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Ein praktisches Beispiel: Exorzismus in Klingenberg - Ura-linda.de

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Zu diesem BuchNur noch 31 Kilo wog die 23-jährige Stu<strong>de</strong>nt<strong>in</strong> Anneliese Michel, als sieam 1. Juli 1976 nach monatelangen Qualen <strong>in</strong>folge priesterlicher <strong>Exorzismus</strong>-Ritualeim fränkischen We<strong>in</strong>städtchen Kl<strong>in</strong>genberg am Ma<strong>in</strong>starb. Seit <strong>de</strong>r Pubertät litt Anneliese an Ängsten, ihr Leben stehe untere<strong>in</strong>em Fluch. Am En<strong>de</strong> glaubte sie sich besessen von Teufeln, darunterHitler und <strong>de</strong>r Christenverfolger Kaiser Nero. Während sie an <strong>de</strong>r UniversitätWürzburg ihre Examensarbeit über Formen <strong>de</strong>r Angstbewältigungschrieb, unterwarf sie sich <strong>de</strong>m Ritual <strong>de</strong>r Teufelsaustreibung. AufGeheiß <strong>de</strong>s Würzburger Bischofs Stangel haben katholische Geistlichenach jahrhun<strong>de</strong>rtealtem Muster siebenundsechzig <strong>Exorzismus</strong>versucheunternommen. Denn offiziell hält die römische Kirche bis heute an <strong>de</strong>rleibhaftigen Existenz <strong>de</strong>s Teufels fest, ja sie lehrt die Notwendigkeit <strong>de</strong>rTeufelsaustreibung. Annelieses Exorzisten wollten das wüten <strong>de</strong>s lebendigenTeufels beweisen, weshalb sie von allen Sitzungen Tonbandaufnahmenmachten, um damit die nach <strong>de</strong>m ZweitenVatikanischen Konzile<strong>in</strong>setzen<strong>de</strong> Liberalisierung <strong>de</strong>r Kirche aufzuhalten. In Aschaffenburgkam es wegen unterlassener Hilfeleistung zum Prozess. Annelieses Elternund die priesterlichen Exorzisten wur<strong>de</strong>n verurteilt, <strong>de</strong>r verantwortlicheBischof blieb ungeschoren.Nach <strong>de</strong>r Urteilsverkündung hieß es, Annelieses Leib liege unverwestim Grabe. Die Behör<strong>de</strong>n ließen es öffnen. Das Ergebnis <strong>de</strong>r Exhumierungwur<strong>de</strong> nicht bekannt gegeben. Bis heute pilgern busladungsweisekonservative Gläubige nach Kl<strong>in</strong>genberg und beten für Annelieses Heiligsprechung.Zwei aktuelle Filme greifen <strong>de</strong>n spektakulären Fall Michel auf: Der<strong>Exorzismus</strong> von Emily Rose von Scott Derrickson (USA 2005) und Requiemvon Hans-Christian Schmid (Deutschland 2006).Der AutorUwe Wolff, geboren 1955 <strong>in</strong> Münster, ist Fachleiter für Evangelische Religionslehream Studiensem<strong>in</strong>ar <strong>in</strong> Hil<strong>de</strong>sheim. Neben literaturwissenschaftlichenArbeiten und Romanen hat Uwe Wolff seit 1991 systematischBücher zur Engelforschung und Dämonologie publiziert. – UweWolff ist im Besitz sämtlicher Live-Mitschnitte aller exorzistischen Sitzungen.Interviews geführt hat er mit Annelieses Schwester Roswitha,ihrer Mutter, <strong>de</strong>m Verlobten und <strong>de</strong>m Exorzisten Ernst Alt. Aufgrundse<strong>in</strong>es reichen Materials kann er <strong>de</strong>n skandalösen Fall Anneliese Michellückenlos rekonstruieren.


Dieses Buch erschien 1999 im Rowohlt Taschenbuch Verlagunter <strong>de</strong>m Titel Das bricht <strong>de</strong>m Bischof das Kreuz.SGS-COC-1940Verlagsgruppe Random HouseFSC-DEU-0100Das FSC-zertifizierte Papier München Superfür Taschenbücher aus <strong>de</strong>m Heyne Verlagliefert Mochenwangen PapierTaschenbuchausgabe 03/2006Copyright © 2006 by Wilhelm Heyne Verlag, München,<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Verlagsgruppe Random House GmbHwww.heyne.<strong>de</strong>Pr<strong>in</strong>ted <strong>in</strong> Germany 2006Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, MünchenUmschlagabbildung: Ciruelo/Agentur SchlückSatz: Gre<strong>in</strong>er & Reichel, KölnDruck und B<strong>in</strong>dung: GGP Media-GmbH, PößneckISBN-10: 3-453-60038-XISBN-13: 978-3-453-60038-6


Inhalt1 »<strong>E<strong>in</strong></strong> verhextes und verdrehtes Spiel«– Die Prozesseröffnung 92 »In <strong>de</strong>n Himmel will ich kommen«– Das Elternhaus ???3 »Der Teufel ist <strong>in</strong> mir, alles ist leer <strong>in</strong> mir«– Die Schulzeit ???4 »Ich b<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Schlange«– Unter <strong>de</strong>r Sonne Italiens ???5 »Ich stehe am Schei<strong>de</strong>weg: entwe<strong>de</strong>r Leben o<strong>de</strong>r Tod«– Studienzeit <strong>in</strong> Würzburg ???6 »Du wirst e<strong>in</strong>e große Heilige wer<strong>de</strong>n«– Zwischen Himmel und Hölle ???7 »Ich fahr aus, wenn’s mir passt!«– Warten auf die Hilfe <strong>de</strong>s Bischofs ???8 »Ich kann nicht mehr«– Chronik e<strong>in</strong>es angekündigten To<strong>de</strong>s ???Nachwort und Danksagung ???Anmerkungen ???


1»<strong>E<strong>in</strong></strong> verhextes und verdrehtes Spiel«– Die Prozesseröffnung»Dir verdanke ich die Erfahrung<strong>de</strong>r schrecklichsten Dimension:sich verworfen fühlen.«Tilmann Moser, »Gottesvergiftung«Nur e<strong>in</strong>em Zufall ist es zu verdanken, dass Anneliese MichelsTod <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Öffentlichkeit bekannt wird. Am 1. Juli 1976 umsieben Uhr morgens schaut <strong>de</strong>r Sägewerksbesitzer und ZimmermannJosef Michel aus Kl<strong>in</strong>genberg <strong>in</strong> das Zimmer se<strong>in</strong>erTochter. Anneliese liegt <strong>in</strong> ihrem Bett und rührt sich nicht.Auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n steht <strong>de</strong>r große Kanister mit Weihwasser ausSan Damiano. Der Vorrat konnte nicht groß genug se<strong>in</strong>.Wieoft hatten die Exorzisten das heilige Wasser <strong>in</strong> <strong>de</strong>n letztenMonaten gebraucht, um die Dämonen zu verscheuchen! JosefMichel atmet auf. Seit Wochen haben er und se<strong>in</strong>e Familiezum ersten Mal wie<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>e ruhige Nacht gehabt. AnneliesesSchreie waren zum Schluss unerträglich gewesen. »Nunschläft sie«, <strong>de</strong>nkt er. Die Dämonen hatten ja e<strong>in</strong>e Wen<strong>de</strong> angekündigt.Alles wer<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>r gut. Heiterkeit wer<strong>de</strong> <strong>in</strong> dieFamilie zurückkehren. Doch Josef Michel täuscht sich.»Schlaf jetzt e<strong>in</strong>, me<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d. Jetzt wird alles gut. Jetzt dürfensie dich nicht mehr quälen.« Das waren die letztenWorte,die er kurz nach Mitternacht zu se<strong>in</strong>er Tochter gesprochenhatte. Anneliese drehte sich daraufh<strong>in</strong> zur Wand und schliefruhig e<strong>in</strong>. Noch immer liegt sie im Bett. Ihr Körper ist auf e<strong>in</strong>unddreißigKilogramm abgemagert. Die Augenrän<strong>de</strong>r s<strong>in</strong>ddunkelblau angeschwollen. <strong>E<strong>in</strong></strong> Anblick zum Erbarmen. Seit9


zwei Monaten nimmt sie ke<strong>in</strong>e Nahrung mehr zu sich. Sie istnur noch Haut und Knochen. Schuld daran, so glaubt JosefMichel, s<strong>in</strong>d die Dämonen. Doch schon e<strong>in</strong>mal hatte sichAnneliese erholt, hatte wie<strong>de</strong>r an Gewicht zugenommen undwar gesund gewor<strong>de</strong>n. Sie wür<strong>de</strong> Peter heiraten, K<strong>in</strong><strong>de</strong>r bekommenund als Volksschullehrer<strong>in</strong> arbeiten. Anneliese hatgenug Sühne geleistet. Der Fluch ist gebannt. Josef Michelbekreuzigt sich, schließt die Zimmertür und geht h<strong>in</strong>unter <strong>in</strong>die erste Etage <strong>de</strong>s <strong>E<strong>in</strong></strong>familienhauses. Bevor er die Haustüröffnet, greift er nach alter Gewohnheit mit <strong>de</strong>n F<strong>in</strong>gern <strong>de</strong>rRechten <strong>in</strong> das Weihwasserbecken mit heiligem Wasser ausSan Damiano. Er tritt vor die Haustür. Es ist ke<strong>in</strong> Dämon zusehen. Josef Michel blickt über <strong>de</strong>n Friedhof. Dort bef<strong>in</strong><strong>de</strong>nsich die Gräber se<strong>in</strong>er Eltern und auch Marthas K<strong>in</strong><strong>de</strong>rgrab.Jenseits <strong>de</strong>s Gräberfel<strong>de</strong>s steht das Firmengebäu<strong>de</strong>. JosefMichel setzt sich <strong>in</strong>s Auto und fährt auf e<strong>in</strong>e Baustelle.Wenig später betritt Anna Michel das Zimmer und stellt<strong>de</strong>n Tod ihrer Tochter fest. Sie ist entsetzt: Seit Wochen hattensie Anneliese vor <strong>de</strong>r Öffentlichkeit abschirmen müssen.Was soll nun mit <strong>de</strong>r Leiche geschehen?Wie wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Hausarztreagieren, wenn man ihn riefe? Wür<strong>de</strong> er e<strong>in</strong>en Totensche<strong>in</strong>ausstellen? Anna Michel greift zum Telefonhörer undwählt die Nummer <strong>de</strong>s Pfarrhauses von Ettleben, e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>enOrt <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Nähe von Würzburg. Hier wohnt <strong>de</strong>r ExorzistErnst Alt. Der attraktive Priester mit <strong>de</strong>m schwarzen Bart istkaum vierzehn Jahre älter als Anneliese. Ihm wer<strong>de</strong>n paranormaleFähigkeiten wie Telepathie nachgesagt. Er ist Wünschelrutengänger,und auch er weiß sich wie Anneliese immerwie<strong>de</strong>r von Dämonen angegriffen. Vielleicht hat er sich<strong>de</strong>shalb <strong>in</strong> <strong>de</strong>n letzten Wochen von ihrem Elternhaus ferngehalten.Auch Josef Michel benutzt regelmäßig e<strong>in</strong> Pen<strong>de</strong>l,um eventuell vorhan<strong>de</strong>ne negative Strahlungen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Nahrungfestzustellen.10


Im Pfarrhaus <strong>de</strong>s Geistlichen hatte die dreiundzwanzigjährigeAnneliese bis Mai gewohnt. Pfarrer Alt ist fest davonüberzeugt, dass es <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Pfarrhaus spukt. Am meistenhat er Angst vor e<strong>in</strong>em ehemaligen Amtsbru<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Zölibatgebrochen und Frauen nachgestellt hatte und <strong>de</strong>r nunals schwarze Gestalt und unerlöste Seele se<strong>in</strong> Unwesen imPfarrhaus treibt.Trotz se<strong>in</strong>er paranormalen Wahrnehmungsgabetrifft die Nachricht von Annelieses Tod <strong>de</strong>n Geistlichenwie e<strong>in</strong> Blitz. Seit <strong>de</strong>m 8. Juni, seit über drei Wochen hatte erdie Pädagogikstu<strong>de</strong>nt<strong>in</strong> nicht mehr gesehen. Vor wenigenTagen war er durch e<strong>in</strong>en Anruf von Annelieses SchwesterRoswitha aufgeschreckt wor<strong>de</strong>n. Sie hatte ihn dr<strong>in</strong>gend gebeten,mit <strong>de</strong>m Bischof von Würzburg zu telefonieren. Er müssesofort nach Kl<strong>in</strong>genberg reisen, um Anneliese zu helfen.Schließlich habe Bischof Josef Stangl mit <strong>de</strong>m Be<strong>in</strong>amen»<strong>de</strong>r Gute« ja auch die Teufelsaustreibung offiziell genehmigt.Doch als sich die Katastrophe an<strong>de</strong>utet, stehen AnneliesesEltern und die bei<strong>de</strong>n Hauptexorzisten Pfarrer Alt undPater Renz vor verschlossenen Türen.Vergeblich hatten Anna und Josef Michel immer wie<strong>de</strong>rversucht, zu Bischof Stangl <strong>in</strong> persönlichen Kontakt zu treten.Telefonate wur<strong>de</strong>n nicht durchgestellt, Briefe nicht beantwortet.Die bei<strong>de</strong>n Exorzisten Pater Renz und Pfarrer Alt<strong>in</strong>formierten <strong>de</strong>n Bischof <strong>in</strong> zahlreichen Briefen über Annelieseserbärmlichen Zustand. Doch machte sich <strong>de</strong>r Auftraggeber<strong>de</strong>s <strong>Exorzismus</strong> nicht auf <strong>de</strong>n Weg nach Kl<strong>in</strong>genberg,obwohl die Berichte se<strong>in</strong>er Priester das ganze Ausmaß <strong>de</strong>rKatastrophe <strong>de</strong>tailliert schil<strong>de</strong>rten. Noch e<strong>in</strong>e Woche vor AnneliesesTod hatte Pfarrer Alt <strong>de</strong>m Bischof <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Briefvom 24. Juni 1976 schriftlich mitgeteilt:»L<strong>in</strong>ke Kopfhälfte war so verschwollen, dass sie nicht mehraus <strong>de</strong>m Auge blicken konnte, g<strong>in</strong>g mit <strong>de</strong>m Kopf durch dieGlasscheibe <strong>de</strong>r Korridortüre, hat sich trotz<strong>de</strong>m nicht ge-11


schnitten, ist gewalttätig gegen alle Anwesen<strong>de</strong>n, ist zu e<strong>in</strong>emSkelett abgemagert, kann nur manchmal essen und tr<strong>in</strong>ken,muss aber wie<strong>de</strong>r ausspucken bis zum letzten Bissen. Es istnicht gelungen, die Dämonen wie<strong>de</strong>r zum Re<strong>de</strong>n zu br<strong>in</strong>gen.Typischer Fall e<strong>in</strong>er Sühnebesessenheit. Es ist ihr angekündigt,dass es wie<strong>de</strong>r ganz schlimm wer<strong>de</strong>n wird, sie fürchtetsich davor und ist sehr traurig.«Jahre später er<strong>in</strong>nert sich Anna Michel noch immer vollerTrauer und Enttäuschung an die ausbleiben<strong>de</strong> Hilfe ausWürzburg. Bei me<strong>in</strong>em ersten Besuch <strong>in</strong> Kl<strong>in</strong>genberg sitzeich mit ihr <strong>in</strong> <strong>de</strong>m Zimmer, wo die exorzistischen Sitzungenstattgefun<strong>de</strong>n haben und auf Tonbän<strong>de</strong>rn mitgeschnittenwur<strong>de</strong>n, damit <strong>de</strong>r Bischof authentische Informationen über<strong>de</strong>n Verlauf <strong>de</strong>r von ihm angeordneten Maßnahme erhaltenkonnte. In e<strong>in</strong>em langen Gespräch berichtet sie mir am26. August 1994 von diesen letzten Tagen <strong>de</strong>s Grauens:»Ja, da waren wir ja so verlassen. Der Pfarrer Alt ist nichtmehr gekommen. Die Anneliese hat mit e<strong>in</strong>er Sehnsucht gewartetauf <strong>de</strong>n Bischof. Das kann man sich nicht vorstellen,was für e<strong>in</strong>e Sehnsucht das Mädchen gehabt hat, dass es ihrwie<strong>de</strong>r besser geht. Da hat sie geme<strong>in</strong>t, wenn <strong>de</strong>r Bischofkommt, da geht’s ihr besser. Aber die haben gar nichts hörenlassen, nichts, gar nichts. Als ob nichts existiert.«Auch e<strong>in</strong>e weitere Zeug<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Teufelsaustreibungen, TheaHe<strong>in</strong>, gibt im Gespräch am 26. August 1994 bereitwillig Auskunftüber ihre Sicht <strong>de</strong>s Falles.Thea He<strong>in</strong> ist e<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong><strong>de</strong>r Familie und versteht sich als Ent<strong>de</strong>cker<strong>in</strong> von AnneliesesBesessenheit.»Was glauben Sie, was da für Briefe h<strong>in</strong>aufgegangen s<strong>in</strong>dnach Würzburg. Gebittelt und gebettelt haben die, dass <strong>de</strong>rBischof kommt. Und was hat die Anneliese mit Sehnsuchtgewartet, dass <strong>de</strong>r Bischof kommt. Das wäre ihre Rettung gewesen.Ne<strong>in</strong>, aber sie haben sie sitzen lassen. Die Exorzisten12


waren auch so verzweifelt, weil sich von seiten Würzburgsüberhaupt nichts getan hat, gar nichts. Es war furchtbar. Habendas Mädchen regelrecht sitzen lassen und kaputtgehenlassen.Wenn <strong>de</strong>r Bischof gekommen wäre – das sage ich Ihnenehrlich –, hätt’s e<strong>in</strong>e Wen<strong>de</strong> gegeben, hun<strong>de</strong>rtprozentig.«Direkt nach <strong>de</strong>m letzten Telefonat vom 24. Juni 1976 mitRoswitha hatte Pfarrer Alt <strong>de</strong>m Bischof geschrieben: »Wirkommen nicht mehr weiter. <strong>E<strong>in</strong></strong>e ungeheure Macht lässt esnicht zu.« Nun aber sche<strong>in</strong>t das En<strong>de</strong> gekommen zu se<strong>in</strong>, undEntsetzen macht sich breit. Doch ist die Welt <strong>de</strong>r Heiligennicht voller Wun<strong>de</strong>r? Hatte nicht Christus selbst <strong>de</strong>n totenLazarus und das Töchterle<strong>in</strong> <strong>de</strong>s Jairus wie<strong>de</strong>r <strong>in</strong>s Leben gerufen?Der Exorzist verspricht, Hilfe zu holen. Er will nichtglauben, dass Anneliese tot ist. Schnell verständigt er se<strong>in</strong>enFreund, <strong>de</strong>n Frankfurter Arzt Dr. Richard Roth. Der setztsich <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Zug und fährt über Aschaffenburg nach Kl<strong>in</strong>genberg,wo er am späten Vormittag e<strong>in</strong>trifft.Dr. Richard Roth kennt Anneliese. Er will auch die WundmaleChristi an Annelieses geschun<strong>de</strong>nem Körper erkannthaben. Am 30. Mai 1976 und erneut am 28. Juni 1976, dreiTage vor Annelieses Tod, hatte er für sie e<strong>in</strong> Attest zur Befreiungvom Studium ausgestellt, ohne die Gemarterte gesehenzu haben. Die Ferndiagnose lautete, Anneliese Michel sei füretwa zwei Wochen arbeitsunfähig. Roth wusste, dass manAnneliese <strong>in</strong> diesem Zustand ke<strong>in</strong>em Mediz<strong>in</strong>er hätte vorführenkönnen, ohne e<strong>in</strong>e <strong>E<strong>in</strong></strong>weisung <strong>in</strong>s Krankenhaus o<strong>de</strong>rdie psychiatrische Kl<strong>in</strong>ik zu riskieren. Er ist e<strong>in</strong>geweiht <strong>in</strong><strong>de</strong>n Glauben <strong>de</strong>r Familie, Anneliese sei von Dämonen besessen.Als Arzt mit e<strong>in</strong>em ausgeprägten Interesse an paranormalenPhänomenen <strong>in</strong>teressiert er sich für <strong>de</strong>n Fall. Derachtundsechzig Jahre alte Mediz<strong>in</strong>er mit <strong>de</strong>r Aura e<strong>in</strong>esWun<strong>de</strong>rheilers wird später vor Gericht angeben, er besitze dieFähigkeit, soeben Verstorbene durch e<strong>in</strong>e Herzspritze und13


künstliche Beatmung <strong>in</strong>s Leben zurückzuholen. Dies habe erauch bei Anneliese Michel vorgehabt.Tatsächlich aber kann Dr. Roth nur noch die Leichenstarrefeststellen. Die Eltern bitten ihn, e<strong>in</strong>en Totensche<strong>in</strong> auszustellen,doch ausgerechnet an diesem Tag hat er die entsprechen<strong>de</strong>nFormulare vergessen. Deshalb telefoniert er mite<strong>in</strong>em Kollegen, <strong>de</strong>r ihm jedoch davon abrät, <strong>de</strong>n Tod <strong>de</strong>sMädchens zu besche<strong>in</strong>igen. Damit wird das schreckliche En<strong>de</strong><strong>de</strong>s <strong>Exorzismus</strong> zu e<strong>in</strong>em öffentlichen Ereignis. Denn AnneliesesLeichnam konnte ja nicht auf Dauer versteckt o<strong>de</strong>rim Garten begraben wer<strong>de</strong>n.Gegen dreizehn Uhr beantragt Josef Michel bei <strong>de</strong>r Geme<strong>in</strong><strong>de</strong>verwaltungKl<strong>in</strong>genberg die Ausstellung e<strong>in</strong>es Leichensche<strong>in</strong>esfür se<strong>in</strong>e Tochter. Die Sachbearbeiter<strong>in</strong> Frie<strong>de</strong>lSchmitt ist betroffen, erkundigt sich nach <strong>de</strong>n To<strong>de</strong>sumstän<strong>de</strong>n.Josef Michel gibt an, Anneliese habe plötzlich sehr hohesFieber bekommen und sei daran gestorben. Nur e<strong>in</strong> Arztkönne nach e<strong>in</strong>er Leichenschau <strong>de</strong>n Leichensche<strong>in</strong> ausstellen,erklärt Frie<strong>de</strong>l Schmitt. <strong>E<strong>in</strong></strong> Arzt sei im Hause, antwortetJosef Michel und nennt <strong>de</strong>n Namen von Dr. RichardRoth. Sie könne sich durch e<strong>in</strong>en Anruf davon überzeugen,dass alles se<strong>in</strong>e Ordnung habe. Frie<strong>de</strong>l Schmitt ruft im Hausam Mittleren Weg 3 an. Dr. Roth mel<strong>de</strong>t sich. Ja, er sei Arzt,habe aber die Leichenschauformulare vergessen.Nun wird <strong>de</strong>r Hausarzt Dr. Mart<strong>in</strong> Kehler h<strong>in</strong>zugezogen.Er ist entsetzt, me<strong>in</strong>t, Anneliese sei buchstäblich verhungert,und weigert sich, <strong>de</strong>n Totensche<strong>in</strong> auszustellen, <strong>de</strong>nn er könneke<strong>in</strong>e natürliche To<strong>de</strong>sursache attestieren. Er f<strong>in</strong><strong>de</strong>t dieLeiche noch warm und <strong>in</strong> vollkommen abgemagertem Zustandund mit verschie<strong>de</strong>nen oberflächlichen Verletzungen.Im Ettlebener Pfarrhaus greift unter<strong>de</strong>ssen <strong>de</strong>r Exorzist Alterneut zum Telefonhörer. Um halb zwei ruft er beim LandgerichtAschaffenburg an, wird mit <strong>de</strong>m Leiten<strong>de</strong>n Oberstaats-14


anwalt Karl Stenger verbun<strong>de</strong>n und berichtet ihm ausführlichvon <strong>de</strong>n Teufelsaustreibungen und <strong>de</strong>n zahllosen Arztbesuchen,die vorausgegangen waren. Ohne Namen preiszugeben,nennt er <strong>E<strong>in</strong></strong>zelheiten <strong>de</strong>r Behandlung durch Psychiaterund Neurologen <strong>in</strong> Aschaffenburg und Würzburg, Auffälligkeiten<strong>de</strong>s Mädchens, Erfolge und Misserfolge <strong>de</strong>r Behandlung.Das Mädchen habe während <strong>de</strong>r Spannungszustän<strong>de</strong>zeitweise ke<strong>in</strong>e Nahrung und ke<strong>in</strong>e Flüssigkeit zu sich genommen,so auch <strong>in</strong> <strong>de</strong>n letzten Tagen. Es sei jedoch davonauszugehen gewesen, dass es jetzt die Nahrungsaufnahmewie<strong>de</strong>r aufnehme. Zum Schluss teilt er <strong>de</strong>m Staatsanwaltmit,Anneliese Michel aus Kl<strong>in</strong>genberg sei <strong>in</strong> <strong>de</strong>n frühen Morgenstun<strong>de</strong>n<strong>de</strong>s 1. Juli verstorben.Der Staatsanwalt ordnet noch am gleichen Tag e<strong>in</strong>e Obduktion<strong>de</strong>r Leiche durch das Institut für Rechtsmediz<strong>in</strong> <strong>de</strong>rUniversität Würzburg an. Am Abend <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>stages nimmtPrivatdozent Dr. Ernst Schulz die Sektion vor. Anneliese seiabgemagert gewesen, gera<strong>de</strong>zu ausgemergelt, mit tief e<strong>in</strong>gesunkenenAugen, übersät mit Hautverletzungen, Abschürfungen,Geschwüren. Die Wirbelsäule sei durch die Bauch<strong>de</strong>ckeh<strong>in</strong>durch zu tasten gewesen. Die Verfassung <strong>de</strong>r Totenlasse sich am ehesten vergleichen mit <strong>de</strong>r getöteter Lager<strong>in</strong>sassenim Zweiten Weltkrieg. Nicht nur das Gesamtgewichtsei um etwa vierzig Prozent reduziert gewesen, son<strong>de</strong>rn auchdas Gewicht <strong>de</strong>r <strong>in</strong>neren Organe. Dies <strong>de</strong>ute darauf h<strong>in</strong>, dassAnneliese Michel über e<strong>in</strong>en Zeitraum von rund zwei Monatennichts o<strong>de</strong>r kaum etwas zu sich genommen habe.Aus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>s Mediz<strong>in</strong>ers führten drei Faktoren zumTod: die Abmagerung, e<strong>in</strong>e Lungenentzündung und die extremekörperliche Beanspruchung während <strong>de</strong>r letzten Lebenstage.Anneliese habe Tag und Nacht geschrien und Hun<strong>de</strong>rtevon Kniebeugen gemacht. Organisch sei sie gesund.Das Hirn zeige ke<strong>in</strong>e fassbare Krankheit. Die hochgradige15


Abmagerung, so <strong>de</strong>r Mediz<strong>in</strong>er, sei als Magersucht bekannt.Gegen sie gebe es seit Jahren gute therapeutische Möglichkeiten.Annelieses Leben wäre zu retten gewesen, wenn mandie Kranke von <strong>de</strong>n krankmachen<strong>de</strong>n Faktoren ihrer Umweltabgeschirmt hätte. Noch etwa e<strong>in</strong>e Woche vor ihrem Todwäre sie durch e<strong>in</strong>e Zwangsernährung zu retten gewesen.Das sehen die Eltern und die bei<strong>de</strong>n Exorzisten völlig an<strong>de</strong>rs.Anna Michel spricht es später vor Gericht gegenüber<strong>de</strong>m Rechtsmediz<strong>in</strong>er klar aus: »Sie gehen immer von e<strong>in</strong>erKranken aus, aber die Anneliese war e<strong>in</strong>e Besessene. Und dieDämonen geben e<strong>in</strong>em Menschen ungeheure Kraft, gegendie man nichts machen kann.«Anneliese habe freiwillig auf Nahrung verzichtet, habe sichals Sühnopfer für die Sün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Deutschen und beson<strong>de</strong>rsfür die Sün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Priester, die <strong>de</strong>n Zölibat brechen, angeboten.In diesem S<strong>in</strong>ne hatte auch Pfarrer Ernst Alt kurz vorAnnelieses Tod <strong>de</strong>m Würzburger Bischof Josef Stangl se<strong>in</strong>eSicht <strong>de</strong>s Falles mitgeteilt:»Anneliese Michel ist e<strong>in</strong> typischer Fall von Sühnebesessenheit.Man tut sich aber mit <strong>de</strong>m <strong>Exorzismus</strong> schwer, weildie Sühne nicht zu fassen ist. Der e<strong>in</strong>zige Trost ist:Viele Seelenwer<strong>de</strong>n dadurch gerettet.« Dann folgt e<strong>in</strong> schockieren<strong>de</strong>rNachsatz, be<strong>de</strong>nkt man, dass die Exorzisten e<strong>in</strong>e verzweifelte,sich <strong>de</strong>m Tod entgegenhungern<strong>de</strong> Frau vor Augen haben:»Ich möchte die Zeit <strong>de</strong>s vergangenen Jahres nicht missen.«Pater Arnold Renz ergänzt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Schreiben an <strong>de</strong>n Bischof:»Heute freue ich mich, dass ich <strong>de</strong>n Fall übernommenhabe. Es s<strong>in</strong>d kostbare Erlebnisse. Solche Erfahrungen s<strong>in</strong>dmehr wert als alle Bücherweisheit.«Am Abend <strong>de</strong>s 1. Juli 1976 gegen zehn Uhr erfährt AnneliesesVerlobter, <strong>de</strong>r angehen<strong>de</strong> Lehrer Peter Himsel, von ihremTod. Er sitzt gera<strong>de</strong> an se<strong>in</strong>er Unterrichtsvorbereitung,da schellt es. Als er die Tür öffnet, sieht er zwei von Annelie-16


ses Schwestern <strong>in</strong> schwarzer Kleidung. »Da dachte ich: Wasist <strong>de</strong>nn jetzt los?« er<strong>in</strong>nert sich Peter Himsel im Gespräch,das wir am 24. August 1994 im Kloster Engelberg führen.Die Schwestern betreten die Wohnung und for<strong>de</strong>rn Peterauf, Platz zu nehmen. »Da hab ich schon gedacht, irgendwasstimmt nicht. Ich konnt’s erst nicht glauben.« Die Schwesternbieten Peter an, über Nacht bei ihm zu bleiben. Er aberbittet sie zu gehen. »Ne<strong>in</strong>, geht fort. Ich will jetzt alle<strong>in</strong>e se<strong>in</strong>.«Als die bei<strong>de</strong>n nach Kl<strong>in</strong>genberg zurückgefahren s<strong>in</strong>d, verlässtauch Peter das Haus und läuft die ganze Nacht überziellos herum. »Raus aus <strong>de</strong>m Haus, hab geflucht. Also, eswar total verrückt. Es ist alles herausgebrochen aus mir.«Während Peter Zuflucht im Gebet f<strong>in</strong><strong>de</strong>t, wer<strong>de</strong>n an diesemFreitag <strong>in</strong> Würzburg die Examenszeugnisse ausgeteilt.Auch Anneliese hätte hier stehen sollen. Wie an<strong>de</strong>re angehen<strong>de</strong>katholische Religionslehrer<strong>in</strong>nen sollte sie die »Missiocanonica«, die offizielle bischöfliche Lehrbefähigung für katholischenReligionsunterricht an staatlichen Schulen, vomobersten Hirten <strong>de</strong>r Diözese Würzburg verliehen bekommen.In <strong>de</strong>r Kapelle <strong>de</strong>s Stu<strong>de</strong>ntenwohnheims Ferd<strong>in</strong>an<strong>de</strong>um ersche<strong>in</strong>tBischof Stangl, lässt die Mädchen nie<strong>de</strong>rknien undbeten für e<strong>in</strong>e, »die nicht mehr unter uns weilt«. Das Ferd<strong>in</strong>an<strong>de</strong>umkennt Josef Stangl gut, hatte er doch selbst währendse<strong>in</strong>er Schulzeit amWürzburger Neuen Gymnasium hiergewohnt.Diejenigen, die bislang von Annelieses Tod gehört hatten,mochten annehmen, sie sei das Opfer e<strong>in</strong>er obskuren Sekteo<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>er radikalen katholischen Gruppe von Traditionalistengewor<strong>de</strong>n. <strong>E<strong>in</strong></strong>e Ran<strong>de</strong>rsche<strong>in</strong>ung, e<strong>in</strong> tragischer <strong>E<strong>in</strong></strong>zelfall,e<strong>in</strong> Opfer religiöser Fanatiker. Jetzt aber wird bekannt,dass zwei Exorzisten, <strong>de</strong>r Salvatorianerpater Arnold Renzvon <strong>de</strong>r »Gesellschaft <strong>de</strong>s Göttlichen Heilan<strong>de</strong>s« und PfarrerErnst Alt, mit offizieller bischöflicher Erlaubnis <strong>de</strong>n Exorzis-17


mus an <strong>de</strong>m Mädchen ausgeübt hatten. Von Kl<strong>in</strong>genbergführt die dämonische Spur bis <strong>in</strong> die Chefetagen <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschenEpiskopates. Zu<strong>de</strong>m hatte Deutschlands Chefexorzist,<strong>de</strong>r Frankfurter Jesuit und ehemalige Offizier Adolf Ro<strong>de</strong>wyk,maßgeblich aus <strong>de</strong>m H<strong>in</strong>tergrund gewirkt. Auch PaterAdolf Ro<strong>de</strong>wyk ist ke<strong>in</strong>e Randfigur. Er hatte mehrere Standardwerkezum Thema <strong>Exorzismus</strong> veröffentlicht. Darunter<strong>de</strong>n Klassiker »Dämonische Besessenheit heute. Tatsachenund Deutungen«, <strong>de</strong>r 1966 im Aschaffenburger Paul PattlochVerlag mit ausdrücklicher Erlaubnis <strong>de</strong>s Würzburger GeneralvikarsJust<strong>in</strong> Wittig erschienen war. Die kirchliche Druckerlaubnis(Imprimatur) lautet: »Würzburg, <strong>de</strong>n 23.4.1966.Wittig, Generalvikar«. Nach katholischer Auffassung stehtdamit das dämonische Weltbild <strong>de</strong>s Paters <strong>in</strong> Übere<strong>in</strong>stimmungmit <strong>de</strong>n Lehren <strong>de</strong>r Kirche. Noch aber weiß niemand,dass Annelieses Exorzisten die Teufel von Kl<strong>in</strong>genberg strengnach Ro<strong>de</strong>wyks Anweisungen beschworen haben.In Aschaffenburg bro<strong>de</strong>lt <strong>de</strong>rweil die Gerüchteküche. DieÖffentlichkeit erwartet e<strong>in</strong> klären<strong>de</strong>s Wort <strong>de</strong>s Bischofs. AnneliesesEltern und die Exorzisten hoffen, <strong>de</strong>r WürzburgerOberhirte wer<strong>de</strong> zu ihnen stehen. Josef Stangl aber ist zu ke<strong>in</strong>erpersönlichen Stellungnahme zu bewegen. Es ist Hochsommer;er fährt <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Urlaub. Die Familie Michel fühltsich h<strong>in</strong>tergangen, <strong>de</strong>nn Bischof Stangl ist auch für sie nichtzu sprechen. Für ihn führt Generalvikar Just<strong>in</strong> Wittig dasWort.Als Sprecher <strong>de</strong>s Bischofs verfährt er nach <strong>de</strong>r Devise:Wirhaben von allem nichts gewusst! Im Gespräch mit <strong>de</strong>r Weltam Sonntag (25. Juli 1976) bestreitet er nicht nur je<strong>de</strong> Verantwortung<strong>de</strong>s Bischofs, son<strong>de</strong>rn leugnet, die junge Fraugekannt zu haben: »Uns wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Fall erst nach <strong>de</strong>m To<strong>de</strong><strong>de</strong>s Mädchens bekannt. Ich habe nieman<strong>de</strong>m die Genehmigungzu <strong>de</strong>n <strong>Exorzismus</strong>-Gebeten erteilt.«18


Chefexorzist Adolf Ro<strong>de</strong>wyk vom Eliteor<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Jesuitenhält dagegen mit se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nicht zurück. »Es laufennoch an<strong>de</strong>re Fälle. Aber die fallen unters Amtsgeheimnis«,bekennt er öffentlich. Dieses Geständnis wirft weitere Fragenauf: Ist <strong>de</strong>r Fall Anneliese Michel nur die Spitze e<strong>in</strong>esEisbergs? Versucht <strong>de</strong>r Sprecher <strong>de</strong>s Bischofs <strong>de</strong>shalb, solangees geht, die Zuständigkeit für <strong>de</strong>n Fall auf an<strong>de</strong>re abzuwälzen?Papst Paul VI. hatte <strong>in</strong> verschie<strong>de</strong>nen Ansprachendie katholische Lehre von <strong>de</strong>r Existenz <strong>de</strong>s Teufels bestätigt.Der Generalvikar dagegen bekennt: »Ich glaube nicht an Besessenheit.Ich b<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Ansicht, dass <strong>in</strong> Kl<strong>in</strong>genberg auf <strong>de</strong>nersten Blick e<strong>in</strong>e Erkrankung zu erkennen gewesen wäre.«So lautet die bischöfliche Sprachregelung bis auf <strong>de</strong>n heutigenTag. Hatte Just<strong>in</strong> Wittig vergessen, dass er die Veröffentlichungvon Ro<strong>de</strong>wyks Buch über Besessenheit nach sorgfältiger<strong>in</strong>haltlicher Überprüfung genehmigt hatte? PaterRenz hatte die mit bischöflicher Druckerlaubnis veröffentlichteTheorie <strong>in</strong> die Praxis umgesetzt. Deshalb plagt ihnke<strong>in</strong> schlechtes Gewissen. Im Gegenteil! Während <strong>de</strong>r siebenundsechzigTeufelsaustreibungen lässt er Tonbän<strong>de</strong>r mitlaufen,um die Stimmen <strong>de</strong>r Dämonen zu dokumentieren.Mochten mo<strong>de</strong>rne Theologen an <strong>de</strong>r Existenz <strong>de</strong>s Teufelszweifeln, mit diesen Bän<strong>de</strong>rn wür<strong>de</strong> er <strong>de</strong>n Gegenbeweis antreten.Er sei sogar froh darüber, dass auf <strong>de</strong>m Leichensche<strong>in</strong>ke<strong>in</strong> natürlicher Tod besche<strong>in</strong>igt wer<strong>de</strong>, <strong>de</strong>nn nur dadurch seidie Menschheit nachhaltig auf die Existenz Satans aufmerksamgemacht wor<strong>de</strong>n, nach<strong>de</strong>m doch selbst viele katholischePriester nur noch wie die Psychoanalytiker und Verhaltensforschervon »<strong>de</strong>m Bösen«, nicht aber vom Teufel re<strong>de</strong>n.Auch für <strong>de</strong>n Bischof <strong>in</strong> Würzburg wur<strong>de</strong>n Kopien <strong>de</strong>rTonbän<strong>de</strong>r hergestellt. Pater Renz ist nach Annelieses Todweiterh<strong>in</strong> von <strong>de</strong>r Richtigkeit se<strong>in</strong>es Tuns überzeugt, so dasser die Bän<strong>de</strong>r öffentlich abspielt und <strong>de</strong>r Presse zur Verfü-19


gung stellt. Selbst se<strong>in</strong>en Schülern <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Mozart-VolksschuleElsenfeld führt er während <strong>de</strong>s katholischen ReligionsunterrichtsMitschnitte von <strong>de</strong>n Teufelsaustreibungen vor. DerTeufel, das sollen die jungen Leute lernen, sei ke<strong>in</strong>e mittelalterlicheSpukgestalt, ke<strong>in</strong>e Erf<strong>in</strong>dung <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Filmemacher,<strong>de</strong>n Teufel gebe es nicht nur im K<strong>in</strong>o, son<strong>de</strong>rnauch hier <strong>in</strong> unmittelbarer Nähe <strong>de</strong>r Schule <strong>in</strong> Kl<strong>in</strong>genberg.Die Eltern <strong>de</strong>r dreiundzwanzig Schüler <strong>de</strong>s Paters mel<strong>de</strong>ndaraufh<strong>in</strong> ihre verstörten K<strong>in</strong><strong>de</strong>r vom katholischen Religionsunterrichtmit <strong>de</strong>r Begründung ab, sie wollten ihnen e<strong>in</strong>eAngstpsychose ersparen.Das öffentliche Bekenntnis <strong>de</strong>s Exorzisten steht <strong>in</strong> Wi<strong>de</strong>rspruchzur Verschleierungstaktik se<strong>in</strong>er Würzburger Vorgesetzten.Pater Renz wird zu e<strong>in</strong>er Gefahr für die Kirche.Würzburg erteilt ihm <strong>de</strong>shalb e<strong>in</strong> Re<strong>de</strong>verbot und schicktihn e<strong>in</strong>stweilen <strong>in</strong> Urlaub. Doch Pater Renz ist sich ke<strong>in</strong>erSchuld bewusst. Er lässt sich ke<strong>in</strong>en Maulkorb verpassen.Auf se<strong>in</strong>em elterlichen Hof, <strong>de</strong>m Renzhof <strong>in</strong> Hiltensweiler(Bo<strong>de</strong>nseekreis), empfängt er Journalisten und präsentiertihnen die Stimmen <strong>de</strong>r Dämonen. Auf die immer wie<strong>de</strong>rkehren<strong>de</strong>Frage, warum er ke<strong>in</strong>e ärztliche Hilfe geholt habe,verweist er auf Anneliese Michels freien Willen. Es sei ihrWunsch gewesen, ke<strong>in</strong>en Arzt e<strong>in</strong>zuschalten. Die Eltern hättenihm entsprochen. Sie wollten <strong>de</strong>m Mädchen e<strong>in</strong>e <strong>E<strong>in</strong></strong>weisung<strong>in</strong> das Bezirks-Nervenkrankenhaus Lohr ersparen undihre Tochter nicht <strong>de</strong>n Mediz<strong>in</strong>ern ausliefern, für die es Besessenheitund Teufel nicht gebe. Niemand dürfe <strong>de</strong>n Elternvorwerfen, sie seien schuld am Tod ihrer Tochter. Sie hättenes viel e<strong>in</strong>facher gehabt, wenn sie Anneliese <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Nervenheilanstaltabgeschoben hätten, me<strong>in</strong>t Renz. Diejenigen, dienun <strong>de</strong>n Eltern unterlassene Hilfeleistung vorwürfen, hättene<strong>in</strong>mal die durchdr<strong>in</strong>gen<strong>de</strong>n, fast unmenschlichen Schreie <strong>in</strong><strong>de</strong>r Nacht erleben müssen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Zustand <strong>de</strong>s Mädchens,20


wenn die Dämonen <strong>in</strong> ihm sich gegenseitig <strong>in</strong> die Haare gerieten.Da Salvatorianerpater Arnold Renz nicht schweigen will,spricht nun se<strong>in</strong>e Or<strong>de</strong>nsleitung e<strong>in</strong> Machtwort. »Das istke<strong>in</strong> Thema, das man jetzt weiter <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Öffentlichkeit diskutierenkann«, me<strong>in</strong>t Pater Markus vom Prov<strong>in</strong>zialat <strong>de</strong>r »Gesellschaft<strong>de</strong>s Göttlichen Heilands« <strong>in</strong> München. <strong>E<strong>in</strong></strong>e Mitwirkung<strong>de</strong>s Bischofs von Würzburg, so wird auch von dieserSeite schnell verbreitet, habe es bei <strong>de</strong>m Vorgang nicht gegeben.Pater Renz wird damit von zwei Seiten massiv unterDruck gesetzt und zum Rückzug aus <strong>de</strong>r Öffentlichkeit angehalten.Dem Chefexorzisten Ro<strong>de</strong>wyk wagt niemand e<strong>in</strong> Re<strong>de</strong>verbotzu erteilen. Er nimmt Pater Renz unter se<strong>in</strong>e Fitticheund schickt ihn mit neuem <strong>Exorzismus</strong>auftrag <strong>in</strong> die Schweiz.Als Offizier im Ersten Weltkrieg, Leiter <strong>de</strong>s Aloisiuskollegs<strong>in</strong> Go<strong>de</strong>sberg (1932 bis 1938) und Rektor <strong>de</strong>r St.-Ansgar-Schule <strong>in</strong> Hamburg war Adolf Ro<strong>de</strong>wyk gewohnt, Befehle zuerteilen. Wer bisher glaubte, <strong>Exorzismus</strong> sei e<strong>in</strong> Relikt aus<strong>de</strong>n Zeiten <strong>de</strong>r Hexenverfolgung und schon längst aus <strong>de</strong>rKirche verbannt, wird durch Ro<strong>de</strong>wyk e<strong>in</strong>es Besseren belehrt.Kl<strong>in</strong>genberg sei ke<strong>in</strong> <strong>E<strong>in</strong></strong>zelfall. Auf die Frage, wie vieleFälle von Besessenheit es im Jahre 1976 im katholischenUntergrund noch gebe, <strong>de</strong>utet er an: »Sie können annehmen,dass es immer Fälle von Besessenheit gibt. Sie kommen wenig<strong>in</strong> die Öffentlichkeit, aber es läuft immer was.« Gefragtnach se<strong>in</strong>er Rolle im Fall Michel, gesteht er frei: »Ich habehauptsächlich gesehen, wie <strong>de</strong>r vom Bischof bestimmte Exorzistdie Sache machte. Das hatte ich kontrolliert. Und <strong>de</strong>rmachte das genauso, wie es da stand, und das hat mich beruhigt,und da b<strong>in</strong> ich bald wie<strong>de</strong>r abgefahren.«Aber Anneliese sei doch schließlich verhungert! Hätte dasnicht verh<strong>in</strong><strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n können?21


»Ne<strong>in</strong>, da hätte auch e<strong>in</strong> Arzt nichts daran än<strong>de</strong>rn können.Es gehört zu <strong>de</strong>r Besessenheit – o<strong>de</strong>r es kann dazu gehören –,e<strong>in</strong> Mangel an Nahrungsaufnahme, und da än<strong>de</strong>rn Sie nichtsdran. Ich habe das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em an<strong>de</strong>ren Fall gehabt, da habenwir zu essen genügend h<strong>in</strong>gestellt – es war e<strong>in</strong>fach nicht möglich.Vielleicht kann man etwas h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>würgen, wenn man sosagen soll, aber das wird sofort erbrochen. Das nützt nichts.Hier hätten Sie e<strong>in</strong>en Arzt holen können, welchen Sie wollen,<strong>de</strong>r hätte diesen Zustand nicht brechen können.«Auf die erstaunte Nachfrage <strong>de</strong>s Journalisten, ob aus Ro<strong>de</strong>wyksWorten geschlossen wer<strong>de</strong>n dürfe, dass es schon ähnlicheFälle mit tödlichem Ausgang <strong>in</strong> <strong>de</strong>r katholischen Kirchegegeben habe, antwortet <strong>de</strong>r Exorzist: »Ja, natürlich.«Nicht das Wort verbieten lässt sich auch Thea He<strong>in</strong>. ImQuelle-Versandhauskatalog hatte sie mehrere Dutzend Kassettenbestellt und mit ihrem Recor<strong>de</strong>r Aufnahmen von <strong>de</strong>nStimmen <strong>de</strong>r Dämonen angefertigt. Sie er<strong>in</strong>nert sich an dieZeit <strong>de</strong>r Verschleierungstaktik nach Annelieses Tod: »DiePriester haben Re<strong>de</strong>verbot gekriegt, und Pfarrer Alt wolltenach Amerika. Da hat er das Reisevisum nicht bekommen.Die Priester hatten Re<strong>de</strong>verbot, und bei mir haben sie esauch versucht. Sie s<strong>in</strong>d gekommen und wollten e<strong>in</strong>e Hausdurchsuchungmachen. Da habe ich gesagt: ›Hören Sie mal,wir leben im <strong>de</strong>mokratischen Deutschland, und ich lass mirdas Wort nicht verbieten. Das könnt ihr mit mir nicht machen.Mit euren Brü<strong>de</strong>rn und Or<strong>de</strong>nsleuten könnt ihr machen,was ihr wollt, mit mir macht ihr das nicht!‹ Und ichhabe damals gesagt: ›Das bricht <strong>de</strong>m Bischof das Kreuz!‹ Erhätte sagen müssen: ›Jawohl, ich habe <strong>de</strong>n Priestern <strong>de</strong>n <strong>Exorzismus</strong>auftragerteilt!‹ Und er hätte sich h<strong>in</strong>ter se<strong>in</strong>e Priesterstellen müssen; er hätte die Priester nicht <strong>de</strong>m Pöbel auslieferndürfen. Er hätte nicht sagen dürfen: ›Ne<strong>in</strong>, ich habeihn nicht erteilt.‹ Da habe ich gesagt: ›Gebt acht, das bricht22

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