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E<br />
geordnet. Söhne haben eine bevorzugte Rolle<br />
inne, da sie als künftige Versorger der Familie<br />
gelten, wodurch sich ihr inniges Verhältnis zu<br />
den Müttern erklärt. Ethnologen sprechen von<br />
der erweiterten Familie, worunter ein Verschwimmen<br />
der Außengrenzen der Kernfamilie<br />
zu verstehen ist. Ehemann und Ehefrau bleiben<br />
ihren jeweiligen Herkunftsfamilien emotional<br />
und funktional verbunden. Die Konzepte von<br />
sevgi, saygi, seref und namus garantieren das<br />
enge Eingebundensein in ein soziales Netz, das<br />
soziale Kontrolle ausübt und gegenseitige Unterstützung<br />
gewährt. Kinder sollen sich unterordnen,<br />
gehorsam sein, sich konform verhalten<br />
und Loyalität zeigen, damit ein hoher Grad an<br />
Zusammenhalt und gegenseitiger Abhängigkeit<br />
gewährleistet bleibt. Prozesse und Erziehungsziele<br />
wie Individuation, Autonomie, Initiative,<br />
Aktivität oder Neugier sind bei Kindern eher unerwünscht,<br />
würden sie doch die Kohäsion der<br />
Gemeinschaft gefährden (Bilsky / Toker 1999).<br />
Die erwünschten Persönlichkeitseigenschaften<br />
eines türkisch sozialisierten Jugendlichen machen<br />
offenkundig, dass sich moralische Reife<br />
in der türkischen Kultur – im Gegensatz zu<br />
deutsch-kulturellen Vorgaben und zur genannten<br />
Kategorie von Esser – eben gerade nicht auf<br />
die Entwicklung einer Eigenständigkeit gegenüber<br />
den Eltern gründet. Die respektvolle Unterordnung<br />
gegenüber der Autorität der Älteren<br />
kann selbst dann ein Zeichen für eine erwachsene<br />
Integration in bestehende Beziehungsund<br />
Rollenmuster bedeuten, wenn das Individuum<br />
über eigene materielle Ressourcen verfügt.<br />
Eine Nicht-Verbundenheit würde im türkischkulturellen<br />
Kontext auf das Fehlen familiärer<br />
Schutzfaktoren im Lebensumfeld hinweisen und<br />
eine Heimat- oder Wurzellosigkeit bedeuten,<br />
die im schlimmsten Fall pathogene Wirkung<br />
haben kann und dann als Normabweichung<br />
interpretiert werden müsste.<br />
36<br />
Aus dem Gesagten ergibt sich bereits hier, dass<br />
die enge Verbundenheit eines „türkischen Jugendlichen“<br />
zum familiären Umfeld wohl kaum<br />
als Kriterium für eine mangelhafte moralische<br />
Reife gewertet werden kann.<br />
Zur Kulturabhängigkeit des<br />
moralischen Urteils<br />
Zusätzliches Gewicht erhalten diese Überlegungen,<br />
wenn wir die kulturvergleichenden psychologischen<br />
Forschungsarbeiten von Lawrence<br />
Kohlberg (z.B. Eckensberger 1993) zur moralischen<br />
Erziehung hinzuziehen. Er entwickelte ein<br />
sechstufiges Modell des moralischen Urteils:<br />
Niveau A: Präkonventionelles Niveau<br />
Stufe 1: Stufe der Strafe und des Gehorsams<br />
Stufe 2: Stufe individuell instrumenteller Ziele<br />
und des Austausches<br />
Niveau B: Konventionelles Niveau<br />
Stufe 3: Stufe der gegenseitigen interpersonellen<br />
Erwartungen, Beziehungen und<br />
der Konformität<br />
Stufe 4: Stufe des sozialen Systems und der<br />
Aufrechterhaltung des Gewissens<br />
Niveau C: Postkonventionelles und prinzipiengeleitetes<br />
Niveau<br />
Stufe 5: Stufe individueller Rechte und des<br />
Sozialvertrags oder der Nützlichkeit<br />
Stufe 6: Stufe universeller ethischer Prinzipien<br />
Kohlberg konnte zweierlei zeigen: Erstens, dass<br />
Individuen im Laufe ihrer Entwicklung bzw.<br />
Sozialisation unterschiedliche Stufen des moralischen<br />
Urteils erlangen (z.B. als Kind Stufe 1 und<br />
als Erwachsener Stufe 5) und zweitens, dass<br />
sich Kulturen hinsichtlich der vorherrschenden<br />
Ausprägung einer oder mehrerer moralischer<br />
Stufen unterscheiden (nur die Stufen zwei bis<br />
vier fanden sich in allen Kulturen).