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Leseprobe Download (PDF) - HÖRZU WISSEN

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3,50€<br />

Das Magazin, das schlauer macht Nr. 5 Oktober / Nov. 2012 3,50 €<br />

<strong>WISSEN</strong><br />

gratis-<br />

HörbucH!<br />

Die Templer<br />

und ihre<br />

Kreuzzüge<br />

Die letzten Geheimnisse<br />

der legendären Ritter<br />

Das Schicksal<br />

der geteilten Stadt<br />

+ EXKLUSIV ZUM AUSKLAPPEN:<br />

XXL-Panorama der Berliner Mauer<br />

Wut, angst, Lust und giEr:<br />

Magier<br />

der LÜFTe<br />

John Downer<br />

entschlüsselt<br />

den Vogelflug<br />

Weltkrieg<br />

in Farbe<br />

Guido Knopps fesselnde<br />

Geschichts-Dokumentation<br />

Unser Körper wird<br />

von mächtigen<br />

Gefühlen gesteuert<br />

so lenken uns Emotionen<br />

Sex iM<br />

MiTTeLaLTer<br />

Die Wahrheit<br />

über die<br />

Wanderhure


4<br />

<strong>WISSEN</strong><br />

Das Magazin, das schlauer macht<br />

Inhalt<br />

wissenschaft<br />

Der Feind in meinem Körper 20<br />

So lenken uns Emotionen: Der Einfluss der<br />

Gefühle ist größer, als sich der vermeintlich<br />

vernunftgesteuerte Mensch eingestehen mag<br />

Schatten der Steinzeit 70<br />

Unsere Körper sind nicht geschaffen fürs heutige<br />

Leben im Überfluss. Das macht sie krank<br />

report<br />

Inside USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28<br />

Wer hat die Macht in Amerika: das Volk, der<br />

Präsident – oder Lobbyisten und Millionäre?<br />

natur & umwelt<br />

Magier der Lüfte 48<br />

Eine spektakuläre TV-Dokumentation zeigt die<br />

Welt aus der Vogelperspektive<br />

Deutschlands wilde Geheimnisse 88<br />

Seltene Tiere und unberührte Wälder: Unsere<br />

Heimat birgt viele erstaunliche Naturschätze<br />

geschichte<br />

Mitten durchs Leben 36<br />

Der bizarre Alltag in Berlin zu Zeiten der Mauer<br />

Die wahre Geschichte der Wanderhure 56<br />

Dokumente enthüllen, wie Prostituierte im<br />

Mittelalter wirklich lebten<br />

Welt am Abgrund 76<br />

Der Erste Weltkrieg löste eine gut 30-jährige<br />

Phase von Chaos, Tod und Leid aus. Guido<br />

Knopp analysiert das Inferno und seine Folgen<br />

technik<br />

Hollywoods beste Tricks 62<br />

Noch nie wirkten Spezialeffekte so real. <strong>HÖRZU</strong><br />

<strong>WISSEN</strong> zeigt, wie die Film-Magier arbeiten<br />

EXtra<br />

Zum Ausklappen:<br />

XXL-Panorama der Berliner Mauer<br />

So haben Sie die geteilte Stadt noch nie gesehen:<br />

Das Rundbild zeigt einen Tag in den 80ern S. 38<br />

biografie<br />

Ian Fleming: Der Doppelagent 100<br />

Das geheimnisvolle Vorleben des 007-Autors,<br />

der selbst für den Geheimdienst arbeitete<br />

48<br />

BefLügeLT<br />

Mit den Vögeln fliegt eine<br />

neue Doku, hier Schneegänse<br />

im Monument Valley<br />

100<br />

geheiM<br />

Bond-Erfinder<br />

Ian Fleming war<br />

selbst Agent<br />

56<br />

SünDig<br />

So sah der Alltag<br />

in mittelalterlichen<br />

Bordellen aus<br />

20<br />

eMoTionaL<br />

Ob Angst, Wut oder<br />

Trauer: Gefühle<br />

lenken unser Leben<br />

88<br />

WiLD<br />

Wo Deutschlands Natur<br />

noch ungezähmt ist, etwa<br />

im Bayerischen Wald<br />

28<br />

käMpferiSch<br />

Obama oder Romney – wer gewinnt<br />

die Wahl? Egal, meinen Experten,<br />

denn das Sagen haben ganz andere<br />

Titelthemen sind rot gekennzeichnet<br />

TITEL: [M] GETTY IMAGES (3)/CORBIS (2)/YOUR PHOTO TODAY (2), KAULITZKI/FOTOLIA, [M] INTERFOTO/ULLSTEIN BILD, AKG IMAGES (2), STIEBING/ULLSTEIN BILD, JOHN DOWNER PRODUCTIONS, UNIVERSUM; PANORAMA: „DIE MAUER –<br />

DAS ASISI PANORAMA ZUM GETEILTEN BERLIN“, 2012 © YADEGAR ASISI; FOTOS: ROB PILLEY/JOHN DOWNER PRODUCTIONS, EVERETT COLLECTION/DPA PICTURE-ALLIANCE, AKG IMAGES, ULLSTEIN BILD, GETTY IMAGES, BILDAGENTUR HUBER,<br />

[M] BESTIMAGE,/GETTY IMAGES/MASTERFILE, INTERFOTO, ULLSTEIN BILD, GETTY IMAGES, WIKIPEDIA; ROBBI: SUSANN HESSELBARTH; PANORAMA: „DIE MAUER – DAS ASISI PANORAMA ZUM GETEILTEN BERLIN“, 2012 © YADEGAR ASISI<br />

wissen junior<br />

Lasst die Drachen steigen! . . . . . . . . . . . 108<br />

Himmelsstürmer aufgepasst: Jetzt könnt ihr<br />

wieder mit dem Wind um die Wette laufen<br />

Museum ist öde? Von wegen! . . . . . . . . 110<br />

Tolle Mitmach-Museen, in denen Kinder<br />

alles anfassen und ausprobieren dürfen<br />

wissen kompakt<br />

Augenblicke 10<br />

Eine dreckige Schlammschlacht, ein riesiges<br />

Donnerwetter und Spinnen auf dem Sprung<br />

Fragen und Antworten 16<br />

Hatten Piraten Totenkopf-Flaggen? Ist es in<br />

London tatsächlich so nebelig? Warum stinken<br />

gekochte Eier – und macht Geld glücklich?<br />

Prof. Lesch erklärt 86<br />

Kosmische Strahlung: der schöne, aber<br />

gefährliche Teilchenschauer aus dem All<br />

Wer hat’s erfunden? 98<br />

Leckere Gummibärchen, transparente Klebestreifen<br />

und das fernkopierende Faxgerät<br />

Die 100 größten Meisterwerke 114<br />

Das Gemälde „Eisenwalzwerk“ von Adolph<br />

Menzel zeigt Industriearbeiter als Helden –<br />

Ende des 19. Jahrhunderts eine Sensation<br />

gratis: hörbuch<br />

Die Templer 8<br />

Die fesselnde Geschichte des im Jahr 1119<br />

gegründeten, legendenumwobenen<br />

Geheimbunds als kostenloser <strong>Download</strong><br />

rubriken<br />

Editorial 3<br />

Über uns, Impressum 6<br />

Leserbriefe 9<br />

Superpreis, Schach 112<br />

Marundes Zeitreise 116<br />

5


20<br />

WissEnschAft<br />

Mienenspiel<br />

Von wegen Pokerface: Gefühle wie<br />

Überraschung, Angst, Trauer oder<br />

Ekel lassen sich kaum verbergen,<br />

denn wie es in einem Menschen aussieht,<br />

zeigt sich auf seinem Gesicht<br />

Emotionsforscher<br />

Prof. Fritz Strack<br />

exklusiv in <strong>WISSEN</strong><br />

So lenken uns Emotionen<br />

Der Feind<br />

in meinem<br />

Körper<br />

Wut, Ekel, Angst:<br />

Die Macht der<br />

Gefühle ist oft<br />

überwältigend. Doch<br />

wie tricksen sie<br />

den Verstand aus?<br />

geraten oder uns jemand frech den anvisierten<br />

Parkplatz wegschnappt, packt uns die<br />

Wut. Folge: Gereizt und übellaunig kippen<br />

wir über den Nächsten, der zufällig unseren<br />

Weg kreuzt, unseren ganzen Frust aus.<br />

Wohl jeder hat Szenarien wie dieses schon<br />

am eigenen Leib erlebt – und gestaunt, wie<br />

sehr sich das vermeintlich vernunftbegabte<br />

Wesen Mensch von Gefühlen steuern lässt.<br />

Was ist das für eine unbändige Kraft, die den<br />

Verstand scheinbar mühelos ausschaltet<br />

Noch bevor wir morgens überhaupt und von uns Besitz ergreift? Und: Was ge­<br />

aufgestanden sind, haben die nau sind eigentlich Emotionen?<br />

Emotionen uns manchmal schon Mit einer konkreten Definition tut die<br />

fest im Griff. Ein Albtraum etwa Wissenschaft sich schwer, sie spricht oft<br />

kann so große Angst auslösen, dass wir die sehr allgemein von unbewussten Gefühlen,<br />

aufsteigende Hitze und das wild klopfende die körperliche Reaktionen hervorrufen.<br />

Herz noch lange nach dem Aufwachen Der Emotionspsychologe Professor Fritz<br />

spüren. Später kriecht uns vielleicht ein Strack von der Universität Würzburg wird<br />

leichtes Ekelgefühl den Nacken hinauf, kon kreter: „Emotionen sind eine bestimm­<br />

wenn die Frühstücksmilch in dicken Klumte Art von Gefühlsregungen im Menschen,<br />

pen aus der Tüte quillt, so verdorben wie die einerseits mit Empfindungen verbunden<br />

nun auch der Appetit. Wenn wir dann auch sind, aber auch mit Gedanken, und die<br />

noch auf dem Weg zur Arbeit in einen Stau schließlich eine Verhaltensbereitschaft <br />

FoTos: burloTTi/GETTy iMAGEs (3), PriVAT<br />

21


22<br />

ANGST<br />

Sie ist eigentlich ein natürlicher<br />

Schutz vor Gefahren, kann sich<br />

aber auch zur Phobie entwickeln,<br />

etwa vor Höhe, Enge oder vor<br />

bestimmten Tieren<br />

auslösen.“ Zu den Emotionen, die durch eine<br />

Empfindung ausgelöst werden, gehört etwa<br />

die Angst, wenn man sich erschreckt. Andere<br />

Emotionen entstehen erst durch Denken,<br />

zum Beispiel Eifersucht oder bestimmte<br />

Formen von Ärger. Professor Strack erläutert:<br />

„Stellen Sie sich vor, jemand, den Sie für Ihren<br />

Freund halten, hat etwas getan, das für<br />

Sie negative Konsequenzen hat. Das ist nicht<br />

schön, aber weil Sie Freunde sind, haken Sie<br />

die Sache ab. Dann finden Sie jedoch heraus,<br />

dass derjenige Sie absichtlich geschädigt<br />

hat – jetzt entsteht Ärger oder Enttäuschung.<br />

Nicht durch die Handlung an sich,<br />

sondern als Ergebnis Ihres Nachdenkens.“<br />

An den Reaktionen des Körpers lassen<br />

sich all diese Emotionen deutlich ablesen.<br />

Zum Beispiel im Gesicht: Ärger zeigt sich<br />

durch Stirnrunzeln, Freude durch Lächeln,<br />

Ekel durch hochgezogene Lippen. Mancher<br />

reagiert auch mit Gänsehaut, vergießt Tränen<br />

der Trauer oder vor Wut. Die Stimme<br />

kann sich ebenfalls verändern: Gehen sowohl<br />

Lautstärke und Tonlage nach oben, ist<br />

der Sprecher vermutlich wütend, reduzieren<br />

sich Geschwindigkeit und Lautstärke,<br />

spricht das für Trauer. Zusätzlich reagiert<br />

das autonome Nervensystem mit Veränderungen<br />

bestimmter Vorgänge im Körper, vor<br />

allem bei negativen Emotionen wie Angst:<br />

Sie mobilisieren das Stresssystem, Herzfrequenz<br />

und Blutdruck steigen (siehe auch<br />

Kasten rechts). Bei Freude hingegen geschieht<br />

das Gegenteil: Der Herzschlag verlangsamt<br />

sich, die Atmung wird ruhiger.<br />

Angeborenes WArnsystem<br />

Zudem löst jede Emotion unmittelbar ein<br />

bestimmtes Verhaltensmuster aus: „Man<br />

geht allgemein davon aus, dass positive<br />

Emotionen dazu führen, dass man Distanzen<br />

verringert, während man sie durch<br />

negative Emotionen erhöht“, sagt Professor<br />

Strack. Konkret bedeutet das: Bei Freude<br />

will man in der Regel dem Auslöser der<br />

Emotion näherkommen – entweder räumlich,<br />

indem man auf einen geliebten Menschen<br />

oder auch auf ein leckeres Essen zugeht,<br />

oder symbolisch, indem man dem<br />

anderen zustimmt. Bei Angst hingegen<br />

würde man am liebsten die Flucht ergreifen,<br />

um so viel Entfernung wie möglich zwischen<br />

sich und die Ursache zu bringen.<br />

Hinter diesen Verhaltensmustern steckt<br />

unter anderem das limbische System. Es<br />

FoTos: PlAinPicTurE, dorlinG kindErslEy VErlAG<br />

„Unser Verhalten wird auf zwei<br />

Wegen gesteuert: Der eine ist<br />

rational, der andere intuitiv.“<br />

Prof. Fritz Strack, Emotionsforscher an der Universität Würzburg<br />

liegt ungefähr in der Mitte des Gehirns<br />

und bestimmt durch die Ausschüttung von<br />

Botenstoffen wie Dopamin, Serotonin,<br />

Noradrenalin oder Acetylcholin, wie wir uns<br />

verhalten. Diese Muster sind angeboren,<br />

zumindest für die Grundemotionen. „Damit<br />

sind Emotionen gemeint, die in allen<br />

Kulturkreisen existieren“, sagt Professor<br />

Strack. „Wie viele das sind, ist nicht festgelegt,<br />

manche Forscher nennen fünf, andere<br />

sieben.“ Häufig werden Freude, Trauer, Wut,<br />

Angst und Ekel aufgezählt, gelegentlich<br />

auch Überraschung, Scham oder Neid.<br />

Diese Emotionen haben einen biologischen<br />

Sinn: Sie beschützen oder unterstützen uns.<br />

Angst vor Feuer und anderen Gefahren<br />

oder Ekel vor verdorbenen Lebensmitteln<br />

sichern das Überleben, Freude treibt an und<br />

erleichtert zudem soziale Bindungen.<br />

Alles eine FrAge des stils<br />

Emotionen prägen auch die Persönlichkeit,<br />

jeder hat seinen ganz eigenen emotionalen<br />

Stil. „Er ist das Ergebnis neuronaler Verschaltungen,<br />

die sich bereits sehr früh in<br />

unserem Leben unter dem Einfluss der von<br />

unseren Eltern geerbten Gene und unserer<br />

Erfahrungen herausgebildet haben“, schreiben<br />

der Hirnforscher Richard Davidson und<br />

die Journalistin Sharon Begley in ihrem<br />

Buch „Warum wir fühlen, wie wir fühlen“<br />

(Arkana, 22,99 Euro). Dieser Stil erkläre,<br />

warum emotionale Reaktionen auf die gleiche<br />

Situation manchmal so unterschiedlich<br />

ausfielen. Das kann man zum Beispiel am<br />

Flughafen beobachten, wenn sich ein Abflug<br />

verzögert. Ein Fluggast faucht wütend<br />

das Bodenpersonal an, der nächste macht<br />

sich Sorgen, ob wohl etwas mit der Technik<br />

nicht stimmt, während ein weiterer erst einmal<br />

seelenruhig einen Kaffee trinken geht.<br />

Diese Unterschiede im Verhalten werden<br />

auch im Gehirn sichtbar, behaupten Davidson<br />

und Begley. Wer etwa eine hohe Aktivität<br />

in der Gehirnregion des linken präfrontalen<br />

Cortex aufweist, einem Teil des<br />

Frontallappens in der Großhirnrinde, empfindet<br />

leichter positive Emotionen und erholt<br />

sich schneller von negativen Gefühlen.<br />

Wer hingegen umgekehrt<br />

einen aktiveren<br />

rechten präfrontalen<br />

Cortex<br />

besitzt, hat eher<br />

negative Empfindungen.<br />

Eine Rolle spiele auch, wie stark<br />

oder schwach diese Bereiche mit der Amygdala,<br />

dem Mandelkern, vernetzt sind. „Die<br />

Amygdala ist an negativen Emotionen und<br />

seelischem Kummer beteiligt und springt<br />

an, sobald wir nervös werden, Angst haben<br />

oder uns bedroht fühlen“, so die Autoren.<br />

Eine ausgeprägte Verbindung zur linken<br />

WissEnschAft<br />

Cortex­Region kann jedoch die Aktivität der<br />

Amygdala dämpfen. Dass Emotionen tatsächlich<br />

genau im Gehirn lokalisierbar und<br />

aktivierbar sind, zeigen eine Reihe von zufälligen<br />

Beobachtungen. So löste ein schwacher<br />

Stromfluss, der zu Therapiezwecken im<br />

Gehirn einer Parkinsonpatientin erzeugt<br />

wurde, tiefe Traurigkeit in ihr aus. Eine andere<br />

fing durch einen ähnlichen Impuls auf<br />

einmal an, herzhaft zu lachen.<br />

Natürlich werden Emotionen normalerweise<br />

nicht künstlich ausgelöst, doch auch<br />

natürliche Empfindungen sind manchmal<br />

sehr befremdlich, ja sogar lästig. Tränen <br />

Was bei Angst im Körper passiert<br />

Bei bestimmten Reizen aktiviert das Gehirn Bereiche, die dann<br />

wiederum körperliche Reaktionen auslösen<br />

Augen<br />

Die Pupillen<br />

weiten sich<br />

Herz<br />

Es schlägt<br />

schneller und<br />

kräftiger<br />

Lunge<br />

Hyperventilation<br />

(schnelle, tiefe<br />

Atmung) setzt ein<br />

Magen<br />

Durch Reduktion von<br />

Verdauungsenzymen<br />

entsteht Übelkeit<br />

Darm<br />

Die Darmbewegungen<br />

verlangsamen sich<br />

Blase<br />

Der Schließmuskel<br />

zieht sich zusammen<br />

Blutgefäße<br />

Die Hauptgefäße<br />

erweitern sich, der<br />

Blutdruck steigt<br />

Im GEhIrn SpEIchErt die Amygdala,<br />

auch Mandelkern genannt, gute und<br />

schlechte Erinnerungen und vor allem<br />

emotionale traumata. Sie ist zudem<br />

fest auf Angstreaktionen bei bestimmten<br />

Reizen programmiert, etwa niedrig fliegende<br />

Vögel, Spinnen oder Schlangen:<br />

Dabei registriert sie einen erschreckenden<br />

Anblick, noch bevor wir uns dessen<br />

bewusst geworden sind, denn während<br />

die Sinnesinformationen<br />

zum Cortex (der Großhirnrinde)<br />

laufen, sendet die<br />

Amygdala auf direktem Wege<br />

zum hypothalamus. Der<br />

wiederum veranlasst, dass<br />

der Körper zur Flucht, zum<br />

Kampf oder zur Beschwichtigung<br />

vorbereitet wird. Für die<br />

physischen Reaktionen der<br />

Angst ist das autonome<br />

nervensystem zuständig, das<br />

alle automatischen Vorgänge im<br />

Körper steuert. Mehr über Anatomie,<br />

Funktionen und Rolle des<br />

Gehirns in Bezug auf Emotionen<br />

finden Sie im Buch „Das Gehirn“,<br />

aus dem diese Grafik stammt.<br />

BUCHTIPP: „Das<br />

Gehirn“, Rita Carter,<br />

Dorling Kindersley<br />

Verlag, 34,95 Euro<br />

23


24<br />

WissEnschAft<br />

fließen meistens in den unpassendsten Momenten,<br />

unbändige Freude erscheint oft<br />

übertrieben kindisch, Wutausbrüche können<br />

in Gewalt enden, und Angst verspüren<br />

wir viel zu oft: vor Prüfungen, vor Mäusen,<br />

Spinnen oder vor dem Zahnarzt.<br />

Manchmal wird die Angst gar so stark,<br />

dass sie völlig die Kontrolle übernimmt, den<br />

Betroffenen zittern lässt, ihm den Atem<br />

raubt und ihn regelrecht lähmt. Man spricht<br />

dann von krankhaften Phobien, die Emotionspsychologe<br />

Fritz Strack so erklärt: „Ihnen<br />

liegen Lernprozesse zugrunde, die wir<br />

durchgemacht haben. Emotionen sind ja<br />

formbar, und bestimmte Erfahrungen im<br />

Leben können dazu führen, dass die Schwelle<br />

für die Angstauslösung zu niedrig ist.“<br />

KAmpF der systeme<br />

Es muss aber nicht immer gleich eine Phobie<br />

sein, wenn ein Gefühl uns überwältigt.<br />

Manche sehen ganz schnell rot vor Wut,<br />

werden aggressiv und verstehen hinterher<br />

überhaupt nicht mehr, wie sie derart unbeherrscht<br />

sein konnten. Andere sind derart<br />

blind vor Liebe, dass sie sich über lange<br />

Zeit ausnutzen lassen und nicht imstande<br />

sind, Warnsignale zu erkennen.<br />

Wie kann es sein, dass Gefühle uns so<br />

stark beeinflussen, ja überwältigen? Und<br />

wieso ist der doch eigentlich vernunftbegabte<br />

Mensch nicht davor gefeit? „Wir gehen davon<br />

aus, dass Verhalten auf zwei Wegen gesteuert<br />

werden kann“, sagt Emotionsforscher<br />

Gefühle können wie<br />

hinter einer Wand<br />

verborgen sein<br />

Strack. „Das eine nennen wir das reflektive<br />

System, das ist die rationale Steuerung, die<br />

das Verhalten durch Vorwegnahme der Konsequenzen<br />

lenkt.“ Heißt: Man entscheidet<br />

bewusst, was man tut, indem man sich überlegt,<br />

welche Handlungsalternative am meis­<br />

Extreme persönlichkeiten<br />

DAS EmotIonAlE SpEKtrum beginnt<br />

mit dem Phänomen der Alexithymie, auch als<br />

Gefühlsblindheit bezeichnet. Laut Schätzungen<br />

haben 11 bis 14 Prozent der Deutschen<br />

dieses Persönlichkeitsmerkmal, das den Zugang<br />

zu den eigenen Emotionen versperrt.<br />

Messungen zeigen, dass diese Menschen zwar<br />

körperliche Reaktionen haben, sie können aber<br />

die Gefühle nicht wahrnehmen und schon gar<br />

nicht in Worte fassen. Außerdem sind Mimik<br />

und Gestik der Betroffenen oft nur schwach<br />

ausgeprägt. Weil sie etwa erhöhten Herzschlag<br />

nicht als Aufregung und Übelkeit nicht als<br />

AuGen Traurigkeit löst<br />

Tränen aus, die Verletzlichkeit<br />

signalisieren<br />

Immunsystem<br />

Es wird geschwächt und<br />

so anfälliger für Infekte<br />

Herz Es schlägt fünfmal<br />

mehr pro Minute, das<br />

erhöht das Infarktrisiko<br />

ten Nutzen bringt. „Das erfordert allerdings<br />

sehr viel kognitive Kapazität, also Aufmerksamkeit“,<br />

so Professor Strack weiter. „Das<br />

hält uns davon ab, schnell zu reagieren, was<br />

wir ja oft müssen. Deshalb gibt es ein zweites<br />

System, das impulsive System. Es wird<br />

Menschen erleben Emotionen unterschiedlich stark. Während manche fast<br />

gar nichts empfinden, fühlen andere beinahe mehr, als sie ertragen können<br />

Zeichen von Angst erkennen, gehen sie auffallend<br />

oft zum Arzt, ohne wirklich krank<br />

zu sein. ursache können die Gene sein, aber<br />

auch emotionale Vernachlässigung in der<br />

Kindheit oder ein traumatisches Erlebnis.<br />

Das andere Extrem des Gefühlsspektrums<br />

nennt sich hochsensibilität: Betroffene<br />

nehmen äußere Reize, Stimmungen und<br />

Emotionen besonders stark wahr und können<br />

zum Beispiel beim geringsten Anlass in<br />

Tränen ausbrechen. Da Hochsensible alles mit<br />

enormer Intensität aufnehmen, fühlen sie sich<br />

schnell geradezu schmerzhaft überreizt.<br />

FoTos: cu/HAss/PlAinPicuTrE (2), ziMMEr/krAusE/siMon/iMAGo (3), AcTion PrEss, kocH/ddP<br />

TRAUER<br />

sie kann zu schlafstörungen,<br />

Übelkeit oder kopfschmerzen<br />

führen. Auslöser für die<br />

Trauer ist meist ein Verlust. in<br />

der ersten Phase fühlen sich<br />

betroffene oft körperlich taub<br />

von Gewohnheiten beeinflusst, sodass man<br />

zum Beispiel beim Autofahren nicht mehr<br />

überlegen muss, ob man zuerst kuppelt oder<br />

schaltet, aber auch Emotionen spielen eine<br />

wesentliche Rolle.“ Das impulsive System ist<br />

etwa im Einsatz, wenn man den Duft frisch<br />

gebackenen Kuchens wahrnimmt – und sofort<br />

zum Tresen geht, um sich ein Stück zu<br />

kaufen. Oder wenn man bis zum Morgen auf<br />

einer tollen Party bleibt, obwohl die Arbeit<br />

schon in wenigen Stunden wieder beginnt.<br />

shoppen mit geFühl<br />

Welches der beiden Systeme die Oberhand<br />

gewinnt, hängt von den Umständen ab. Ist<br />

man abgelenkt und unaufmerksam, lässt<br />

man sich eher von Emotionen leiten. „Aber<br />

auch wenn man etwa Alkohol getrunken<br />

hat, hat das impulsive System einen größeren<br />

Einfluss auf das Verhalten“, sagt Fritz<br />

Strack. Das reflektive System wiederum<br />

kommt stärker zum Zug, wenn man nicht<br />

sonderlich gut gelaunt ist. „Verschlechtern<br />

sich Gefühle, werden die Denkprozesse genauer,<br />

man denkt intensiver nach“, so der<br />

Experte. Ein sinnvolles Prinzip: „Wenn alles<br />

prima läuft und man sich gut fühlt, existie­<br />

ren kaum Probleme, die Aufmerksamkeit fordern.<br />

Ein negatives Gefühl aber signalisiert,<br />

dass es Schwierigkeiten geben könnte und<br />

man den Autopiloten ausschalten muss.“<br />

Auch bei Kaufentscheidungen beeinflussen<br />

Emotionen das Denken, sowohl bewusst<br />

als auch unbewusst. Strack: „Bewusst ist die<br />

Entscheidung für ein Produkt, weil ich mich<br />

damit gut fühle.“ Etwa weil es gesund erscheint<br />

oder ein positives Image hat. „Unbewusst<br />

hingegen fallen mir häufiger Informationen<br />

ein, die mit Emotionen verknüpft<br />

sind, weil das Gedächtnis sie leichter abrufen<br />

kann.“ Genau mit diesem Zusammenhang<br />

arbeiten Marken, die beispielsweise<br />

den Geschmack von Freiheit und Abenteuer<br />

oder ein entspanntes Karibik­<br />

Feeling versprechen und so das<br />

Urteil der Käufer beeinflussen:<br />

„Indem man ein Verkaufserlebnis<br />

schafft, also ein Ambiente herstellt,<br />

in welchem sich die Leute<br />

wohlfühlen, oder indem man die<br />

Werbung mit emotionalen Erfahrungen<br />

anreichert. Wiederholt man<br />

diese Verknüpfungen immer wieder,<br />

wird irgendwann das Produkt selbst angenehme<br />

Gefühle beim Konsumenten hervorrufen“,<br />

erklärt Professor Strack.<br />

Diese gezielte Verwendung von Gefühlen<br />

ist für Hersteller von Konsumartikeln so interessant,<br />

dass sie ein ganzes Geschäftsfeld<br />

beschäftigt: Das Neuromarketing versucht,<br />

mit Marken unbewusst positive Emotionen<br />

im Gehirn zu wecken, damit sie beim Kunden<br />

in guter Erinnerung bleiben – etwa so,<br />

wie der wohlige Gedanke an die erste Liebe<br />

sofort da ist, wenn das gemeinsame Lied gespielt<br />

wird. Natürlich sind so individuelle<br />

Emotionen schwer zu aktivieren. Aber man<br />

weiß, dass bekannte Gesichter grundsätzlich<br />

sympathischer bewertet werden als unbekannte,<br />

dass wir Rabatte immer positiv<br />

finden, dass die Form von Sportwagen ein<br />

größeres Gefühl der Selbstbestätigung<br />

hervorruft als jene von Limousinen oder<br />

Kleinwagen oder dass wir gern das Einkaufsverhalten<br />

anderer nachahmen.<br />

Das Spannende: Wir sind zwar davon<br />

überzeugt, dass die Warnhinweise auf<br />

Zigarettenschachteln abschreckend wirken<br />

oder dass wir Fast Food eigentlich gar<br />

nicht mögen. Messungen zeigen aber, dass<br />

diese Produkte im Gehirn eindeutig – und<br />

völlig abseits unseres Bewusstseins – die <br />

Wenn Gefühle<br />

stärker sind als<br />

der Verstand<br />

Wie negativ die Kraft der<br />

Emotionen wirken kann,<br />

zeigen prominente Beispiele<br />

EInE WIchtIGE rollE spielen Emotionen<br />

zum Beispiel im Sport: Sie können<br />

motivieren und stark machen, aber<br />

auch destruktiv sein. So mancher brüllt<br />

nicht einfach nur seine Frustration<br />

über eine Niederlage heraus, sondern<br />

lässt sie an Gegenständen aus, wie Tennisspieler<br />

Marcos Baghdatis in diesem<br />

Jahr bei den Australian Open. Noch<br />

schlimmer ist es, wenn man durch<br />

unkontrollierte Emotionen sich selbst<br />

oder sogar anderen Schaden zufügt,<br />

wie es Susanne Klatten und<br />

Ameneh Bahrami (siehe unten)<br />

auf sehr unterschiedliche<br />

Weise erlebten.<br />

Zerstörerischer Wutanfall<br />

Tennisprofi Marcos Baghdatis zertrümmerte<br />

nach zwei verlorenen Sätzen gleich vier seiner<br />

Tennisschläger – in weniger als einer Minute<br />

Eifersucht<br />

Ameneh Bahrami lehnte<br />

2004 den Heiratsantrag<br />

eines Verehrers ab. Der<br />

rasend Eifersüchtige<br />

verätzte sie mit Säure.<br />

Die Iranerin verlor<br />

ihr Augenlicht und ist<br />

für immer entstellt<br />

Blind vor Liebe<br />

Milliardärin Susanne Klatten, eine sonst scheue und<br />

kluge Frau, ließ sich von Liebhaber Helg S. täuschen:<br />

Er forderte Millionen von ihr und erpresste sie 2007


„Wut verändert die Wahrnehmung“<br />

Die Wiener Psychologin helga Kernstock-Redl verhilft vor allem<br />

jähzornigen Menschen zu mehr emotionaler Kompetenz<br />

Mehr Infos zur Expertin:<br />

www.emotions<br />

kompetenz.at<br />

hÖrZu WISSEn:<br />

Was fühlen wütende<br />

menschen?<br />

HELGA KERNSTOCK-<br />

REDL: Die meisten<br />

versuchen, das Gesamtpaket<br />

aus Fühlen,<br />

Denken und körperlicher<br />

Reaktion in<br />

eine Metapher zu<br />

bringen. Sie vergleichen<br />

ihren Zustand<br />

zum Beispiel mit<br />

einem Vulkan: Erst<br />

brodelt die Wut<br />

lange wie Lava in ihnen, dann steigt sie auf<br />

und bricht aus ihnen heraus. Was in ihrem<br />

Körper passiert – dass der Kopf heiß wird,<br />

sich die Muskeln anspannen –, nehmen<br />

sie meistens gar nicht bewusst wahr.<br />

In welchen Situationen entsteht Wut?<br />

Meistens dann, wenn eine Grenze verletzt<br />

wird. Vielleicht, weil einem körperlich jemand<br />

viel zu nahe kommt, aber auch verbal,<br />

wenn jemand abwertend oder verletzend<br />

ist. Manchmal meldet Wut, dass ein<br />

Ziel gefährdet ist, und fordert so zum<br />

Handeln auf. Es kann aber auch sein, dass<br />

man in den Zorn kippt, weil man das ursprüngliche<br />

Gefühl, beispielsweise Angst<br />

oder Hilflosigkeit, nicht mehr aushält. Bei<br />

jähzornigen Menschen reichen solche<br />

Kleinigkeiten oft schon, um in einen Wutanfall<br />

katapultiert zu werden.<br />

Wie wird aus einem kleinen Ärger eine<br />

so große Emotion?<br />

Ich nenne das den Lawineneffekt: Ein<br />

kleiner Ärger trifft im Gehirn auf einen<br />

Schneehang. Er löst Assoziationen zu<br />

früheren Ärgernissen aus, das Gehirn<br />

kommt damit selbsttätig in Rage, und<br />

die Lawine rollt los. Wichtig ist dann zu<br />

erkennen, dass der wahre Feind nicht der<br />

Mensch ist, der den ersten Schneeball<br />

geworfen, also uns geärgert hat, sondern<br />

die Lawine, die im Gehirn ausgelöst wird.<br />

und was passiert dann in uns?<br />

Der biologische Sinn von Wut ist Verteidigung<br />

und Angriff. Der Körper reagiert zum<br />

Beispiel mit vermindertem Schmerzempfinden,<br />

stärkerer Durchblutung und größerer<br />

verfügbarer Kraft, sodass er bereits<br />

bei einer mittleren Ärgerintensität zu<br />

Höchstleistungen fähig wird. Rasende Wut<br />

führt zu Kontrollverlust, sie verändert das<br />

Denken und die Wahrnehmung und schaltet<br />

schließlich den Verstand aus. Wütende<br />

Menschen interpretieren das Verhalten<br />

anderer oft fälschlicherweise als Angriff<br />

und reagieren mit einem Gegenangriff.<br />

Warum brausen manche personen so<br />

wahnsinnig schnell auf?<br />

Grundsätzlich gibt es natürlich Menschen<br />

mit einem intensiveren Gefühlsleben als<br />

andere. Aber wenn jemand chronisch<br />

übermäßig aufbrausend ist, kann es sein,<br />

dass er einfach keine Werkzeuge hat,<br />

mit der Wut umzugehen. Vielleicht sagt er<br />

sogar allzu lange gar nichts, versucht die<br />

aufsteigende Wut zu unterdrücken, und<br />

irgendwann kommt dann der Ausbruch.<br />

Manche Choleriker sind übermäßig verletzbar,<br />

andere meinen sogar, sie lassen<br />

sich in Wahrheit zu viel gefallen, jonglieren<br />

ständig am Rand des emotionalen Kontrollverlusts<br />

und explodieren dann zur<br />

falschen Zeit beim falschen Menschen.<br />

Wie lässt sich die Wut beherrschen?<br />

Am besten ist es, die Wut gar nicht erst<br />

entstehen zu lassen, indem man ihr die<br />

Ursache entzieht. Ärgert man sich etwa<br />

über einen Raser, kann man ihn für einen<br />

überheblichen Rambo halten und sich in<br />

die Wut hineinsteigern – oder man überlegt<br />

sich, dass er so schnell fährt, weil er<br />

dringend aufs Klo muss. Dieser amüsante<br />

Gedanke kann Ärger schnell auflösen. Ein<br />

anderer Weg zum Wut­Management ist<br />

die logische Analyse: Das Gespräch mit<br />

einem Kollegen macht Sie ohne fassbare<br />

Ursache zornig. Wenn Sie das selbst frühzeitig<br />

erkennen, können Sie überlegen:<br />

Wieso ist der Ärger da? War der Kollege<br />

unterschwellig abwertend? Wollen Sie<br />

was erreichen, und er leistet Widerstand?<br />

Oder erinnert etwas an ihm an ein früheres<br />

Erlebnis, das mit Wut verknüpft ist?<br />

und wenn man weiß, woran es liegt –<br />

was macht man dann?<br />

Tief durchatmen, ruhiger werden und je<br />

nach Ergebnis der Minianalyse den nächsten<br />

Schritt planen: die Wut dafür zu nutzen,<br />

ein Ziel zu erreichen oder eine Grenze<br />

zu verteidigen. Also sich beispielsweise zu<br />

überlegen, wie man fest und bestimmt<br />

sagen kann, was einen stört. Man muss<br />

Wut ja nicht verstecken oder unterdrücken,<br />

sondern kann sie dosiert als konstruktive<br />

Kraft nutzen – wenn Gefühl und<br />

Verstand Hand in Hand gehen.<br />

Klingt in der theorie ganz einfach.<br />

Aber warum gelingt das so selten?<br />

Ein Wutanfall befreit von sehr viel angestauter<br />

Energie. Danach ist man ruhiger<br />

und entspannter, was viele Choleriker als<br />

angenehm empfinden. Allerdings stellen<br />

sich in der Regel auch Schuldgefühle ein,<br />

wenn man durch sein Verhalten die Menschen<br />

in der Umgebung krank macht oder<br />

private Beziehungen regelrecht zerstört.<br />

Wie geht man mit cholerikern um?<br />

Wutanfälle muss man weder bei sich noch<br />

bei anderen als gegeben akzeptieren –<br />

nur kleine Kinder sind ihren Gefühlen ausgeliefert.<br />

Unter Erwachsenen kann man<br />

Emotionen respektvoll ansprechen, ohne<br />

zu persönlich zu werden. Gerade im Berufsleben<br />

ist eine gute Formulierung wichtig.<br />

Also besser fragen „Was genau stört<br />

Sie gerade?“ als „Sind Sie jetzt wütend?“.<br />

muskulAtur Sie wird<br />

angespannt, verhärtet<br />

im Nacken und Rücken<br />

WUT<br />

Ein Gefühl, das sich oft<br />

impulsiv und aggressiv<br />

zeigt – sowohl körperlich<br />

als auch verbal,<br />

etwa durch gesteigerte<br />

lautstärke und heftige<br />

schimpfwörter<br />

Areale für positive Emotionen ansprechen.<br />

Von der Vorstellung, rationale Konsumenten<br />

zu sein, sollten wir uns verabschieden.<br />

Tatsächlich fällen wir, ob es uns gefällt oder<br />

nicht, meist emotional geprägte Impulsentscheidungen<br />

beim Einkaufen.<br />

Alles unter Kontrolle<br />

All das bedeutet aber nicht, dass wir unseren<br />

Emotionen hilflos ausgeliefert sind. So<br />

wie sie uns beeinflussen, können wir es umgekehrt<br />

auch. Jeder, der weiß, wie er tickt,<br />

wird etwa voraussagen können, dass eine<br />

Mousse au Chocolat eine fast unwiderstehliche<br />

Versuchung für ihn darstellt – und dass<br />

er darum dringend eine Strategie braucht,<br />

um sein Verlangen in Schach zu halten.<br />

„Diese Art der Selbsterkenntnis ist ein wichtiger<br />

Teil der emotionalen Intelligenz“, sagt<br />

Experte Strack. Dazu gehört auch, in emotionalen<br />

Momenten zu wissen, was man fühlt<br />

– und zwar möglichst früh, damit man noch<br />

die Chance hat, seine Emotionen selbst zu<br />

lenken, bevor man zum Beispiel vor Wut<br />

ausflippt (siehe Interview links).<br />

„Emotionale Intelligenz kann dabei helfen,<br />

das eigene reflektive System zu stärken,<br />

die Emotionen zu regulieren und sein Verhalten<br />

zu kontrollieren“, so Professor Strack.<br />

FoTos: zEMdEGA/GETTy iMAGEs, FrEisEn/bildsTEllE, PriVAT<br />

mAGen Seine Tätigkeit<br />

wird gehemmt, es sind<br />

Schmerzen möglich<br />

Klingt gut – aber wie gelingt das in der<br />

Praxis? Fest steht: Der Wille allein reicht<br />

nicht, und ein Gefühl zu erkennen ist nur<br />

der erste Schritt. Danach gilt es, die Situation<br />

zu analysieren und möglichst neu zu<br />

bewerten. Warum bin ich gerade verärgert,<br />

traurig oder eifersüchtig? Kann ich das<br />

Ganze vielleicht auch anders sehen? Gibt es<br />

positive Aspekte an der Situation? Sachliche<br />

Überlegungen nehmen der Emotion die<br />

Wucht. Sie lässt sich zwar nicht ganz wegdenken,<br />

aber wir können sie beherrschen<br />

lernen. Es braucht Zeit und Übung, dem<br />

Gehirn das neue Reaktionsmuster beizubringen.<br />

Da der emotionale Stil eines Menschen<br />

auch genetisch beeinflusst ist, kann<br />

man ihn nicht komplett ändern, sondern<br />

Meditation kann<br />

dazu beitragen,<br />

seine eigenen<br />

Emotionen besser<br />

zu erkennen<br />

Blutdruck Er steigt<br />

vor allem, wenn Wut<br />

lange unterdrückt wird<br />

muss beharrlich neue Strukturen aufbauen,<br />

die über Jahre erlernte hemmen.<br />

Es gibt noch einen zweiten Weg zur Kontrolle<br />

von Emotionen: „Man kann den Einfluss<br />

eines Gefühlsauslösers auch reduzieren,<br />

indem man seine Aufmerksamkeit<br />

gezielt auf etwas anderes lenkt“, erklärt<br />

Strack. „Es ist so vergleichbar mit dem<br />

Betreten eines hellen Raumes: Erst ist man<br />

WissEnschAft<br />

„Selbsterkenntnis ist ein wichtiger Teil<br />

der emotionalen Intelligenz. Sie kann<br />

helfen, die Emotionen zu regulieren.“<br />

Professor Fritz Strack<br />

geblendet, dann passt sich das Auge an.<br />

Mit Gefühlen ist es ähnlich; wenn sich ihre<br />

Intensität nicht verändert, nehmen sie<br />

subjektiv gesehen langsam ab.“<br />

nichts unterdrücKen<br />

Übrigens: Es hilft nicht, nur den Gefühlsausdruck<br />

zu kontrollieren, also keine Miene<br />

zu verziehen oder Tränen zurückzuhalten.<br />

Das unterdrückt die Emotionen nur,<br />

reguliert sie aber keineswegs, sondern verstärkt<br />

sie sogar und stresst den Körper. Strack:<br />

„Außerdem wirken Menschen, die alle Gefühle<br />

unterdrücken, nicht sonderlich sympathisch.“<br />

Egal ob Wut, Euphorie oder Angst:<br />

Vielleicht sollten wir unsere Emotionen<br />

nicht als feindliches Überfallkommando betrachten,<br />

sondern als Freunde, die uns überraschend<br />

besuchen kommen, unser Leben<br />

auf ihre Art bereichern – und irgendwann<br />

wieder gehen. mElAnIE SchIrmAnn<br />

27


48<br />

Natur<br />

formationsflug<br />

Bei ihrer Reise von den skandinavischen Brutgebieten zu den<br />

Winterquartieren im Süden überqueren die Kraniche im Herbst auch<br />

Deutschland, Frankreich (Foto: Château de Chenonceau im Loiretal)<br />

und Spanien. Meist sind die Tiere, die als Symbole des Glücks<br />

gelten, in typischer V-Formation unterwegs, um Energie zu sparen.<br />

Film ab!<br />

Den Trailer zur<br />

Doku gibt es bei<br />

<strong>HÖRZU</strong> plus.<br />

Mehr dazu: S. 3<br />

plus<br />

Magier<br />

BBC-Naturfilmer<br />

John Downer<br />

exklusiv in <strong>WISSEN</strong><br />

der Lüfte<br />

Wer die Welt aus der perspektive<br />

der vögel erleben will, muss mit ihnen<br />

zum Himmel aufsteigen. Der BBC-Naturfilmer<br />

John Downer wagte es – und<br />

wurde mit einzigartigen Bildern belohnt<br />

49


50<br />

Mit den Augen eines<br />

Vogels betrachtet,<br />

sieht die Welt plötzlich<br />

ganz anders<br />

aus. Es gibt keine<br />

Grenzen mehr, keine<br />

Mauern, und<br />

was uns wichtig erscheint, wirkt plötzlich<br />

winzig klein. Völlig losgelöst überwinden die<br />

Magier der Lüfte die Schwerkraft. „Es ist ein<br />

großer Menschheitstraum, wie ein Vogel zu<br />

fliegen“, sagt der preisgekrönte BBC-Naturfilmer<br />

John Downer. „Bei meiner neuen Produktion<br />

,Federleicht und flügelweit‘ ist er für<br />

mich in Erfüllung gegangen.“ Unter Geiern<br />

in Afrikas Serengeti, mit Nonnengänsen<br />

über Schottland, zwischen Pelikanen in Mexiko<br />

– nie zuvor war jemand den Vögeln im<br />

Flug so nah, noch nie glückten so atemberaubende<br />

Aufnahmen.<br />

Die besten Fotos präsentiert Downer jetzt<br />

in einem Bildband (siehe Buchtipp Seite 55),<br />

die mehrteilige TV-Dokumentation läuft ab<br />

Montag, 1. Oktober, 19.30 Uhr, bei Arte. Sie<br />

zeigt alle fünf Kontinente der Erde aus der Vo-<br />

<br />

gelperspektive. Downer: „Dazu mussten<br />

Massenbewegung<br />

Die Salzseen Afrikas sind die Heimat der Zwergflamingos. Vor allem im<br />

östlichen Teil des Rift Valley, etwa in Kenia (Foto rechts: Bogoriasee)<br />

und Tansania, sammeln sie sich zu Hunderttausenden. Die Vögel ziehen<br />

auf der Suche nach Nahrung von einem See zum nächsten. Ihr sprunghaftes<br />

Zugverhalten ist für die Wissenschaft bis heute rätselhaft.<br />

Natur<br />

51


Natur<br />

fernreisende<br />

Rund 8000 Kilometer legen Schneegänse jedes Jahr auf ihren Flügen<br />

zurück. Sie starten in Kalifornien oder Mexiko, überqueren einsame Landschaften<br />

wie das Monument Valley in Utah (Foto), bis sie schließlich die<br />

arktische Tundra erreichen. Dort liegen ihre Brutgebiete. Allein sieht man<br />

die bis zu vier Kilo schweren Vögel selten. Sie fliegen im Schwarm, legen<br />

dabei zum „Auftanken“ immer wieder kurze Stopps ein. So schaffen sie es,<br />

die Hälfte des Jahres als Reisende am Himmel unterwegs zu sein.<br />

wir selbst zu Vögeln werden und mit ihnen<br />

in den Himmel steigen.“ Ein echtes Abenteuer,<br />

denn moderne Digitaltechnik allein<br />

reicht nicht aus, um Teil der Vogelwelt zu<br />

werden. Die Filmemacher brauchten Fantasie,<br />

Wagemut und die Bereitschaft, von<br />

den Tieren zu lernen. Hier die Geschichte<br />

hinter den spektakulären Bildern.<br />

PRojEKTSTaRT MiT EinEM Ei<br />

Wer fliegen will, muss klein anfangen – mit<br />

einem Ei. „Prägung war eine der wichtigs-<br />

ten Techniken, die wir bei dem Projekt einsetzten“,<br />

erklärt Downer. Wenn ein Vogel<br />

schlüpft, betrachtet er das erste Lebewesen,<br />

das er sieht, als Mutter. Auch Menschen. „Ist<br />

das Band geknüpft, folgt das Küken den Ersatzeltern<br />

überallhin. Das Verhalten bleibt,<br />

selbst wenn das Tier längst flügge ist.“<br />

Vor über 25 Jahren nutzte der britische Filmemacher<br />

diese Tatsache erstmals. Damals<br />

sollte eigentlich ein Kameramann die<br />

Mama spielen. „Doch auf der Fahrt zu ihm<br />

schlüpfte das Entenküken vorzeitig in mei-<br />

segelflieger<br />

Basstölpel bauen ihre Nester am liebsten auf steilen Felsinseln. Im Januar<br />

ziehen sie von der hohen See bis vor die Küste Schottlands (Foto: Bass<br />

Rock), um zu brüten. Nahrung gibt es dort noch in Hülle und Fülle: Die<br />

gänsegroßen Meeresvögel haben sich auf fettreiche Fische wie Hering<br />

und Makrele spezialisiert und kreisen über den Schwärmen, um dann im<br />

Sturzflug ins Wasser einzutauchen. Ihre langen, schmalen Flügel sitzen<br />

weit hinten am Körper – perfekt geeignet für kräftesparenden Gleitflug.<br />

nem Schoß“, erinnert sich Downer. „Es war<br />

also auf mich geprägt. Sechs Monate lang<br />

hatte ich Familienzuwachs. Der kleine flauschige<br />

Ball saß neben mir im Auto, beim Telefonieren<br />

auf meinem Kopf, kam sogar mit<br />

zur Dinnerparty.“ Und er folgte Ersatzmutter<br />

Downer, als der per Gleitschirm in die<br />

Luft ging. So entstanden revolutionäre Flugbilder<br />

aus nächster Nähe.<br />

Für „Federleicht und flügelweit“ perfektionierte<br />

das Team diese Technik. Der Franzose<br />

Christian Moullec zog Kraniche, Weiß-<br />

störche und Gänse auf, um später gemeinsam<br />

mit ihnen im Ultraleichtflugzeug abheben<br />

zu können. Bevor dabei einzigartige Aufnahmen<br />

vom Fliegen im Schwarm glückten,<br />

mussten sich die Tiere aber an den Lärm des<br />

Motors gewöhnen. „Den ähnlichsten Klang<br />

hat eine Kettensäge“, berichtet Downer. „Es<br />

war ein bizarrer Anblick: Auf der Farm liefen<br />

die Küken hinter einem Mann her, der<br />

eine Kettensäge schwang.“<br />

Moullec, eigentlich gelernter Meteorologe,<br />

setzt sich seit Jahren für den Schutz <br />

52 53


54<br />

kunsttaucher<br />

Abwärts! Mit bis zu 120 km/h stößt der Kaptölpel herab und<br />

taucht ins Meer vor Südafrikas Küste (Foto oben). Sein stromlinienförmiger<br />

Körper ist perfekt für diese Art des Fischfangs<br />

gebaut. Gleich zu Tausenden stürzen sich die Vögel ins Wasser,<br />

um Sardinen zu erbeuten. Im tiefen Meer sind die Fische jedoch<br />

nur schwer zu finden. Basstölpel folgen deshalb Delfinen,<br />

die große Fischschwärme mit Ultraschall besser orten können.<br />

In atemberaubendem<br />

Tempo taucht<br />

der Basstölpel<br />

ins Wasser<br />

Die Fische<br />

schnappt er<br />

sich auf dem<br />

Rückweg an<br />

die Oberfläche<br />

FoToS: cHRiSTian MouLLEc (2)/RicHaRD MaTTHEWS/PHiLiP DaLTon/RoB PiLLEy (3)/MicHaEL W. RicHaRDS (2)/aLExanDER SaFonov (2)/joHn DoWnER PRoDucTionS/BLv BucHvERLaG, DPa PicTuRE-aLLiancE<br />

bedrohter Vögel ein, seine gefiederten<br />

Schützlinge sind für ihn wie eigene Kinder.<br />

Umso schlimmer, wenn bei den Dreharbeiten<br />

etwas schiefläuft. Mit einem Schwarm<br />

von 30 Graugänsen flog Moullec am Viadukt<br />

von Millau, Frankreichs längster Brücke.<br />

Das Tal lag noch im Nebel, als plötzlich ein<br />

heftiger Windstoß die Leitgans verstörte. Sie<br />

flatterte einfach davon. Prompt verlor der<br />

Schwarm die Orientierung. Mit seinem<br />

Ultraleichtflugzeug umkreiste Moullec die<br />

Graugänse, um sie in Sicherheit zu bringen.<br />

Doch wo war der Ausreißer? Stundenlang<br />

flog der Franzose die Gegend ab. „Die<br />

Sonne ging schließlich unter, doch die<br />

Gans blieb verschwunden“, erzählt Downer.<br />

„Moullec gab die Hoffnung trotzdem nicht<br />

auf.“ Bis 23 Uhr harrte er an der Brücke aus.<br />

Dann setzte er sich in seinen Wagen, schaltete<br />

die Scheinwerfer ein – und sah, wie die<br />

Graugans direkt vor ihm landete. Ein aufregender<br />

Ausflug mit Happy End.<br />

FiLMEn MiT DEM aDLERauGE<br />

Das BBC-Team setzte nicht nur modernste<br />

Fluggeräte ein – Adler und Geier wurden<br />

auch selbst zu Naturfilmern. Die dressierten<br />

Tiere trugen ultraleichte, nur 90 Gramm<br />

schwere HD-Kameras, groß wie Streichholzschachteln,<br />

und filmten sich selbst. „Von unten<br />

sieht es so aus, als würden Vögel einfach<br />

lässig über den Himmel gleiten“, so John<br />

Downer. „Doch die Bilder zeigen, dass ihr<br />

Blick unentwegt über den Boden streift. Ihnen<br />

entgeht nichts.“<br />

Sperbergeier schrauben sich bis zu 11.000<br />

Meter hoch in die Lüfte. Erst die auf ihren<br />

Rücken geschnallten Kameras zeigten, wie<br />

dabei jede einzelne ihrer Federn arbeitet, wie<br />

sie ständig von den Muskeln justiert werden,<br />

um Auf winde optimal zu nutzen. Beim Landen<br />

helfen kleine Federn an den Flügelenden.<br />

Downer: „Forscher studieren jetzt die<br />

Bilder, um die Tragflächen von Flugzeugen<br />

zu optimieren.“ Lernen von den Besten!<br />

Ganz ohne Pannen arbeiteten aber auch<br />

die gefiederten Kameramänner nicht. Ein<br />

Weißkopfseeadler, Nationalvogel der USA,<br />

sollte den 450 Kilometer langen Grand<br />

Canyon erkunden. Alles lief nach Plan – bis<br />

ein übereifriger Zuschauer den Vogel verschreckte.<br />

Der drehte ab und wurde durch<br />

die widrigen Bedingungen „vom Winde verweht“.<br />

Das Team folgte dem Funksignal des<br />

Senders und entdeckte den Greifvogel<br />

schließlich in einem unzugänglichen Teil<br />

Die Tricks<br />

Die Kamera ist mit einem Spezialgurt<br />

auf den Rücken geschnallt …<br />

… und zeigt den kompletten Flug<br />

aus dem Blickwinkel des Adlers<br />

der Schlucht. John Downer: „Uns blieb<br />

nichts anderes übrig, als waghalsig hinter<br />

ihm her zu klettern.“<br />

GEFiEDERTE FREMDEnFüHRER<br />

Fünf Jahre lang arbeitete das BBC-Team an<br />

„Federleicht und flügelweit“. Das Ergebnis:<br />

nicht nur sensationelle Bilder, sondern auch<br />

wichtige Erkenntnisse. „Vögel wissen mehr<br />

über das Verhalten anderer Tiere als jeder<br />

menschliche Experte“, sagt Downer. Der Filmemacher<br />

folgte Flamingos, um Afrikas<br />

Salzseen zu erkunden. Er setzte auf Kra niche<br />

und Weißwangengänse, um einen neuen<br />

Blick auf Europas Landschaften zu gewinnen.<br />

Er wurde Zeuge, wie Geier den großen<br />

Tierwanderungen in der Serengeti folgen.<br />

Downer: „Ihr spezielles Wissen, gesammelt<br />

in Tausenden von Jahren, hilft uns, die Wunder<br />

der Natur zu entdecken.“ Wie in Mexiko.<br />

Dort wollte das Team die bizarren Grunions<br />

Für seine Dokumentation filmte john Downer<br />

von Helikoptern, Heißluftballons und Paraglidern<br />

aus und installierte Kameras an Modellflugzeugen.<br />

Programmierbare Drohnen,<br />

wie sie auch zu militärischen Zwecken eingesetzt<br />

werden, kehrten automatisch zum Startpunkt<br />

zurück. Modellbauer Malcolm Beard<br />

konstruierte sogar einen künstlichen Geier<br />

aus leichter Kohlefaser, lenkbar mit beweglichen<br />

Schwanzfedern. Dressierte Weißkopfseeadler<br />

trugen Kameras wie Rucksäcke,<br />

dank Fernsteuerung glückten auf ihren Flügen<br />

sogar Schwenks in alle Richtungen.<br />

filmen, kleine Fische, die sich mit den Wellen<br />

an den Strand tragen lassen, um dort<br />

ihre Eier abzulegen. Mit der nächsten Welle<br />

kehren sie zurück ins Meer. Doch wo genau<br />

an der kilometerlangen Küste findet dieses<br />

Spektakel gerade statt? Die Lösung: Frag<br />

doch mal den Pelikan! Hunderte der gewaltigen<br />

Wasservögel, natürliche Feinde der<br />

Grunions, strebten zielsicher dem geheimen<br />

Ort entgegen. „Wir haben einen ganz besonderen<br />

Weg gefunden, die Natur zu verstehen“,<br />

sagt John Downer, „indem wir sie so<br />

sehen, wie es Vögel tun.“ KAI RIEDEMAnn<br />

John Downer:<br />

„Vogel­Perspektiven“,<br />

BLV, 240 Seiten,<br />

39,95 €<br />

Natur<br />

Die Gänse<br />

begleiten<br />

Christian<br />

Moullec<br />

der fliegenden Tierfilmer<br />

Mit im Einsatz: Drohnen, Paraglider<br />

und gefiederte Kameramänner<br />

55


geschIchte<br />

hure uNd<br />

heilige<br />

Die Sat.1-Verfilmungen<br />

der „Wanderhure“<br />

mit Alexandra Neldel<br />

waren Quotenhits<br />

Die wahre<br />

Geschichte der<br />

ie fehlten auf keiner Feierlichkeit<br />

und durften sogar<br />

auf einen offiziellen Tanz<br />

mit dem Bürgermeister<br />

hoffen, denn ohne sie war<br />

jedes Fest glanzlos. Manchmal wurden sie<br />

sogar in den Haushalt ehrbarer Damen gerufen.<br />

Der Hausherr selbst führte die Hure<br />

dann ans Bett seiner Gemahlin, denn die<br />

abergläubischen Menschen des Mittelalters<br />

waren fest davon überzeugt, dass ihre Berührung<br />

Unfruchtbarkeit heilen konnte.<br />

Doch gleichzeitig wurden sie wegen ihres<br />

sündigen Treibens verachtet und führten<br />

ein rechtloses, getriebenes Leben. So etwas<br />

wie Heimat kannten die Frauen, die im Mittelalter<br />

von Bordell zu Bordell zogen, nicht.<br />

Als Vogelfreie hatten sie keinerlei Anrecht<br />

auf Schutz, darum trafen sie immer wieder<br />

auf Menschen, die sie verjagten, verprügelten,<br />

vergewaltigten, ohne eine Strafe befürchten<br />

zu müssen.<br />

Vom Randthema zum Quotenhit<br />

Lange beschäftigten sich allenfalls einige<br />

Historiker mit diesem Randthema der Geschichte.<br />

Dann erschien 2004 der erste von<br />

bisher fünf „Wanderhure“-Romanen von<br />

Iny Lorentz – übrigens ein Pseudonym, unter<br />

dem das Ehepaar Iny Klocke und Elmar<br />

Wohlrath gemeinsam schreibt. Die Storys<br />

um die Prostituierte Marie Schärer wurden<br />

Bestseller, die Sat.1-Verfilmungen mit Alexandra<br />

Neldel in der Titelrolle machten sie<br />

endgültig populär. „Der Inhalt dieser Filme<br />

wurde zwar dramaturgisch von den Drehbuchschreibern<br />

verdichtet, ist aber tendenziell<br />

historisch korrekt“, so das Urteil des Geschichtsexperten<br />

Prof. Franz Irsigler.<br />

Wie lebten Prostituierte im Mittelalter wirklich?<br />

In Nördlingen lagern uralte aKteN,<br />

die den tragischen Fall einer Frau erzählen, die<br />

dort um 1470 in einem Bordell arbeitete<br />

Doch wie haben Prostituierte zu jener Zeit<br />

konkret gelebt? Die Antwort auf diese Frage<br />

suchte <strong>HÖRZU</strong> <strong>WISSEN</strong> in einer idyllischen<br />

Gemeinde in Bayern im Städtedreieck<br />

Augsburg-Nürnberg-Stuttgart. Seit 1215 besitzt<br />

Nördlingen die Stadtrechte, bis heute<br />

umgibt eine 2,7 Kilometer lange, begeh-<br />

bare Mauer den romantischen Ort mit<br />

20.000 Einwohnern. Hier treffen wir Dr. Wilfried<br />

Sponsel, den Leiter des Stadtarchivs.<br />

In Archiven wie seinem finden sich uralte<br />

Papiere, die, wenn man sie zu en tziffern<br />

weiß, eine Fülle von Informationen über<br />

den Alltag im Mittelalter enthalten. Darunter<br />

auch so manches noch ungelüftete<br />

Geheimnis über die „Hübschlerinnen“, wie<br />

Huren einst auch genannt wurden, weil sie<br />

Stadtarchivar<br />

Dr. Wilfried Sponsel<br />

exklusiv in <strong>WISSEN</strong><br />

Wanderhure<br />

sich, anders als sittsame Frauen, herausputzen<br />

durften. Einer der größten Schätze<br />

von Dr. Sponsel ist eine über 600 Jahre<br />

alte Akte, die die dramatische Geschichte<br />

einer echten Wanderhure enthält. Sie besteht<br />

aus Zeugen aussagen und einem Gerichtsprotokoll,<br />

festgehalten auf Pergament,<br />

geschrieben mit schwarzer Tinte.<br />

Schandstrafen für Sünderinnen<br />

„Es ist die Tragödie der Els von Eystett“, erklärt<br />

Dr. Sponsel. „Sie war eine sogenannte<br />

Wanderhure, die um 1470 am Rand unserer<br />

Stadt lebte – in einem Haus mit der heutigen<br />

Adresse Frauengasse 1.“ Ihr Schicksal<br />

ist repräsentativ für das vieler Prostituierter.<br />

Angelockt vom Ruf eines Frauenhauses,<br />

wie Bordelle seinerzeit genannt wurden,<br />

kam Els eines Tages in das süddeutsche<br />

Städtchen. Ein Pächter betrieb das Etablissement<br />

im Namen des Stadtrats.<br />

Frauenhäuser wie das in Nördlingen kamen<br />

erst in der zweiten Hälfte dieser Epoche<br />

auf. Sie waren eine echte Erleichterung<br />

für all jene, denen wie Els von Eystett keine<br />

andere Möglichkeit zum Überleben blieb,<br />

als den eigenen Körper zu verkaufen. Noch<br />

in der ersten Hälfte des Mittelalters wurden<br />

Prostituierten demütigende Schandstrafen<br />

auferlegt: Frauen, die als Dirnen überführt<br />

worden waren, mussten 40 Tage lang<br />

FraueNhaus So hießen Bordelle im Mittelalter,<br />

hier ein Holzstich aus dem 15. Jahrhundert <br />

Fotos: BPK, seBastain Haenel/sat.1, Yvonne HacH Für HÖrZU Wissen<br />

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58<br />

DaS BaD alS FReuDenhauS Am Ende des Mittelalters entstanden sogenannte Bagnios – öffentliche Bäder, in denen Dirnen arbeiteten<br />

nackt bleiben – und eine Tafel vor der Stirn<br />

tragen, auf der die Sünde des Anschaffens<br />

beschrieben stand. Darauf abgebildet: eine<br />

auseinanderklaffende Schere als Symbol<br />

für die Schenkel einer Dirne.<br />

Verstoßen, verarmt, verschleppt<br />

Es war die Kirche, die für die lange Ächtung<br />

der Huren sorgte: Priester appellierten an<br />

die Gläubigen, ihre Triebe zu unterdrücken<br />

und sich selbst zu kasteien. Als Lohn für ihren<br />

Verzicht winkte ihnen das 1000-jährige<br />

Reich. Doch weil das versprochene irdische<br />

Paradies auf sich warten ließ, wandten sich<br />

die Menschen wieder den weltlichen Freuden<br />

zu – und damit auch der Lust.<br />

Das angeblich „älteste Gewerbe der Welt“<br />

erlebte eine neue Blüte. Die Kreuzzüge, die<br />

im Namen der Kirche ins Heilige Land führten,<br />

begleiteten oft Hunderte oder sogar<br />

Tausende von Huren, und mit den europäischen<br />

Metropolen wuchs auch die Zahl der<br />

Dirnen. Weil dort die Konkurrenz immer<br />

größer wurde, suchte sich manche Hure<br />

einen neuen Arbeitsplatz – und fand ihn in<br />

Dörfern und Kleinstädten.<br />

Nicht immer kamen die Frauen freiwillig,<br />

viele wurden verschleppt und in die Prostitution<br />

gezwungen, schon damals gab es einen<br />

regen Mädchenhandel in Europa. Auch<br />

ehrbare Ehefrauen konnten von einem Tag<br />

auf den anderen zu Huren degradiert werden:<br />

Wollte ein Mann, der ein sogenanntes<br />

„Nutzungsrecht“ über seine Frau hatte, sie<br />

loswerden, verstieß er sie einfach. Beweise<br />

für ihre Untreue waren nicht nötig, es reich-<br />

te die Behauptung. Meist aber war Armut<br />

der Auslöser: Wurde eine Magd vom Hausherrn<br />

oder dessen Söhnen geschwängert,<br />

fand sie sich mittellos auf der Straße wieder.<br />

Ging ein Familienvater bankrott, konnte er<br />

seine Töchter ins Frauenhaus verpfänden,<br />

um die Schuld zu tilgen.<br />

Bordelle bringen der Stadt Geld<br />

Der Klerus und die Räte der Städte einigten<br />

sich schnell darauf, dass diese Frauen am<br />

besten in besonderen Häusern untergebracht<br />

werden sollten. Der Grund: Bordelle<br />

waren eine lukrative Einnahmequelle. Die<br />

Stadträte schlossen Verträge mit Pächtern,<br />

die damals Frauenwirte genannt wurden.<br />

Ihre Frauenhäuser lagen meist in unmittelbarer<br />

Nähe der Stadtmauer und damit am<br />

„ Nicht selten riskierten<br />

die Huren ihr leben.“<br />

Dr. Wilfried Sponsel, Stadtarchivar<br />

Rand der Ortschaft. Damit Reisende und<br />

andere Kunden auch den Weg dorthin<br />

fanden, diente eine bunte Laterne an der<br />

Pforte als unübersehbares Zeichen.<br />

Eine aus 14 Punkten bestehende „Frauenhausverordnung“<br />

aus Ulm belegt, wie die<br />

Bordelle seinerzeit organisiert waren: Die<br />

Dirnen durften nicht jungfräulich sein, nicht<br />

aus der Stadt stammen, in der sie arbeiten<br />

wollten – und sie mussten „freiwillig“ anschaffen.<br />

Die Frauenwirte mussten dem<br />

Bürgermeister und dem Rat sowie dessen<br />

Nachkommen bei allen Geschäften zur<br />

Seite stehen, das Frauenhaus sauber halten,<br />

stets mindestens 14 gesunde Frauen beherbergen<br />

und sie täglich von einer Kochmagd<br />

mit einem Mahl im Wert von sechs Pfenni-<br />

Geschlechtskrankheiten waren im<br />

Mittelalter weitverbreitet. Der Grund: Zwar wurde<br />

manchmal bereits mit Schafs- oder Schweinedärmen<br />

verhütet, doch zuverlässige Kondome,<br />

die vor Ansteckung ebenso schützten wie vor<br />

ungewollter Schwangerschaft, gab es noch nicht,<br />

zudem fehlten wirksame Heilmittel.<br />

trotula von salerno, die im 11. oder 12. Jahrhundert<br />

lebte und als größte Medizinerin ihrer<br />

Zeit galt, beschäftigte sich auch mit sexuell übertragbaren<br />

Krankheiten. Die italienische Ärztin<br />

verfasste bedeutende, jahrhundertelang als<br />

Standardwerk geltende Schriften über Themen<br />

der Frauengesundheit wie Schwangerschaft,<br />

Ver hütung und Geburt. Ihre Enzyklopädie<br />

„Practica Brevis“ enthält damalige Vorstellungen<br />

über hygiene in Versform. Trotula warnte<br />

etwa eindringlich vor dem Besuch öffentlicher<br />

Bade anstalten. Wer sich dennoch mit einer<br />

Lustseuche infizierte, wurde mit kräutern wie<br />

Petersilie behandelt. Die häufigsten Krankheiten:<br />

1. triPPer Trotula nannte die Gonorrhoe<br />

„ardor urinae“. Frauen merkten, dass sie sich infiziert<br />

hatten, wenn eitrige Sekrete aus der Scheide<br />

gen versorgen lassen, etwa mit Suppe und<br />

Fleisch oder Rüben und Kraut. Auch die<br />

Pflichten der Frauen waren genau festgelegt:<br />

Sie mussten beispielsweise täglich zwei Spindeln<br />

Garn für den Wirt spinnen und eine festgelegte<br />

Zahl von Kunden bedienen. Wurde<br />

eine Dirne schwanger, bedeutete das für sie<br />

den Verweis aus dem Bordell.<br />

Die Kirche duldet die Prostitution<br />

Die Prostitution wurde nach und nach europaweit<br />

legitimiert, zuerst in Frankreich,<br />

Italien und England, schließlich folgte<br />

Deutschland. „Die Kirche stimmte letztlich<br />

deshalb zu, weil sie damit den Sexualtrieb<br />

kanalisieren wollte – zum Schutz der Gemeinschaft<br />

vor Ehebruch und Vergewaltigung“,<br />

erklärt Historiker Dr. Sponsel. Denn<br />

weil sich im Mittelalter nur 30 Prozent der<br />

Petersilie gegen Tripper<br />

Lustseuchen galten einst als Strafe Gottes für ein sündiges Leben<br />

flossen und die Schleimhaut brannte. Oft wurde<br />

diese Krankheit nicht erkannt, sondern ihre<br />

Symptome als notwendiger Abfluss schädlicher<br />

Stoffe aus dem Geschlechtsorgan interpretiert.<br />

2. weicher schanker Die schmerzenden<br />

Geschwüre an den Geschlechtsorganen galten als<br />

strafe Gottes für die Sünde der Dirnen.<br />

3. himbeerseuche Die Frambösie (frz.<br />

„Framboise“= Himbeere), die erst gegen Ende<br />

des Mittelalters vermehrt in Europa auftrat, verursacht<br />

himbeerähnliche Hautknoten. Kuriert<br />

werden sollte sie mit Kampfer und Krebsaugen.<br />

4. syPhilis Gegen die sich rasant ausbreitende<br />

Geschlechtskrankheit<br />

sollten laut Trotula Blutegel,<br />

Bäder, Schwitzkuren, Umschläge,<br />

Aderlässe sowie im späteren<br />

Stadium Guajakholz helfen.<br />

FRüheR RatGeBeR<br />

Trotula von Salerno verfasste ihre<br />

oft erstaunlich kenntnisreichen<br />

Gesundheitsregeln in Versform<br />

geschIchte<br />

Männer eine Heirat leisten konnte, brauchten<br />

die übrigen 70 Prozent ein Ventil. Doch<br />

das dürfte nur die halbe Wahrheit sein.<br />

Denn auch viele Pfaffen gingen ins Frauenhaus.<br />

Offiziell, um nach dem Rechten<br />

zu sehen. Tatsächlich aber als zahlende<br />

Kunden von Dirnen wie Els von Eystett. Das<br />

belegen alte Protokolle.<br />

„Es wäre gelogen zu behaupten, dass es<br />

Wanderhuren in den mittelalterlichen Frauenhäusern<br />

nur schlecht gegangen sei“, sagt<br />

Dr. Sponsel. „Doch wirklich gut ging es<br />

ihnen auch nicht.“ Denn bevor eine Hure<br />

ihren neuen Job antrat und eines der zwölf<br />

Zimmer im Nördlinger Frauenhaus beziehen<br />

durfte, musste sie dem Pächter die<br />

im Haus vorgeschriebene Kleidung abkaufen.<br />

Els von Eystett zahlte dafür vier Gulden,<br />

umgerechnet auf heutige Verhältnisse sind<br />

das rund 2000 Euro. Das entsprach in etwa<br />

dem Lohn eines ganzen Jahres. Außerdem<br />

unterschrieb die Dirne in der Regel<br />

Schuldscheine für ihr Bett, das Zimmer, für<br />

Ver pflegung oder Verhütungstränke. <br />

Fotos: aKG (2), arcHiv


60<br />

geschIchte<br />

„Auch Geistliche zählten zu den Kunden der Dirnen“<br />

Dokumente zeigen erstaunlich genau, wie es in mittelalterlichen Bordellen zuging<br />

Das Stadtarchiv von Nördlingen: Hier wacht Dr. Wilfried<br />

Sponsel über wertvolle Pergamente. Der Stadtarchivar<br />

hat sich intensiv mit der Geschichte der Prostitution<br />

im Mittelalter beschäftigt.<br />

hÖrzu wissen: wie alt sind die Dokumente, die ihnen<br />

aufschluss geben über das leben der huren?<br />

DR. WILFRIED SPONSEL: Sehr alt, die ältesten stammen aus den<br />

Jahren um 1400.<br />

was wissen sie über den damaligen alltag von Prostituierten<br />

in nördlingen?<br />

Aus den Frauenhaus-Unterlagen und vielen weiteren Archivalien<br />

wie Rechnungsbüchern, Gerichtsprotokollen und Urkunden<br />

können wir ein anschauliches Bild gewinnen. In den<br />

so genannten Paktverträgen<br />

stehen alle Pflichten und<br />

Rechte eines Frauenwirts,<br />

sprich: eines Bordellunternehmers.<br />

Auch die Rolle der<br />

Stadt, die das „Lokal“ zur<br />

Verfügung stellte, lässt sich<br />

sehr schön nachvollziehen.<br />

Und wir haben ein klares<br />

Bild vom Alltag der Dirnen.<br />

Sie hatten etwa Ausgang –<br />

Zeugnis der<br />

Geschichte:<br />

die gut 600<br />

Jahre alten<br />

Akten der<br />

Hure Els von<br />

Eystett<br />

allerdings unter Aufsicht,<br />

damit sie dem Frauenwirt nicht entkamen. Der<br />

Grund: Die Frauen waren seine Angestellten,<br />

auf die er auch Geld geliehen hat. Wir kennen zudem<br />

die Inneneinrichtung und die Größe eines<br />

Bordells, dort waren acht bis zwölf Huren<br />

beschäftigt. Auch die Preise für Sex, die sich im<br />

Laufe der Zeit änderten, sind den Unterlagen zu entnehmen.<br />

steht dieses Frauenhaus noch?<br />

Nein, leider musste es in den 1980er-Jahren einem Neubau weichen.<br />

Es lag unmittelbar an der Stadtmauer, in einer Straße, die<br />

noch heute Frauengasse heißt. Wir können aber die Wege der<br />

Dirnen durch die Stadt nachvollziehen, etwa wenn sie in die<br />

Kirche gingen oder zum Hochamt ins Barfüßerkloster. Aus Beschreibungen<br />

kennen wir sogar ihren Platz in der Kirche: Sie<br />

hatten hinter dem Betstuhl von Joerg Groebel, der um 1500 Spitalmeister<br />

war, an der Wand zu stehen, dezent an der Seite.<br />

was genau stand in den Paktverträgen?<br />

Die Stadt schloss mit dem Bordellunternehmer einen Vertag,<br />

der seine Verpflichtungen regelte. Er musste der Stadt einen<br />

Mietzins zahlen, bestehend aus mehreren Gulden. Die Vereinbarung<br />

lief für ein Jahr, konnte aber vorzeitig gekündigt werden,<br />

wenn der Frauenwirt Verpflichtungen brach. Außerdem<br />

stand in dem Vertrag, dass er mit den „schönen Frauen“ in seinem<br />

Haus anständig umzugehen hatte, er durfte sie nicht ausnutzen.<br />

Die Dirnen wiederum hatten ihm ein Entgelt zu zahlen,<br />

für jeden Liebhaber, und sie mussten ihm am Spinnrad<br />

dienen. Außerdem ist dokumentiert, dass es einen Knecht gab,<br />

der auf sie aufpasste, etwa wenn sie spazieren gingen, und eine<br />

Lohnsetzerin, die das Geld eintrieb und verwaltete.<br />

wie kamen diese Verträge zustande?<br />

Interessenten für den Posten des Frauenwirts schrieben die<br />

Stadt an und bewarben sich um die vakante Stelle. Dabei priesen<br />

sie an, eigene schöne, gesunde, saubere und gut angezogene<br />

Frauen mitzubringen. Bordellunternehmer zogen damals<br />

wie Zirkusdirektoren mit ihrem Tross aus Dirnen von Stadt zu<br />

Stadt – das ist auch der Aspekt des Wanderns.<br />

wie stand die kirche zu dem thema?<br />

Sie tolerierte Bordelle und nahm dieses kleinere Übel in Kauf,<br />

damit kein größeres Übel geschah, etwa Vergewaltigungen. Außerdem<br />

ist auch die Geistlichkeit als Kunde aktenkundig. Nur<br />

an Feiertagen und den geheiligten Nächten von Samstag auf<br />

Sonntag sollten die Dirnen ihnen ihre Dienste nicht anbieten.<br />

Natürlich wurde gegen das Prinzip verstoßen, wie gegen viele<br />

andere aus dem Paktvertrag. Eine weitere Rolle spielte die Kirche<br />

in Bezug auf die Einrichtung von sogenannten Reue-Orden<br />

beziehungsweise Magdalenenklöstern: Dort konnten die Dirnen,<br />

wenn sie aus dem Gewerbe ausgetreten waren, „Buße“ tun.<br />

was wissen sie über eine hure namens els von eystett?<br />

Ihr Nachname ist eine Art Künstlername, der einen Herkunfts-<br />

oder Geburtsort bezeichnet. Ihren richtigen Namen nannten<br />

Huren damals nie, um ihre Familien zu schützen. Els von<br />

Eystett war Kochmagd und Dirne im Frauenhaus in Nörd -<br />

lingen. Als sie schwanger wurde, versuchte die Frauenwirtin<br />

Barbara Taschenfeindt, mithilfe<br />

einer selbst gebrauten<br />

Mixtur eine ille gale Abtreibung<br />

vorzunehmen. Doch<br />

Els wollte nicht abtreiben,<br />

ging vor den Rat – und ab<br />

diesem Zeitpunkt wurde das<br />

Schicksal dieser Wander -<br />

hure aktenkundig.<br />

interView: mike Powelz<br />

Aktenstudium: Archivar Dr. Wilfried<br />

Sponsel (l.) zeigt Mike Powelz alte Dokumente<br />

Damit begann für die Frauen eine nicht zu<br />

unterschätzende wirtschaftliche Abhängigkeit<br />

– und ein Leben zwischen geduldeter<br />

Arbeit einerseits und gesellschaftlicher Verachtung<br />

andererseits, weil sie ja einem unehrenhaften<br />

Beruf nachgingen.<br />

Einmal eingezogen, waren die Huren allen<br />

zu Diensten, die ihr Geld ins Bordell trugen<br />

– vom Lehrling über den Bürgermeister<br />

bis hin zum Geistlichen, die kein Problem<br />

damit hatten, in der Woche für Sex zu bezahlen<br />

und sonntags von der Kanzel herab<br />

die Sünde der Lust und des Fleisches anzuprangern.<br />

Außerdem war es die Aufgabe der<br />

Frauen, heranwachsende Knaben mit der<br />

körperlichen Liebe bekannt zu machen,<br />

wenn deren Väter dafür zahlten – und diese<br />

dabei zusehen zu lassen. Auch die Preise<br />

sind bekannt: Für Sex mit vier Prostituierten<br />

zahlten Kunden genauso viel wie auf<br />

dem Markt für ein Hühnerei. Nach dem<br />

Tagwerk konnte ein Geselle für ein Drittel<br />

seines Lohns zu einer Dirne gehen.<br />

Der Arbeit der Huren war nicht nur hart,<br />

sondern auch gefährlich: „Nicht selten riskierten<br />

sie ihr Leben“, sagt Dr. Sponsel. „Els<br />

ist dafür ein gutes Beispiel: Weil es im Mittelalter<br />

außer dem Coitus interruptus und<br />

Kräutertränken noch keine adäquaten Verhütungsmethoden<br />

gab, wurden viele Huren<br />

mit ansteckenden Geschlechtskrankheiten<br />

wie Syphilis oder Tripper infiziert oder auch<br />

schwanger. Denn nicht immer halfen in<br />

Essig getränkte Moosbüschel, die sich die<br />

Dirnen in die Vagina einführten, vor der<br />

Zeugung eines Kindes durch einen Freier.“<br />

ein spektakulärer Prozess<br />

So kam es in Nördlingen1471 zu einem aufsehenerregenden<br />

Gerichtsverfahren, bei<br />

dem fast alle Dirnen aus der Frauengasse 1<br />

als Zeuginnen gegen Pächtersfrau Barbara<br />

Taschenfeindt aussagten. Sie hatte der<br />

schwangeren Els einen Kräuter-Cocktail aus<br />

Immergrün, Wein und Lorbeer verabreicht,<br />

der zum Abort führen sollte. Els verlor ihr<br />

Baby unter extremen Schmerzen.<br />

Akten wie die von Els’ Prozess sind eine<br />

wahre Goldgrube für Sozialforscher, die sich<br />

tRutziGe KuliSSe<br />

Burg Rappottenstein<br />

in Niederösterreich war<br />

ein Drehort des<br />

„Wanderhuren“-Films<br />

Die Dirnentracht kostete vier<br />

Gulden – ein Jahresgehalt<br />

für Randgruppen des Mittelalters interessieren.<br />

Die Papiere enthüllen die Verflechtungen<br />

zwischen Räten, Klerus und Prostituierten,<br />

verraten die Namen der damaligen<br />

Bordellbesucher und erlauben Einblicke in<br />

den Alltag der Frauenhäuser. Sie dokumentieren<br />

auch die Rechtlosigkeit der Huren,<br />

die etwa auf Märkten verlost werden durften<br />

und keinen Anspruch auf ein Grab auf<br />

dem Friedhof hatten. Und sie nennen die<br />

Strafen für Zuhälterinnen wie die Pächtersgattin<br />

aus Nördlingen: Sie wurde nach der<br />

illegalen Abtreibung auf der Stirn gebrandmarkt<br />

und mit Schimpf und Schande aus<br />

dem Dorf gejagt – zurück auf die Straße.<br />

Anders als in den TV-Filmen „Die Wanderhure“<br />

und „Die Rache der Wanderhure“<br />

suchten die Dirnen ihre Kunden selten auf<br />

der Straße. Damit begannen sie erst gegen<br />

Ende des Mittelalters in Paris. Der bizarre<br />

Grund: Die Syphilis breitete sich aus, und<br />

Freier fürchteten, sich in den Frauenhäusern<br />

anzustecken, denn dort vermuteten sie<br />

den „Mief in der Luft“. Also suchten sie fortan<br />

öfter Sex unter freiem Himmel, in dunklen<br />

Gassen oder Hauseingängen.<br />

Bei ihrer Arbeit trugen die Dirnen auffällige<br />

Schandfarben, wie „Wanderhure“-Autor<br />

Elmar Wohlrath schreibt: „Je nach Region<br />

waren diese unterschiedlich vorgeschrieben.<br />

Deutsche Dirnen hüllten sich in giftiges<br />

Gelb, österreichische in sattes Rot.“ Die<br />

Farben stigmatisierten die Dirnen, lockten<br />

aber auch Kunden an. Manche Huren griffen<br />

zu einem Trick, um noch mehr Geld zu<br />

machen: Sie verdeckten ihre Schandfarben<br />

mit Capes – und pressten dann als vermeintlich<br />

unschuldige Mädchen, die sich auf<br />

Festen den Männern hingaben, noch mehr<br />

Geld aus ihren Freiern heraus.<br />

Der ausweg: Kloster oder heirat<br />

In Bordellen wie jenem in Nördlingen schufteten<br />

die Frauen, bis sie irgendwann „alte<br />

Vetteln“ waren, wie sie despektierlich genannt<br />

wurden. Manche konnten im Alter in<br />

ein kirchliches Magdalenenkloster wechseln<br />

oder in ein Beghinenhaus, wo sie im<br />

Büßergewand Almosen erbetteln durften.<br />

Anderen gelang vorher der Absprung aus<br />

dem Frauenhaus: Verliebten sich eine Dirne<br />

und ein ehrbarer Mann, durften die beiden<br />

heiraten. Der Gatte verlor dadurch allerdings<br />

seine bürgerliche Ehre – ein hoher<br />

Preis für die Liebe zu einer Wanderhure wie<br />

Els von Eystett. mike Powelz<br />

61<br />

Fotos: Yvonne HacH Für HÖrZU Wissen (3), a.scHaUHUBer/interFoto


technik<br />

Film ab!<br />

Den Trailer zum<br />

Film gibt es bei<br />

<strong>HÖRZU</strong> plus.<br />

Mehr dazu: S. 3<br />

plus<br />

Enthüllt:<br />

Hollywoods<br />

beste Tricks<br />

Was haben Hollywoods<br />

Filmschaffende bloß<br />

gegen New York?<br />

Schon wieder drohen<br />

dem Big Apple Tod und<br />

Verwüstung, dieses Mal<br />

durch den größenwahnsinnigen Wikinger-<br />

Gott Loki. Zum Glück sind New Yorker hart<br />

im Nehmen, schließlich waren Godzilla,<br />

King Kong und diverse Außerirdische auch<br />

schon da. Dennoch sind die Bewohner froh,<br />

dass das unausweichliche Gefecht zu Boden,<br />

zu Wasser und in der Luft von einem Expertenteam<br />

übernommen wird – den Avengers,<br />

the avengers<br />

In einem Studio in Albuquerque machen<br />

sich Thor (Chris Hemsworth, u. l.), Captain America (Chris<br />

Evans, mit Schild), Hawkeye (Jeremy Renner, o. l.) und Black<br />

Widow (Scarlett Johansson) bereit für den Showdown. Die<br />

Bilder des digital zerstörten New York fügt ILM später ein<br />

Ob feuerspeiende Drachen, Robotermenschen,<br />

Raumschiff-Geschwader oder die perfekte Welle:<br />

Noch nie wirkten Spezialeffekte aus dem<br />

Computer so real. <strong>HÖRZU</strong> <strong>WISSEN</strong> schaute den<br />

größten Pixelmagiern der Welt in die Zauberkästen<br />

zu Deutsch: den Rächern, einer Art Superhelden-Taskforce.<br />

Und dass die Trümmer, die<br />

der Hulk, Iron Man und Kollegen hinterlassen,<br />

niemand wegräumen muss. Denn der<br />

Showdown von Joss Whedons „The Avengers“<br />

existiert nur auf einigen Computerfestplatten<br />

der Pixelschmiede Industrial Light<br />

& Magic (ILM) in San Francisco. Effekte-<br />

Chef Jeff White: „Für jeden Film erfinden wir<br />

etwas Neues. Damit etwa der Hulk authentisch<br />

wirkt, mussten wir unser iMocap-System<br />

perfektionieren, das die Bewegungen<br />

eines Schauspielers einscannt und sie dann<br />

auf unsere digitale Schöpfung überträgt.“<br />

Mit wahnwitziger Geschwindigkeit haben<br />

digitale Tricksereien in den vergangenen<br />

drei Jahrzehnten Kino und Fernsehen erobert.<br />

Satte 30 bis 40 Prozent eines US-Filmbudgets<br />

– der durchschnittliche Etat von<br />

Hollywood-Action-Krachern liegt bei 200<br />

Mil lionen Dollar – werden heute für visuelle<br />

Effekte, kurz VFX, ausgegeben. Der „Los<br />

Angeles Times“ rechnete Scott Ross, Ex-Boss<br />

von James Camerons VFX-Firma Digital Domain<br />

jüngst vor: „Nach meinen Schätzungen<br />

setzt unsere Branche derzeit weltweit<br />

rund 1,5 Milliarden Dollar um, die fünf größten<br />

Unternehmen allein zwischen 80 bis <br />

62 63


100 Millionen Dollar.“ Ross über die neuen<br />

Prioritäten in Hollywood: „Es geht heute<br />

nicht mehr um Tom Hanks oder Tom Cruise,<br />

sondern darum, ob jemand New York fluten<br />

oder blaue Kreaturen entwerfen kann.“<br />

Haben die Maschinen die Macht übernommen?<br />

Ist der klassische Hollywood-Star<br />

eine vom Aussterben bedrohte Spezies? „Ja“,<br />

sagen Fachleute wie Peter Bart, Ex-Chefredakteur<br />

des Filmfachblatts „Variety“ und<br />

TV-Filmproduzent. „Stars garantieren uns<br />

keine ausverkauften Kinos mehr.“ 18 der<br />

20 weltgrößten Blockbuster mit Einspielergebnissen<br />

im vierstelligen Millionenbereich<br />

– von „Titanic“ (1997) über „Der<br />

Herr der Ringe: Die Rückkehr des Königs“<br />

(2003) bis zu „Harry Potter und die Heiligtümer<br />

des Todes – Teil 2“ (2011) – kamen<br />

unknown identity<br />

In dem Thriller von 2011 geht Liam<br />

Neeson baden – im Greenscreen-<br />

Wassertank des Studio Babelsberg.<br />

Der Action-Shot von der Berliner<br />

Oberbaumbrücke (u.) wurde dann<br />

in der Postproduktion dazugefügt<br />

ohne ganz große Namen aus, ihre wahren<br />

Stars sitzen an Hochleistungsrechnern irgendwo<br />

in Kalifornien, Kanada oder Neuseeland.<br />

Tendenz steigend, denn in den<br />

USA enthalten heute zwei von drei Kinostarts<br />

Digitaleffekte. Die renommierte Vi sual<br />

Effects Society in Los Angeles, die rund<br />

2500 VFX-Filmschaffende in 20 Ländern<br />

vertritt, vermeldete nicht ohne Stolz, dass<br />

ihre Mitglieder mittlerweile über 100 Oscars<br />

und Emmys gewonnen haben.<br />

Erst unterschätzt, jetzt unverzichtbar<br />

Zwar gibt es Filmtricks so lange wie das<br />

Kino, VFX mit Bildern aus dem Rechner, genannt<br />

CGI (Computer Generated Imagery),<br />

kamen jedoch erst Mitte des 20. Jahrhunderts<br />

auf. Nur interessierte das damals al-<br />

lenfalls ein paar Technik -<br />

freaks. Und so ahnte der<br />

gerade 30-jährige Regisseur<br />

George Lucas 1975 wohl kaum,<br />

was für eine Lawine von technischen<br />

Neuerungen er lostrat,<br />

als er seine Bastelstube<br />

Industrial Light & Magic eröffnete.<br />

Eigentlich wollte er<br />

nur für seinen „Krieg der Sterne“ mit modell-<br />

und rechnerbasierten Effekten experimentieren.<br />

Dass das Sci-Fi-Epos zuerst als<br />

irrelevantes Herzensprojekt verkannt wurde,<br />

sollte sich als eine der größten Fehleinschätzungen<br />

der Filmgeschichte erweisen:<br />

1977 läutete Lucas’ Sternensaga mit einer<br />

40-Sekunden-Sequenz des CGI-animierten<br />

Todessterns die Zeit des VFX-Kinos und einer<br />

völlig neuen Filmästhetik ein.<br />

Lucas’ nahe der Golden Gate Bridge ansässiges<br />

Studio ist seit der Gründung Vorreiter<br />

für immer neue Trick-Innovationen<br />

und gilt als weltweit erste Adresse für Effekte.<br />

Meilensteine: der erste Mensch aus dem<br />

Computer („Young Sherlock Holmes“, 1985)<br />

und das erste Morphing (Überblendung,<br />

etwa von Gesichtern) 1988 in „Willow“.<br />

FOTOS: S. 62/63: ©2011 MVLFFLLC. TM & ©2011 MARVEL. ALL RIGhTS RESERVED; S. 64/65: STUDIO BABELBERG AG (2),<br />

ARChIV (2), CInETEXT, DPA PICTURE-ALLIAnCE, PARAMOUnT/KOBAL COLLECTIOn<br />

1991 machte ILM mit<br />

der Verschmelzung von<br />

Mensch und Maschine in<br />

„Terminator 2: Judgement<br />

Day“ Schlagzeilen.<br />

Regie: ein gewisser James<br />

Cameron, dem die Digitalkünstler<br />

zwei Jahre<br />

zuvor bereits für den Unterwasser-Thriller<br />

„The<br />

Abyss“ den ersten 3-D-<br />

VFX-Effekt in einem Kinofilm<br />

gebastelt hatten.<br />

Der Kanadier steht noch<br />

immer an vorderster<br />

Front der Pixelpioniere,<br />

war einer der Ersten, die<br />

nicht mehr mit 35-Millimeter-Filmkamera,sondern<br />

mit Digitalkameras<br />

drehte, bei 3-D-Produktionen<br />

im Großformat<br />

(65 oder 70 Millimeter).<br />

Ein Trend, der sich<br />

seither immer weiter<br />

durchgesetzt hat. Der<br />

Vorteil gegenüber klassischem<br />

Zelluloid: Die<br />

Bildauf lösung ist höher,<br />

das Filmmaterial kann<br />

ohne Qualitätsverlust kopiert und archiviert<br />

werden und ist in der Postproduktion wesentlich<br />

leichter zu bearbeiten, weil digi tale<br />

Bilder bis in ihre kleinste Einheit, das Pixel,<br />

manipuliert werden können.<br />

Für seinen Mega-Blockbuster „Avatar“<br />

tüftelten Oscarpreisträger Cameron und<br />

sein Mitstreiter Vince Pace sieben Jahre lang<br />

am sogenannten stereoskopischen HD und<br />

ersannen eine neue Digital-3-D-Konstruktion,<br />

die aus zwei synchronisierten High-<br />

Definition-Kameras (HD-Cams) in einem<br />

leichten Gehäuse besteht. Dies ermöglicht<br />

es, reale Szenen hochauflösend direkt in 3-D<br />

zu filmen. So lassen sich später real gefilmte<br />

und virtuell entwickelte Welt im selben<br />

Filmformat nahtlos ineinanderfügen, und<br />

das in nie dagewesener Optik.<br />

„Revolutionär“, fand auch Camerons Kollege<br />

Peter Jackson, der mit seinem neuseeländischen<br />

Studio Weta und seiner „Der<br />

Herr der Ringe“-Trilogie ebenfalls VFX-<br />

Geschichte geschrieben hat, und nutzte<br />

die Technik für sein aktuelles Mittelerde-<br />

Abenteuer „Der Hobbit“ (Start des ersten<br />

Teils: 14. Dezember). So viel Entdeckergeist<br />

ist teuer: Allein eine Digitalkamera der<br />

Marke Red kostet ab 20.000 Dollar, Jackson<br />

orderte gleich 48 Stück.<br />

Filmproduktionen haben sich mit dem<br />

Siegeszug von Hightech erheblich verteuert.<br />

Was bei traditionellen Tricks oder beim Ersetzen<br />

der Vor-Ort-Drehs durch Greenscreen-<br />

Studioaufnahmen (siehe Infokasten Seite 66)<br />

gespart wird, muss für Equipment und die<br />

Nachbearbeitung am Computer<br />

draufgepackt werden. Denn<br />

das Publikum wird immer<br />

anspruchsvoller und die Endverbrauchertechnik<br />

von Jahr<br />

zu Jahr hochklassiger. So kommen<br />

in diesem Herbst die<br />

ersten Ultra-High-Definition-<br />

Bildschirme (UHDV) auf den<br />

Markt, die die 16-fache Auflösung eines<br />

HDTV-Bildes (circa 33,2 Megapixel) bieten.<br />

Zum Vergleich: Während Steven Spielberg<br />

1993 für sein erstes „Jurassic Park“-Abenteuer<br />

„nur“ 63 Millionen Dollar bezahlte,<br />

davon 18 Millionen für die Digi-Dinos, verschlingen<br />

Blockbuster wie „Iron Man“ und<br />

„The Avengers“ fast das Vierfache, um mit<br />

den hohen Standards mitzuhalten.<br />

Tricks made in Germany<br />

An welchem Ende der Welt die Hundertschaften<br />

von Rechnern stehen,<br />

die für die digitale Postproduktion<br />

benötigt werden, ist egal, und so<br />

sind auch deutsche Firmen<br />

international vorn dabei. Darunter<br />

beispielsweise Scanline VFX<br />

(unter anderem „300“), deren Tsu-<br />

jurassic park<br />

nami-Sequenz in Clint Eastwoods<br />

„Hereafter“ 2011 für einen Oscar nominiert<br />

wurde und die zurzeit an Tom <br />

1,5 Milliarden<br />

Dollar Umsatz im Jahr –<br />

die VFX-Branche boomt wie selten zuvor<br />

Meilensteine<br />

der digitalen Effekte<br />

Vom ersten Computermenschen<br />

zum virtuellen Kugelhagel<br />

neue welten<br />

1982 Erst Flop, dann<br />

tron<br />

Kult: Bei Disneys Sci-<br />

Fi-Abenteuer kamen<br />

rund 20 der 96 Filmminuten<br />

aus dem damals<br />

schnellsten Computer<br />

der Welt, dem Super<br />

Foonly F-1. Der Rest<br />

entstand mit traditioneller Tricktechnik, an<br />

der auch der spätere Star-Regisseur Tim<br />

Burton mitarbeitete. Die Kombination galt<br />

als revolutionär, 2010 wurde mit tron:<br />

legacy ein Sequel in 3-D gedreht.<br />

1985 Den ersten fotorealistischen<br />

Menschen<br />

(„CG Character“) sah<br />

das Publikum in Young<br />

Sherlock Holmes.<br />

Den säbelrasselnden<br />

Junker (Foto) bastelte<br />

John Lasseter, Gründer<br />

der Pixar Animation<br />

Studios, für George Lucas’ Industrial Light<br />

& Magic (ILM) mithilfe eines Lasers.<br />

young sherlock holmes<br />

1991 Vier Oscars,<br />

einen für die visuellen<br />

Effekte von ILM, bekam<br />

James Camerons<br />

terminator 2. Bestes<br />

VFX-Kunststück:<br />

der digitale Fließtrick,<br />

der Mensch und Metall<br />

verschmilzt (Foto).<br />

technik<br />

terminator 2<br />

1993 Die Pixel-Dinosaurier von<br />

ILM, die Steven Spielberg in<br />

Jurassic park zu Leinwand-<br />

Leben erweckte (r.), setzten<br />

neue Trickmaßstäbe. Zurzeit<br />

plant Universal Pictures<br />

eine 3-D-Überarbeitung des<br />

Dino-Abenteuers. Start ist<br />

voraussichtlich Juli 2013.<br />

1999 Die Matrix-trilogie von<br />

Larry und Andy Wachowski führte<br />

u. a. den Bullet-Time-Effekt ein, durch<br />

den etwa Geschosse extrem verlangsamt<br />

werden. Bei dem heute in Action-Szenen beliebtenZeitlupenfotografie-<br />

matrix<br />

Verfahren werden<br />

rund 120<br />

Digitalkamerasnacheinander<br />

ausgelöst.<br />

64 65


66<br />

the walking dead<br />

Alles auf Green<br />

Von der Kollage zur Trickszene<br />

trip in die ApokAlypse? Kein Problem: Die US-Firma Stargate hat sich<br />

auf Fusion Photography im Virtual Backlot (virtueller Außenset) spezialisiert.<br />

Gründer Sam nicholson: „Das ist die Kombination von fotografischen Elementen<br />

im Vorder- und hintergrund einer Szene, um die Illusion zu erzeugen, dass sich<br />

der Darsteller an einem Ort befindet, den es in Wirklichkeit nicht gibt, zum<br />

Beispiel in einem Zombie-verseuchten Krankenhaus. In erster Linie arbeiten wir<br />

mit Greenscreen.“ Warum? „Die Farbe Grün kann der Computer am besten erkennen<br />

und umrechnen, sie hebt sich zudem besser von hauttönen ab als Blau.“<br />

Tykwers „Cloud Atlas“ (Start: 15. November)<br />

arbeiten. Oder die Pixomondo Studios: Das<br />

2001 bei Darmstadt gegründete Unternehmen<br />

mit 13 internationalen Standorten gewann<br />

im Februar für „Hugo Cabret“ einen<br />

VFX-Oscar. Lohn harter Arbeit: Um 62 Filmminuten<br />

virtuellen Leinwandzauber zu er-<br />

Hugo Cabret Für den Martin-Scorsese-Film holte<br />

das deutsche Studio Pixomondo einen Oscar<br />

zeugen, arbeiteten 483 auf neun Städte rund<br />

um den Globus verteilte Effektbastler über<br />

430 Tage lang an Martin Scorseses 3-D-Epos.<br />

Wie viele Studios ist Pixomondo zudem<br />

bei Fernsehproduktionen im Geschäft – und<br />

hat mit „Game of Thrones“ (Staffel zwei ab<br />

21. November bei TNT Serie) eine der aufsehenerregendsten<br />

TV-Reihen der jüngeren<br />

Vergangenheit am Start. Die Mattscheibe ist<br />

derzeit eine der besten Möglichkeiten, sich<br />

digital kreativ auszutoben. Zumindest in<br />

den Vereinigten Staaten, wo es von Aliens,<br />

Start 1 2 3<br />

4<br />

5 ende<br />

1 Hintere Ebene Die digital präparierte Hintergrundaufnahme<br />

ersetzt den Greenscreen<br />

Zombies und Fabelwesen nur so wimmelt,<br />

wo historische, urbane oder fantastische<br />

Welten aus dem Rechner längst zum Standardprogramm<br />

gehören. Andrew Orloff,<br />

Mitgründer der Zoic Studios und als VFX-<br />

Chef für TV-Spektakel wie das von Steven<br />

Spielberg produzierte „Falling Skies“ und<br />

den Fantasy-Erfolg „Once Upon a Time –<br />

Es war einmal ...“ (in Deutschland seit<br />

12. September auf Super RTL) verantwortlich:<br />

„Enge Budgets, strenge Deadlines und<br />

extrem hohe kreative Ansprüche – bei uns<br />

arbeiten nur Menschen, die sich von ihren<br />

Projekten restlos begeistern lassen.“<br />

Hinter der schönen neuen Computerwelt<br />

verbirgt sich ein ultrahartes Geschäft: Wer<br />

nicht innovativ und kostengünstig arbeitet,<br />

landet schneller im Aus, als Spiderman seine<br />

Fäden spinnen kann. Prominentes Beispiel:<br />

Pixelpionier Robert Zemeckis musste<br />

seine Image Movers („Polarexpress“) an die<br />

Walt Disney Company verkaufen, die 2011<br />

nach dem Megaflop „Mio und Mars“ verkündete,<br />

IM passe nicht mehr ins Konzept.<br />

Auch Illusion Arts („Nachts im Museum“),<br />

eine der ältesten VFX-Firmen, schloss.<br />

2 Vordergrund Details werden dann<br />

Bildebene für Bildebene ergänzt<br />

Weil vor allem unglamouröse Korrekturarbeiten<br />

wie Wire Removal (das Entfernen<br />

von Sicherheitsleinen) in Billiglohnländer<br />

wie Indien ausgelagert werden, setzen viele<br />

Studios auf Vorsprung durch Technik. Mit<br />

atemberaubender Geschwindigkeit wird<br />

Software (weiter-)entwickelt, teils von den<br />

Trickstudios selbst, damit die Effekte immer<br />

brillanter werden. Zu den Favoriten der<br />

Branche zählen dabei Programme wie<br />

3ds/4ds Max und Maya von Autodesk,<br />

dem weltgrößten Unternehmen für digitales<br />

2- und 3-D-Design. Mit Adobe After Effects,<br />

das etwa Filmaufnahmen mit computergenerierten<br />

Bildern zusammenfügt, beginnen<br />

viele VFX-Künstler ihre Karrieren. Auch<br />

deutsche Firmen pixeln mit. Die Software<br />

Cinema 4D zur Konvertierung und Bildberechnung<br />

(Hersteller ist Maxon Computer<br />

aus Friedrichsdorf) wurde etwa in „The Girl<br />

with the Dragon Tattoo“ (2011) verwendet.<br />

Digitale Datenberge durch 3-D<br />

Deutsche Filmschaffende hatten für Effekte<br />

aus dem Rechner lange nur Kopfschütteln<br />

übrig. Dennoch haben es hiesige VFX-Firmen<br />

geschafft, in der Oberliga mitzumischen.<br />

Als 1991 die vom Trickfilmspezialisten<br />

Professor Albrecht Ade gegründete<br />

Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg<br />

eröffnete, glaubte niemand, dass<br />

das auf Animation und Effekte spezialisierte<br />

Institut einmal zu den renommiertesten<br />

Fachschulen der Welt zählen würde, dessen<br />

Studenten regelmäßig internationale Preise<br />

nach Hause holen. Erst nachdem Roland<br />

200 Millionen Dollar kostet eine<br />

Hollywood-Produktion, bis zu 40 Prozent<br />

davon verschlingen Computereffekte<br />

FOTOS: PIXOMOnDO (3), STARGATE (10)<br />

3 Mittlere Ebene Auto, Helikopter,<br />

Schrott – alles kann eingefügt werden<br />

4 Feinarbeit Stimmen auch alle<br />

Schatten und Details?<br />

Emmerich mit einem Team aus Ludwigsburg<br />

1997 einen VFX-Oscar für das Invasionsspektakel<br />

„Independence Day“ gewonnen<br />

hatte, wurde aus abfälligem Grinsen<br />

bewunderndes Staunen.<br />

Seit die virtuelle Effektebastelei boomt,<br />

stehen Trickschmieden vor der Frage: Wie<br />

komprimieren wir die gigantischen Datenberge?<br />

Ein Problem, dem sich die Branche<br />

in Zukunft noch stärker stellen muss, denn<br />

immer mehr Regisseure setzen auf 3-D-<br />

Optik. Die braucht doppelt so viel Speicherplatz<br />

wie herkömmliche Digitalbilder. So<br />

,,<br />

schoben die Computerexperten von Pixomondo<br />

für „Hugo Cabret“ mehr als drei Petabyte<br />

Datensätze durch ihre Netze. Da geht<br />

jeder Rechner in die Knie.<br />

Und das ist erst der Anfang, denn reguläres<br />

3-D-Kino ist für Kinovisionäre bereits ein<br />

alter Hut. Während der Filmtheatermesse<br />

Cinema Con 2012 in Las Vegas stellte Peter<br />

Siegeszug im Fernsehen<br />

Wie Pixelkunst Serien-Hits schafft<br />

HigHtecH sei Dank: TV-Serien können heute fantastische Geschichten erzählen,<br />

die vor wenigen Jahren noch als unrealisierbar galten, obwohl sie mit weit weniger<br />

Geld als Kinofilme auskommen müssen. „Möglich wird das durch VFX wie Virtual<br />

Backlots“ (siehe Kasten oben), sagt Stargate-Chef Sam nicholson. „Sie sind<br />

nicht nur günstiger als viele Außenaufnahmen, der Regisseur hat im Studio auch<br />

weit mehr Kontrolle über den Dreh und ist vom Wetter und von anderen Widrigkeiten<br />

unabhängig.“ Doch nicht alles<br />

kommt aus dem Rechner: Greg nicotero,<br />

verantwortlich für die Zombies in<br />

„The Walking Dead“ (l. u.), setzt auf<br />

einen Mix aus FX-Make-up und CGI:<br />

„Das Ergebnis ist einfach intensiver.“<br />

the<br />

walking<br />

dead<br />

Das Effekteteam der Zombie-Serie<br />

kombiniert Real-Action-Aufnahmen<br />

und FX-Make-up mit Digitaltricks, die<br />

später kombiniert werden (dritte<br />

Staffel ab 19. Oktober bei Fox)<br />

Für Staffel zwei des HBO-<br />

Fantasy-Hits kreierten<br />

die Spezialisten von Pixomondo<br />

die Wüstenstadt<br />

Qarth (zu sehen bei Sky<br />

Atlantic HD und ab 21. November<br />

bei TNT Serie)<br />

technik<br />

5 Das Finale Wenn alle Einzelelemente am Rechner zusammengefügt und<br />

angeglichen sind, ist die Illusion von der Apokalypse für TV-Zuschauer perfekt<br />

game of thrones<br />

Jackson eine Zehn-Minuten-Sequenz aus<br />

seiner „Hobbit“-Trilogie vor, die in 3D HFR<br />

(High Frame Rate) gedreht wurde. Das heißt,<br />

er ließ die bislang für Kinofilme übliche<br />

Rate von 24 Bildern pro Sekunde auf 48 verdoppeln.<br />

Das soll Fluss und Bildquali tät optimieren.<br />

Der Test löste beim Fachpublikum<br />

zwar nur verhaltene Reaktionen aus, <br />

eli stone<br />

Der Sturz ins Boden-<br />

lose blieb „Eli Stone“-<br />

Dar steller Jonny Lee<br />

Miller erspart – dank<br />

von Stargate nachträglich<br />

eingefügter<br />

CGI im Hintergrund<br />

Film ab! Das Making-of<br />

zum Film gibt es bei <strong>HÖRZU</strong><br />

plus. Mehr dazu auf Seite 3<br />

plus


68<br />

man of steel<br />

Dass Superman (Henry Cavill, l.)<br />

2013 erneut abheben kann, verdankt<br />

er Tricks der Firma Double<br />

Negative („The Dark Knight“)<br />

Die Zukunft<br />

des Kinos heißt Hybrid-Film:<br />

Live-Action trifft Computeranimation<br />

FOTOS: © 2012 WARnER BROS. EnTERTAInMEnT InC., 2011 nEW LInE PRODUCTIOnS, InC./© 2012 WARnER BROS. EnTERTAInMEnT InC. AnD METRO-<br />

GOLDWyn-MAyER PICTURES InC., EnTERTAInMEnT PICTURES/IMAGO, nEW LInE CInEMA/KOBAL COLLECTIOn, DZILLA/MOST WAnTED PICTURES<br />

doch dürfte es nur<br />

eine Frage der Zeit<br />

sein, bis alle Kinderkrankheiten<br />

behoben<br />

sind. Jacksons Kollege<br />

James Cameron jedenfalls kündigte bereits<br />

an, 3D HFR für seinen zweiten „Avatar“-<br />

Film (Drehstart 2013) zu nutzen – und die<br />

Bildgeschwindigkeit dabei auf 60 Bilder pro<br />

Sekunde zu erhöhen.<br />

Im digitalen Bilderrausch verwischen<br />

dabei zusehends die Grenzen zwischen sogenannten<br />

Live-Action-Filmen, also Produktionen<br />

mit realen Akteuren, und Animation:<br />

Bereits vor drei Jahren stammte der<br />

erste „Avatar“-Film zu 60 Prozent aus den<br />

Rechnern von Weta und VFX-Guru Stan<br />

Winston. James Cameron selbst bezeichnete<br />

sein Werk damals als „Hybrid zwischen<br />

Real- und Computeranimationsfilm“.<br />

2012 ist das nichts Ungewöhnliches mehr,<br />

die meisten Filmschaffenden arbeiten nach<br />

der Formel „Der Mix macht’s“. Wenn es um<br />

aufwendige Panoramen, futuristische Welten,<br />

sprechende Viecher oder darum geht,<br />

flugs ein paar Naturgesetze zu brechen,<br />

dürfen Digitaltrickser mit ihren Traveling-<br />

Matte-Tricks (bewegliche Hintergrundbilder)<br />

und anderen Zauberkunststücken ran.<br />

Requisiten und (Monster-)Make-up werden<br />

im Hier und Jetzt erstellt und dann am<br />

Computer perfektioniert. So auch im Sci-Fi-<br />

Action-Thriller „Total Recall“ (seit dem<br />

23. August im Kino) von Regisseur Len<br />

Wiseman („Underworld“). VFX Supervisor<br />

Peter Chiang von Double Negative, zuständig<br />

für einen Großteil der rund 1700 Effekte:<br />

„Nicht nur Schauspielern, selbst dem<br />

besten CGI-Künstler hilft es enorm, wenn er<br />

sich an einer realen Basis orientieren kann.<br />

Gerade Action-Sequenzen wie Verfolgungsjagden<br />

wirken authentischer, wenn sich<br />

Hand gemachtes mit VFX mischt.“<br />

Puderpinsel, Puppen, Pixel<br />

Das ist nicht nur bei Kinoproduktionen so.<br />

Special-Effects-Designer Greg Nicotero, verantwortlich<br />

für die Zombies im preisgekrönten<br />

US-Serien-Hit „The Walking Dead“ (Start<br />

der dritten Staffel im Oktober), setzt auf die<br />

Kombination von mechanisch gesteuerten<br />

Puppen, FX-Make-up und CGI-Effekten.<br />

„Puppen und geschminkte Darsteller sehen<br />

einfach echter aus als reine Pixel wesen“,<br />

der hobbit<br />

Hobbit Martin Freeman<br />

(l.) und Gollum Andy<br />

Serkis bereiten eine<br />

Mocap-Szene vor<br />

sagt er und ist mit dieser Meinung nicht<br />

allein. Sam Nicholson, Chef des für die<br />

VFX-Effekte der Serie zuständigen Studios<br />

Stargate: „Wenn wir einer 100 Prozent<br />

künstlichen Figur Persönlichkeit und Präsenz<br />

geben wollen, müssen wir die Illusion<br />

erzeugen, dass so ein Computerding tatsächlich<br />

ein gewisses Gewicht besitzt, und<br />

dann wird es jedes Mal schwierig.“<br />

Mag der Hollywood-Star eine bedrohte<br />

Spezies sein, der Schauspieler an sich muss<br />

keine Angst um seinen Job haben: Performance<br />

Capture heißt die derzeit beste Methode,<br />

Untoten, Aliens oder blauen Na’vi<br />

überzeugend Leben einzuhauchen. Auch<br />

hier macht es der Mix: Die Technik ist eine<br />

Weiterentwicklung des Motion-Capture-<br />

Verfahrens (Mocap), bei dem Bewegungen<br />

von der Kamera erfasst und in ein für den<br />

Computer lesbares Format umgewandelt<br />

werden. Damit das funktioniert, stehen die<br />

Darsteller in mit Markern versehenen Ganzkörperanzügen<br />

auf einer Greenscreen-Bühne<br />

(siehe Kasten rechts). Für Schauspieler<br />

ein gewöhnungsbedürftiges Vorgehen. Ei-<br />

ner der Mocap-Veteranen: Andy Serkis<br />

(„King Kong“), der für „Der Hobbit“ erneut<br />

in die Rolle der Unterweltkreatur Gollum<br />

aus „Der Herr der Ringe“ schlüpft. „Du<br />

musst dich damit anfreunden, dass du nicht<br />

Herr deiner Rolle bist. Dein Körper wird sich<br />

in Luft auflösen und durch digitale Einsen<br />

und Nullen ersetzt“, sagt er rückblickend.<br />

Besonders knifflig, selbst bei dieser<br />

Technik, ist die Erfassung der komplexen<br />

Gesichtsmimik. Sie wird deshalb mit einer<br />

Minikamera eingefangen, die der Darsteller<br />

auf dem Kopf trägt. Eine Spezialbrille zeigt<br />

dem Akteur in Echtzeit, wie sein Spiel digitalisiert<br />

wird. Bei Fantasy-Kreaturen wirkt<br />

das mehr als überzeugend, doch je humanoider<br />

das Pixelgeschöpf wirken soll, desto<br />

problematischer wird es.<br />

Bis heute ist es den Computervirtuosen<br />

nicht gelungen, menschliche Gesichtszüge<br />

so darzustellen, dass den Zuschauern nicht<br />

irgendetwas komisch vorkommt. „Uncanny<br />

Valley“ (unheimliches Tal) nennen Fachleute<br />

diese Negativreaktion auf Kunstmenschen.<br />

Ein Phänomen, mit dem sich die<br />

technik<br />

Magie des<br />

Motion Capture<br />

nie war ein digitales Monster so<br />

glaubwürdig wie Gollum (u. l.) in<br />

Peter Jacksons „Der herr der Ringe“-<br />

Trilogie. Die Kreatur wurde mithilfe<br />

von Performance und Motion Capture<br />

kreiert. Dazu musste Schauspieler<br />

Andy Serkis (u. r.) einen mit<br />

optischen Messpunkten und Sensoren<br />

versehenen Latexanzug tragen.<br />

Seine Bewegungen konnten<br />

nun vom Computer erfasst und auf<br />

die CG-Figur übertragen werden.<br />

Die Gesichtsmimik zeichnet eine<br />

Kamera vorm Kopf des Briten auf.<br />

Digitaler Dämon Gollums Mimik,<br />

Stimme und Bewegungen stammen von<br />

Andy Serkis, der Rest aus dem Rechner<br />

Branche abgefunden zu haben scheint. So<br />

bizarr es klingen mag: Die Unperfektheit unseres<br />

Antlitzes macht uns für Kollege Computer<br />

weiterhin „unberechenbar“. Und das<br />

ist auch ganz gut so. AngelA Zierow<br />

69


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