitskräfte /100 ha) 30,6 29,2 11,4 6,4 3,5<br />
Anteil des Agrarsektors an den Erwerbstätigen (%) 38,2 24,3 8,8 3,5 2,3<br />
Getreideerträge (dt /a ha) 16,3 23,2 33,4 57,9 73,6<br />
Milchleistung (kg /Kuh a) 2.165 2.480 3.812 4.857 6.563<br />
Anteil des Agrarsektors an <strong>der</strong> Bruttowertschöpfung (%) 29,9 11,3 3,4 1,7 1,1<br />
Anteil <strong>der</strong> Ausgabe für Nahrungs- und Genussmittel am Privatverbrauch (%) 46,7 43,5 29,4 21,7 14,5<br />
Ein Landwirt ernährt . . . Menschen 4 10 27 61 127<br />
Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Landwirtschaft (1900 –2004)<br />
* <strong>Die</strong> Werte von 1950 –1990 beziehen sich auf das frühere Bundesgebiet.<br />
Quelle: Deutscher Bundestag und Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz<br />
<strong>Dörfer</strong> zwischen Stabilität und demografi schem Nie<strong>der</strong>gang – Vorstellung <strong>der</strong> Studienergebnisse 23
24<br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«<br />
Ostdeutschland Westdeutschland<br />
Mittlere Betriebsgröße (in ha) 202,1 33,7<br />
Anteil <strong>der</strong> Betriebe > 100 ha (in %) 29,6 6,2<br />
Erträge pro Betrieb im Jahr 2005 (in Euro) 57.532 35.366<br />
Anzahl Milchkühe pro Betrieb 177,9 32,3<br />
Anzahl Mastschweine pro Betrieb 319,6 151,4<br />
Anzahl Legehennen pro Betrieb 1.677,1 342,8<br />
Anteil von Familienarbeitskräften (in %) 23,6 66,7<br />
Arbeitskräftebesatz (in Arbeitskräfte/100 ha) 1,5 3,6<br />
Ausgewählte Unterschiede zwischen <strong>der</strong> ost- und westdeutschen Agrarstruktur (2003)<br />
Quelle: Deutscher Bundestag und Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz<br />
Mit dem Verlust <strong>der</strong> landwirtschaftlichen Arbeitsplätze geraten <strong>Dörfer</strong> in Existenznot.<br />
Zum ersten Mal in <strong>der</strong> Geschichte gibt es Wüstungen, die nicht durch Krieg o<strong>der</strong> Krankheit<br />
hervorgerufen werden, son<strong>der</strong>n durch strukturelle und demografi sche Ursachen. Und<br />
zwar nicht nur dort, wo man dies üblicherweise vermutet, in Mecklenburg-Vorpommern<br />
und in Brandenburg etwa – das Magazin »Focus« berichtete Ende 2009 über <strong>Dörfer</strong>sterben<br />
in <strong>der</strong> Eifel, nur 90 km Luftlinie vom Rhein-Main-Flughafen entfernt.<br />
Verlassenes Dorf in <strong>der</strong> Eifel<br />
Copyright: Christoph Püschner / Zeitenspiegel, in: FOCUS Magazin Nr. 44 /2009
Aber wir beobachten nicht nur nie<strong>der</strong>gehende <strong>Dörfer</strong>. Es gibt Prosperität. Es gibt <strong>Dörfer</strong>,<br />
wo hän<strong>der</strong>ingend Bauplätze gesucht werden, auch in durchaus abseitiger Lage. Das verwun<strong>der</strong>t<br />
auf den ersten Blick, denn nur 12 km Luftlinie entfernt geht ein verkehrsgünstig<br />
gelegenes Dorf zugrunde. Was sind die Ursachen dafür? Zufall kann es kaum sein. Vor<br />
diesem Hintergrund haben wir das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung<br />
mit <strong>der</strong> Anfertigung dieser Studie beauftragt, in <strong>der</strong> 133 <strong>Dörfer</strong> mit weniger als 500 Einwohnern<br />
im hessischen Vogelsbergkreis und 193 im thüringischen Landkreis Greiz untersucht<br />
wurden. Beantwortet werden sollte die Frage nach den Ursachen für Prosperität<br />
o<strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>gang in diesen dörfl ichen Strukturen. <strong>Die</strong> uns entgegengebrachten Bedenken,<br />
dass mit den Ergebnissen einer solchen Studie sich selbst erfüllende Prophezeiungen angestoßen<br />
werden könnten, nehmen wir ernst und sind dennoch an<strong>der</strong>er Meinung. Wir<br />
vertreten den Standpunkt, dass die Menschen wissen sollten, was ihnen hochwahrscheinlich<br />
bevorsteht.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Dörfer</strong> sind eingebunden in die Entwicklung ihrer Bundeslän<strong>der</strong>. In Th üringen wird<br />
ein Bevölkerungsrückgang erwartet von 2,2 Mio. Bewohnern im Jahr 2010 auf weniger<br />
als 1,6 Mio. Einwohner im Jahr 2050. In Hessen lebten 2010 6,04 Mio. Menschen, in<br />
2050 werden es voraussichtlich noch 5,26 Mio. sein.<br />
Aufgabe <strong>der</strong> Studie war es, diese Entwicklungen nicht nur verbal zu beschreiben, son<strong>der</strong>n<br />
möglichst mit einfachen mathematischen Zusammenhängen zu untersetzen, denn Zahlen<br />
sind letztlich die notwendige Basis für Planungen und wirtschaftliche Entscheidungen.<br />
Bei den vergleichenden Untersuchungen <strong>der</strong> Kreise haben wir festgestellt, dass im<br />
Kreis Greiz die Erschütterungen <strong>der</strong> Wende bis heute fortwirken. Hier hat sich noch kein<br />
stationärer Zustand eingestellt, wie er im Vogelsbergkreis vorhanden ist.<br />
Mit einer sogenannten Regressionsanalyse wurden einzelne Einfl üsse untersucht.<br />
– Entfernung von Oberzentrum: Je größer die Fahrzeit zum Oberzentrum, umso stärker<br />
nimmt die Bevölkerung ab.<br />
– Kleine <strong>Dörfer</strong> schrumpfen stärker.<br />
– Der bauliche Zustand hat eine sehr enge Korrelation zur Bevölkerungsentwicklung.<br />
Beson<strong>der</strong>s deutlich wird das an <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> unter 6 Jahren. Dort, wo wir<br />
einen schlechten Zustand haben, haben wir eine dramatische Abnahme des Anteils<br />
von Kin<strong>der</strong>n.<br />
– Gleichermaßen vertreibt Leerstand die Einwohner. Leerstand ist eine Einfl ussgröße<br />
von herausgehobener Bedeutung.<br />
– Ein Straßendorf ist problematisch.<br />
– Sehr eindeutig, in <strong>der</strong> Stärke <strong>der</strong> Ausprägung jedoch nicht vermutet: Ein reges Vereinsleben<br />
kann ein Dorf zukunftsfähig machen. Beson<strong>der</strong>s bei kleinen <strong>Dörfer</strong>n unter<br />
250 Einwohner ist die Zahl <strong>der</strong> Vereine fast entscheidend über Stabilität o<strong>der</strong><br />
Schrumpfung.<br />
<strong>Dörfer</strong> zwischen Stabilität und demografi schem Nie<strong>der</strong>gang – Vorstellung <strong>der</strong> Studienergebnisse 25
26<br />
Das Berlin-Institut hat für die sechs systematisch untersuchten Einfl üsse im nächsten<br />
Schritt Risikopunkte vergeben, denen subjektive Einschätzungen zugrunde liegen. In <strong>der</strong><br />
Zusammenfassung ergibt sich ein Ranking <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong> bei<strong>der</strong> Kreise. Wir bitten darum,<br />
dieses Ranking nicht überzubewerten. Es handelt sich um einen Arbeitsstand, <strong>der</strong> zu präzisieren<br />
ist. Damit wird <strong>der</strong> Trend wi<strong>der</strong>gespiegelt, die exakte Reihenfolge <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong> innerhalb<br />
<strong>der</strong> Cluster steht jedoch auf keinem statistisch gesicherten Grund. Eine Erkenntnis<br />
war sehr deutlich: <strong>Die</strong> Anordnung von wachsenden und schrumpfenden <strong>Dörfer</strong>n<br />
ergibt ein bunt gemischtes Muster. Es sind keine Regeln erkennbar und daraus folgt die<br />
Feststellung, dass die Region nicht die kleinste Bezugsgröße des demografi schen Wandels<br />
darstellt. Wir müssen eine Ebene tiefer, wir müssen kleinräumiger schauen. Pros perität<br />
und Nie<strong>der</strong>gang können sehr dicht nebeneinan<strong>der</strong> liegen, und deshalb muss jedes Dorf<br />
einzeln beurteilt werden.<br />
Schrumpfung und Wachstum liegen in enger Nachbarschaft (Kreis Greiz).<br />
Karte: Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung<br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«
Unsere <strong>Stiftung</strong> möchte auf dem erreichten Stand <strong>der</strong> Studie aufbauen und mit einer<br />
erweiterten Liste betrachteter Kriterien die Aussagen belastbarer machen. Welche Einfl<br />
ussfaktoren sind zusätzlich wichtig ? Unsere erste Th ese lautet: Wenn ein Dorf Menschen<br />
im erwerbsfähigen Alter eine Heimstadt bieten soll, ohne dass diese Menschen<br />
Transferempfänger sind, dann müssen sich Arbeitsplätze in für Tagespendler akzeptabler<br />
Entfernung befi nden. Wir haben für diese Arbeitsplatznähe eine rechnerische Defi nition,<br />
eine sogenannte Kennzahl <strong>der</strong> mittleren Arbeitsplatznähe eingeführt. Arbeitsplätze befi nden<br />
sich jeweils in bestimmter Anzahl in einer bestimmten Entfernung vom Wohnort,<br />
wobei die Attraktivität dieser Arbeitsplätze mit <strong>der</strong> Entfernung <strong>der</strong> Arbeitsplätze zum<br />
Wohnort abnimmt. Summiert man über all diese potenziellen Arbeitsplätze, kann man<br />
die Arbeitsplatznähe eines Dorfes insgesamt defi nieren.<br />
N = ∑ ni i ri Nt = ∑ ni i ti r: Entfernung zu Arbeitsplätzen t: Fahrzeit zu Arbeitsplätzen<br />
Defi nition <strong>der</strong> mittleren Arbeitsplatznähe<br />
Wir arbeiten in diesem Punkt eng mit dem Th üringer Ministerium für Bau, Landesentwicklung<br />
und Verkehr zusammen und nutzen Programme, in denen die notwendigen<br />
Informationen zu sozialversicherungspfl ichtigen Arbeitsplätzen in Entfernung von einem<br />
defi nierten Ort vorhanden sind.<br />
Der zweite wichtige Einfl uss ist die aktuelle Altersstruktur, oft dargestellt mit den bekannten<br />
Bevölkerungspyramiden. Es gilt die Lehrmeinung, dass man für Populationen<br />
unterhalb von 10.000 Menschen <strong>der</strong>artige Betrachtungen aufgrund <strong>der</strong> statistischen Ungenauigkeiten<br />
nicht anstellen sollte. Prinzipiell ist dem zuzustimmen, wählt man jedoch<br />
eine an<strong>der</strong>e Art <strong>der</strong> Darstellung, und zwar die integrale Darstellung, kann man auch<br />
in kleineren Populationen aussagefähige Erkenntnisse gewinnen. Unter den Annahmen<br />
Wan<strong>der</strong>ungssaldo Null (das ist für die meisten <strong>Dörfer</strong> eine durchaus positive, optimistische<br />
Annahme) und Verbleib <strong>der</strong> Bewohner älter als 80 Jahre (statt Verlegung des Wohnsitzes<br />
aufgrund des Endes des selbständigen Wohnens) berechnen wir, wie sich die Gesamtbevölkerung<br />
zeitlich verhält. Es ist ohne großen Aufwand möglich, auch den genauen<br />
Wan<strong>der</strong>ungssaldo in die Berechnung einzubeziehen. Wir stellen im Ergebnis signifi kante<br />
Unterschiede zwischen den <strong>Dörfer</strong>n fest. <strong>Die</strong> aktuelle Altersstruktur hat einen ganz entscheidenden<br />
Einfl uss auf die zukünftige Entwicklung eines Dorfes.<br />
Nachfolgende Abbildungen zeigen beispielhaft die Möglichkeiten <strong>der</strong> beschriebenen<br />
Darstellung.<br />
<strong>Dörfer</strong> zwischen Stabilität und demografi schem Nie<strong>der</strong>gang – Vorstellung <strong>der</strong> Studienergebnisse 27
28<br />
Einwohner im Alter bis zu x Jahren<br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
Dorf A<br />
Einwohnerentwicklung unter <strong>der</strong> Annahme:<br />
– Wan<strong>der</strong>ungssaldo gleich 0<br />
– unter Berücksichtigung vorh. Kin<strong>der</strong><br />
0<br />
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100<br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«<br />
Erhebung 2009<br />
Gesamt 2009: 64<br />
Altenquotient: 0,26<br />
schulpflichtige Kin<strong>der</strong>: 6<br />
Altersstruktur <strong>der</strong> Gesamtbevölkerung unter Berücksichtigung vorhandener Kin<strong>der</strong><br />
Anzahl <strong>der</strong> Einwohner<br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
2012<br />
2015<br />
2018<br />
2021<br />
2024<br />
2027<br />
2030<br />
2033<br />
2036<br />
2039<br />
2042<br />
2045<br />
2048<br />
2051<br />
2054<br />
Gesamtbevölkerung Dorf A unter Berücksichtigung vorhandener Kin<strong>der</strong><br />
Anzahl <strong>der</strong> Einwohner<br />
80<br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
2012<br />
2014<br />
Demografi sche Basisprognose für Dorf A und Dorf B<br />
2057<br />
Alterspyramide 2050<br />
Gesamt 2050: 44<br />
Altenquotient: 0,45<br />
schulpflichtige Kin<strong>der</strong>: 3<br />
Alter in Jahren<br />
2060<br />
2063<br />
2066<br />
2069<br />
2072<br />
2075<br />
2078<br />
2081<br />
2084<br />
2087<br />
2090<br />
2093<br />
2096<br />
2099<br />
2102<br />
2105<br />
2108<br />
2111<br />
2114<br />
Dorf A<br />
Dorf B<br />
2016<br />
2018<br />
2020<br />
2022<br />
2024<br />
2026<br />
2028<br />
2030<br />
2032<br />
2034<br />
2036<br />
2038<br />
2040<br />
2042<br />
2044<br />
2046<br />
2048<br />
2050<br />
2052<br />
2054<br />
2056<br />
2058<br />
Jahr<br />
2117<br />
2120<br />
Jahr<br />
2060
Unsere Kriterien fassen wir in <strong>der</strong> sogenannten »<strong>Ettersburg</strong>er Liste« zusammen. Priorität<br />
haben Einfl üsse wie Arbeitsplatznähe, aktuelle Altersstruktur und die Einwohnerentwicklung<br />
<strong>der</strong> letzten fünf Jahre, es folgen <strong>der</strong> Leerstand von Immobilien, die Fahrzeit<br />
zum nächsten Zentrum, die Größe des Dorfes, die Erreichbarkeit von Schule und Kin<strong>der</strong>tagesstätte,<br />
die Vereinstätigkeit, die Stimmung bei den Bewohnern, Straßendorfsituation,<br />
Verkehrslärm und eine Son<strong>der</strong>stellung nimmt die Breitbandversorgung ein. Breitbandversorgung<br />
bietet die Möglichkeit, hochqualifi zierte Arbeit an einem Wohnsitz zu<br />
erbringen, <strong>der</strong> weit weg von industriellen, von wirtschaftlichen Strukturen ist. Sie macht<br />
das Dorf unabhängiger, auch in Bezug auf Versorgungseinrichtungen – denken wir an<br />
die Möglichkeiten des Online-Handels.<br />
Einfl uss Grad <strong>der</strong> Ausprägung<br />
(pos.– neg.)<br />
Arbeitsplatznähe<br />
aktuelle Altersstruktur<br />
Einwohnerentwicklung in den letzten fünf Jahren<br />
Leerstand von Immobilien<br />
Fahrzeit zum nächsten Zentrum<br />
Größe des Dorfes<br />
Erreichbarkeit von Schule/Kin<strong>der</strong>tagesstätte<br />
Vereinstätigkeit, Stimmung bei den Bewohnern<br />
Straßendorfsituation, Verkehrslärm<br />
Breitbandversorgung<br />
»<strong>Ettersburg</strong>er Liste« <strong>der</strong> Einfl ussfaktoren auf die <strong>Zukunft</strong>sfähigkeit eines Dorfes<br />
Wichtung Punkte<br />
Summe <strong>der</strong> Punkte:<br />
In einem zweidimensionalen Diagramm kann man dies prinzipiell zusammenfassen. Der<br />
herausragende Einfl ussfaktor Arbeitsplatznähe wird abgetragen auf <strong>der</strong> x-Achse und die<br />
Attraktivität des Dorfes auf <strong>der</strong> y-Achse. Aus <strong>der</strong> Summe dieser beiden Größen lässt sich<br />
eine <strong>Zukunft</strong>sfähigkeit berechnen und ergibt damit eine quantifi zierte Grundlage für<br />
weitere Entscheidungen.<br />
Attraktivität<br />
AT<br />
1,0<br />
0,9<br />
0,8<br />
0,7<br />
0,6<br />
0,5<br />
0,4<br />
0,3<br />
0,2<br />
0,1<br />
Diagramm <strong>Zukunft</strong>sfähigkeit<br />
Z = 0,4<br />
Z = 0,8<br />
Z = 1,7<br />
0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 0,6 0,7 0,8 0,9 1,0<br />
Z = 2<br />
zukunftsfähig<br />
Z = 0<br />
kaum zukunftsfähig<br />
Arbeitsplatznähe<br />
AN<br />
<strong>Dörfer</strong> zwischen Stabilität und demografi schem Nie<strong>der</strong>gang – Vorstellung <strong>der</strong> Studienergebnisse 29
30<br />
Eine wirtschaftliche Folge des demografi schen Wandels ist <strong>der</strong> Verfall von Immobilienwerten.<br />
Es ist ein deutlicher Unterschied zwischen dem Landkreis Greiz und dem Vogelsbergkreis<br />
feststellbar. Der Kreis Greiz war in früheren Zeiten viel wohlhaben<strong>der</strong> als <strong>der</strong><br />
Vogelsbergkreis, was sich auch in den bäuerlichen Anwesen wi<strong>der</strong>spiegelt. Im Kreis Greiz<br />
gibt es durchaus noch große Anteile an Wirtschaftsgebäuden, die jedoch heute nicht<br />
mehr genutzt werden. <strong>Die</strong>se Immobilienstruktur wird zur Last. Im Vogelsbergkreis war<br />
<strong>der</strong> landwirtschaftlich genutzte Immobilienteil von jeher viel kleiner, und dieser lässt sich<br />
heute leichter umnutzen.<br />
Ein Beispiel aus dem brandenburgischen Landkreis Stendal. Dort gibt es 30.000 bäuerliche<br />
Gehöfte, von denen nach <strong>der</strong> Untersuchung des Bauamtes inzwischen rund<br />
3.000 leer stehen. Wenn wir die Annahme treff en, dass <strong>der</strong> Verkehrswert, <strong>der</strong> Veräußerungswert<br />
dieser leer stehenden Immobilien Null ist, weil sie sich off enbar trotz aller<br />
Bemühungen nicht verkaufen lassen, und setzen als ursprünglichen Herstellungswert<br />
den Sachwert mit 100.000 Euro an, dann ergibt sich eine Abnahme des Gesamtwertes<br />
<strong>der</strong> leer stehenden Immobilien von ca. 300 Mio. Euro. Das ist eine hohe Summe. Noch<br />
viel bedeuten<strong>der</strong> und höher ist allerdings <strong>der</strong> Wertverlust <strong>der</strong> noch genutzten Immobilien<br />
im Umfeld. Wenn wir die vorsichtige Annahme treff en, dass <strong>der</strong> Verkehrswert um<br />
70 % sinkt, haben wir einen Gesamtwertverlust von 1,89 Mrd. Euro – das ist eine stille<br />
Immobilienkrise im ländlichen Raum. <strong>Die</strong> Bewertung von Immobilien im ländlichen<br />
Raum ist außerordentlich schwierig, weil die üblichen Handwerkszeuge hier versagen.<br />
Der Sachwert, also <strong>der</strong> wirtschaftliche Aufwand des Bauens und Erstellens, ist heute<br />
uninteressant. Der heutige Verkehrswert müsste aus vergleichbaren Veräußerungsfällen<br />
ermittelt werden. Aufgrund nicht stattfi nden<strong>der</strong> Veräußerungsfälle lässt er sich jedoch<br />
nicht ermitteln. In Diskussionen mit den Wertgutachterkommissionen <strong>der</strong> Län<strong>der</strong> Hessen<br />
und Th üringen wurde uns dieses Dilemma ganz deutlich vor Augen geführt. Ein<br />
Ausweich auf Jahrzehnte alte Zahlen ist ein Notbehelf, <strong>der</strong> die aktuellen Gegebenheiten<br />
nicht realistisch wie<strong>der</strong>gibt.<br />
Immobilienwerte müssen aus vielfältigen Anlässen bestimmt werden, bei Verkaufsabsichten<br />
ebenso wie bei Versteigerungen, bei Erbfällen und, sollte eine Vermögenssteuer<br />
eingeführt werden, entsteht die Notwendigkeit einer Immobilienwertermittlung zur<br />
klassengleichen Behandlung <strong>der</strong> Immobilien.<br />
Wie geht man nun mit dem Problem um ? Es ist üblich, den Verkehrswert aus dem Sachwert<br />
und einem Marktanpassungsfaktor zu ermitteln. Scharold und Peter haben den sehr<br />
tragfähigen Vorschlag gemacht, einen demografi sch bedingten Anpassungsfaktor zu bestimmen<br />
und einzubeziehen. In ihren Ausführungen erläutern sie eine Variante seiner<br />
Bestimmung. Wir, die <strong>Stiftung</strong> <strong>Schloss</strong> <strong>Ettersburg</strong>, möchten diesen Faktor mit <strong>der</strong> <strong>Zukunft</strong>sfähigkeit<br />
<strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong> verbinden und ihn daraus ermitteln. Um diese Kennzahl <strong>der</strong><br />
<strong>Zukunft</strong>sfähigkeit zu bestimmen, ist ein relativ hoher Aufwand zu betreiben. Das würde<br />
den einzelnen Immobilienbesitzer überfor<strong>der</strong>n, er wäre auf Unterstützung durch spezialisierte<br />
Büros o<strong>der</strong> Institutionen wie beispielsweise die Serviceagentur Demografi scher<br />
Wandel angewiesen.<br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«
Eine vereinfachte Methode zu Wertermittlung ist die Einbeziehung des Kriteriums Leerstand<br />
in <strong>der</strong> Bebauung. Leerstand ist im doppelten Sinne mit dem demografi schen Wandel<br />
verbunden. Er ist zum einen das Ergebnis dieses Wandels, und zum an<strong>der</strong>en ist er<br />
Glied in einem Regelkreis, <strong>der</strong> letztendlich auch über das Lebensgefühl <strong>der</strong> Einwohner<br />
maßgeblich dafür ist, wie stark sich die Abwärtsspirale in einem Ort dreht.<br />
Leerstand in <strong>der</strong><br />
Bebauung<br />
Rückgang <strong>der</strong> Einwohnerzahlen<br />
durch Abwan<strong>der</strong>ung<br />
Baulicher Verfall<br />
Entwertung intakter<br />
Immobilien<br />
Gefährdung öffentlichen<br />
Verkehrsraums<br />
Abschreckung<br />
potentieller Investoren<br />
Nie<strong>der</strong>gang des<br />
Lebensgefühls<br />
Mit <strong>der</strong> Rückkopplung über das Lebensgefühl <strong>der</strong> Menschen kann ein sich aufschaukeln<strong>der</strong> Regelkreis des Nie<strong>der</strong>gangs<br />
einsetzen.<br />
Eine Ableitung des demografi schen Faktors aus <strong>der</strong> Leerstandsquote bedeutet ein besser<br />
handhabbares Werkzeug für die Wertermittlung von Immobilien. Geht man von <strong>der</strong><br />
Annahme aus, dass bei 10 % Leerstand in einer bestimmten Immobilienklasse <strong>der</strong> Verkehrswert<br />
dieser Klasse in dem entsprechenden Ort Null ist, kann man den Verkehrswert<br />
entsprechen<strong>der</strong> Immobilien in Orten mit geringerem Leerstand in dieser Weise ermitteln.<br />
Wie lässt sich Leerstand und daraus die Leerstandsquote ermitteln ? Weit verbreitet ist<br />
die Methode <strong>der</strong> Begehung: Man geht durch den Ort und schaut, wo keine Gardinen<br />
hängen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Dinge auf fehlende Bewohner hinweisen. Das Ergebnis ist fragwürdig,<br />
denn viele Immobilienbesitzer versuchen den Leerstand zu verschleiern. Das Gras<br />
im Vorgarten wird gemäht, <strong>der</strong> Briefkasten geleert und die Hecke geschnitten. Für ein<br />
realistisches Ergebnis einer Erfassung ist mitunter kriminalistischer Spürsinn vonnöten.<br />
Viel genauer und weniger aufwändig wäre, in eine Kooperation mit den örtlichen Versorgern,<br />
manchmal auch Entsorgern, einzutreten. <strong>Die</strong> Zählermonteure <strong>der</strong> Elektroversorger<br />
wissen genau, welche Wohnungen o<strong>der</strong> Gebäude leer stehen. Das Gleiche gilt für die<br />
Wasserversorgung und im ländlichen Bereich könnte man sogar an die Schornsteinfeger<br />
denken. <strong>Die</strong>se Möglichkeiten <strong>der</strong> Kooperation mit den Versorgern durchleuchtet die <strong>Stiftung</strong><br />
<strong>Schloss</strong> <strong>Ettersburg</strong> in einer Studie im Auftrag des Th üringer Ministeriums für Bau,<br />
Landesentwicklung und Verkehr. Es kristallisiert sich heraus, dass dem Verfahren einer<br />
Verknüpfung <strong>der</strong> Daten <strong>der</strong> Wasserversorger mit den Daten des Einwohnermeldeamtes<br />
die Präferenz einzuräumen ist.<br />
<strong>Dörfer</strong> zwischen Stabilität und demografi schem Nie<strong>der</strong>gang – Vorstellung <strong>der</strong> Studienergebnisse 31
32<br />
Das Problem <strong>der</strong> Schrumpfung und des Leerstands wird an vielen Stellen erkannt und<br />
es gibt intensive Versuche, das Geschehen in seiner Gesamtheit zu erfassen und auch zu<br />
prognostizieren. Im Kreis Stendal hat man nicht nur ermittelt, welche Objekte bereits leer<br />
sind, son<strong>der</strong>n auch, welche Objekte Rentnerhaushalte und damit potenziellen künftigen<br />
Leerstand darstellen. Wohnungsgesellschaften tun dies schon seit Längerem. Sie kennen,<br />
wenn sie im Besitz großer Plattenbaubestände sind, die Altersstruktur ihrer Einwohner<br />
genau. Häufi g handelt es sich um eine Monostruktur, die Bewohner sind in den 1970er-<br />
Jahren als junges Ehepaar mit einem o<strong>der</strong> zwei Kin<strong>der</strong>n dort eingezogen und altern jetzt<br />
gleichmäßig heraus. Fehlen die Nachmieter, führt dies zu Leerstand und entsprechend<br />
wachsendem Wertverlust. Viele Wohnungsgesellschaften beginnen bereits frühzeitig, einen<br />
Abriss des leerfallenden Gebäudebestandes vorzubereiten. Auch im ländlichen Bereich<br />
sind Prognosen möglich.<br />
Relativ einfach lassen sich drei Stufen defi nieren:<br />
1. Stufe: Aus bereits baufälligem Leerstand entsteht Verlust.<br />
2. Stufe: Aus Gebäuden, die heute zwar leer stehen, jedoch noch nicht baufällig sind,<br />
entsteht Verlust.<br />
3. Stufe: Bei Immobilien mit heutigen Rentnerhaushalten ist im Laufe <strong>der</strong> Zeit weiterer<br />
Verlust zu erwarten.<br />
Eine weitere wirtschaftliche Folge des demografi schen Wandels illustriert folgendes Beispiel:<br />
Nehmen wir ein Dorf an, welches 1980 noch 105 Einwohner hatte und 2020 nur<br />
noch 12. <strong>Die</strong>ses Dorf hat eine Sackstraßensituation. Zu dem Dorf führt eine Landstraße<br />
und eine Trinkwasserleitung von je 8 km Länge. Allgemeine Kosten entstehen durch die<br />
Daseinsvorsorge, die die Kommunen o<strong>der</strong> Landkreise zu leisten haben. Das Trinkwasser<br />
muss hingeführt, das Abwasser weggeführt werden, auch für Elektroenergie besteht ein<br />
Versorgungsauftrag, die Landstraße sowie die Straßen im Dorf müssen befahrbar bleiben.<br />
Während Straßenbeleuchtung vielleicht noch entbehrlich wäre, muss <strong>der</strong> Müll auf jeden<br />
Fall entsorgt und die Post zugestellt werden.<br />
<strong>Die</strong> entstehenden Kosten lassen sich beson<strong>der</strong>s einfach am Trinkwasser ermitteln. Es<br />
gilt die Norm, dass eine Trinkwasserleitung einmal pro Woche komplett durchströmt<br />
werden muss, da sich ansonsten pathogene Keime bilden. Es lässt sich also mithilfe des<br />
Leitungsdurchmessers, <strong>der</strong> Leitungslänge und dem durchschnittlichen Wasserverbrauch<br />
pro Einwohner leicht errechnen, wie viele Einwohner notwendig sind, damit das Wasser<br />
einmal in <strong>der</strong> Woche durch die Leitung strömt. Unser Beispiel legt einen Durchmesser<br />
<strong>der</strong> Leitung von 10 cm zugrunde, bei 8 km Länge kommt man im Ergebnis zu <strong>der</strong> kritischen<br />
Anzahl von 90 Personen. Da jedoch tatsächlich nur noch 12 Bewohner hier leben,<br />
muss man in <strong>der</strong> Konsequenz für eine Gewährleistung <strong>der</strong> Durchströmung große Mengen<br />
Trinkwasser einfach weglaufen lassen – in <strong>der</strong> Regel direkt in das Abwassersystem.<br />
Daraus entstehen Kosten für die Allgemeinheit von mehr als 2.000 Euro pro Einwohner<br />
und Jahr.<br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«
Mo<strong>der</strong>ne Trinkwasserversorgung –<br />
Berechnung <strong>der</strong> kritischen Einwohnerzahl<br />
Vorschrift: Das Volumen einer Trinkwasserleitung muss im Verlauf einer Woche<br />
mindestens einmal durchströmt werden.<br />
Annahmen: – 8 km lange Stichleitung zu einem Dorf<br />
– Rohrleitung DN100 (100 mm Durchmesser)<br />
– mittlerer täglicher Wasserverbrauch eines Einwohners 100 Liter<br />
Volumen in <strong>der</strong> Leitung 62.800 Liter; n = Einwohnerzahl<br />
100 Liter<br />
n × × 7 Tage = 62.800 Liter<br />
Tag<br />
n = 89,7<br />
<strong>Die</strong> Mindestzahl <strong>der</strong> Einwohner im Dorf beträgt zur Aufrechterhaltung<br />
<strong>der</strong> herkömmlichen Wasserversorgung 90 Personen.<br />
Kosten für die Versorgung mit Trinkwasser<br />
Um die 8 km lange Trinkwasserleitung keimfrei zu<br />
halten, müssen (siehe Abbildung oben) wöchentlich<br />
rund 63 m 3 Trinkwasser verbraucht werden. Wenn<br />
<strong>der</strong> Verbrauch nicht erfolgt, ist zu spülen.<br />
Jährliche Kosten:<br />
63 m 3 / Woche × 7,50 Euro × 52 Wochen = 24.750 Euro<br />
spezifische Kosten pro Einwohner: 2.047 Euro<br />
<strong>Dörfer</strong> zwischen Stabilität und demografi schem Nie<strong>der</strong>gang – Vorstellung <strong>der</strong> Studienergebnisse 33
34<br />
Wir sind dem Saale-Orla-Kreis dankbar, dass aus seiner Datensammlung die Kosten für<br />
die Straßeninstandhaltung pro Jahr und Straßenkilometer, ausdrücklich ohne Baumaßnahmen,<br />
also sprich: für Winterdienst, Grasmahd, Verkehrszeichen, Erneuerung <strong>der</strong><br />
Markierungen usw., in Höhe von 7.500 Euro abzuleiten waren. Das ist eine Richtzahl,<br />
aus <strong>der</strong> sich für die Unteranpassung <strong>der</strong> Wegestruktur in unserem Beispiel zusätzliche<br />
Kosten in Höhe von 5.000 Euro pro Einwohner und Jahr ergeben.<br />
In einem ostthüringischen Kreis mit 240 km Gesamtlänge<br />
<strong>der</strong> Kreisstraßen stehen für <strong>der</strong>en Instandhaltung 1,8 Mio. Euro<br />
jährlich zur Verfügung.<br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«<br />
Kosten für die Gewährleistung <strong>der</strong> Befahrbarkeit <strong>der</strong> Straßen<br />
im Dorf und <strong>der</strong> gefahrlosen Begehbarkeit <strong>der</strong> Gehwege<br />
Kosten pro Kilometer: 7.500 Euro<br />
Für die 8 km lange Zuwegung zum Dorf sind damit<br />
jährlich aufzuwenden: 60.000 Euro<br />
spezifische Kosten pro Einwohner: 5.000 Euro<br />
Welche Schlussfolgerungen sind nun zu ziehen ? Zunächst einmal: <strong>Die</strong> vorliegende Studie<br />
zeichnet lediglich Konturen ab, die noch zu schärfen sind. Eine äußerst wichtige<br />
Erkenntnis ist jedoch, dass die Region nicht das kleinste Element des demografi schen<br />
Wandels ist. Sogenannte »red lines«, innerhalb <strong>der</strong>er beispielsweise ländliche Immobilien<br />
unabhängig von Baujahr und Zustand für eine Besicherung als ungeeignet bezeichnet<br />
werden, sind nicht die richtige Antwort auf die Entwicklung. Jedes Dorf ist an<strong>der</strong>s, jedes<br />
Dorf muss anhand eines geeigneten Merkmalkataloges für sich bewertet werden.<br />
Wir sollten Erwartungen dämpfen, dass wir die Fehlanpassungen <strong>der</strong> unterausgelasteten<br />
Strukturen auf Dauer alimentieren können. Insbeson<strong>der</strong>e bei Langzeitentwicklungen<br />
wie dem demografi schen Wandel dürfen wir die Randbedingungen nicht außer Acht<br />
lassen. Denken wir nur an die Staatsschuldenkrise. Schulden sind Verbindlichkeiten, für<br />
die man Kredite bereits aufgenommen hat. Das ist aber nicht alles. Es gibt noch eine<br />
an<strong>der</strong>e Sorte von Verbindlichkeiten, nämlich die implizite Verschuldung <strong>der</strong> Staaten, bei<br />
denen Verbindlichkeiten vor allem <strong>der</strong> Sozialsysteme eingegangen wurden, für die keine<br />
Rückstellungen gebildet worden sind. <strong>Die</strong>se Verbindlichkeiten sind erheblich, genau-
genommen wesentlich erheblicher als die weithin bekannten expliziten Staatsschulden.<br />
Eurostat gibt diese implizite Verschuldung für Deutschland mit 10,03 Mrd. Euro an,<br />
Stand 2010. Es wäre dringend nötig, die Zeitabhängigkeit zu untersuchen, in <strong>der</strong> diese<br />
Verbindlichkeiten fällig werden. Wir haben mit dieser impliziten Verschuldung Anleihen<br />
bei Generationen genommen, <strong>der</strong>en Einverständnis wir nicht einholen konnten, weil<br />
diese Generationen zum Teil noch gar nicht geboren sind. Verantwortungsvolle Politik<br />
heißt, sich auch diesem langfristigen Th ema zu stellen und über die Zeitkonstante <strong>der</strong><br />
Legislaturperiode hinauszuschauen.<br />
Fest steht, unter diesen Randbedingungen haben wir kein Füllhorn, mit dem wir überall<br />
und in jedem noch so abgelegenen Winkel unserer Republik alle liebgewonnenen Gewohnheiten<br />
und Bequemlichkeiten werden aufrecht erhalten können.<br />
Häufi g beginnt an dieser Stelle eine Diskussion um die Notwendigkeit <strong>der</strong> Herstellung<br />
gleichwertiger Lebensverhältnisse. Gleichwertige Lebensverhältnisse sind kein einklagbares<br />
Grundrecht, wie das weithin angenommen wird, und wir argumentieren ohne eine<br />
allgemein gültige Defi nition des Begriff es. In § 72 Abs. 2 des Grundgesetzes wird in diesem<br />
Zusammenhang das Gesetzgebungsrecht des Bundes abgegrenzt. Weiterhin fi ndet<br />
sich <strong>der</strong> Begriff »gleichwertige Lebensverhältnisse« auf Bundesebene im Raumordnungsgesetz<br />
§ 1, wo sie als eins von acht Staatszielen genannt sind. Es gibt Defi nitionsversuche<br />
von Juristen und Soziologen bis hin zu Architekten, aber bislang keine verbindliche, ausreichend<br />
scharfe Defi nition.<br />
Den Menschen, gerade auf dem Lande, sollten diese Erkenntnisse nicht vorenthalten<br />
werden. <strong>Die</strong> Angst mancher Politiker vor <strong>der</strong> Überbringung ungünstiger Nachrichten<br />
mag einerseits verständlich sein, an<strong>der</strong>erseits scheint sie aber vielfach unnötig. <strong>Die</strong> Bevölkerung<br />
hat durchaus Einsehen in unabän<strong>der</strong>liche Dinge, denn die Menschen haben die<br />
Realität tagtäglich vor Augen und gehen mit ihr um.<br />
Politische Einfl ussnahme könnte zukunftsfähige Strukturen identifi zieren und selektiv<br />
stärken. Wir sind uns als <strong>Stiftung</strong> <strong>Schloss</strong> <strong>Ettersburg</strong> <strong>der</strong> Bedeutung dieser Formulierung<br />
»selektive Stärkung« bewusst. Bürgerschaftliches Engagement wird in <strong>Zukunft</strong> stärker<br />
das Wirken und Handeln des Staates ergänzen und stellenweise gar ersetzen müssen.<br />
Um dies zu unterstützen, sollten wir darauf hinwirken, ihm eine größere Wertschätzung<br />
entgegen zu bringen und es, wo immer möglich, auch zu för<strong>der</strong>n.<br />
Um die Rahmenbedingungen für die Breitbandversorgung im Freistaat zu schaff en, gibt<br />
es Bemühungen <strong>der</strong> Landesregierung, die wir mit einem dringenden Appell zur Intensivierung<br />
unterstützen.<br />
In technischen Bereichen stehen wir teilweise überzogenen Verordnungen und Standards<br />
gegenüber, die wirtschaftlich nahezu strangulierend wirken – diese sind <strong>der</strong> Realität anzupassen.<br />
Wenn wir das nicht rechtzeitig tun, wird sich die Macht des Faktischen früher<br />
o<strong>der</strong> später ohnehin durchsetzen.<br />
<strong>Dörfer</strong> zwischen Stabilität und demografi schem Nie<strong>der</strong>gang – Vorstellung <strong>der</strong> Studienergebnisse 35
36<br />
Und schließlich ist dem Erscheinungsbild von Nie<strong>der</strong>gang und Verfall entgegenzuwirken.<br />
Es sind Beispiele bekannt von Ortschaften und <strong>Dörfer</strong>n, in denen sich die Verantwortlichen<br />
mit den Besitzern von Schrottimmobilien in Verbindung setzen und Lösungen<br />
herbeiführen konnten.<br />
Zum Abschluss folgen<strong>der</strong> Gedanke: Wir betrachten insgesamt eine ausgesprochen paradoxe<br />
Situation. In einer Welt, die noch um weitere 2 Mrd. Bewohner wachsen wird,<br />
haben wir Räume, die sich entleeren und diese Räume sind dazu klimatisch außerordentlich<br />
bevorzugt. Wir hören von einer Provinz in Spanien, die zu den in Europa am<br />
dünnsten besiedelten Regionen gehört. Dort nimmt die Bevölkerung jetzt wie<strong>der</strong> zu,<br />
und zwar aufgrund einer ziemlich unpopulären Entscheidung des Bürgermeisters eines<br />
kleinen Dorfes: Er siedelte Migranten mit kleinen Kin<strong>der</strong>n an. Off enbar eine erfolgreiche<br />
Strategie – etwa 200 an<strong>der</strong>e <strong>Dörfer</strong> in dieser Region folgen seinem Beispiel.<br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«
<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong> im Fokus<br />
regionaler Kreditwirtschaft<br />
Helmut Schmidt, Vorstandsvorsitzen<strong>der</strong> <strong>der</strong> Kreissparkasse Saale-Orla<br />
Verän<strong>der</strong>ungen in unserer Gesellschaft, die sehr langsam vonstattengehen, innerhalb eines<br />
Jahres kaum messbar und im Grunde auch schwer zuzuordnen sind, werden häufi g<br />
nur wenig bemerkt und beachtet. Wenn diese Verän<strong>der</strong>ungen, so wie die demografi -<br />
sche Entwicklung, lediglich am Rande in Politik und Medien Beachtung fi nden, müsste<br />
man zu dem Ergebnis kommen, dass diese Verän<strong>der</strong>ungen für uns alle künftig eher von<br />
untergeordneter Bedeutung sind. Genau das Gegenteil ist <strong>der</strong> Fall. Bereits die heutige<br />
Situation und vor allem unsere <strong>Zukunft</strong> werden von kaum einer an<strong>der</strong>en Entwicklung<br />
so stark beeinfl usst wie von <strong>der</strong> demografi schen Entwicklung. <strong>Die</strong>s gilt nicht nur hier in<br />
Th üringen, das gilt in Deutschland, das gilt in Europa, ja weltweit. Dabei verläuft diese<br />
Verän<strong>der</strong>ung in verschiedenen Regionen oft völlig unterschiedlich, mit unterschiedlicher<br />
Intensität, mit unterschiedlicher Ausprägung und unterschiedlichem Ergebnis.<br />
Wie wir heute gehört haben, ist die Region schon zu groß gegriff en, wir müssen kleinräumig<br />
noch detailliertere Einheiten betrachten. Wir alle, die Verantwortung tragen hier im<br />
ländlichen Raum, sind aufgefor<strong>der</strong>t, alles dafür zu tun, dass unsere <strong>Dörfer</strong> und Städte<br />
im Rahmen dieses Umbruchs nicht auf <strong>der</strong> Strecke bleiben. Ländlicher Raum darf nicht<br />
nur als Raum gesehen werden, <strong>der</strong> zwischen Ballungsräumen o<strong>der</strong> Metropolregionen<br />
liegt.<br />
Ich bin <strong>der</strong> <strong>Stiftung</strong> <strong>Schloss</strong> <strong>Ettersburg</strong> sehr dankbar, dass wir seit vier Jahren diese Th emen<br />
gemeinsam diskutieren können, dass wir teilhaben können an diesen Forschungen,<br />
dass wir diese vorgestellten Studienergebnisse mit anregen konnten, die wir, ich darf das<br />
an <strong>der</strong> Stelle sagen, auch entsprechend nennenswert fi nanziell unterstützt und begleitet<br />
haben. Alles, was den Bürgerinnen und Bürgern, den Unternehmen, den Kommunen in<br />
unserem Landkreis nützt, nützt auch unserer Sparkasse. Wenn nicht heute, wenn nicht<br />
morgen, wenn nicht in fünf Jahren, dann vielleicht in zehn o<strong>der</strong> fünfzehn Jahren. Und<br />
umgekehrt, alles, was den Unternehmen, den Kommunen und den Privatpersonen im<br />
Saale-Orla-Kreis schadet, schadet auch langfristig unserer Sparkasse. Das ist unsere Einstellung<br />
und Handlungsorientierung, denn aufgrund <strong>der</strong> nahezu vollständigen Regionalisierung<br />
<strong>der</strong> gesamten Geschäftstätigkeit einer jeden Sparkasse ist <strong>der</strong>en Entwicklung<br />
untrennbar mit <strong>der</strong> jeweiligen Region verknüpft. <strong>Die</strong>se Fokussierung auf die Region<br />
bringt sowohl Nachteile als auch Vorteile. Sie zwingt uns einerseits, sehr langfristig zu<br />
denken. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite ermöglicht sie aber auch dieses langfristige Denken. Denn<br />
wer nur kurzfristig denkt und den kurzfristigen Erfolg im Sinne hat, wird zu an<strong>der</strong>en<br />
Handlungskonsequenzen kommen. Aus dieser Abhängigkeit, in Bankenkreisen nennt<br />
<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong> im Fokus regionaler Kreditwirtschaft 37
38<br />
man es auch Risikokonzentration, kann Stärke erwachsen. <strong>Die</strong> Voraussetzung dafür aber<br />
ist, dass man um diese Entwicklung weiß.<br />
Unser Haus beschäftigt sich seit etwa sechs Jahren verstärkt mit demografi scher Entwicklung.<br />
Warum tun wir das ? <strong>Die</strong> Antwort ist relativ einfach: 98 % <strong>der</strong> rund 700 Mio.<br />
Euro Einlagen unserer Kreissparkasse Saale-Orla stammen aus dem Landkreis, und etwa<br />
die Hälfte dieser Einlagen ist im Kreditgeschäft im Saale-Orla-Kreis wie<strong>der</strong> angelegt.<br />
Deshalb ist unser Interesse natürlich groß, diese Kundeneinlagen zu halten und zu mehren<br />
und den Immobilienmarkt im Landkreis stabil zu halten. <strong>Die</strong>se Frage ist für uns<br />
existenziell. Denn, wie bereits angedeutet, fast 100 % unseres gesamten Geschäftsbetriebes<br />
erfolgt im Saale-Orla-Kreis. Vereinzelt begleiten wir auch Kunden außerhalb des<br />
Landkreises, wenn sie dort investieren, und wir haben eine ganze Reihe junger Kunden<br />
halten können, als sie wegzogen und trotzdem die Verbindung zur Region und zu ihrer<br />
Sparkasse halten wollten.<br />
Der Saale-Orla-Kreis ist mit 1.148 km² <strong>der</strong> drittgrößte Landkreis in Th üringen, er hat<br />
12 Städte und <strong>der</strong>zeit 88.600 Einwohner. Vor 17 Jahren waren es noch 105.000 Einwohner.<br />
<strong>Die</strong> Arbeitslosenquote liegt mit 6,4 % im Bundesdurchschnitt. Welche konkreten<br />
Herausfor<strong>der</strong>ungen erwachsen für unsere Kreissparkasse Saale-Orla aufgrund <strong>der</strong> demografi<br />
schen Entwicklungen in unserem Landkreis ? Unsere Kundeneinlagen reduzieren<br />
sich zum einen durch, wenn man es so nennen will, demografi sches Abschmelzen:<br />
Weniger Einwohner bedeuten weniger potenzielle Kunden. Zum an<strong>der</strong>en, und dieses<br />
Phänomen ist zwischenzeitlich schon sehr ausgeprägt, gehen sehr hohe Beträge durch<br />
Erbschaften verloren, denn die Bevölkerung, die sich über eine Erbschaft freut, wohnt<br />
häufi g nicht mehr bei uns im Landkreis. Viele jüngere Menschen sind weggezogen und<br />
über die Erbschaftsgel<strong>der</strong> wird ausgesprochen schnell verfügt – zwischen Todestag und<br />
Verfügung liegen oft weniger als 48 Stunden.<br />
Wie stark die Kundenstruktur von Sparkassen in demografi sch benachteiligten Gebieten<br />
mitunter überaltert ist, zeigt exemplarisch <strong>der</strong> Ort Ziegenrück. <strong>Die</strong> Stadt, früher sogar<br />
einmal Kreisstadt, hat heute deutlich weniger als 800 Einwohner, und <strong>der</strong> durchschnittliche<br />
Ziegenrücker ist 62 Jahre alt. Viele Dinge, die früher in Ziegenrück selbstverständlich<br />
waren, gibt es heute nicht mehr. Es gibt in Ziegenrück jedoch immer noch eine<br />
Sparkasse !<br />
Solche Beispiele fi nden sich in vielen Regionen. Wir sind als Sparkasse in ländlichen Gebieten<br />
oft die letzte verbliebene öff entliche Einrichtung. Es gibt dort schon lange keinen<br />
Supermarkt, keinen Tante-Emma-Laden, kein Gasthaus mehr – die Sparkasse wird somit<br />
auch sozialer Treff punkt. Wir haben hier eine größere Bedeutung als nur Finanzdienstleister<br />
zu sein, und dass dieser Service auch verlangt und nachgefragt wird, sieht man<br />
an dem Wunsch <strong>der</strong> Kunden, dass beispielsweise die Öff nungszeiten <strong>der</strong> Sparkasse auf<br />
sie Rücksicht nehmen. Damit ist letztlich auch eine Verantwortung für uns verbunden.<br />
Deshalb wäre ein Rückzug aus <strong>der</strong> Fläche mit Sicherheit nicht die richtige Antwort für<br />
unsere Kreissparkasse.<br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«
Bei Betrachtung <strong>der</strong> Kostenseite ist dies natürlich nicht optimal, und wir sind deshalb<br />
auf <strong>der</strong> Suche nach neuen Lösungsansätzen, die beide Seiten – Flächenversorgung und<br />
Wirtschaftlichkeit – angemessen verbinden. Eine Möglichkeit ist, dass wir zum Beispiel<br />
drei Geschäftsstellen mit einem Team bedienen, dabei werden die Öff nungszeiten so<br />
gestaltet, dass zwei Mitarbeiter drei Geschäftsstellen abdecken. Damit können wir unseren<br />
Anspruch erfüllen, den maximalen Abstand zu einer Sparkasse im Saale-Orla-Kreis<br />
unter 7 km zu halten. Wir möchten das gerne dauerhaft gewährleisten, aber rein betriebswirtschaftlich<br />
ist dies nicht ganz einfach. Im Vergleich zu Direktbanken könnten<br />
wir natürlich auch <strong>der</strong>en Preise bieten, aber nur bei gleichem Service. Wir können nicht<br />
unseren heutigen Service bieten, aber <strong>der</strong>en Preisniveau annehmen. Folglich müssen wir<br />
den Preisabstand so gestalten, dass <strong>der</strong> Kunde unseren Mehrwert erkennt, und darüber<br />
hinaus bereit ist, diesen Mehrwert auch zu bezahlen – wir reden von etwa 100 Euro im<br />
Jahr. Noch gelingt uns das. Möglich ist das allerdings nur, weil die Sparkasse sich selbst<br />
gehört und dadurch einer eigenen Strategie folgt. Da wir nicht in an<strong>der</strong>e Regionen ausweichen<br />
können, in denen man gerade gut verdient, ist für uns nicht vor<strong>der</strong>gründig eine<br />
Maximierung <strong>der</strong> Gewinne entscheidend, son<strong>der</strong>n die Stabilität <strong>der</strong> Region und die langfristige<br />
Sicherung einer guten Marktsituation auch in zehn, zwanzig und dreißig Jahren.<br />
Mit <strong>der</strong> Entwicklung des Internets sagte man voraus, dass sich Bankfi lialen nur noch in<br />
Orten ab 5.000 Einwohnern tragen. Für den Saale-Orla-Kreis würde das bedeuten, die<br />
Sparkasse hätte noch vier Geschäftsstellen. Tatsächlich haben wir jedoch nach wie vor<br />
23 Geschäftsstellen und sechs SB-Geschäftsstellen und planen bislang keinen Rückzug<br />
aus <strong>der</strong> Fläche.<br />
Uns erwachsen eine Reihe von Risiken im Rahmen von nicht demografi efesten Unternehmen,<br />
denn viele Unternehmen sind abhängig von einer bestimmten Kundenstruktur<br />
und -anzahl im direkten Umfeld. Gleichzeitig stehen wir vor dem Problem <strong>der</strong> abnehmenden<br />
Mobilität <strong>der</strong> älteren Bevölkerung im ländlichen Raum. Denken Sie nur an<br />
Bäcker, Metzgerei, Friseur – für sie alle gibt es kritische Größen. Uns interessiert außerordentlich<br />
die Frage: Wann gibt <strong>der</strong> Bäcker auf, wann gibt <strong>der</strong> Fleischer auf, wann ist keine<br />
Apotheke mehr da ?<br />
Eines <strong>der</strong> ganz erheblichen Risiken sehen wir in fallenden Immobilienpreisen. <strong>Die</strong> Nachfrage<br />
nach Immobilien im Saale-Orla-Kreis ist dramatisch zurückgegangen in den letzten<br />
15 Jahren. Grob geschätzt, sind die Immobilienpreise um etwa 40 % gefallen, was<br />
bedeutet, dass man jedes Einfamilienwohnhaus im Saale-Orla-Kreis, wenn es nicht in<br />
allerbester Lage steht, heute deutlich günstiger erwerben kann, als die Baukosten seinerzeit<br />
waren. Entscheidend ist, wie attraktiv die Wohnlage und das Umfeld ist: Wo liegt das<br />
Objekt, in welchem Zustand ist es und insbeson<strong>der</strong>e in welchem Zustand ist das weitere<br />
Umfeld, sind die Nachbarimmobilien ? Eine Eigentumswohnung im Saale-Orla-Kreis zu<br />
verkaufen, die nicht dem neuesten Standard entspricht, ist nahezu unmöglich. Ähnliches<br />
gilt für Immobilien in kleineren und mittleren <strong>Dörfer</strong>n. Ist dann auch noch insgesamt<br />
ein erheblicher Instandhaltungsrückstau im Ort erkennbar, wird es mehr als schwierig,<br />
dieses Objekt zu einem vernünftigen Preis zu vermarkten. Immer öfter stellt sich die Fra-<br />
<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong> im Fokus regionaler Kreditwirtschaft 39
40<br />
ge, wer kümmert sich um eine Immobilie, wenn <strong>der</strong> bisherige Eigentümer es nicht mehr<br />
will o<strong>der</strong> es nicht mehr kann ? Und falls sich jemand kümmern möchte, fehlt gerade ihm<br />
oft das nötige Geld. Tatsächlich gibt es zunehmend Immobilien im Saale-Orla-Kreis, die<br />
geschenkt noch viel zu teuer sind. Wir nennen sie Schrottimmobilien. <strong>Die</strong>se Immobilien<br />
beeinträchtigen die Lebensqualität <strong>der</strong> Allgemeinheit und <strong>der</strong> unmittelbaren Nutzer, und<br />
ganz entscheidend wirken sie sich auf Finanzierungsmöglichkeiten aus – nicht nur für<br />
das betreff ende Objekt selbst, son<strong>der</strong>n auch für Objekte im direkten Umfeld wird die<br />
Finanzierung deutlich erschwert, manchmal sogar unmöglich gemacht. Manchmal muss<br />
erst das Problem beseitigt werden, bevor man zwei Häuser entfernt neu gestalten kann<br />
und sollte o<strong>der</strong> zumindest muss die berechtigte Hoff nung auf Problembeseitigung bestehen.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong>serwartung spielt auch hier die entscheidende Rolle.<br />
Sogenannte »red lines« wird es bei uns nie geben – manche Sparkassen müssten wohl um<br />
ihr ganzes Geschäftsgebiet eine »red line« ziehen –, das ist mit unseren Aktivitäten unvereinbar,<br />
denn wo sollte das Geld dann anlegt werden ? Wir sind schlichtweg gezwungen gegenzusteuern.<br />
Aber wie könnte eine Gegensteuerung aussehen ? Für die <strong>Zukunft</strong> unseres<br />
ländlichen Raumes und unserer <strong>Dörfer</strong> und kleineren Städte sind aus meiner Sicht folgende<br />
Faktoren wichtig: Es ist in unserer Gesellschaft alles zu tun, was junge Menschen dazu<br />
bringt, mindestens 2,1 Kin<strong>der</strong> zu bekommen. Laut Berechnungen müsste jede Frau im<br />
gebärfähigen Alter 6,2 Kin<strong>der</strong> bekommen, um den heute feststellbaren demografi schen<br />
Eff ekt rückgängig zu machen. Das ist schlichtweg undenkbar. Der Schrumpfungsprozess<br />
<strong>der</strong> demografi schen Entwicklung wird also nicht aufhören, es sei denn, wir organisieren<br />
permanenten Zuzug aus an<strong>der</strong>en Gebieten – und damit meine ich nicht den Nachbarort.<br />
Weiterhin muss Infrastruktur im ländlichen Raum nicht nur erhalten, son<strong>der</strong>n in meinen<br />
Augen sogar stellenweise ausgebaut werden. Das wi<strong>der</strong>spricht <strong>der</strong> Th ese, dass ländliche<br />
Infrastruktur aus Kostengründen nach und nach abgebaut werden wird. Aber ich frage<br />
Sie: Wie wollen wir denn Zuzug generieren o<strong>der</strong> junge Menschen dazu bringen, in <strong>der</strong><br />
Region zu bleiben, wenn Infrastruktur und Versorgung permanent schlechter werden ?<br />
Angedeutet wird zwar die diff erenzierte Betrachtung und Entscheidung, so dass zukunftsfähige<br />
Orte verstärkt geför<strong>der</strong>t werden – die Schwierigkeiten beginnen aber dort, wo es<br />
um Rückbau aufgrund fehlen<strong>der</strong> <strong>Zukunft</strong>sfähigkeit gehen wird. Wir werden deshalb<br />
künftig eine ganze Reihe von Insellösungen brauchen. Muss zu jedem Haus eine geteerte<br />
Straße führen, ein Kanal- o<strong>der</strong> Stromanschluss vorhanden sein, es in jedem kleinen Ort<br />
eine Schule geben ? Finnland beispielsweise macht uns vor, dass es an<strong>der</strong>e Lösungen gibt<br />
und die Menschen damit trotzdem gut versorgt sind. <strong>Die</strong> Frage ist, wo liegt <strong>der</strong> kritische<br />
Wert und wie bereit sind Menschen, dann selbst Verantwortung zu übernehmen, deutlich<br />
höhere Preise zu zahlen o<strong>der</strong> auf Annehmlichkeiten zu verzichten ?<br />
Deutlich verbessern müssen wir das Image des ländlichen Raumes. Immer wie<strong>der</strong> hört<br />
man von den Vorzügen <strong>der</strong> Großstädte, die Nachteile werden verschwiegen. Denken wir<br />
an Emissionen, Lärm, Abgase, Feinstaub, Stress und hektische Betriebsamkeit. Unser<br />
ländlicher Raum dagegen steht für Naturnähe, Erholungswert, Ruhe, Ausgleich, kurz:<br />
ein lebens- und liebenswertes Umfeld. Das sollten wir wie<strong>der</strong> deutlicher hervorheben.<br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«
Es wird eine <strong>der</strong> größten gesellschaftlichen Herausfor<strong>der</strong>ungen sein, diesen demografi<br />
schen Wandel mit all seinen Facetten in allen Bereichen unseres Lebens zu gestalten,<br />
und dabei die materiellen und immateriellen Schäden auf ein Minimum zu begrenzen.<br />
<strong>Die</strong> Konsequenzen des Wandels werden erheblich und zudem sehr unterschiedlich im<br />
Bundesgebiet verteilt sein. Ich stehe dem Wettbewerb unter den Kommunen allerdings<br />
skeptisch gegenüber. Es wird Gewinner geben, aber auch Verlierer. Und wenn es wirklich<br />
entscheidend ist, ob ein Bürgermeister, ein Landrat o<strong>der</strong> Akteur in <strong>der</strong> ländlichen<br />
Region rechtzeitig aktiv wird und handelt, ist das in <strong>der</strong> Konsequenz durchaus ungerecht.<br />
In meinen Augen sollten wir deshalb das Gesamtproblem umfassen<strong>der</strong> lösen in Form<br />
gesellschaftlicher Verän<strong>der</strong>ungen, Entlastung von jungen Familien, Vereinbarkeit von<br />
Karriere und Privatleben und <strong>der</strong>gleichen mehr. Ich persönlich ziehe im Übrigen auch<br />
zumindest einen positiven Aspekt aus <strong>der</strong> demografi schen Entwicklung: Sie zwingt uns,<br />
wie<strong>der</strong> den Menschen in den Mittelpunkt des Denkens und Handels zu stellen. Früher<br />
hatten wir oft kein Material, keine Rohstoff e, keine Maschinen, kein Geld – Menschen<br />
waren jedoch ausreichend vorhanden. Heute dreht sich das Blatt. Aus ethischer Sicht ist<br />
das ein ausgesprochen positiver Eff ekt.<br />
Bei langsamen und schleichenden Prozessen besteht natürlich die Gefahr, dass man sich<br />
erst dann ernsthaft kümmert, wenn es eigentlich schon zu spät ist. Auswirkungen sind<br />
dann bereits stark und das Gegensteuern sehr schwierig. Deshalb bin ich dankbar für jede<br />
Gelegenheit, über dieses Th ema mit einem breiten Publikum zu diskutieren. Ich habe die<br />
Hoff nung, dass wir die langfristigen Probleme noch rechtzeitig angehen und lösen. Dazu<br />
gehören die Th emen Rentenversicherung, Gesundheitssystem, Bildung … Wichtig wird<br />
sein, die unvermeidlichen Schäden einigermaßen fair und nach <strong>der</strong> Tragfähigkeit des<br />
Einzelnen zu verteilen. An dieser Stelle kommt meist <strong>der</strong> Einwand des fehlenden Geldes,<br />
denken wir an die Schuldenkrise in Europa, denken wir an den Bundeshaushalt, denken<br />
wir an den Landeshaushalt o<strong>der</strong> auch an die Sorgen und Nöte unserer Kommunen. Aber<br />
wie sieht es denn mit dem Vermögen in Deutschland wirklich aus ?<br />
In unserem Staat gibt es knapp 5 Billionen Euro privates Geldvermögen. Darüber hinaus<br />
gibt es Sach- und Immobilienwerte von rund 8 Billionen Euro. Ich frage mich, warum<br />
wir uns früher Dinge leisten konnten, als wir alle gemeinsam viel ärmer waren und uns<br />
künftig Dinge nicht mehr leisten können, obwohl wir viel mehr Vermögen haben als<br />
früher. Allein im Frühjahr 2010 ist das private Geldvermögen um 4,7 % gewachsen. Wie<br />
kann das sein bei <strong>der</strong>art niedrigen Zinsen ? Alle stöhnen zu Recht über die Schuldenlast,<br />
über die steigende Zinslast <strong>der</strong> öff entlichen Hand – dabei haben wir historisch niedrige<br />
Zinssätze. <strong>Die</strong> Infl ationsrate liegt deutlich höher als die Zinsen. In jungen Jahren habe<br />
ich gelernt, das sei unmöglich … Gleichzeitig häufen sich in den privaten Haushalten die<br />
Geld- und Sachvermögen an. Maßgeblich ist dabei natürlich die Verteilung innerhalb<br />
<strong>der</strong> Bevölkerung. Wir haben 82,3 Mio. Einwohner, sie leben in 40 Mio. Haushalten. Das<br />
unterste Drittel <strong>der</strong> Bevölkerung in Deutschland besitzt 1 % Anteil am gesamten Vermögen,<br />
das zweite Drittel 20 % und das obere Drittel fast 80 %. Man muss konstatieren, die<br />
Verteilung des privaten Geld- und Sachvermögens ist, abseits je<strong>der</strong> Neid- und Missgunstdebatte,<br />
ungleichgewichtig. Mein Argument geht auch nicht in Richtung einer Umver-<br />
<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong> im Fokus regionaler Kreditwirtschaft 41
42<br />
teilung von Vermögen, son<strong>der</strong>n vielmehr dahin, dass Vermögen wie<strong>der</strong> mehr verpfl ichten<br />
sollte und man als Finanzstarker bereit wäre, für Schwächere in <strong>der</strong> Gesellschaft und für<br />
Benachteiligte einzutreten. Wir haben genügend Vermögen in unserer Gesellschaft, die<br />
Frage ist, wie wir damit umgehen.<br />
Lösungen für den demografi schen Wandel, für diese Entwicklung zu fi nden und erfolgreich<br />
umzusetzen, kann aus meiner Sicht nur gemeinsam gelingen. Wir haben im gesamten<br />
Bundesgebiet die gleichen Probleme in unterschiedlicher Ausprägung, in unterschiedlicher<br />
Intensität und mitunter in unterschiedlicher zeitlicher Abfolge. Gleich ist auch: In<br />
je<strong>der</strong> Region gibt es off ensichtlich Gewinner und Verlierer. <strong>Die</strong> beson<strong>der</strong>e Herausfor<strong>der</strong>ung<br />
für jeweilige Akteure besteht nun darin, nicht nur die eigenen Interessen zu verfolgen,<br />
son<strong>der</strong>n die Interessen <strong>der</strong> Allgemeinheit, <strong>der</strong> Gesamtheit zu berücksichtigen und<br />
entsprechendes Handeln einzuleiten. Vor allem regionale Kreditinstitute müssen dabei<br />
eine verantwortungsvolle und im <strong>Die</strong>nst <strong>der</strong> Allgemeinheit stehende Rolle übernehmen<br />
in enger Zusammenarbeit mit den Städten, mit den Landkreisen und den Kommunen.<br />
Wir wollen und müssen dieser Verantwortung gerecht werden. Letztendlich geht es nicht<br />
nur um die <strong>Zukunft</strong> eines jeden einzelnen Kredit instituts im regionalen Bereich, son<strong>der</strong>n<br />
vor allem um die gemeinsame <strong>Zukunft</strong> unserer <strong>Dörfer</strong>, kleineren Städte und Regionen.<br />
Ich bin fest davon überzeugt, dass es ohne <strong>Zukunft</strong> für den ländlichen Raum auch keine<br />
<strong>Zukunft</strong> gibt für die Metropolregionen. Ein starker ländlicher Raum ist die Grundvoraussetzung<br />
für prosperierende Metropolregionen. Beide gemeinsam müssen die <strong>Zukunft</strong><br />
gestalten !<br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«
Finanzwirtschaft im ländlichen Raum<br />
Günter Sedlak, Vorsitzen<strong>der</strong> des Vorstandes <strong>der</strong> Sparkasse Oberhessen<br />
Ich spreche als Vertreter einer mittelständischen Institution, die hauptsächlich im Wetteraukreis<br />
und im Vogelsbergkreis tätig und dadurch mit dieser Region sehr eng und<br />
wechselseitig verbunden ist. Nicht nur unsere Geschäftstätigkeit fi ndet hier statt, auch<br />
99 % unserer Mitarbeiter wohnen hier, wir besitzen zahlreiche Objekte in den Gemeinden.<br />
Wir kennen unseren ländlichen Raum und sind als Sparkasse Oberhessen mit <strong>der</strong><br />
Entwicklung <strong>der</strong> Region und <strong>der</strong> angrenzenden Nachbarkreise sehr eng vertraut.<br />
Unsere Bilanzsumme aktuell beträgt über 4,6 Mrd. Euro, wir haben 242.000 Kunden.<br />
Das ist eine beeindruckende Zahl, wenn man bedenkt, dass im Wetterauskreis und im<br />
Vogelsbergkreis zusammengenommen 410.000 Einwohner leben. Weit mehr als die<br />
Hälfte davon haben also ein Konto bei uns, von 147.000 führen wir ein Girokonto. Den<br />
Kundeneinlagen von etwa 3 Mrd. Euro steht ein Kundenkreditvolumen in gleicher Höhe<br />
gegenüber, das heißt 3 Mrd. Euro haben wir in <strong>der</strong> oberhessischen Region vergeben. Bei<br />
den Privatkunden haben wir einen Marktanteil von 34,2 %, das ist für eine Sparkasse<br />
eher unterdurchschnittlich. Aber auch alle Volksbanken zusammen erreichen nur 33,7 %,<br />
an<strong>der</strong>e Sparkassen 7,3 %. Unsere Kosten-Ertrags-Relation liegt bei 59,2 % o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s<br />
gesagt, geben wir 59,2 Cent aus, um einen Euro zu verdienen. Auch das ist eine sehr gute<br />
Zahl. Für das Jahr 2011 zahlen wir etwa 8 Mio. Euro Steuern.<br />
Um die Größenordnung unseres Hauses einzuschätzen: Es gibt in Deutschland 429 Sparkassen,<br />
wir stehen an Stelle 55 und von den 51 Sparkassen in Hessen-Th üringen sind wir<br />
die Nr. 4, übertroff en nur von <strong>der</strong> Nassauischen, <strong>der</strong> Frankfurter und <strong>der</strong> Kasseler Sparkasse.<br />
In unserem Geschäftsgebiet, Wetteraukreis und Vogelsbergkreis, gibt es 44 selbstständige<br />
Städte, es gibt 334 Ortsteile, hier leben 410.000 Einwohner. <strong>Die</strong>s alles verteilt sich auf<br />
einer Fläche von 2.560 km². In über 50 % <strong>der</strong> Orts- und Stadtteile sind wir als Sparkasse<br />
persönlich präsent.<br />
Natürlich beobachten auch wir die Bevölkerungsentwicklung aufmerksam. Glücklicherweise<br />
haben wir im südlichen Geschäftsbereich auch Gemeinden, die von Zuzug und<br />
Prosperität gekennzeichnet sind, z. B. Wöllstadt, Karben, Bad Vilbel und Rosbach. Gewisse<br />
Sorge bereitet uns jedoch das teils starke Gefälle zu den erwarteten Rückgängen<br />
in an<strong>der</strong>en Kreisen. Und das nicht erst in ferner <strong>Zukunft</strong>, son<strong>der</strong>n bereits in den kommenden<br />
Jahren bis 2025. Ich verrate Ihnen kein Geheimnis, wenn ich sage: Nicht dort,<br />
wo Bevölkerung nachlässt, macht man gute Geschäfte. Einige ganz konkrete Beispiele:<br />
Wenn jemand wegzieht, nimmt er das Girokonto mit. Wenn in schrumpfenden Gemein-<br />
Finanzwirtschaft im ländlichen Raum 43
44<br />
den jemand stirbt, wohnen die Erben meist schon lange irgendwo an<strong>der</strong>s in Deutschland,<br />
wenn nicht sogar im Ausland. Das Vermögen, einst bei <strong>der</strong> Sparkasse, wird rasch abgezogen<br />
und ist für die Sparkasse verloren. Kaum einer kehrt zurück. Das ist im Einzelfall<br />
nicht dramatisch, wenn es aber zum Regelfall wird, tut es weh.<br />
Auch die Kaufkraftgefälle stellen uns vor Herausfor<strong>der</strong>ungen. Wir haben Schwankungen<br />
von 135,9 % in Bad Vilbel und 87,9 % in Gemünden. Im Wetteraukreis, <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Rhein-Main-Region zuzurechnen ist, wohnen 100.000 sozialversicherungspfl ichtig Beschäftigte,<br />
davon pendeln täglich 56.000 aus, die Hälfte davon nach Frankfurt. Dem gegenüber<br />
haben wir im Vogelsbergkreis 36.000 sozialversicherungspfl ichtig Beschäftigte,<br />
wovon 16.000 pendeln. Wir haben sehr große Pendlerströme und insgesamt kann man<br />
ein Nord-Süd und Ost-West-Gefälle erkennen.<br />
Wie reagieren wir auf diese demografi sche Entwicklung, jetzt und auch in <strong>Zukunft</strong> ?<br />
Wie versuchen wir, uns auf die Verän<strong>der</strong>ungen einzustellen ? Zunächst einmal, bei uns<br />
entscheidet <strong>der</strong> Kunde. Dazu analysieren wir genau die Verhaltensweisen und Wünsche<br />
unserer Kunden. Wir schauen ganz genau, was <strong>der</strong> Kunde möchte. Wir machen Testkäufe.<br />
Wir lassen im Internet bestimmte Befragungen laufen. Wir rufen Kunden an, die<br />
bei uns ein neues Konto eröff nen, und wir rufen Kunden an, die bei uns ihr Geschäftskonto<br />
aufl ösen. Wir schauen, wann kommt <strong>der</strong> Kunde, ist er morgens halb neun o<strong>der</strong> ist<br />
er nachmittags um vier in <strong>der</strong> Schalterhalle. Regelmäßige Befragungen sollen Antworten<br />
bringen: Wird das jeweilige Filialangebot vor Ort von den Kunden noch genutzt ? Wenn<br />
nein: Welches ist das richtige Ersatzangebot (Fahrbare Filiale, SB-Filiale, Außendienst) ?<br />
Welche weiteren Zugangswege (Online, Telefon), Produkte und Serviceleistungen werden<br />
gewünscht ?<br />
Wir müssen uns deutlich machen, dass heutzutage die Präsenz in <strong>der</strong> Fläche letztlich eine<br />
Reaktion auf das ist, was <strong>der</strong> Kunde will. Für eine Bankverbindung war früher entscheidend:<br />
Wo haben die Eltern ihre Bankverbindung, wo ist die nächste Geschäftsstelle ? Das<br />
führte in den 1970er- und 1980er-Jahren zu einer Unzahl von Zweigstelleneröff nungen.<br />
Momentan ist <strong>der</strong> gegenteilige Trend zu spüren, <strong>der</strong> Kunde empfi ndet nicht mehr die<br />
Nähe zur Zweigstelle als wichtigstes Kriterium, son<strong>der</strong>n generelle Erreichbarkeit, Sicherheit,<br />
Seriosität, Preise und Konditionen. Eine an<strong>der</strong>e Zahl möchte ich gern an dieser Stelle<br />
nennen. Wenn ich unsere Kunden mit 100 % beziff ere, wollen 20 % davon eigentlich<br />
nur das Internet – vor allem die Jüngeren, 20 % wollen nur die Filiale – vor allem die<br />
Älteren, und 60 % wollen das Internet, die Filiale, das Telefon und den Hausbesuch und<br />
das möglichst an zehn Stunden am Tag. Wir bieten natürlich alle Zugangswege an und<br />
favorisieren selbst den persönlichen Kontakt, also stationäre Filialen sowie Hausbesuche.<br />
Je<strong>der</strong> Kunde, <strong>der</strong> dies wünscht, hat seinen persönlichen Ansprechpartner. Von unseren<br />
1.100 Mitarbeitern arbeiten mehr als 600 im tagtäglichen Kontakt mit den Kunden. Beson<strong>der</strong>s<br />
ältere Menschen erwarten persönliche Hilfe bei ihren Geldgeschäften. Bereits<br />
50.000 Kunden nutzen unser Online-Banking und wir verzeichnen über 18.000 Zugriff e<br />
pro Tag auf unser Internetangebot – und das mit steigen<strong>der</strong> Tendenz.<br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«
An Orten im Vogelsbergkreis, wo das Filialangebot nicht mehr genutzt wurde, haben wir<br />
auch schon Filialen geschlossen und sie durch fahrbare Einheiten und persönlichen Geldbringservice<br />
ersetzt. Wenn eine Zweigstelle geschlossen wird, gibt es meistens Ärger. Wir<br />
sind jedoch <strong>der</strong> drittgrößte Arbeitgeber im Bezirk <strong>der</strong> IHK Friedberg und ich sage Ihnen,<br />
dass gerade diese punktuellen, begründeten Schließungen die restlichen Arbeitsplätze<br />
erheblich sicherer gemacht haben.<br />
<strong>Die</strong> Politik fragt bei einer Schließung gern: Wie sollen die Leute denn jetzt an ihr Geld<br />
kommen ? Wir bieten den Älteren und Schwächeren in diesen Fällen einen sogenannten<br />
Geldbringservice an. Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> es möchte, bekommt kostenfrei das Geld nach Hause gebracht.<br />
Was glauben Sie, wie viele das in Anspruch nehmen ? Kaum einer. In <strong>der</strong> Diskussion<br />
am Anfang wollen das viele, wenn es dann tatsächlich einer o<strong>der</strong> zwei o<strong>der</strong> drei sind,<br />
ist das sehr viel. Wir sind natürlich eine Bank, die nicht ausschließlich nach wirtschaftlichen<br />
Grundsätzen die Geschäfte leitet, aber auch wir müssen wirtschaftliche Grundsätze<br />
anlegen, sonst werden wir sehr schnell handlungsunfähig.<br />
Schauen Sie einmal, wie viele Großbanken im Vogelsbergkreis und im Wetteraukreis<br />
vertreten sind und stellen die Präsenz <strong>der</strong> Genossenschaftsbanken und Sparkassen gegenüber.<br />
Sie stellen fest, dass die Sparkassen und Genossenschaftsbanken wahrscheinlich<br />
150-mal vertreten sind und die Großbanken vielleicht vier- bis fünfmal. Das hat seinen<br />
Grund. Und auch wir können unseren Service nur aufrecht erhalten, wenn <strong>der</strong> Kunde auf<br />
uns zu kommt und bei uns bleibt.<br />
Als Arbeitgeber bieten wir 87 verschiedene Teilzeitmodelle und beschäftigen 35 % Teilzeitkräfte.<br />
Wir haben einen Frauenanteil von 60 % und versuchen natürlich, über diese<br />
Angebote die meist hoch qualifi zierten Frauen bei uns zu halten und ihnen zu ermöglichen,<br />
Mutterschaftsurlaub anzutreten und ihr Familienleben mit <strong>der</strong> Arbeit in Einklang<br />
zu bringen.<br />
Wir erhöhen die Zahl unserer Ausbildungsplätze auf 35 in 2012 und weiter auf 50 in<br />
2013. Banken sind nicht mehr so angesehen, wie sie es früher einmal waren – kaum einer<br />
macht einen Unterschied zwischen Bank, Volksbank und Sparkasse, obwohl dies wichtig<br />
wäre. Auch wir müssen uns heute um Auszubildende bemühen. Und demografi scher<br />
Wandel bedeutet: Weniger Jugendliche gleich weniger potenzielle Auszubildende. Wir<br />
garantieren bei guter Leistung eine 100 %-ige Übernahme, um die Fachkräfte, die ja<br />
aus dieser Region kommen, auch zukünftig hier zu halten. Bei unserer Fusion vor sechs<br />
Jahren haben wir gespürt, wie wichtig die Nähe zum Arbeitsplatz ist. Für viele Mitarbeiter<br />
war die größte Herausfor<strong>der</strong>ung die Tatsache, plötzlich von Lauterbach nach Nidda<br />
fahren zu müssen o<strong>der</strong> auch umgekehrt. Das vergeudet Zeit und ist unangenehm, und es<br />
ist ins Bewusstsein gerückt, wie wichtig ein naher Arbeitsplatz ist. Das können wir bieten<br />
und auch das zeichnet uns als regionale Bank aus. Wir gehen auf die Wünsche unserer<br />
Auszubildenden ein, bieten nicht nur den Ausbildungsberuf Bankkaufmann an, son<strong>der</strong>n<br />
ermöglichen auch ein duales Studium. Wir initiieren Projekte, in den letzten Jahren wurden<br />
z. B. mehrere Spielplätze von unseren Auszubildenden gebaut. Das stärkt zum einen<br />
Finanzwirtschaft im ländlichen Raum 45
46<br />
die Gruppendynamik, zum an<strong>der</strong>en macht es richtig Spaß – nicht nur den jungen Leuten,<br />
die mit ihren Händen etwas aufbauen, son<strong>der</strong>n auch uns, wenn wir ihnen zuschauen, wie<br />
sie sich in diesen Prozessen entwickeln.<br />
Unsere älteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind uns natürlich ebenso wichtig wie<br />
<strong>der</strong> Nachwuchs. <strong>Die</strong> Gruppe <strong>der</strong> älteren Mitarbeiter wächst und diese Menschen müssen<br />
bei steigendem Renteneintrittsalter länger gesund und leistungsfähig bleiben. Wir haben<br />
eine Studie durchgeführt, in <strong>der</strong> wir unsere Mitarbeiter befragten, was sie von ihrem Arbeitgeber<br />
erwarten und wie zufrieden sie sind, um Erkenntnisse zu erhalten, wie wir bei<br />
uns im Hause die Arbeitsplätze attraktiver gestalten können. Wir haben ein Gesundheitsmanagement<br />
aufgebaut und bemühen uns um Prävention physischer und psychischer<br />
Erkrankungen. Wir bieten regelmäßige Fortbildungen im Sinne lebenslangen Lernens an<br />
und sorgen für eine altersgerechte Personalentwicklung.<br />
Ein <strong>der</strong>zeitiger Trend im Bankenbereich geht zu Auslagerung von <strong>Die</strong>nstleistungen, wie<br />
beispielsweise bestimmte Backoffi ce- und Marktfolgetätigkeiten. Bisher haben wir es<br />
dank unserer Struktur geschaff t, alles im Haus und damit in <strong>der</strong> Region zu halten. Unser<br />
Ziel ist dies auch weiterhin, aber als Kaufmann können Sie das nur durchhalten, solange<br />
die Kosteneff ektivität es zulässt.<br />
Wir sind ein wichtiger Kreditgeber, wir vergeben 3 Mrd. Euro Kredite, die wir zu 100 %<br />
aus den Einlagen hier aus dieser Region decken. Das größte Kreditvolumen nehmen<br />
Wohnungsbaufi nanzierungen ein, gefolgt von gewerblichen Krediten für die mittelständische<br />
Wirtschaft. Das führt mich zu einem weiteren Punkt: Der demografi sche Wandel<br />
wirkt sich auf große Unternehmen in Relation weniger aus, da die meisten von einem<br />
überregionalen, weltweiten Absatz und globaler Kundschaft leben. Aber wenn die Einwohner<br />
weniger werden, stehen auch diese Unternehmen vor <strong>der</strong> Schwierigkeit, qualifi -<br />
zierte Mitarbeiter in ausreichen<strong>der</strong> Zahl zu fi nden. Wan<strong>der</strong>n in letzter Konsequenz wegen<br />
fehlen<strong>der</strong> Mitarbeiter dann auch die Unternehmen ab, verschwinden die Arbeitsplätze<br />
und mit ihnen die Gewerbesteuer für die Kommunen. In kleinen Gemeinden mit einer<br />
Sparkassenfi liale o<strong>der</strong> Zweigstelle einer Genossenschaftsbank ist im Übrigen nicht selten<br />
dieses Institut <strong>der</strong> Hauptgewerbesteuerzahler, mancherorts gar <strong>der</strong> einzig verbleibende<br />
Gewerbesteuerzahler vor Ort.<br />
Gerade in Krisenzeiten sind wir als Hausbank gefor<strong>der</strong>t. Wir haben oft eine jahrzehntelange<br />
enge Bindung an unsere gewerblichen Kunden, wir geben Kredit, wo an<strong>der</strong>e<br />
Banken sich längst zurückgezogen haben. Wir suchen Firmen in Schwierigkeiten auf und<br />
versuchen gemeinsam ein Konzept zu erarbeiten. Dabei ist die Aufrichtigkeit des Kreditnehmers<br />
uns gegenüber sehr wichtig. Mal ein schwächeres Jahr zu haben, ist kein Problem,<br />
entscheidend ist, dass man sich <strong>der</strong> Verantwortung bewusst ist und gegebenenfalls<br />
auch bereit ist, etwas zu än<strong>der</strong>n. Wir sehen unsere Aufgabe jedoch auch darin, off en zu<br />
kommunizieren und deutlich zu sagen, was möglich ist und was nicht. Für Kleinunternehmen<br />
sind die Bedingungen meist noch schwieriger, viele haben den Absatzmarkt nur<br />
vor <strong>der</strong> Tür, und dieser schwindet bei weniger Kunden und zunehmen<strong>der</strong> Konkurrenz im<br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«
Internet. Wenn Sie durch verschiedene Einkaufsstraßen gehen, sehen Sie, was ich meine –<br />
dort hat <strong>der</strong> Kunde mit den Füßen abgestimmt. Und wenn <strong>der</strong> Kunde so agiert, dann<br />
muss <strong>der</strong> Unternehmer, wenn es wirtschaftlich nicht mehr vertretbar ist, die Tür schließen.<br />
Und <strong>der</strong> Kunde muss dann wie<strong>der</strong>um damit leben, dass er weiter fahren o<strong>der</strong> seine<br />
Ware im Internet bestellen muss. Das kann man persönlich sehr schade fi nden – aber<br />
letztlich sind wir alle die Kunden und Konsumenten, die es in <strong>der</strong> Hand haben. Unsere<br />
Sparkasse ist bemüht, in Krisenfällen zu helfen und beispielsweise auch Firmen zusammenzuführen.<br />
Wir för<strong>der</strong>n Netzwerke, zum Beispiele durch unsere Kundenveranstaltung<br />
»Unternehmer-Netzwerk Oberhessen«.<br />
Erneuerbare Energien spielen bei uns inzwischen eine ganz große Rolle. Wir haben den<br />
Photovoltaikpark in Schlitz fi nanziert, außerdem viele Windrä<strong>der</strong> und Biokraftwerke,<br />
Solar- und weitere Photovoltaikanlagen. <strong>Die</strong>ses Geschäftsfeld wächst so stark, dass wir<br />
für die Bearbeitung und Entwicklung einen Mitarbeiter freigestellt haben, <strong>der</strong> sich um<br />
nichts an<strong>der</strong>es mehr kümmert. Wir haben einen sogenannten Energiesparkassenbrief herausgegeben,<br />
das heißt, wir sammeln im Moment im Wetterau- und Vogelsbergkreis<br />
Kapital an, um es verbilligt an diejenigen herauszugeben, die Projekte in erneuerbaren<br />
Energien umsetzen. Wir kooperieren hier mit <strong>der</strong> KfW für die beste Lösung für den<br />
Kunden. Langfristig haben wir in jedem Fall auch etwas davon.<br />
Wir verdienen in <strong>der</strong> Region unser Geld und geben einen Teil davon den Menschen<br />
zurück. In den Bereichen Kultur, Sport, Bildung, Gemeinwohl und Umwelt för<strong>der</strong>n wir<br />
rund eintausend Projekte pro Jahr. Insgesamt haben wir in 2011 mehr als 600.000 Euro<br />
darauf verwendet und zusätzlich 1 Mio. Euro Zustiftung an unsere <strong>Stiftung</strong> geleistet.<br />
Wir sehen uns in <strong>der</strong> Verantwortung als För<strong>der</strong>er <strong>der</strong> Region, denn weniger Einwohner in<br />
einer Region bedeuten weniger Menschen, die sich in Vereinen engagieren können. Hinzu<br />
kommen die prekären kommunalen Finanzen, die oft eine Streichung von Mitteln für<br />
Kultur-, Sport- und Bildungsangebote zur Folge haben. Mit einem Partnerprogramm für<br />
Vereine unterstützen wir das Vereinsleben und schaff en Angebote wie das »Vogelsberger<br />
Gipfel Kabarett« und »Der Vulkan lässt lesen«.<br />
Was tun wir sonst noch ? <strong>Die</strong> enge Verzahnung mit <strong>der</strong> Region spiegelt sich auch in<br />
unserem Kontomodell Giro X-tra wie<strong>der</strong>. Unsere Kunden können Vergünstigungen nutzen,<br />
die ihnen unsere 460 regionalen Kooperationspartner bieten. Darunter fi nden sich<br />
Geschäfte, Handwerksbetriebe, Restaurants usw., letztlich geht es dabei um gegenseitige<br />
Werbung und Unterstützung unserer heimischen Wirtschaft. Gleichzeitig schaff en wir<br />
einen geldwerten Vorteil für unsere Kunden. <strong>Die</strong> regionalen Partner profi tieren davon,<br />
dass wir für sie werben, wir als Sparkasse profi tieren von Unternehmenserfolgen und die<br />
Region profi tiert von <strong>der</strong> dadurch geschaff enen Stabilität.<br />
Wenn Sie eine ältere Bevölkerung und damit auch viele ältere Kunden haben, kommt<br />
sehr häufi g das Th ema Erben und Vererben auf den Tisch. Wir haben jetzt spezielle<br />
sogenannte Generationenmanager eingeführt, die in diesen Fragen geschult weiterhelfen.<br />
Finanzwirtschaft im ländlichen Raum 47
48<br />
Als Fazit kann ich sagen: <strong>Die</strong> Sparkasse Oberhessen ist eng mit <strong>der</strong> wirtschaftlichen und<br />
demografi schen Situation vor Ort verbunden. Wir bilden eine Art Schicksalsgemeinschaft<br />
mit allen an<strong>der</strong>en Beteiligten wie Kommunen, Kunden und Unternehmen. Auf<br />
den demografi schen Wandel selbst können wir kaum Einfl uss nehmen, mit gezielten<br />
Maßnahmen jedoch versuchen, die Folgen abzumil<strong>der</strong>n: Wir schaff en und erhalten Arbeits-<br />
und Ausbildungsplätze in <strong>der</strong> Region, wir schaff en und erhalten adäquate Infrastruktur<br />
durch Kreditvergabe, und wir för<strong>der</strong>n regionale Projekte in Kultur, Sport und<br />
Gemeinwohl und tragen so zur Lebensqualität unserer Region bei. All das geht selbstverständlich<br />
nur, wenn die Bürger ihre Geldgeschäfte mit uns abwickeln und dadurch<br />
unsere Geschäftstätigkeit nachhaltig unterstützen. Es kann nur <strong>der</strong> Gutes tun, dem auch<br />
Gutes getan wird.<br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«<br />
Sparkassen – Gut für die Regionen.<br />
Foto: Sparkasse Oberhessen
<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong> im Fokus<br />
kommunaler Akteure<br />
Heiko Stock, Bürgermeister <strong>der</strong> Gemeinde Lautertal/Vogelsbergkreis<br />
Wir stehen – das ist auch aus <strong>der</strong> vorliegenden Studie ersichtlich – im Vogelsbergkreis<br />
vor ganz ähnlichen Problemen wie die ländlichen Regionen in Th üringen. In Lautertal<br />
haben wir uns 2006/2007 erstmalig mit <strong>der</strong> demografi schen Entwicklung befasst. Den<br />
Ausschlag dafür gab – das mag einige überraschen – nicht die Entwicklung <strong>der</strong> Einwohnerzahl.<br />
Wir verloren zwar jedes Jahr 30 Einwohner, aber dies fi el zunächst nicht<br />
gravierend ins Gewicht. Nach <strong>der</strong> Gebietsreform 1972 und später in Folge <strong>der</strong> deutschen<br />
Wie<strong>der</strong>vereinigung, als viele Menschen aus den neuen Bundeslän<strong>der</strong>n in den Westen<br />
zogen und noch dazu Zuzüge aus <strong>der</strong> ehemaligen Sowjetunion zu verzeichnen waren,<br />
gingen wir selbstverständlich wie alle an<strong>der</strong>en auch von weiter steigenden Einwohnerzahlen<br />
aus. Heute wissen wir, dass die Entwicklung einen an<strong>der</strong>en Verlauf nimmt. <strong>Die</strong>s<br />
war eigentlich vor vielen Jahren schon erkennbar, wir haben nur alle versäumt, es zur<br />
Kenntnis zu nehmen.<br />
Letztlich war es die Kanalsanierung im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Eigenkontrollverordnung<br />
in Hessen, die uns zwang, uns mit dem demografi schen Wandel zu befassen, denn<br />
sie stellte uns plötzlich vor eine große Herausfor<strong>der</strong>ung. Früher wurden ständig neue<br />
Neubaugebiete ausgewiesen, inzwischen gibt es einen Sinneswandel, denn die vorhandenen<br />
Bauplätze wurden immer weniger nachgefragt und gleichzeitig standen die ersten<br />
größeren Häuser mit entsprechend großen Grundstücken innerorts leer. Aufgrund <strong>der</strong><br />
fi nanziellen Belastung für unsere Gemeinde kamen wir nicht umhin, einen Abwassererneuerungsbeitrag<br />
zu erheben, das heißt neben <strong>der</strong> normalen Abwassergebühr, die mit<br />
6 Euro/m³ schon beträchtlich ist, sahen wir uns gezwungen, noch einen zusätzlichen<br />
Beitrag pro m² Grundstücksfl äche zu erheben. Natürlich stellten die Grundstückseigentümerinnen<br />
und -eigentümer umgehend die Frage, wie sie das alles bezahlen sollen und<br />
wie es wohl in künftigen Jahren weitergehen wird.<br />
Wir haben sieben Ortsteile mit 2.500 Einwohnern und ich möchte Ihnen am Beispiel unseres<br />
Ortsteils Eichelhain zeigen, welche Infrastruktur vorgehalten wird. Wir haben heute<br />
gehört, Straßendörfer haben ein beson<strong>der</strong>es Problem und unser Ortsteil Eichelhain ist<br />
so ein Straßendorf. Es leben dort 240 Einwohner, wir haben eine erschlossene Fläche von<br />
rund 17,3 ha, und Erstaunliches stellt man fest, wenn man die Zahlen für Straßenfl äche,<br />
Kanalnetz und Wasserleitungsnetz auf die Einwohnerzahlen bezieht. Wir halten den Luxus<br />
vor, pro Einwohner 720 m² erschlossene Fläche sowie eine erschlossene Straßenfl äche<br />
von 136 m² zu haben, weiterhin pro Einwohner eine Kanallänge von 17 m und eine Wasserleitungslänge<br />
von 21 m. Wenn Sie nun bedenken, wie viele Einwohner an <strong>der</strong> gleichen<br />
<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong> im Fokus kommunaler Akteure 51
52<br />
Leitungslänge in einer Großstadt leben, können Sie eines <strong>der</strong> Hauptprobleme bei uns im<br />
ländlichen Raum erkennen. Hinzu kommt, dass <strong>der</strong> Vogelsbergkreis mit 75 Einwohner/<br />
km² <strong>der</strong> am dünnsten besiedelte Landkreis in Hessen ist. Unsere Gemeinde liegt nochmals<br />
deutlich darunter mit 45 Einwohnern/km².<br />
Wir beobachten Abwan<strong>der</strong>ung vor allem in <strong>der</strong> Personengruppe im erwerbsfähigen Alter.<br />
Wir stellen fest, dass eine Bildungsmigration stattfi ndet, also insbeson<strong>der</strong>e junge Frauen,<br />
die früher vor Ort blieben, heirateten und Kin<strong>der</strong> bekamen, ziehen heute weg anlässlich<br />
Ausbildung, Studium o<strong>der</strong> Jobsuche und kehren nicht zurück. Das verschärft unser<br />
Problem, denn die Kin<strong>der</strong> dieser Frauen werden natürlich woan<strong>der</strong>s geboren. Mit einem<br />
Durchschnittsalter von 45,4 Jahren liegt <strong>der</strong> Vogelsbergkreis zwei Jahre über dem hessischen<br />
Durchschnitt und bis 2020 werden unsere Schülerzahlen um 35 % zurückgehen.<br />
Wir haben Leerstand in <strong>der</strong> Wohnbebauung <strong>der</strong> Orte von 5 bis 10 % und neben diesem<br />
Leerstand gibt es auch einen Sanierungsstau. Problematisch ist, dass nicht nur Altortslagen<br />
o<strong>der</strong> abgrenzbare Gebiete von Leerstand betroff en sind. Dann könnte man sagen,<br />
wo keiner mehr wohnt, klemmen wir die Wasserleitung ab, spülen nicht o<strong>der</strong> schließen<br />
den Kanal. Das ist natürlich unmöglich, denn <strong>der</strong> Leerstand verteilt sich über das gesamte<br />
Dorf und sogar in Neubaugebiete hinein. Wir sprechen in diesem Fall von leeren Häusern,<br />
die erst zwanzig o<strong>der</strong> dreißig Jahre alt sind … Noch dramatischer sind Wirtschaftsgebäude<br />
betroff en. Früher genutzt von Klein- und Nebenerwerbslandwirten stehen sehr<br />
viele davon heute schon leer und sind ohne Umnutzungsperspektive. Erfasst man all die<br />
Wohnhäuser, in denen die Bewohner über 80 Jahre alt sind o<strong>der</strong> auch schon die mit über<br />
65-jährigen Bewohnern, kann man ablesen, wie sich <strong>der</strong> Leerstand in 10, 20, 30 Jahren<br />
dramatisch vergrößern wird.<br />
Aber, das muss ich ganz klar sagen, das alles ist für uns kein Grund zur Resignation.<br />
Wir wollen vielmehr unsere Chancen nutzen, und eine ganz wichtige sehen wir in den<br />
erneuerbaren Energien. Wir sind, um die fi nanzielle Situation <strong>der</strong> Gemeinde zu verbessern,<br />
in den letzten Jahren bereits tätig geworden und werden im Haushaltsjahr 2012<br />
rund 140.000 Euro allein aus den erneuerbaren Energien einnehmen. Es stehen bei uns<br />
17 Windenergieanlagen in <strong>der</strong> Gemeinde und drei sind kürzlich genehmigt worden. Auf<br />
drei gemeindeeigenen Gebäuden haben wir Photovoltaik-Anlagen installiert. Wir haben<br />
eine Stromversorgung von 700 %. Mit an<strong>der</strong>en Worten: Wir produzieren siebenmal mehr<br />
Strom, als bei uns in <strong>der</strong> Gemeinde verbraucht wird. Bei einer dieser drei Photovoltaik-<br />
Anlagen haben wir die Chance genutzt, eine neue Halle für Bauhof und Feuerwehr zu<br />
errichten. <strong>Die</strong> Refi nanzierung <strong>der</strong> Halle erfolgt vollständig über die Einspeisevergütung.<br />
Und die ersten drei Jahre haben gezeigt, dass die Erwartung nicht nur erfüllt, son<strong>der</strong>n<br />
deutlich übererfüllt wurden.<br />
Natürlich bemerkt auch die Feuerwehr die demografi sche Entwicklung. Selbst ohne den<br />
Bevölkerungsrückgang <strong>der</strong> vergangenen Jahre hatte sie schon damit zu kämpfen, dass<br />
nicht genug Männer und Frauen vor Ort waren, um den Brandschutz tagsüber sicher zu<br />
stellen. Während früher Handwerker und Landwirte jeden Tag in <strong>der</strong> Nähe waren, nahm<br />
dies kontinuierlich ab und wir haben letztlich vor einigen Jahren aus <strong>der</strong> Not heraus eine<br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«
neue Idee kreiert. Wir haben eine Lautertal-Gruppe installiert, die über die gesamte Ortsbevölkerung<br />
aus all jenen besteht, die tagsüber da sind. Landwirte, Handwerker, Bauhof,<br />
Verwaltung, alle, die vor Ort sind, haben einen Meldeempfänger und bei einem Einsatz<br />
wird neben <strong>der</strong> Ortsfeuerwehr – die dann häufi g gar nicht kommt, weil nur noch zwei,<br />
drei Personen zusätzlich da sind – diese Lautertal-Gruppe aktiviert.<br />
Hintergrund unseres neuen Feuerwehrgerätehauses ist auch, dass wir die Feuerwehren<br />
nach und nach zusammenziehen werden. Natürlich sind Feuerwehrvereine wichtige und<br />
manchmal einzige Kulturträger in einer Ortschaft – das wollen wir auch nicht zerstören,<br />
son<strong>der</strong>n erhalten. Aber wir wissen alle, dass die Ansprüche an die Feuerwehrleute steigen<br />
bezüglich ihrer Ausbildung und es immer schwieriger wird, dies mit <strong>der</strong> Arbeit zu verbinden<br />
o<strong>der</strong> vom Arbeitgeber freigestellt zu werden. Deshalb steigt die Notwendigkeit,<br />
Feuerwehren zusammenzulegen.<br />
Unsere Einwohner sind sich zunehmend bewusst, dass wir nicht alles das vorhalten können,<br />
was man in größeren Städten zu leisten im Stande ist. Es steigt die Bereitschaft, Eigenleistungen<br />
zu erbringen, und das sehe ich als äußerst positiven Aspekt, denn es bedeutet,<br />
dass die Menschen Verantwortung übernehmen und selbst etwas beitragen wollen.<br />
Im Rahmen <strong>der</strong> Dorferneuerung wurden bei uns so viele Eigenleistungen erbracht, dass<br />
<strong>der</strong> Kostenrahmen weit unterschritten wurde und wir dadurch zusätzliche Projekte, die<br />
<strong>der</strong> Bevölkerung am Herzen lagen, umsetzen konnten.<br />
In einem dünn besiedelten Kreis wie unserem realisiert die Telekom natürlich keine Breitbandversorgung,<br />
eine Kabelverlegung wäre schlichtweg zu unwirtschaftlich. Wir haben<br />
uns deshalb für den Aufbau von Wi-DSL entschieden, also Breitbandversorgung mit<br />
Richtfunk, und wir haben es geschaff t, durch kreative Lösungen komplett auf eine Finanzierung<br />
mit EU- o<strong>der</strong> Landesmitteln zu verzichten. <strong>Die</strong>se Möglichkeit fi el allerdings auch<br />
aufgrund <strong>der</strong> nicht zu stemmenden Co-Finanzierung für uns weg. Wir mussten uns also<br />
selbst helfen, und das haben wir getan.<br />
Damit will ich verdeutlichen, dass wir ländlichen Kommunen nicht nur nach oben rufen<br />
und sagen: »Ihr müsst uns Geld geben« . Wir wollen das, was wir selbst bewerkstelligen<br />
können, auch engagiert tun.<br />
Wir wollen gern vor Ort zu passenden Lösungen kommen. Wir sind bereit, eigene Leistungen<br />
und Lösungen auf die Beine zu stellen. Hin<strong>der</strong>lich sind dabei jedoch oft genug<br />
Standards o<strong>der</strong> Verteilungsregelungen, die uns dies erschweren o<strong>der</strong> unmöglich machen.<br />
Einige Beispiele: Wir haben für die Kanalsanierung in den letzten Jahren 3,5 Mio. Euro<br />
ausgegeben, also pro Einwohner 1.400 Euro. <strong>Die</strong> Arbeiten nach <strong>der</strong> Eigenkontrollverordnung<br />
werden uns jahrelang beschäftigen, wir müssen auch die Hausanschlüsse befahren,<br />
also nicht nur die Hauptkanäle, son<strong>der</strong>n jeden einzelnen Hausanschluss prüfen. Ein Teil<br />
<strong>der</strong> Hausanschlüsse ist unter Bächen verlegt – Sie können sich vorstellen, wie viel Tausende<br />
von Euro auch auf die einzelnen Hausbesitzer zukommen. Und wenn wir dann noch<br />
<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong> im Fokus kommunaler Akteure 53
54<br />
bedenken, dass es bei landwirtschaftlichen Betrieben nicht nur einen Hausanschluss<br />
gibt … Zu untersuchen und sanieren sind im Übrigen nicht nur Schmutzwasserkanäle,<br />
gleiches gilt auch für Regenwasserkanäle.<br />
Bei <strong>der</strong> ärztlichen Versorgung gilt als Richtlinie die Einwohnerzahl. Das führt zu dem<br />
paradoxen Ergebnis, dass wir als Kreis laut Kassenärztlicher Vereinigung überversorgt<br />
sind, denn viele Ärzte siedeln sich in unseren kleinen Städten mit 10.000, 11.000, 12.000<br />
Einwohnern an. Auf dem fl achen Land, wie in <strong>der</strong> Gemeinde Lautertal, gibt es keinen<br />
Arzt, dort man muss Strecken von 10, 15 o<strong>der</strong> 20 km zurücklegen, um eine Praxis zu<br />
erreichen. Beim kommunalen Finanzausgleich wird gleichfalls nur die Einwohnerzahl<br />
berücksichtigt, die technische Infrastruktur richtet sich aber nicht nach <strong>der</strong> Einwohnerzahl,<br />
son<strong>der</strong>n nach <strong>der</strong> Fläche, also nach <strong>der</strong> Leitungs- o<strong>der</strong> Straßenlänge. Hier liegt<br />
zur Berechnung eine Verteilungsregelung zugrunde, die aus einer Zeit stammt, in <strong>der</strong><br />
es überhaupt noch keine asphaltierten Wege im ländlichen Raum gab. <strong>Die</strong> angewandte<br />
Methode ist fast hun<strong>der</strong>t Jahre alt und wurde seitdem nie angepasst.<br />
In Sachen Beseitigung <strong>der</strong> Leerstände arbeiten wir aktuell an einer alten Schule, die<br />
wir abreißen möchten, da sie ein unschöner Blickpunkt von allen drei Ortszufahrten ist.<br />
Den Abriss verhin<strong>der</strong>t bisher <strong>der</strong> Denkmalschutz. Von unserem Kreisbauamt als Untere<br />
Denkmalschutzbehörde wurden wir eindringlich gebeten, unseren Antrag zurückzuziehen,<br />
um einen ablehnenden Bescheid des Vogelsbergkreises gegenüber <strong>der</strong> Gemeinde<br />
zu vermeiden. Unser Gemeindevorstand ist jedoch entschlossen, den Abriss durchzusetzen<br />
und argumentiert weiterhin nachdrücklich. Wir unterstützen und för<strong>der</strong>n Denkmalschutz<br />
wo immer möglich, appellieren aber an die Verantwortlichen, auch Grenzen<br />
anzuerkennen und vernünftiges Handeln zu ermöglichen.<br />
Ein letztes Beispiel: Der Vogelsberg als Vulkangebirge hat einen naturgegeben sehr hohen<br />
Zinkgehalt im Boden. Wenn wir Klärschlamm ausbringen wollen, dürfen wir das bei<br />
uns nicht, weil <strong>der</strong> Wert natürlich bereits zu hoch ist, und er würde dadurch noch weiter<br />
erhöht. Wir müssen deshalb weite Wege zurücklegen, um den Klärschlamm zu entsorgen<br />
und haben entsprechende Kosten. Noch interessanter wird es, wenn eine Wasserbaumaßnahme<br />
durchgeführt wird, beispielsweise ein Kanal o<strong>der</strong> eine Wasserleitung verlegt wird<br />
im Wasserschutzgebiet. Dann muss eine Bodenprobe gemacht werden. Der uns von <strong>der</strong><br />
Natur gegebene Boden wird entnommen und die Probe stellt fest, dass <strong>der</strong> Zinkgehalt zu<br />
hoch ist. Das hat zur Folge, dass <strong>der</strong> Boden nicht wie<strong>der</strong> eingebaut werden darf, son<strong>der</strong>n<br />
extra entsorgt werden muss… Sie können sich vorstellen, was das für Kosten verursacht.<br />
Ich plädiere dafür, den Gemeinden mehr Freiheit zur Regelung ihrer Angelegenheiten<br />
einzuräumen. Dann könnten wir solche – in unserem Fall unsinnigen – Standards abschaff<br />
en und würden erhebliche Finanzmittel sparen, was wie<strong>der</strong>um auch unsere Konkurrenzfähigkeit<br />
gegenüber den Ballungszentren deutlich stärken würde. Wir Kommunen<br />
wollen wie<strong>der</strong> in die Lage versetzt werden, unsere Angelegenheiten in <strong>der</strong> örtlichen<br />
Gemeinschaft in eigener Verantwortung zu regeln. Dazu gehört das Absenken <strong>der</strong> Standards<br />
und ich nutze jede Gelegenheit, dafür zu werben, so auch heute bei Ihnen. Wir wer-<br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«
den uns gewisse Standards im Hinblick auf die hohe Staatsverschuldung einfach nicht<br />
mehr leisten können. Und viele Standards könnten meines Erachtens gesenkt werden,<br />
ohne dass sich für die Bürger Grundlegendes verän<strong>der</strong>t. Insofern freue ich mich sehr,<br />
dass <strong>der</strong> Vogelsbergkreis beim MORO-Prozess berücksichtigt wurde, und wir in diesem<br />
Rahmen regionale Anpassungsstrategien entwickeln. Ein Schwerpunkt wird hierbei die<br />
technische Infrastruktur sein, und ich bin überzeugt, wir werden an dieser o<strong>der</strong> jener<br />
Stelle zu Standardabsenkungen gelangen.<br />
Ich zitiere abschließend aus <strong>der</strong> Studie zur <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>: »Experten zufolge hat die<br />
Diskussion um die notwendige Anpassung technischer Standards gerade erst begonnen« .<br />
Wir können nicht länger warten. Lassen Sie uns off en und mit Realitätssinn über die<br />
Möglichkeiten diskutieren !<br />
<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong> im Fokus kommunaler Akteure 55
Herausfor<strong>der</strong>ungen aus Sicht<br />
<strong>der</strong> Evangelischen Kirche in<br />
Hessen und Nassau<br />
Dr. Maren Heincke, Diplom-Agraringenieurin, Referentin für den Bereich<br />
»Ländlicher Raum« <strong>der</strong> Ev. Kirche in Hessen und Nassau (EKHN)<br />
Ich möchte zum einen einige Anmerkungen zu den Handlungsempfehlungen <strong>der</strong> vorliegenden<br />
Studie abgeben, zum an<strong>der</strong>en auf kirchliche Aktivitäten in Bezug auf ländliche<br />
Raumentwicklung hinweisen und auch den Aspekt <strong>der</strong> <strong>Zukunft</strong>sperspektiven diskutieren.<br />
<strong>Die</strong> Studie for<strong>der</strong>t auf, ehrlich mit den Bürgern umzugehen. Ich denke, uns allen ist klar,<br />
dass je<strong>der</strong> Megatrend, genauso auch <strong>der</strong> demografi sche Wandel, lediglich begrenzt steuerbar<br />
ist. Nur die Wahrheit führt zu Verän<strong>der</strong>ungsenergie – etwas ganz Wichtiges in meinen<br />
Augen. Wir müssen an Grenzen stoßen, um in Bewegung zu kommen. Lange Zeit<br />
wurden politische Entscheidungsträger, die unbequeme Wahrheiten aussprachen, dafür<br />
abgestraft. <strong>Die</strong> Krise seit 2008 hat nach meiner Beobachtung dazu geführt, dass die<br />
Bürger den Mut zur Wahrheit deutlich mehr wertschätzen, weil Wahrheit uns überhaupt<br />
erst in Handlungsfähigkeit versetzt. Ohne Klarheit gibt es keine zielführende Planung,<br />
auch für den Einzelnen erschwert es die Lebensplanung. Wir alle haben unsere Verdrängungsmechanismen,<br />
wir ignorieren gerne, insbeson<strong>der</strong>e dann, wenn das Betrachtete auf<br />
abstrakten Prognosen beruht, wie es bei einem Blick in die <strong>Zukunft</strong> meist <strong>der</strong> Fall ist. In<br />
den ländlichen Räumen hat sich die Verän<strong>der</strong>ungsdynamik jedoch <strong>der</strong>art beschleunigt,<br />
dass eine Verdrängung nicht mehr funktionieren wird. Wir müssen jetzt die Zeit und<br />
Gestaltungsspielräume, die wir noch haben, nutzen.<br />
Ich frage mich, wenn ich ein Ranking und rot markierte <strong>Dörfer</strong> sehe – auch wenn dies<br />
nicht als Label indiziert ist: Was heißt das für die Orte ? Führt das in Resignation ? Wird<br />
es verdrängt ? Wie beeinfl usst das die Menschen ? Als Kirche sind wir bei <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Abdeckung<br />
und fl ächendeckenden Präsenz in den ländlichen Räumen in einer ganz ähnlichen<br />
Lage wie <strong>der</strong> Staat. Es geht um die Frage <strong>der</strong> Leistungsfähigkeit und <strong>der</strong> Infrastruktur. Es<br />
geht um Fragen <strong>der</strong> fortzuführenden Regionalisierung, es geht um Fragen <strong>der</strong> Zentralisierung,<br />
es geht um Fragen, wie wir ehrenamtliches Engagement einbeziehen. Wir haben sehr<br />
ähnliche Reaktionsmechanismen, aber vielleicht auch einige an<strong>der</strong>e Blickwinkel.<br />
In <strong>der</strong> Studie heißt es: regionale Ungleichheiten akzeptieren. Als kirchliche Vertreterin sage<br />
ich, dass das im Grundgesetz verankerte Leitbild <strong>der</strong> Gleichwertigkeit <strong>der</strong> Lebensverhält-<br />
Herausfor<strong>der</strong>ungen aus Sicht <strong>der</strong> Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau 57
58<br />
nisse ein wichtiger, jedoch weicher Faktor ist. Führen wir uns vor Augen, in welcher Situation<br />
unser Grundgesetz 1949 geschrieben wurde: in einem zerstörten Land. Man wusste<br />
nicht, welche Region in Deutschland einmal blühen wird, wir wussten nicht, dass Bayern<br />
einmal von einem Empfänger- zu einem Geberland wird im bundesweiten Finanzausgleich.<br />
Deshalb macht es für mich Sinn, dass in diesem Grundgesetz eine Solidargemeinschaft<br />
festgeschrieben wurde, auch insbeson<strong>der</strong>e eine regionale Solidargemeinschaft. Wir<br />
als Kirche plädieren – wissend, dass wir uns damit auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Leitbilddiskussion<br />
befi nden – für großräumige Verantwortungsgemeinschaften zwischen Stadt und Land,<br />
eine Lastenteilung und Ko-Evolution. Wir sind für einen Finanzausgleich, sagen aber<br />
ganz klar, es müssen Effi zienzkriterien angelegt werden – eine weitere Gießkannenför<strong>der</strong>ung<br />
können wir uns nicht erlauben. Für mich liegt die Verantwortung beim gesamten<br />
Staat, das ist Teil unseres Staatswesens. Und natürlich hat die Frage <strong>der</strong> Gleichwertigkeit<br />
ganz massive sozialpolitische Auswirkungen. Wir haben vor diesem Hintergrund unseren<br />
EKHN-Gestaltungsprozess mit <strong>der</strong> Perspektive 2025 entsprechend ausgerichtet, er<br />
folgt dem Gedanken: Abschied vom Gleichheitsprinzip. Bei uns wird es in <strong>der</strong> künftigen<br />
kirchlichen För<strong>der</strong>ung keine »Gießkanne« mehr geben.<br />
Ein weiterer Vorschlag <strong>der</strong> Studie lautet: gesetzliche Vorgaben vereinfachen und infrastrukturelle<br />
Standards anpassen. Das unterstütze ich sofort. Allerdings heißen angepasste Standards<br />
in einigen Teilen vereinfachte Standards, z. B. beim Abwasser, in an<strong>der</strong>en heißt es<br />
aber sogar mehr Ressourceneinsatz, siehe Schulen. Angepasste Standards können also<br />
sehr viel einfacher sein, sie können aber auch komplexer sein, z. B. wenn man jahrgangsübergreifende<br />
Klassen einführt. Vereinfachung heißt nicht einfach nur simplifi zieren,<br />
son<strong>der</strong>n bedarfsangemessen ausrichten und fl exibilisieren.<br />
Siedlungsstruktur und zu versorgende Fläche sind beim kommunalen Finanzausgleich zu<br />
berücksichtigen. <strong>Die</strong> Wichtigkeit wurde am Beispiel <strong>der</strong> technischen Infrastruktur, <strong>der</strong><br />
linienförmigen Infrastruktur, bereits eindrucksvoll aufgezeigt. Wir selber haben in unserer<br />
Landeskirche einen gewissen Flächenfaktor bei <strong>der</strong> Pfarrstellenbemessung, weil<br />
natürlich auf <strong>der</strong> Hand liegt, dass ein Pfarrer, <strong>der</strong> mehrere <strong>Dörfer</strong> bedient, einen an<strong>der</strong>en<br />
Zeitaufwand hat. Elementar ist für uns, dass z. B. auch im Bereich <strong>der</strong> Diakonie<br />
dieser Flächenfaktor in den Pfl egesätzen berücksichtigt wird. <strong>Die</strong> Anfahrt zur Pfl ege<br />
muss in die Kalkulation einbezogen werden, sonst können Diakonie und Caritas ihren<br />
fl ächendeckenden Versorgungsauftrag nur unter schwierigen Bedingungen fortführen.<br />
Der Flächenfaktor ist also auf vielen Ebenen zu berücksichtigen. Zum aktiven Flächenmanagement<br />
muss ich nicht viel sagen, ich selbst bin promovierte Bodenkundlerin und<br />
seit Langem für das Th ema Innen- statt Außenentwicklung engagiert. Wir wissen, Kommunen<br />
retten sich we<strong>der</strong> aus ihrer Finanzsituation noch aus ihrer demografi schen Falle,<br />
wenn sie auf Neubaugebiete setzen, während gleichzeitig die Ortskerne veröden.<br />
Bei <strong>der</strong> Handlungsempfehlung, Entscheidungen über das <strong>Zukunft</strong>spotenzial von <strong>Dörfer</strong>n<br />
zu treff en, wird es für mich brisant. Auch wenn die Indikatoren und die Wertung <strong>der</strong><br />
Indikatoren als weiter ausbaufähig bezeichnet werden, also noch keine völlig harten Auswahlkriterien<br />
darstellen, empfehlen sie doch in letzter Konsequenz bestimmte Ortsteile<br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«
aufzulösen, nämlich die, <strong>der</strong>en Indikatoren auf rot stehen. Es wird natürlich darauf hingewiesen,<br />
dass man Räume schaff en könnte, wo bestimmte <strong>Die</strong>nstleistungen, bestimmte<br />
staatliche Versorgungsaufgaben gewährleistet werden und Räume, wo diese Standards<br />
nicht mehr einzuhalten sind. Ich meine, dass diese Indikatoren, die stark auf statischen<br />
Analysen beruhen, sehr wichtig sind, dass wir aber trotzdem zu einer sehr gründlichen<br />
und individuellen Analyse eines jeden Dorfes kommen müssen. Je<strong>der</strong> Ort ist individuell<br />
und seine Bewohner sind individuell. Ein schematisches Ranking greift da womöglich zu<br />
kurz. Nicht zuletzt steht für mich die wichtige Frage <strong>der</strong> demokratischen Legitimation<br />
im Raum. Wie wollen wir, auch die Volksvertreter, entscheiden, welcher Ort aufzugeben<br />
ist ? Wir können natürlich sagen, es ist die Macht des Faktischen. Aber wie sollen demokratische<br />
Prozesse in diesen Räumen ablaufen ?<br />
Großgemeinden bilden und mit mehr Handlungsspielräumen versehen. Ich frage mich, ob<br />
das auch für Kreise gilt, die bereits relativ große Gemeinden haben, wie beispielsweise<br />
<strong>der</strong> Vogelsbergkreis mit seinen 19 Großgemeinden. Weiterhin frage ich mich: Großgemeinden<br />
– wie kommen wir bei einer jetzt bestehenden Situation interkommunaler Konkurrenz<br />
zu interkommunaler Kooperation, erst Recht unter dem Druck <strong>der</strong> Aufgabe einzelner<br />
Ortsteile ? Setzt das nicht einen Reifegrad voraus ? Setzt das nicht voraus, dass die<br />
politischen Mechanismen, die bisher funktionieren, ein Stückweit umgekehrt werden ?<br />
Meiner Meinung nach müsste auch die Ausbildung eines regionalen Bewusstseins etwas<br />
an<strong>der</strong>s verlaufen als bisher. Denn Bürger identifi zieren sich normalerweise mit dem konkreten<br />
Ort, in dem sie leben, und für diesen Ort engagieren sie sich auch. Es wäre also eine<br />
große Lernaufgabe, regionales Bewusstsein für eine neue Großgemeinde herauszubilden.<br />
Stichwort Augenhöhe – wie funktioniert das zwischen stark und schwach ? Welche Kosten<br />
entstehen durch Kooperation ? Kooperationen sind kein Selbstzweck, son<strong>der</strong>n sie<br />
verursachen auch Kosten. Ich selbst beschäftige mich <strong>der</strong>zeit mit diesem Th ema, da innerhalb<br />
unserer Landeskirche größere Dekanatsfusionen anstehen. Wir stehen dabei vor<br />
den gleichen Fragen, vor den gleichen Wi<strong>der</strong>ständen und Ängsten, aber auch unter den<br />
gleichen materiellen Sparzwängen. Wir setzen uns sehr bewusst damit auseinan<strong>der</strong>.<br />
Eine weitere Empfehlung: In ländlichen Regionen Handlungsautonomie gewähren, frei verwendbare<br />
Regionalkontingente schaff en und Entscheidungen auf die Ebene <strong>der</strong> Region zurück<br />
verlagern. Das Subsidiaritätsprinzip ist auch für die evangelische Kirche, über ihre Synoden,<br />
über ihre Kirchenvorstände ein ganz wesentliches Prinzip, und wir haben damit<br />
positive Erfahrungen. Wir wissen, dass auch einzelne LEADER-Regionen mit Regionalbudgets<br />
arbeiten und man dort ebenfalls positive Erfahrungen hat. Allerdings macht es<br />
für mich nur dann Sinn, wenn die fi nanzielle Ausstattung tatsächlich so ist, dass man<br />
wirklich gestalten kann und echte Entscheidungsbefugnisse vorliegen. Das setzt auch<br />
voraus, dass mit den Menschen gestaltet wird und nicht für sie. Das hat einen perspektivischen<br />
Aspekt. Bei uns werden in Bezug auf unsere Dekanate bestimmte Finanzmittel<br />
zugewiesen, allerdings führen auch wir in diesem Kontext die Diskussion über den Verbleib<br />
und die Wahrnehmung <strong>der</strong> Pfl ichtaufgaben.<br />
Herausfor<strong>der</strong>ungen aus Sicht <strong>der</strong> Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau 59
60<br />
Gegen die Verunstaltung <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong> vorgehen. <strong>Die</strong> Studie empfi ehlt unter an<strong>der</strong>em das Abtreten<br />
von Schrottimmobilien an die Kommunen, bringt aber gleichzeitig sehr bewusst<br />
die Komponente des grundgesetzlichen Schutzes des Eigentums mit ein. Mich würde<br />
interessieren, wie gehen denn zum Beispiel Sparkassen mit solchen Schrottimmobilien<br />
um ? Dazu noch ein Gedanke: Der Blick auf verfallende Gebäude ist off ensichtlich sehr<br />
kulturspezifi sch. In Südeuropa, im mediterranen Raum, erlebt man das zum Beispiel<br />
ganz an<strong>der</strong>s.<br />
Wegziehende aus verfallenen <strong>Dörfer</strong>n unterstützen. Wer soll in einen solchen Fond einzahlen<br />
? Wie sieht die praktische Begleitung aus ? Entsteht ein sozialer Druck zum Umzug ?<br />
Was bedeutet das für die individuellen Freiheitsrechte, für die Freizügigkeit ? Für uns als<br />
Kirche ist es wichtig, dass wir nicht nur über die sehr wichtigen Strukturen, son<strong>der</strong>n auch<br />
über die Individuen sprechen und <strong>der</strong>en Bedürfnisse im Blick behalten. Wir sehen uns<br />
da in einer Art anwaltschaftlicher Funktion. Alte Bäume soll man nicht so einfach rausreißen.<br />
Denn was würde das hinsichtlich <strong>der</strong> individuellen Ansprüche bedeuten ? Damit<br />
kommen wir meiner Ansicht nach zum eigentlichen Knackpunkt dieser Studie: Wie ist<br />
die Verhältnisbestimmung zwischen den Komponenten <strong>der</strong> Selbstbestimmung des Bürgers,<br />
<strong>der</strong> Solidargemeinschaft und <strong>der</strong> Macht des Faktischen ? Wie fi nden wir einen angemessenen,<br />
guten Ausgleich unter den Bedingungen des Schwindens unserer fi nanziellen<br />
Ressourcen und unter dem Druck des demografi schen Wandels ? Das ist für mich eine <strong>der</strong><br />
zentralen Fragen unserer <strong>Zukunft</strong>sgestaltung. Dabei geht es auch um Trauerarbeit, um<br />
Entheimatung. Erfahrungen bei <strong>der</strong> Umsiedlung von Bergbaudörfern zeigen, dass <strong>der</strong><br />
Aspekt <strong>der</strong> Rechtzeitigkeit wichtig ist, gerade in Bezug auf alte Menschen.<br />
Selbstverantwortungsräume außerhalb <strong>der</strong> Garantiegebiete. Der Begriff <strong>der</strong> Selbstverantwortung<br />
ist lei<strong>der</strong> vielfach missbräuchlich benutzt und neoliberal verbrannt worden. Uns<br />
geht es um eine Selbstverantwortung durch das Gestaltungsprinzip »Stärkung <strong>der</strong> Selbstorganisation«<br />
und Eigenverantwortung <strong>der</strong> Kirche in <strong>der</strong> Region. Wir brauchen eine<br />
simultane Stärkung <strong>der</strong> Bürgerbeteiligung sowie eine Stärkung des gestaltenden Staates.<br />
Ohne näher auf das Th ema Finanzkrise und Überschuldung einzugehen, möchte ich nur<br />
darauf hinweisen, dass die Staatsverschuldung zusätzlich zu den bereits vorhandenen Defi<br />
ziten in massivem Maße zugenommen hat, so dass ich befürchte, wenn wir nicht bald<br />
einen gestaltenden Staat bekommen, dann stehen wir vor Herausfor<strong>der</strong>ungen, mit denen<br />
wir heute noch gar nicht rechnen.<br />
Regionen brauchen individuelle Lösungen, es gibt keine Patentrezepte. Zur Findung neuer<br />
Ideen gilt es Kreativität zu för<strong>der</strong>n und bürgerschaftliches Engagement zu unterstützen.<br />
Das ist ein entscheiden<strong>der</strong> Faktor für die Lebensqualität und damit für die <strong>Zukunft</strong>sfähigkeit<br />
<strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>. <strong>Die</strong> evangelische Kirche unterstützt das je<strong>der</strong>zeit, sie lebt davon,<br />
dass sich Menschen bei ihr gern aktiv engagieren. Allerdings wehren wir uns als Kirche<br />
dagegen, dass <strong>der</strong> Bürger für staatliche Pfl ichtaufgaben aufkommen soll. Es kann nicht<br />
sein, dass sich <strong>der</strong> Staat aus seinen verankerten Aufgaben immer weiter zurückzieht und<br />
verlangt, dass die Bürger es selbst richten. Punktuell wird das vielleicht nötig sein, das ist<br />
die Macht des Faktischen, aber auch da möchte ich eine gerechte Verhältnisbestimmung.<br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«
Unbedingt beachtet werden muss, wie das örtliche Potenzial für die Bürgerbeteiligung<br />
aussieht o<strong>der</strong> wie es um Orte bestellt ist, wo die Menschen in Problemlagen übrig geblieben<br />
sind. Wir brauchen dringend eine höhere Wertschätzung, eine Qualifi zierung<br />
des Ehrenamtes und echte Mitspracherechte. Der Bürger darf nicht als Lückenbüßer<br />
dienen. Und, machen wir uns nichts vor, solche Vorhaben verlangen eine professionelle<br />
Prozesssteuerung.<br />
Das Dorf war nie die pure Idylle, zu <strong>der</strong> es oft verklärt wurde. Es gab zu allen Zeiten<br />
Konfl ikte, Störungen und Außenseiter. Allerdings zeichnet sich das Dorf durch viel Engagement<br />
und hohes Gemeinschaftsgefühl aus. Ich glaube, gerade das wird uns bei den<br />
vor uns liegenden Aufgaben noch viel nutzen und höhere Wertschätzung erfahren.<br />
Zeit für neue Ideen auf dem Land. In <strong>der</strong> Studie werden Anstöße gegeben, aber insgesamt<br />
ist dieser Aspekt in <strong>der</strong> gesamten Diskussion noch zu wenig beleuchtet. Das Vorwort <strong>der</strong><br />
Studie regt an »<strong>Dörfer</strong> als Testfel<strong>der</strong> für die Postwachstumsgesellschaft« zu begreifen. Als<br />
Kirche sprechen wir schon lange von <strong>der</strong> Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels. Wir<br />
brauchen eine neue Wohlstands-, Arbeits-, Wohn- und Mobilitätsform – eine grundsätzliche<br />
Kehrtwende Richtung Nachhaltigkeit. Es wäre begrüßenswert, wenn wir die<br />
ländlichen Räume aktiv zu einer Postwachstumsgesellschaft gestalten. Wir werden uns<br />
darauf einstellen müssen, dass Transformationsprozesse vielfach einfach stattfi nden. Verän<strong>der</strong>ung<br />
ist nicht mehr die Ausnahme, son<strong>der</strong>n Dauerzustand. Umso wichtiger wird<br />
eine gleichzeitige Wertschätzung des Bestehenden. Gesellschaftliche Werte als gemeinsame<br />
Basis in diesen Transformationsprozessen sind unerlässlich, ebenso wie die Achtung<br />
<strong>der</strong> Würde des Einzelnen.<br />
Wofür engagiert sich die EKHN konkret ? Wir unterstützen Dorferneuerung, LEADER,<br />
generationsübergreifendes Wohnen, Nachbarschaftshilfe, Begegnungsstätten, Bürgerstiftungen.<br />
Wir haben für unser Kirchengebiet GIS-basiert sämtliche Kirchendaten und<br />
regionale Entwicklungsdaten zusammengefasst. Wir können demografi sche Daten, Kirchendaten,<br />
Arbeitsmarktdaten usw. in einem geografi schen Informationssystem im Zusammenhang<br />
abrufen und ablesen. Wir beteiligen uns an Stellungnahmen. Wie alle an<strong>der</strong>en,<br />
befi nden auch wir uns auf diesem Th emenfeld in einem Lernprozess. Ich wünsche<br />
mir von mir selber, von unserer Bewegung, genauso wie von allen an<strong>der</strong>en Akteuren, dass<br />
wir uns noch mehr mit unseren regionalen Entwicklungsprozessen befassen und uns vor<br />
allem intensiv daran beteiligen.<br />
»Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.«<br />
Jahreslosung <strong>der</strong> evangelischen Kirche 2012<br />
Herausfor<strong>der</strong>ungen aus Sicht <strong>der</strong> Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau 61
Dorfkirchen im demografi schen Wandel<br />
Frie<strong>der</strong>ike Costa, Pastorin <strong>der</strong> <strong>Die</strong>trich-Bonhoeffer-Gemeinde Jena<br />
Seit 20 Jahren bin ich Pastorin in <strong>der</strong> Evangelischen Kirche. Seit 20 Jahren war ich – da<br />
Th üringen nun einmal reich an alten Dorfkirchen gesegnet ist – quasi nebenamtlich<br />
immer wie<strong>der</strong> Bauleiterin diverser Dorfkirchenbaustellen. Dafür habe ich als Th eologin<br />
natürlich nie eine Ausbildung erfahren. Gesun<strong>der</strong> Menschenverstand, Entschlossenheit,<br />
vor allem aber die Liebe zum Objekt sind vonnöten, wenn man sich neben <strong>der</strong> pastoralen<br />
Arbeit <strong>der</strong> Aufgabe einer Dorfkirchensanierung stellen will. Eine <strong>der</strong>artige Sanierung<br />
muss man sich vorher gut überlegen. Man braucht die richtigen Baupartner und man<br />
braucht hilfreiche Entscheidungsträger innerhalb <strong>der</strong> Kirchenbauverwaltung, die mit<br />
einer Kirchgemeinde am gleichen Strang ziehen. Nur wenn das gelingt, ist einiges möglich.<br />
Auf vier Fragestellungen möchte ich kurz eingehen:<br />
1. Wofür stehen die alten Dorfkirchen, diese Kirchengebäude, die auf uns von den Vorvätern<br />
und Vormüttern überkommen sind ? Warum ist es wichtig, an ihnen festzuhalten<br />
?<br />
In meinen Augen sind diese Dorfkirchen in gewisser Weise das kulturelle, das religiöse<br />
und auch das personale Gedächtnis eines Ortes. Ungezählte Generationen haben hier auf<br />
Gottes Wort gehört, haben die Kin<strong>der</strong> getauft, junge Paare getraut und die Alten begraben.<br />
Lebensrhythmus und Jahreszeitenrhythmus waren sinnstiftend mit dem kirchlichen<br />
Ritus verbunden. In guten und in schweren Zeiten war das Gotteshaus Andachts- und<br />
Zufl uchtsort <strong>der</strong> Gläubigen. Hier konnte man Gottes Nähe erfahren. Im Buch Off enbarung,<br />
<strong>der</strong> großen Vision des Sehers Johannes ist die Rede von <strong>der</strong> Hütte Gottes bei den<br />
Menschen. Im 21. Kapitel heißt es, »…und Gott wird bei ihnen wohnen und sie werden<br />
sein Volk sein und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen«. Nicht ohne<br />
Grund waren in früheren Zeiten die alten Friedhöfe in ganz unmittelbarer Kirchennähe.<br />
Das Kirchengebäude zu erhalten, es zu bewahren, es vielleicht auch weiterzuentwickeln,<br />
in jedem Falle aber zu pfl egen und zu schmücken, das gehörte zum gelebten Glauben<br />
einer Gemeinde und das wurde von denen, die es taten, immer als segensreich empfunden.<br />
Und oft sind so auch reiche künstlerische Zeugnisse ihrer Gottesverehrung als<br />
Kunstschätze auf uns übergegangen. Menschen, die ihre Kirche lieben, hat es zu allen<br />
Zeiten gegeben. Daran können wir und daran sollten wir anknüpfen.<br />
2. Was macht es den Gemeinden heute vor Ort so schwer, sich <strong>der</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung<br />
einer Kirchensanierung zu stellen ?<br />
Da nenne ich nur einige wenige Stichworte. Auch wir als Kirche haben das Problem des<br />
Mitglie<strong>der</strong>schwundes. <strong>Die</strong> Entvölkerung und Überalterung <strong>der</strong> ländlichen Kirchgemeinden<br />
machen es schwer, ausreichend Mitstreiter in den kleinen und kleinsten <strong>Dörfer</strong>n<br />
Dorfkirchen im demografi schen Wandel 63
64<br />
zu fi nden. Durch die Strukturreformen innerhalb <strong>der</strong> Evangelischen Kirche entstehen<br />
immer größer werdende Pfarrämter im ländlichen Raum mit zum Teil zehn bis zwölf<br />
Dorfkirchen. Damit sind hauptamtliche Mitarbeiter dauerhaft am Limit ihrer Kräfte.<br />
Schließlich sind auch bei uns die fi nanziellen Mittel gering und Rücklagen gibt es so<br />
gut wie keine. Das Proze<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Benehmens- o<strong>der</strong> Einvernehmensherstellung mit den<br />
Denkmalschutzbehörden ist sehr bürokratisch, oft auch mühsam, zeitraubend o<strong>der</strong> demotivierend.<br />
Und dennoch konnten in den zurückliegenden 20 Jahren erstaunlich viele<br />
altehrwürdige Kirchengebäude saniert und bewahrt werden.<br />
3. Wie gelingt es, eine Kirchensanierung gut auf den Weg zu bringen ?<br />
Auch hier nur ein paar Stichworte. Das erste und wichtigste ist <strong>der</strong> Idealismus. Den<br />
sollten Gemeindeleitungen und Pfarrerschaft vorleben. Der Mehrwert, <strong>der</strong> Nutzeff ekt,<br />
das, was ich selber einzubringen vermag, macht mich und macht an<strong>der</strong>e reich. Weiterhin<br />
entscheidend ist eine gute Planung und Kommunikation des Projektes. Ich muss wissen:<br />
Was ist unser angestrebtes Ziel, wen will ich dafür gewinnen und begeistern, und wer<br />
könnten unsere Partner sein ? Nicht zu unterschätzen ist schließlich auch <strong>der</strong> Realitätssinn:<br />
Was ist sinnvoll und machbar, was überfor<strong>der</strong>t uns, worauf sollten wir verzichten ?<br />
Von Martin Luther ist das schöne Wort überliefert: »Wo Gott nicht segnet, da hilft keine<br />
Arbeit, wo er nicht behütet, da hilft keine Sorge«. Wir brauchen bei allem, was wir in <strong>der</strong><br />
Dorfkirchensanierung unternehmen, eine große Zuversicht und echtes Gottvertrauen.<br />
4. Welchen Gewinn haben die Gemeinden vor Ort ?<br />
Meine Erfahrungen sind: Gemeinsame Vorhaben umzusetzen, wie z. B. die Wie<strong>der</strong>belebung<br />
eines alten Backhauses auf dem Dorfplatz, eine alte Brücke wie<strong>der</strong> begehbar<br />
zu machen o<strong>der</strong> die Kirche in <strong>der</strong> Mitte des Dorfes zu sanieren, ist identitätsstiftend<br />
und heilsam in einer Zeit <strong>der</strong> zunehmenden Individualisierung, <strong>der</strong> Entfremdung und<br />
<strong>der</strong> Entvölkerung. Je<strong>der</strong> Erfolg, je<strong>der</strong> noch so kleine gewonnene Teilabschnitt bei solch<br />
einem Projekt ist es wert, gefeiert zu werden. <strong>Die</strong> identitätsstiftende Wirkung des gemeinsamen<br />
Engagements und Erlebens ist unschätzbar für das Dorf. Oft erlebe ich als<br />
Pastorin den Eff ekt, dass sich auf diesem Wege Bürgergemeinde und Kirchengemeinde<br />
wie<strong>der</strong> näher kommen, und dass sie im glücklichen Fall ihre Kräfte bündeln. Ich beobachte,<br />
dass sich viele Menschen in Vereinen und Initiativen zur Rettung und Sanierung<br />
von Dorfkirchen engagieren, obwohl sie gar keiner Religionsgemeinschaft mehr<br />
angehören. So, wie sich in diesem Falle die Menschen öff nen, öff nen sich auch manche<br />
Kirchengebäude im Sinne einer erweiterten Nutzung ihrer Räumlichkeiten über den<br />
religiösen Gebrauch hinaus.<br />
Abschließend ein aktuelles Beispiel aus <strong>der</strong> Bonhoeff er-Gemeinde in Jena. <strong>Die</strong> Bonhoeff<br />
er-Gemeinde ist eine typische Stadtrandgemeinde. Vier eingemeindete <strong>Dörfer</strong>, alle<br />
haben eine Dorfkirche, dazwischen Neubaugebiete und eine Wohnsiedlung aus den<br />
1930er-Jahren. Beim jetzt schon dritten Winzerlaer Nikolausmarkt rund um die Winzerlaer<br />
Dorfkirche stellten wir fest, diese Kirche ist für so ein Projekt <strong>der</strong> zentrale Ort<br />
und wie ein großes bergendes Dach für eine Vielzahl von Vereinen und Initiativen o<strong>der</strong><br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«
Einzelpersonen, die hier an drei Tagen ihre freundlichen und nicht kommerziellen Angebote<br />
in und um die Kirche herum unterbreiten. Aus diesem Anlass o<strong>der</strong> auch bei an<strong>der</strong>en<br />
kulturellen Angeboten, wie Konzerten, Lesungen, Dorfjubiläen, setzen viele Menschen<br />
wie<strong>der</strong> einmal ihren Fuß über die Kirchenschwelle. Sie schauen sich um, haben eine<br />
schöne Zeit, staunen vielleicht. Ich denke, wer sich einmal bei uns wohl gefühlt hat, wer<br />
in unseren Kirchen gute Begegnungen hatte und Erfahrungen machen konnte, den werden<br />
wir in <strong>Zukunft</strong> auch erreichen und ansprechen können, wenn es darum geht, dieses<br />
Gebäude nicht nur für die jeweilige Kirchgemeinde, son<strong>der</strong>n für unsere gesamte Gesellschaft<br />
zu bewahren und zu erhalten.<br />
Dorfkirchen im demografi schen Wandel 65
Praxisorientierte Unterstützung für Akteure<br />
Susanne Schaab, Projektleiterin »Kompetenznetz Vitale Orte 2020« und<br />
Bürgermeisterin <strong>der</strong> Stadt Schotten/Vogelsbergkreis<br />
Ich stelle Ihnen das Kompetenznetz Vitale Orte 2020 vor, welches in erster Linie als Internetplattform<br />
zu beschreiben ist. Als ein Projekt <strong>der</strong> Hessischen Nachhaltigkeitsstrategie<br />
wurden im Jahr 2009 von Seiten <strong>der</strong> Landesregierung zu unterschiedlichen Th emenfel<strong>der</strong>n<br />
Projektgruppen gebildet. <strong>Die</strong>se Projektgruppen setzen sich aus unterschiedlichen<br />
zivilgesellschaftlichen Bereichen zusammen, unter an<strong>der</strong>em wurde auch die Projektgruppe<br />
Vitale Orte 2020 gebildet. An<strong>der</strong>e Projektgruppen bezogen sich z. B. auf die Th emenbereiche<br />
Elektromobilität, Zusammenarbeit Hessen mit Vietnam und CO2-neutrale Verwaltung.<br />
Mit dabei in unserer Projektgruppe sind unterschiedlichste Akteure, hessische<br />
Städte und Gemeinden, Regionalforen, Städteplaner, Kirchenvertreter und an<strong>der</strong>e. Der<br />
Auftrag lautete, nun ein Projekt zu diesem Th ema zu entwickeln: Was könnte das eine,<br />
einzige und entscheidende Projekt sein, um dieses Ziel zu erreichen ? Wir kamen relativ<br />
schnell zu dem Ergebnis, die demografi schen Probleme sind horizontal, vertikal und so<br />
intensiv, dass es das eine Projekt nicht gibt. <strong>Die</strong> Probleme sind fl ächendeckend vorhanden<br />
– was uns wirklich fehlt, ist im Grunde die Vernetzung.<br />
Wir wissen inzwischen alle, dass die richtige Vernetzung von Politik, von Wirtschaft,<br />
von Gesellschaft ein hoher Erfolgsfaktor ist bei <strong>der</strong> Frage, wie wir dem demografi schen<br />
Wandel begegnen können. Nur vernetzt und konzentriert ist es möglich, gemeinsam zu<br />
agieren und zu reagieren. Wir kamen zu <strong>der</strong> Überzeugung, dass eine wirksame Vernetzung<br />
von Wissen, von Fortbildung, von För<strong>der</strong>ung am besten über eine internetbasierte<br />
Plattform zu erreichen ist. <strong>Die</strong>se Plattform wendet sich an all diejenigen, die sich mit dem<br />
Th ema beschäftigen und die etwas dafür tun wollen, dass es in ihrem Dorf lebenswert<br />
bleibt. Beson<strong>der</strong>s wichtig war uns, damit jene Akteure anzusprechen, bei denen <strong>der</strong> Problemdruck<br />
vor Ort schon sehr groß ist, dadurch aber auch eine hohe Motivation zum<br />
koordinierten gemeinsamen Handeln zu vermuten ist. Das sind in erster Linie hauptamtliche<br />
Akteure vor Ort, das sind Verwaltungen, das sind Regionalmanager, aber natürlich<br />
auch ehrenamtliche Kräfte.<br />
Das ehrenamtliche Engagement bei uns im ländlichen Raum ist im Übrigen nicht erst<br />
durch die demografi schen Verän<strong>der</strong>ungen groß geworden. Das war hier schon immer<br />
sehr groß und leistet erhebliche Beiträge zur regionalen Wertschöpfung. Regionalentwicklung<br />
und ehrenamtliches Engagement sind eng verknüpft und nicht zuletzt entsteht<br />
Wertschöpfung daraus, dass hier Lebensbedingungen geschaff en und angeboten werden,<br />
die man in städtischen Bereichen und Ballungszentren teuer einkaufen muss. Auf dem<br />
Land ist es beispielsweise möglich, mit Ehrenamt unterschiedlichste Sportarten in den<br />
Orten anzubieten – in Frankfurt muss man in ein Fitnessstudio gehen und dafür viel<br />
Geld bezahlen.<br />
Praxisorientierte Unterstützung für Akteure 67
68<br />
Wir haben unser Kompetenznetz in drei Bausteine aufgeglie<strong>der</strong>t, <strong>der</strong>en Trennung uns<br />
sinnvoll erschien. Der eine Baustein ist Information und Vernetzung, die sogenannte Servicestelle<br />
Demografi e, die ich Ihnen gleich vorstelle. Der weitere Baustein ist <strong>der</strong> Bereich<br />
Weiterbildung und Beratung und <strong>der</strong> dritte Baustein sind Modellprojekte und Wettbewerbe.<br />
<strong>Die</strong> Servicestelle Demografi e, Information und Vernetzung, stellt Informationen über den<br />
demografi schen Wandel und seine Folgen zur Verfügung. Es werden Handlungsansätze<br />
aufgezeigt und sie bietet eine Plattform für die Vernetzung. <strong>Die</strong> unterschiedlichsten<br />
Gruppen, von Ehrenamtlichen, über Bürgermeister, Verwaltungsmitarbeiter bis hin zu<br />
im Sportverein Tätigen, benötigen Informationen zu vielfältigen Fragestellungen. Beson<strong>der</strong>s<br />
wichtig sind zum Beispiel immer wie<strong>der</strong> Möglichkeiten <strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung, <strong>der</strong> fi nanziellen<br />
Unterstützung. Je<strong>der</strong> einzelne kann irgendwo das für ihn Passende fi nden, es gibt<br />
viele Wege – vielleicht zu viele. Für viele ist <strong>der</strong> För<strong>der</strong>dschungel unüberschaubar und undurchdringlich.<br />
Wir haben uns gefragt: Kann man das nicht auch zusammenfassen und<br />
für Interessenten einfacher darstellen ? Genau das haben wir umgesetzt. Wenn Sie auf<br />
die Internetseite unseres Kompetenznetzes gehen, fi nden Sie eine För<strong>der</strong>datenbank – Sie<br />
geben das Stichwort ein, ob das die Sanierung Ihres Fußballplatzes ist o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Aufbau<br />
einer Nachbarschaftshilfe, und dann bekommen Sie die För<strong>der</strong>möglichkeiten aufgezeigt.<br />
Wir haben das sehr benutzerfreundlich und zeitsparend aufgebaut.<br />
<strong>Die</strong> Servicestelle Demografi e führt auch Veranstaltungen durch, die wir als Praxisforen<br />
konzipieren. In einem ersten Teil werden rechtliche Rahmenbedingungen dargelegt und<br />
im zweiten Teil folgt die Vorstellung konkreter Praxisbeispiele. Entscheidend ist, dass die<br />
Beispiele tatsächlich bereits umgesetzt wurden und ein Problem lösen. Das erste Praxisforum<br />
fand im März 2011 hier in Romrod statt zum Th ema »Bewährte Organisationsformen<br />
für Projekte neu entdeckt«. Das zweite Praxisforum führten wir auf dem Hessentag<br />
zu Initiativen <strong>der</strong> Nahversorgung auf dem Lande durch und das nächste Praxisforum<br />
beschäftigt sich mit <strong>der</strong> Gesundheitsversorgung. Auch dort wird es so sein, dass zwei<br />
Ministerien, das Wirtschafts- und das Sozialministerium, rechtliche und politische Rahmenbedingungen<br />
darstellen, die Kassenärztliche Vereinigung sich anschließt, und wir<br />
dann konkrete Beispiele aus <strong>der</strong> Praxis aufzeigen, unter an<strong>der</strong>em die unsrigen hier im<br />
Vogelsbergkreis.<br />
Der zweite Baustein dieses Kompetenznetzes ist Weiterbildung und Beratung. Wir haben<br />
zusammengefasst: Wer bietet in Hessen o<strong>der</strong> auch über die Hessischen Grenzen hinaus<br />
Weiterbildung an und für wen. Uns ist es wichtig, Weiterbildungsbedarf auch überhaupt<br />
erst zu ermitteln. Wir haben in diesem Zusammenhang 60 hessische Behörden gefragt,<br />
wie sie das Th ema Demografi e sehen: Haben sie schon etwas davon gehört, in welcher<br />
Hinsicht sehen sie sich selbst betroff en ? Gibt es behördenintern Probleme, Folgen <strong>der</strong><br />
Demografi e, wie sieht es in ihrem Arbeitsplatzumfeld aus usw.? <strong>Die</strong> Ergebnisse sind sehr<br />
interessant und führen jetzt im Weiteren dazu, dass wir spezielle Weiterbildung für Behörden<br />
aller Hierarchien anbieten werden. <strong>Die</strong>ser Baustein Weiterbildung und Beratung<br />
steht organisatorisch in <strong>der</strong> Verantwortung <strong>der</strong> Stabstelle Ländlicher Raum des Regierungspräsidiums<br />
Gießen, dort werden auch die kontinuierlichen Aktualisierungen vor-<br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«
genommen. Sie können sich also immer auf aktuellstem Stand darüber informieren, wo<br />
eine für Sie passende Fortbildungsveranstaltung stattfi ndet. Wir freuen uns natürlich,<br />
wenn Sie selbst ein Angebot haben und uns Ihre Weiterbildungsmaßnahme anbieten.<br />
Der dritte Baustein, Modellprojekte und Wettbewerbe, soll Mut machen, soll animieren<br />
neue Wege auszuprobieren und natürlich auch erfolgreiche Strategien prämieren. Ein<br />
wichtiges Modellprojekt ist die neue Dorferneuerung, weil hier ein Umdenken stattfi ndet.<br />
<strong>Die</strong> Dorferneuerung begreift das Dorf nicht länger als Insel, son<strong>der</strong>n es wird dessen<br />
Einbindung in den gesamtkommunalen Kontext betrachtet. Auf dieser Ebene ist <strong>der</strong><br />
Bedarf zu ermitteln und sind Strategien zu formulieren, die wie<strong>der</strong>um im einzelnen Dorf<br />
o<strong>der</strong> bei Bedarf in einem Zusammenschluss von <strong>Dörfer</strong>n verankert werden. Den Wettbewerb<br />
»Unserer Dorf hat <strong>Zukunft</strong>« haben wir ebenfalls aufgenommen. Viele bewährte<br />
Instrumente funktionieren nicht mehr, die Auslastung <strong>der</strong> Infrastruktur geht zurück,<br />
<strong>der</strong> Einzelhändler schließt, <strong>der</strong> Arzt ist nicht mehr da – bleibt die Frage: Welche Ideen<br />
entwickeln die Menschen vor Ort für ihr Dorf, um gegenzusteuern ? Wir bieten auch hier<br />
Informationen und Links zu bundesweiten Modellprojekten und Wettbewerben an.<br />
Wir müssen nicht alles neu erfi nden, oftmals gibt es an<strong>der</strong>norts schon gute Lösungen, die<br />
auch bei uns Anwendung fi nden könnten. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite stehen wir natürlich in<br />
gewisser Konkurrenz mit an<strong>der</strong>en Bundeslän<strong>der</strong>n. Wer hat die besten Rahmenbedingungen<br />
für seine ländlichen Räume, wer hat die besten gesetzlichen Grundlagen, um seine<br />
ländlichen Orte am Leben zu erhalten ? Der Blick über die Landesgrenzen ist also aus<br />
mehreren Gründen sehr interessant.<br />
Ich möchte auf eine sehr hilfreiche und relativ neue Informationsquelle hinweisen: die<br />
Gemeindedatenbank. Hier sind für alle 426 hessischen Kommunen, alphabetisch geordnet,<br />
die Daten zur demografi schen Entwicklung abrufbar. Alle Zahlen, die wir früher<br />
mühsam recherchieren und zusammensuchen mussten, auf die wir teilweise gar keinen<br />
Zugriff hatten, z. B. Daten <strong>der</strong> Arbeitsagentur, können wir nun zusammengefasst frei zugänglich<br />
im Internet erhalten und damit die Entwicklungen <strong>der</strong> Gemeinden von A bis Z<br />
in Hessen verfolgen.<br />
Das Kompetenznetz Vitale Orte 2020, ich sagte es schon, war ein Ergebnis <strong>der</strong> Projektgruppe<br />
Vitale Orte 2020. <strong>Die</strong> hessische Nachhaltigkeitsstrategie hat sich entschieden, die<br />
meisten <strong>der</strong> 2009 begonnen Projekte zu beenden. Ich bin sehr froh, dass wir im Hessischen<br />
Wirtschaftsministerium nachhaltige Partner gefunden haben, die <strong>der</strong> Meinung<br />
waren und sind, dass das Kompetenznetz eine sehr gute Plattform ist, und dass es wichtig<br />
ist, in diesem Bereich zu vernetzen und kontinuierlich zu arbeiten. Das Kompetenznetz<br />
wird inzwischen vom Hessischen Wirtschaftsministerium weitergeführt. Das Wirtschaftsministerium<br />
betreut das Gesamtprojekt sowie den Baustein Modellprojekte und<br />
Wettbewerbe. Eng arbeiten wir auch mit <strong>der</strong> Hessenagentur zusammen, insbeson<strong>der</strong>e bei<br />
<strong>der</strong> Servicestelle Demografi e. Wir fühlen uns fachlich dort sehr gut aufgehoben. Auf die<br />
Stabstelle Ländlicher Raum beim RP Gießen hatte ich bereits hingewiesen, sie ist zuständig<br />
für den Baustein Weiterbildung und Beratung.<br />
Praxisorientierte Unterstützung für Akteure 69
70<br />
Ich bin <strong>der</strong> Überzeugung, dass wir hier ein wirksames Instrument für Erfahrungs- und<br />
Wissensaustausch auf die Beine gestellt haben und freue mich, wenn Sie das weitergeben.<br />
Kommunizieren Sie es Ihren Ortbeiräten, in die Vereine und an alle, die sich für dieses<br />
Th ema interessieren. Wir brauchen lokale Akteure, die umfassend und gut informiert<br />
sind, die kompetent sind, um letztlich auch die Bürger auf dem Weg mitzunehmen.<br />
Dafür haben wir mit dem Kompetenznetz eine verständliche, aktuelle und gut aufbereitete<br />
Möglichkeit geschaff en.<br />
Internet: https://www.hessen-nachhaltig.de/web/vitale-orte-2020<br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«
Auszüge aus den Diskussionen<br />
…<br />
Off enbar stellt <strong>der</strong> Begriff gleichwertiger, gleichartiger o<strong>der</strong> gleicher Lebensverhältnisse<br />
keinen Wert an sich dar. Vielmehr scheint die unmittelbar vor Ort empfundene Lebensqualität<br />
das Maß <strong>der</strong> Dinge. Und diese Lebensqualität kann, wie wir gehört haben,<br />
trotz vorhandener Defi zite auch in kleinen <strong>Dörfer</strong>n beneidenswert hoch sein. In einem<br />
Münchener Vorort mit dem Verdienst einer Kassiererin die Wohnung zu bezahlen und<br />
Freiraum für die Kin<strong>der</strong> zu suchen, ist eine sicherlich für den einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en erstrebenswerte<br />
Lebensqualität, ist aber denkbar wenig vergleichbar mit <strong>der</strong> durch Gemeinschaftssinn<br />
und Solidarität getragenen Qualität dörfl icher Strukturen.<br />
…<br />
Ein positiver Aspekt <strong>der</strong> stattfi ndenden Entwicklung: Im Spannungsfeld zwischen technologisch-ökonomischen<br />
Fragen und sozialen, humanen und sehr emotionalen Gesichtspunkten<br />
treten wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Mensch und kleinere Zellen mit ihren Initiativen und ihrer<br />
Kooperationsfähigkeit in den Vor<strong>der</strong>grund.<br />
…<br />
Im Allgemeinen ist ein ausgeglichener Wan<strong>der</strong>ungssaldo (»Null«) für <strong>Dörfer</strong> bereits als<br />
gutes Ergebnis einzuschätzen. Für eine wirkliche <strong>Zukunft</strong>sfähigkeit von ländlichen Siedlungsstrukturen<br />
wäre es natürlich notwendig, Zuwan<strong>der</strong>ung zu generieren. Es gibt <strong>Dörfer</strong>,<br />
in denen das gelingt.<br />
Auszüge aus den Diskussionen 71
72<br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«<br />
…<br />
Wenn wir über Zuzug sprechen, müssen wir uns vor allem selbstkritisch fragen, wie<br />
aufnahmebereit und integrationsfähig wir eigentlich sind. Gerade in den ländlichen Gebieten<br />
Th üringens, und genaugenommen ist das <strong>der</strong> ganze Freistaat: Wie hoch ist unsere<br />
eigene, ganz persönliche Bereitschaft zu Toleranz, Akzeptanz und Integration, wenn<br />
Menschen zuziehen, die vielleicht eine an<strong>der</strong>e Hautfarbe haben, aber zumindest eine<br />
an<strong>der</strong>e Lebenserfahrung und eine an<strong>der</strong>e Lebensauff assung, weil sie aus südlichen o<strong>der</strong><br />
östlichen Regionen Europas o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Welt kommen?<br />
…<br />
Integration scheint im ländlichen Raum leichter zu gelingen als in Städten. <strong>Die</strong> Vergangenheit<br />
hat bei den Flüchtlingsströmen nach dem 2. Weltkrieg o<strong>der</strong> auch <strong>der</strong> Zuwan<strong>der</strong>ung<br />
aus den ehemaligen Sowjetrepubliken gezeigt, dass in <strong>Dörfer</strong>n die Integration insbeson<strong>der</strong>e<br />
über das Vereinsleben gut funktioniert. In Hessen besuchen türkische Kin<strong>der</strong><br />
heute sogar evangelische Kin<strong>der</strong>gärten. Im ländlichen Raum gibt es keine ausgeprägte<br />
Separierung, wie sie oft in Großstädten <strong>der</strong> Fall ist. <strong>Die</strong> starken sozialen Spannungen, die<br />
in den Städten köcheln o<strong>der</strong> bereits brodeln, haben wir im ländlichen Raum nicht. Ohne<br />
Integration im ländlichen Raum zu idealisieren – <strong>der</strong> Umgang mit Migration ist dort ein<br />
an<strong>der</strong>er und Integration verläuft im Dorf aufgrund <strong>der</strong> Kleinräumigkeit, persönlichen<br />
Nähe und Nachbarschaft vielfach unkomplizierter.<br />
…<br />
<strong>Die</strong> entscheidende Frage ist doch: Was ist <strong>der</strong> Sinn des ländlichen Raumes? Wofür brauchen<br />
wir ihn eigentlich?<br />
Politik wird sehr stark aus einer städtischen Perspektive betrieben und viele <strong>der</strong> Entscheidungen<br />
werden von Städtern ohne Verständnis für den ländlichen Raum gefällt. Es<br />
gibt Stadtmenschen und es gibt Landmenschen. Landmenschen sind meist in <strong>der</strong> Stadt<br />
sehr unzufrieden und Stadtmenschen werden auf dem Land nicht glücklich. Aufgabe <strong>der</strong><br />
Politik wäre es, das als Grundlage aller Überlegungen zu akzeptieren und in Stadt und<br />
Land gleichermaßen ein gutes Lebensumfeld zu garantieren und zu ermöglichen. Das<br />
bringt uns sofort zum Begriff <strong>der</strong> Gleichwertigkeit, <strong>der</strong> nicht mit Gleichmäßigkeit o<strong>der</strong><br />
Gleichartigkeit übersetzt werden kann, son<strong>der</strong>n für Stadtmenschen die strukturellen Vorzüge<br />
<strong>der</strong> Stadt bedeutet sowie für Landmenschen die spezifi schen Vorzüge des Dorfes.<br />
…<br />
Familienfreundlichkeit des ländlichen Raumes entscheidet sich nicht nur anhand von sozialen<br />
Strukturen, Familienzentren o<strong>der</strong> Hilfsangeboten, son<strong>der</strong>n entscheidet sich auch<br />
an vermeintlich abwegigen Dingen wie Agrarför<strong>der</strong>ung. Eine fl ächenbezogene Agrarför<strong>der</strong>ung<br />
ist nicht familienfreundlich, weil sie nicht auf Arbeitsplätze abzielt. Wäre nicht
eine arbeitsplatzbezogene Agrarför<strong>der</strong>ung, die die Anzahl <strong>der</strong> Arbeitsplätze auf dem<br />
Land erhöht, wesentlich familienfreundlicher?<br />
…<br />
Ortsnahe Kin<strong>der</strong>betreuung, Kin<strong>der</strong>gärten und Grundschulen sind entscheidende Faktoren<br />
für ein Dorf. In Großstädten gibt es mitunter klassenübergreifenden Unterricht.<br />
Wenn das jedoch jemand für sein Dorf for<strong>der</strong>t, wird er des Rückschritts ins letzte Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
bezichtigt. Warum eigentlich?<br />
…<br />
Ein intaktes Vereinsleben ist eine Grundvoraussetzung für einen attraktiven Wohnstandort.<br />
…<br />
Wo immer es För<strong>der</strong>mittel gibt, ist auch ein Antragsteller. Nicht zwangsläufi g werden<br />
dadurch innovative und zukunftsfähige Projekte umgesetzt.<br />
…<br />
Wir beobachten zunehmend das Problem, dass För<strong>der</strong>mittel gar nicht mehr in Anspruch<br />
genommen werden können, weil die Co-Finanzierung fehlt. För<strong>der</strong>programme bringen<br />
nur dann Nutzen, wenn die Kommunen in <strong>der</strong> Lage sind und bleiben, die Co-Finanzierung<br />
zu stemmen.<br />
Auszüge aus den Diskussionen 73
74<br />
Unsere För<strong>der</strong>landschaft, die mehr einem Dschungel gleicht als einer Landschaft, sollte<br />
nach den Erfor<strong>der</strong>nissen des demografi schen Wandels neu geordnet werden.<br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«<br />
…<br />
Viel wichtiger als das Th ema Bevölkerungsrückgang ist <strong>der</strong> viel rasanter verlaufende<br />
Rückgang an sozialversicherungspfl ichtigen Beschäftigten. Eine Studie für Th üringen<br />
2030 zeigt, dass in einer ganzen Reihe von Landkreisen zwischen 2009 und 2030 <strong>der</strong><br />
Rückgang an sozialversicherungspfl ichtigen Beschäftigten über 50 % betragen wird. Im<br />
Kyff häuser-Kreis sogar knapp 60 Prozent. Zuwan<strong>der</strong>ung gewinnt dadurch noch drastischere<br />
Bedeutung.<br />
…<br />
Wenn Ergebnisse und Fakten <strong>der</strong>artiger Studien – und ich schließe die Studie zur <strong>Zukunft</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong> hier mit ein – falsch kommuniziert werden, entsteht bei jungen Menschen<br />
möglicherweise rasch <strong>der</strong> Eindruck: Du hast hier keine <strong>Zukunft</strong>. <strong>Die</strong>sen Eindruck<br />
müssen wir unbedingt vermeiden. Gerade auch im Hinblick auf den Altersdurchschnitt<br />
<strong>der</strong> Entscheidungsträger. Wer fällt Entscheidungen und für wen? Wenn wir uns Kommunen<br />
und Stadtparlamente anschauen, wenn wir uns <strong>Dörfer</strong> anschauen, die Waff enarsenale<br />
und Division <strong>der</strong> Senioren sind gut gefüllt – aber wo sind junge Leute organisiert?<br />
Wenn junge Leute das Gefühl haben, sie haben keine Perspektive, gehen sie weg und<br />
das beschleunigt natürlich die Abwärtsspirale. Neben wachsendem bürgerschaftlichen<br />
Engagement brauchen wir deshalb adäquates Engagement von Entscheidungsträgern. In<br />
vielen größeren Kommunen erfährt das Th ema Demografi e bereits die Einstufung als<br />
Querschnittsaufgabe, dies sollte sich weiter durchsetzen.<br />
…<br />
Was wird aus den Verlierern <strong>der</strong> Prozesse? Wo bleiben Freiheit und Gerechtigkeit? <strong>Die</strong><br />
Beantwortung dieser Fragen ist mitunter schmerzhaft. Sicherlich wird es niemals im<br />
demokratischen Fö<strong>der</strong>alismus eine Schließung von <strong>Dörfer</strong>n per Verwaltungsakt geben.<br />
Nicht, solange Politiker darauf hoff en müssen, wie<strong>der</strong>gewählt zu werden. Was bleibt also?<br />
Das Maß an Freiheit und Gerechtigkeit hängt unabweisbar vom Maß des Wohlstands<br />
ab, und wir müssen die wirtschaftlichen, fi nanziellen Dimensionen ins Auge fassen. Man<br />
hört Aussagen, dass die Tatsache, dass immer weniger Erwerbstätige im Verhältnis deutlich<br />
mehr Rentner ernähren müssen, durch steigende Produktivität kompensiert würde.<br />
<strong>Die</strong> Rentenbezugsdauer hat sich seit 1980 auf 260 % erhöht – welche Produktionssteigerung<br />
kann da mithalten? […] Im SPIEGEL war zu lesen, dass unseren Staatsschulden<br />
schließlich auch Vermögenswerte gegenüber stehen, genauer gesagt 8 Mrd. Euro Immobilienvermögen<br />
<strong>der</strong> Deutschen. Welchen Wert hat diese Aufrechnung? Wollen wir unsere<br />
Häuser den Chinesen verkaufen?<br />
…
Eine Studie für das Jahr 2050 beziff ert die Summe<br />
<strong>der</strong> altersbedingten Ausgaben auf 320 Mrd. Euro<br />
jährlich. Auf uns kommt ein fi nanzieller Tsunami zu,<br />
für den es nicht möglich sein wird, einen Fond bereit<br />
zu stellen. Wir müssen an<strong>der</strong>e Ideen fi nden.<br />
…<br />
Frage: Stichwort Besicherungsfähigkeit von Immobilien:<br />
Wie wirken sich abnehmende Immobilienwerte<br />
auf die Kreditwürdigkeit älterer Immobilienbesitzer<br />
aus? Wenn sie beispielsweise Maßnahmen zur energetischen<br />
Sanierung an ihrem Haus durchführen wollen,<br />
das Gebäude aber in einer Gegend mit ungünstiger<br />
demografi scher Prognose steht? Kommen wir da<br />
nicht in eine Sackgasse, wenn sie ihre Immobilie als<br />
Sicherheit anbieten?<br />
Antwort: Kredit gewähren gegen Sicherheit – das ist das Konzept des Pfandhauses. Banken<br />
interessiert, ob <strong>der</strong> Kredit aus dem Einkommen zurückgezahlt werden kann. Solange<br />
also ein Kunde, unabhängig vom Alter, mit seinem Einkommen o<strong>der</strong> seiner Rente nachweisen<br />
kann, dass <strong>der</strong> Kredit während <strong>der</strong> Laufzeit zurückgezahlt werden kann, wird ein<br />
Kredit gewährt. Alles an<strong>der</strong>e wäre auch schlimm, denn ansonsten wäre die Konsequenz,<br />
dass in strukturschwachen Gegenden keine Kredite mehr ausgegeben würden.<br />
…<br />
Wie gehen wir mit den »alten Neubauten« <strong>der</strong> 1950er-, 60er- und 70er-Jahre um? <strong>Die</strong>se<br />
Häuser sind energetisch völlig veraltet und kommen in naher <strong>Zukunft</strong> in ganz Deutschland<br />
schlagartig in die konventionelle kritische Phase. Eigentlich käme für viele nur ein<br />
Abriss in Frage.<br />
Uns laufen zwei Sachen weg: zum einen Kosten, zum an<strong>der</strong>en die Leute.<br />
…<br />
Es wäre gut zu wissen, wer an den Gestaltungsprozessen mit welchem Beitrag beteiligt ist.<br />
<strong>Die</strong> verschiedenen Akteure müssen gemeinsam im Gespräch bleiben und wissen, was die<br />
an<strong>der</strong>en tun, denn <strong>der</strong> Prozess muss zwingend gemeinsam gesteuert werden. Wir müssen<br />
schleunigst einen gesellschaftlichen Konsens darüber fi nden, wo wir hin wollen, was wir<br />
dafür in Kauf nehmen, welche Standards wir senken. Wir brauchen eine gemeinsame<br />
Strategie aller Beteiligten!<br />
Auszüge aus den Diskussionen 75
76<br />
Impressum<br />
Herausgeber<br />
<strong>Stiftung</strong> <strong>Schloss</strong> <strong>Ettersburg</strong> – Gestaltung des demografi schen Wandels<br />
Bearbeitung und Redaktion<br />
Susanne Zinecker<br />
Grafi k, Gestaltung und Satz<br />
Tanja Stoll<br />
Quelle <strong>der</strong> Fotos und Abbildungen<br />
<strong>Stiftung</strong> <strong>Schloss</strong> <strong>Ettersburg</strong>, sofern nicht an<strong>der</strong>s angegeben<br />
Druck<br />
wd print + medien, Wetzlar<br />
www.wdprint-medien.de<br />
Bestellungen<br />
<strong>Stiftung</strong> <strong>Schloss</strong> <strong>Ettersburg</strong> –<br />
Gestaltung des demografi schen Wandels<br />
Am <strong>Schloss</strong> 1, 99439 <strong>Ettersburg</strong><br />
Susanne Zinecker<br />
Tel. : (0 36 43) 7 40 21 30<br />
Fax : (0 36 43) 7 40 21 39<br />
E-Mail : zinecker@stiftung-ettersburg.de<br />
Nachdruck und Vervielfältigungen : Alle Rechte vorbehalten<br />
<strong>Ettersburg</strong>, Juni 2012<br />
Tagungsband »<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> <strong>Dörfer</strong>«
<strong>Stiftung</strong> <strong>Schloss</strong> <strong>Ettersburg</strong><br />
Am <strong>Schloss</strong> 1 | 99439 <strong>Ettersburg</strong><br />
Telefon (0 36 43) 7 40 21 30<br />
Telefax (0 36 43) 7 40 21 39<br />
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www.stiftung-ettersburg.de