13.07.2015 Aufrufe

Ausländische Missionare, chinesische Christen ... - China Zentrum eV

Ausländische Missionare, chinesische Christen ... - China Zentrum eV

Ausländische Missionare, chinesische Christen ... - China Zentrum eV

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Historische Notizen 歷 史 歷 史<strong>Ausländische</strong> <strong>Missionare</strong>,<strong>chinesische</strong> <strong>Christen</strong> und dieRevolution von 1911R.G. TiedemannDie Militärrevolte zur „Doppel-Zehn“ (dem 10. Oktober1911) in Wuchang trat die republikanische Revolution in<strong>China</strong> los. Nach bewaffneten Auseinandersetzungen, diesich über mehrere Wochen erstreckten, wurde der jungeKaiser der Qing-Dynastie schließlich genötigt, im Februardes folgenden Jahres abzudanken. Durch den Sturz deskaiserlichen Systems wurde die soziale und intellektuell<strong>eV</strong>ormachtstellung der konfuzianischen Tradition erheblichgeschwächt. Die Hintergründe, wichtigsten Ereignisse undAuswirkungen der Revolution sind allgemein bekannt undmüssen hier nicht eigens vorgestellt werden. Dieser Beitragthematisiert die Einschätzungen und Reaktionen katholischerwie protestantischer <strong>Missionare</strong> verschiedener Nationalitätenund religiöser Traditionen sowie <strong>chinesische</strong>r<strong>Christen</strong> zu den Ereignissen Ende 1911 und Anfang desJahres 1912. Wie diese war auch die republikanische Bewegungin <strong>China</strong> kein monolithischer Block, sondern setztesich je nach Region aus unterschiedlichen reformerischenund revolutionären Faktionen zusammen, die sich oftmit verschiedenen anti-dynastischen Geheimgesellschaften(hui dang 會 黨 ), Banditengruppen, Bündnissen zur lokalenVer teidigung, Studenten und reformistischen Elitenver bündeten. Ebenso muss man sich gewahr sein, dass diediversen modernisierten „Neuen Armeen“ (xin jun 新 軍 )in den meisten Landesteilen von Anhängern radikaler politischerOrganisationen unterwandert waren, insbesonderedurch die „Revolutionäre Allianz“ (Tongmenhui 同 盟 會 ),einem lockeren Bund, der 1905 unter anderem von SunYat-sen (Sun Zhongshan 孫 中 山 ) gegründet worden warund dem Gruppierungen wie die „Gesellschaft für die Wiedergeburt<strong>China</strong>s“ (Guangfuhui 光 復 會 ) und die „RevolutionärePartei“ (Gemingdang 革 命 黨 ) angehörten. Daherwurden die Auswirkungen der Revolution in den einzelnenProvinzen <strong>China</strong>s auf verschiedene Weise und in sehr unterschiedlichemAusmaß erlebt. 1 Angesichts der gewaltigenDer vorliegende Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „ForeignMission aries, Chinese Christians and the 1911 Revolution“, in: Tripod31 (2011) 162, S. 12-34, und wurde mit freundlicher Genehmigungdes Autors und der Tripod-Redaktion von Dirk Kuhlmann aus demEnglischen übersetzt. Englische Zitate wurden durchgehend ins Deutscheübertragen, die Zitate von Georg M. Stenz SVD und Josef Kösters SVDwurden aus den deutschen Quellentexten übernommen.Dimensionen des Landes und der großen Vielfalt der Missionsarbeiter,die diese wechselhaften Ereignisse kommentierten,können hier nur einige repräsentative Beobachtungenvorgestellt werden.<strong>Christen</strong>tum und Staat im späten Qing-ReichHistorisch betrachtet sind Revolutionen und <strong>Christen</strong>tummiteinander unvereinbar. Dennoch äußerten ausländische<strong>Missionare</strong> in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhundertsihre Unzufriedenheit mit den Zuständen im Qing-Reich,und einige von ihnen sprachen sich für grundlegende Veränderungenaus. Sie begannen das alte Regime als großesHindernis für die Verbreitung der christlichen Botschaftzu sehen und behaupteten, dass die häufigen anti-christlichenKonflikte aufgrund des Widerstandes von Mitgliedernder Gentry (oder der Literati, shenshi 紳 士 ) und Beamtenentweder erst herbeigeführt oder verschlimmert würden. 2Außerdem identifizierten, als Folge der Verdammung der<strong>chinesische</strong>n Riten durch Rom im Jahr 1742, katholische– und später ebenso protestantische – <strong>Missionare</strong> den„Konfuzianismus“ bzw. die „konfuzianische Ordnung“als zentrales Hindernis für eine intensive Verbreitung des<strong>Christen</strong>tums. Konfuzius selbst galt als Hauptgegner einerBekehrung <strong>China</strong>s. Diese zutiefst „ideologische“ Auseinandersetzungbrachte z.B. der Apostolische Vikar von Süd-Shandong, Johann Baptist Anzer SVD (An Zhitai 安 治 泰 ,1851–1903), klar zum Ausdruck, indem er den Konflikt mitdem „Fürsten der Finsternis“, d.h. Konfuzius, in einer drastischmilitaristischen Wortwahl deutete. 3 Der Konflikt mit1 Eine Analyse dieser Verflechtungen und räumlichen Unterschiede, odermit den Worten von John Lust, „dieser verworrenen Situation“, bietetLust, „Secret Societies, Popular Movements and the 1911 Revolution“, in:Jean Chesneaux (Hrsg.), Popular Movements and Secret Societies in <strong>China</strong>1840–1950, Stanford 1972, S. 165-211.2 Die klassische Studie hierzu ist Lü Shiqiang 呂 實 強 , Zhongguo guanshenfanjiao de yuanyin 1860–1874 中 國 官 紳 反 教 的 原 因 : 一 八 六 〇 ~ 一 八七 四 [Die Ursachen für die anti-christliche Bewegung unter <strong>chinesische</strong>nBeamten und Mitgliedern der Gentry 1860–1874], Taibei: Wenjing shuju1973.3 Anzers vehemente Ablehnung des Konfuzianismus thematisiert Di Deman狄 德 滿 (R.G. Tiedemann), Huabei de baoli he konghuang: Yihetuanyundong qianxi jidujiao chuanbo he shehui chongtu 華 北 的 暴 力 和 恐慌 : 義 和 團 運 動 前 夕 的 基 督 教 傳 播 和 社 會 衝 突 [Furcht und Gewalt inNord-<strong>China</strong>: Christliche Missionen und soziale Konflikte am Vorabenddes Boxer-Aufstands], Nanjing: Jiangsu renmin chubanshe 2011, S. 190f.Eine Neubewertung dieser kontroversen Persönlichkeit liefern R.G.Tiedemann, „Missionaries, Imperialism and the Boxer Uprising: SomeHistoriographical Considerations“, in: Ku Wei-ying 古 偉 瀛 (Hrsg.),Dong-Xi jiaoliushi de xinju: yi Jidu zongjiao wei zhongxin 東 西 交 流 史的 新 局 : 以 基 督 宗 教 為 中 心 [Die neue Phase in der Geschichte desAustausches zwischen Ost und West: Mit Fokus auf dem <strong>Christen</strong>tum],<strong>China</strong> heute XXXI (2012), Nr. 1 (173)


歷 史Historische Notizen 48dem alten Regime eskalierte in den 1890ern und gipfelte inder Katastrophe des Boxer-Aufstandes von 1900.In den unmittelbaren Nachwehen dieses Flächenbrandesschien eine Annäherung zwischen dem <strong>Christen</strong>tumund der Führungsschicht des Qing-Reiches möglich. Dievon Seiten der Regierung geförderte „Neue Politik“ (xinzheng 新 政 ), insbesondere die Abschaffung des konfuzianischgeprägten Beamtenprüfungssystems, bot reform-orientierten<strong>Missionare</strong>n und Konvertiten die Möglichkeit,sich in diesen Veränderungsprozess einzubringen, vor allemim Bildungs- und Gesundheitswesen. Dabei ist jedochfestzuhalten, dass die katholischen Missionen in jener Zeitin keiner guten Ausgangsposition waren, um hier einen signifikantenBeitrag leisten zu können. Im 19. Jahrhunderthatten Missionspriester dem Aufbau eines umfassendenSchulwesens für Gläubige und Nicht-Gläubige nur wenigAufmerksamkeit geschenkt. Bei den pädagogischen Aktivitäten,die vor 1900 stattfanden, handelte es sich um notdürftigeDorfschulen, Katechismus-Klassen und einige wenigeSeminare, in denen einheimische junge Männer aufdie Priesterweihe vorbereitet wurden. Die höhere Bildung(über Sekundärschulen und Colleges) stand, allgemein gesagt,nicht auf der Prioritätenliste. Eine wichtige Ausnahmewar das Collège St. Ignace (Xuhui gongxue 徐 匯 公 學 ), welches1852 von französischen Jesuiten in Shanghai als weiterführendeSchule eingerichtet worden war. 4 Der nächsteSchritt erfolgte jedoch erst 1903, als Ma Xiangbo 馬 相 伯(1840–1939) die Aurora-Akademie (Zhendan xueyuan 震旦 學 院 ) in Shanghai gründete. Nach 1905 wurde diese vonden Jesuiten als Aurora-Universität geführt. 5Eine weitere Ausnahme von dem generellen Vorgehender katholischen Mission im Bildungswesen, die zugleichaufgrund ihrer Lage im Binnenland ungewöhnlich war,fand sich in Süd-Shandong zu Anfang des 20. Jahrhunderts.Dabei handelte es sich um die sogenannten „deutsch-<strong>chinesische</strong>nSchulen“, ein recht außergewöhnliches Experimentvon kurzer Dauer. 6 Aufgrund eines Abkommens mitdem Gouverneur Yuan Shikai 袁 世 凱 (1859–1916) im JahrTaibei: Taida chuban zhongxin 2005, S. 309-357; und Karl-Josef RiviniusSVD, Im Spannungsfeld von Mission und Politik: Johann Baptist Anzer(1851–1903), Bischof von Süd-Shandong, Nettetal 2010.4 Siehe Joseph de la Servière SJ, Histoire de la Mission du Kiang-nan, Bd.2: Mgr Borgniet (1856–1862), Mgr Languillat (1864–1878), Zikawei,Shanghai, Vorwort datiert mit 1914, S. 277. Siehe auch Li Tiangang,„Christianity and Cultural Conflict in the Life of Ma Xiangbo“, in: RuthHayhoe – Lu Yongling (Hrsg.), Ma Xiangbo and the Mind of Modern<strong>China</strong> 1840–1939, Armonk, NY 1996, S. 102-107.5 Zu weiteren Einzelheiten siehe Jean-Paul Wiest, „The Rise and Fall of theFirst Aurora, 1842–1905“, in: Noël Golvers – Sara Lievens (Hrsg.), A LifelongDedication to the <strong>China</strong> Mission: Essays Presented in Honor of FatherJeroom Heyndrickx, CICM, on the Occasion of his 75th Birthday and the25th Anniversary of the F. Verbiest Institute K.U. Leuven, Leuven 2007, S.705-735.6 Zu den Aktivitäten der Gesellschaft des Göttlichen Wortes (SVD) imBildungswesen nach 1900 siehe Karl Josef Rivinius SVD, Traditionalismusund Modernisierung: Das Engagement von Bischof Augustin Henninghausauf dem Gebiet des Bildungs- und Erziehungswesens in <strong>China</strong> (1904–1914), Nettetal 1994.1901 war es Bischof Anzer möglich, 1902 zwei „deutsch<strong>chinesische</strong>Mittelschulen“ in Yanzhou 兖 州 und Jining 濟寧 zu eröffnen, die von der Provinzregierung Shandongsfinanziell unter stützt wurden. 7 Er wies diese Einrichtungenals „private Schulen“ aus, um der heiklen Frage der Verehrungdes Konfuzius durch die Schüler zu entgehen; diesewar in staatlichen <strong>chinesische</strong>n Schulen zwingend vorgeschrieben.8 Um 1907 hatte sich jedoch in der geistigen Elite<strong>China</strong>s bereits ein stärkeres Nationalbewusstsein herausgebildet;manche drückten ihre patriotischen Gefühle dadurchaus, dass sie auf die Etablierung des Konfuzianismusals Staatsreligion <strong>China</strong>s drängten. Als die <strong>chinesische</strong> Regierungentsprechend auf der Verehrung des Konfuzius inallen Schulen bestand, beschloss die SVD, das chinesischdeutscheSonderabkommen im Jahr 1909 nicht mehr zuerneuern, was das Ende dieses einzigartigen Schulexperimentsbedeutete. 9 Stattdessen gründeten die Priester dasmissionsorientierte Kolleg des hl. Franz-Xaver zur Verbreitungder „Neuen Lehren“. 10Anders als die katholischen Priester im 19. Jahrhundert,die die weiterführende Bildung im Ganzen eher vernachlässigten,widmeten Organisationen der theologisch moderatenprotestantischen Großkirchen diesem Aspekt der Missionsarbeitdeutlich mehr Aufmerksamkeit. Wo es möglichwar, gründeten sie Schulen, aus denen sich das charakteristischedrei-stufige System von Grundschule, Mittelschuleund Akademien sowie schließlich Union Colleges undUniversitäten entwickelte. Diese Missionsschulen waren sehreinflussreich und bildeten einen der Vermittlungswege fürneue Ideen und moderne Praktiken im <strong>China</strong> der letztenJahre der Qing-Dynastie. Untergraben wurden diese vielversprechendenEntwicklungen jedoch durch Versucheder Regierung, die ausländischen Schulen zu kontrollieren,wie auch die verpflichtende Verehrung des Konfuzius.Für die meisten <strong>Missionare</strong> war dies nicht akzeptabel. Einweiteres beunruhigendes Signal war der Ausschluss von<strong>chinesische</strong>n Absolventen der Missionsschulen aus vielender neuen Provinz-Versammlungen. So wandten sich amVorabend der Revolution von 1911 viele <strong>Missionare</strong> und<strong>chinesische</strong> <strong>Christen</strong> von den „reaktionären Mandschuren“und ihren <strong>chinesische</strong>n Unterstützern ab. In den Wortendes Generalsekretärs des American Board of Foreign Missions(Meiguo bei zhanglaohui 美 國 北 長 老 會 ), Arthur Jud-7 Richard Hartwich SVD, Steyler <strong>Missionare</strong> in <strong>China</strong>. I. MissionarischeErschließung Südshantungs 1879–1903. Beiträge zu einer Geschichte, SanktAugustin 1983, S. 469.8 Konrad von der Goltz an den Reichskanzler, Auszug aus dem BerichtB.295 vom 4. November 1902, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes,Deutsche Botschaft <strong>China</strong>, Aktenbestand Peking II, Bd. 340, f. 7.9 Die Auflösung des deutsch-<strong>chinesische</strong>n Schulabkommens schildertRivinius, Traditionalismus und Modernisierung, S. 130-133.10 Für eine ausführlichere Darstellung siehe Roman Malek SVD, „ChristianEducation and the Transfer of Ideas on a Local Level: Catholic Schoolbooksand Instructional Materials from Shandong (1882–1950)“, in: PeterChen-main Wang (Hrsg.), Setting the Roots Right: Christian Education in<strong>China</strong> and Taiwan, Taibei: Liming wenhua 2007.<strong>China</strong> heute XXXI (2012), Nr. 1 (173)


49Historische Notizen歷 史son Brown (Bu Lang 布 朗 , 1856–1963): „<strong>Missionare</strong> und<strong>chinesische</strong> <strong>Christen</strong> lehnten die Mandschu-Dynastie nichtab, weil sie eine Monarchie, sondern weil sie korrupt undder Feind von Freiheit und Fortschritt war.“ 11Angesichts dieses „bigotten, verknöcherten Konservatismus“12 engagierten sich viele progressive protestantische<strong>Missionare</strong> wie auch lokale Kirchenführer und christlicheStudenten verstärkt in den <strong>chinesische</strong>n Reformbewegungen.Auf der anderen Seite begannen lokale reformorientierteEliten die Missionen als eine moderne Kraft wahrzunehmen,die sich für den Modernisierungsprozess <strong>China</strong>snutzbar machen ließ. Dadurch wurden christliche Missionenzu Partnern in der lokalen Gesellschaft. Wie RyanDunch gezeigt hat, beteiligten sich <strong>chinesische</strong> Protestantenin städtischen Zentren wie Fu zhou 福 州 an den neuenFormen von sozialem und politischem Aktivismus im erstenJahrzehnt des 20. Jahrhunderts wie auch in der Revolutiondes Jahres 1911 selbst. In deutlichem Gegensatz zu dervorherrschenden Meinung <strong>chinesische</strong>r Nationalisten, vorallem nach 1949, waren nach Dunch progressive <strong>chinesische</strong><strong>Christen</strong> „nicht im Geringsten denationalisiert, vielmehrmotivierte sie ihr Patriotismus dazu, das <strong>Christen</strong>tumfür sich anzunehmen“. 13 In Fuzhou waren die Kirchender American Methodist Episcopal Mission (Mei yi meihui美 以 美 會 ) besonders engagiert in diversen Reformbewegungen.Zudem waren viele der führenden Aktivisten imAnglo-Chinese College der Methodisten (Fu zhou HelingYing-Hua shuyuan 福 州 鶴 齡 英 華 書 院 ) ausgebildet worden.Gleichzeitig führte der lokale Zweig der Young Men’sChristian Association (Zhonghua jidu jiao nan qingnianhui中 華 基 督 教 男 青 年 會 , YMCA) „mehr als alle anderenVer einigungen protestantische, progressive, kompetenteMänner in einem nationalistischen Projekt zusammen“. 14Die YMCA, deren Anfänge in <strong>China</strong> bei den Studentenprotestantischer Missions-Colleges lagen, „versuchte <strong>China</strong>durch Bildung und Volksmobilisierung, über Treffen, Vorträge,Leseräume, Publikationen sowie eine eigene Schulezu verändern“. 15 Dunch legt äußerst schlüssig dar, dass <strong>chinesische</strong>Protestanten sich bereits im Vorfeld der Revolutionvon 1911 intensiv am gesellschaftlichen und politischenLeben in Fu zhou beteiligten. Dasselbe war bei vielen fortschrittlichdenkenden Protestanten in anderen großstädtischenZentren <strong>China</strong>s der Fall. Natürlich waren die <strong>Missionare</strong>davon überzeugt, dass jeder Wandel von Bedeutungnur unter dem „konstruktiven Einfluss“ des <strong>Christen</strong>tums11 Arthur J. Brown, The Chinese Revolution, New York 1912, S. 125.12 Ibid., S. 13.13 Ryan Dunch, Fuzhou Protestants and the Making of a Modern <strong>China</strong>1857–1927, New Haven – London 2001, S. xvi.14 Ibid., S. 49. Anscheinend brachte die methodistisch-episkopale Missionin Fuzhou wesentlich mehr Aktivisten hervor als die Mission des AmericanBoard of Commissioners for Foreign Missions (Meibuhui 美 部 會 )oder der Church Missionary Society (Yingguo chuandaohui 英 國 傳 道會 ).15 Ibid., S. 69.möglich sei. Der Umstand, dass viele der <strong>chinesische</strong>n Aktivisten– Reformer wie Revolutionäre – in der Küstenregionentweder <strong>Christen</strong> waren oder Missionsschulen besuchthatten, bestärkte sie in dieser Einstellung. Zudem gab esnoch Reformer, die über persönliche Kontakte zu <strong>Missionare</strong>noder indirekt über deren Schriften beeinflusst wordenwaren. Deshalb wurde in Missionskreisen allgemeinangenommen, dass die Revolutionäre eher dazu bereit wären,Religionsfreiheit zu gewähren, als das Qing-Regime.<strong>Missionare</strong> und <strong>Christen</strong> in den revolutionärenKämpfenNach dem Aufstand in Wuchang vollzog sich die Revolutionim Land vor allem als eine Folge relativ gewaltfreierPutsche, in denen Provinzführer ihre „Unabhängigkeit“von Peking erklärten. Berichte verschiedener <strong>Missionare</strong>beschreiben diesen Prozess in Shanghai und den Vertragshäfenim unteren Yangzi-Tal verhalten positiv. In Ortenwie Nanchang sahen die Anwohner mit einigen Befürchtungendem Kommen der Revolutionäre entgegen. Wieein örtlicher Priester der Lazaristen bemerkte, fürchtetendie Leute in Nanchang nicht unbedingt die Gemingdang,sondern hatten eher Angst vor den Sekten und kriminellenBanden, die das Fehlen jeglicher staatlicher Ordnungausnützen könnten. Die lokale Oberschicht beschloss daher,eine städtische Miliz zur Aufrechterhaltung der Sicherheitzu gründen. Als die Revolutionäre eintrafen, ging derpolitische Wechsel jedoch ohne besondere Vorkommnissevonstatten. Weiße Flaggen und weiße Armbinden, dieSymbole der anti-dynastischen Bewegung, waren überallzu sehen. 16 Die Lazaristen in Jiujiang, Ningbo und Shanghaiberichteten von ähnlich ereignisarmen Machtübernahmendurch die Gemingdang. In diesen Orten betrachtetendie <strong>Missionare</strong> die Auseinandersetzungen zwischen denRegierungstruppen der Qing und den Revolutionären miteiniger Gelassenheit, da beide Seiten versichert hatten,Leib und Leben sowie den Besitz der Ausländer schützenzu wollen. 17 Der Verfasser des Herausgeber-Vorworts desChinese Recorder ließ sich sogar zu der Einschätzung hinreißen,die Revolution sei „das Zeichen eines erwachendenmoralischen Bewusstseins. Sie hielt sich in einem zivilisiertenRahmen, insofern ein Kriegszustand mit wahrer Zivilisationeinhergehen kann.“ 18Während sich die <strong>Missionare</strong> im Verlauf der Revolutionmehr oder minder neutral verhielten und vornehmlich alsBeobachter oder humanitäre Helfer agierten, waren <strong>chinesische</strong><strong>Christen</strong>, besonders protestantische Konvertiten,eher bereit, die republikanische Seite stärker zu unterstüt-16 Paul Monteil CM (Meng Deliang 孟 德 良 ) an Maurice Bouvier CM (BaoWeihan 鮑 維 翰 ), Nanchang, 1. November 1911, in: ibid., S. 73f.17 Annales de la Congregation de la Mission 77 (1912) 1, S. 71.18 Chinese Recorder 43 (1912) 1, S. 1.<strong>China</strong> heute XXXI (2012), Nr. 1 (173)


歷 史Historische Notizen 50zen. Sie beteiligten sich auch selbst an der Revolution. WieRyan Dunch in seiner Studie zu den Protestanten Fuzhousfeststellte, waren Studenten der methodistischen Missionsschulenzum Beispiel unmittelbar in Kämpfe verwickelt– vermutlich ohne das Wissen der methodistischen <strong>Missionare</strong>.19 Auch in Shanghai lagen die Sympathien der <strong>chinesische</strong>nprotestantischen Kirche überwiegend auf Seiten derRevolutionäre. Angeregt durch das allgemein freundlicher<strong>eV</strong>erhalten der Nicht-<strong>Christen</strong>, rechnete man mit einer Wellevon Erweckungen am Ende der revolutionären Kämpfe.Aus dieser Erwartung heraus gründete die <strong>chinesische</strong> KircheShanghais eine Gesellschaft zur Evangelisierung (Budaohui 佈 道 會 ), die im Gefolge der Arbeit des Roten Kreuzesin den Krankenhäusern und bei den Truppen wirkte. 20Während in Shanghai und vielen anderen Städten inder unteren Yangzi-Region die Macht der republikanischenSeite relativ friedlich zufiel, verweigerten die Qing-Loyalistenin Nanjing eine widerstandslose Kapitulation. Nach denAusführungen des französischen Jesuiten Leopold Gain (AiLaiwo 艾 賚 沃 , 1852–1930) waren der Generalgouverneurvon Liangjiang (Liangjiang zongdu 兩 江 總 督 ), Zhang Renjun張 人 駿 (1847–1927), und der mandschurische Oberbefehlshabervon Jiangning (Jiangning jiangjun 江 寧 將 軍 ),Tieliang 鐵 良 (1863–1939), durchaus gewillt, die Stadt denRevolutionären zu übergeben, jedoch wurde ihre Entscheidungvon dem Kommandeur der patrollierenden Streitkräfteam Yangzi, dem han-<strong>chinesische</strong>n General Zhang Xun張 勳 , verworfen. Nachdem er am 7. November die Kontrolleüber die Verteidigung der Stadt übernommen hatte,begann er sofort mit der blutigen Verfolgung mutmaßlicherAnhänger der Gemingdang. Jede Person mit weißemTaschentuch, europäischem Hut oder europäischen Schuhenwurde angehalten und auf der Stelle enthauptet. Einigeprotestantische Schüler, die ihre Zöpfe abgeschnitten hatten,wurden so umgebracht. 21 Es gelang den republikanischenTruppen erst am 2. Dezember, die Qing-Loyalistenaus Nanjing zu vertreiben. Zhang Xun war jedoch in derNacht zuvor mit 2.000 Soldaten aus der Stadt geflohen undhatte sich in den Norden Jiangsus zurückgezogen. Als dieneuen Herren ihren Angriff auf die zurückgelassenen Mandschurenund Regierungstruppen der Qing begannen, fielPater Gain die schwierige Aufgabe zu, fünfzig junge kaiserlicheSoldaten sowie zwanzig mandschurische Frauenaus der katholischen Mädchenschule zu verstecken undzu versorgen. 22 Missionarische Interventionen dieser Artfanden auch in Anqing, der Hauptstadt von Anhui, statt.Hier retteten die Jesuiten gemeinsam mit amerikanischenProtestanten das Leben des ehemaligen Qing-Gouverneurs19 Dunch, Fuzhou Protestants, S. 104-108.20 John Darroch, „Current Events as Seen through the Medium of the ChineseNewspaper“, in: Chinese Recorder 43 (1912) 1, S. 32f.21 Gain, Nanjing, 10.11.1911, in: Relations de Chine, 3rd series 4 (1912), S.324.22 Gain, 2. und 5. Dezember 1912, in: ibid., S. 333f.Zhu Jiabao 朱 家 寶 (1860–1923), indem sie ihn bei Nachtmit einem Seil an der Stadtmauer herabließen. 23Es war eindeutig so, dass die einheimische „intellektuelle“Elite der protestantischen Mission (Katecheten, Lehrerund Mittelschüler) in den städtischen Zentren der <strong>chinesische</strong>nKüstenregion eher mit der revolutionären Bewegungsympathisierte und sie in einigen Fällen sogar aktivunterstützte. Jedoch ist es wichtig, dabei nicht das bemerkenswerteGefälle zwischen diesem sich modernisierenden,kos mopolitischen Teil <strong>China</strong>s und seinem rückständigenHinterland aus den Augen zu verlieren. Vor allem die Einstellungender einfachen Gläubigen in ländlichen Bezirkensind nur schwer zu erfassen. Im Norden Guangdongs zumBeispiel wiesen die <strong>Missionare</strong> der Basler Mission (Basehui巴 色 會 ) auf die große Begeisterung in ihren Gemeindenhin. Die ortsansässigen Schüler der Missionsschulen– Chris ten wie Nicht-<strong>Christen</strong> gleichermaßen – warenbe reit, ihre Zöpfe abzuschneiden, aber es gibt kaum Hinweisedarauf, dass sie selbst an militärischen Auseinandersetzungenteilnahmen. Einige Katecheten und Lehrer warbendurchaus energisch <strong>Christen</strong> für ihre „Volksarmeen“an. Andere unterstützten die Revolutionäre im Geheimen.Diese Aktivisten wirkten im Allgemeinen als Vermittlerzwischen den einfachen Gläubigen und der Gemingdang. 24Ein anderer Fall stammt aus der Binnenprovinz Sichuan. Inseiner Geschichte des <strong>Christen</strong>tums in dieser Provinz zeigtQin Heping auf, dass Protestanten tatsächlich für nationalistischeund reformerische Projekte in <strong>China</strong> mobilisiertwurden. Als ein Beispiel führt Qin Guanghan 廣 漢 (früherHan zhou 漢 州 genannt) nahe Chengdu an. Hier betete dieGemeinschaft der Gläubigen für das Wohl der Aktivistender Bewegung zum Schutz der Eisenbahn in Sichuan (Sichuanbaolu yundong 四 川 保 路 運 動 ) und Weisheit fürden Xuan tong Kaiser. 25 Wir können nur darüber spekulieren,ob die Gemeindeglieder den Sinn des Gebetes völligverstanden haben.Auf jeden Fall stützen andere Berichte die Einschätzung,dass die einfache Bevölkerung wenig begeistert warvon den Reformen im Zuge der „Neuen Politik“. Wie RoxannPrazniak nachgewiesen hat, gab es ganz im Gegenteilin vielen Teilen <strong>China</strong>s während des ganzen Jahrzehntsvor 1911 eine beträchtliche Zahl gewalttätiger Proteste aufdem Land gegen die Qing-Reformen im Besonderen und23 Bericht aus Anqing, in: ibid., S. 338. Obwohl er ursprünglich die kaiserlicheHerrschaft verteidigte, ließ sich Zhu schließlich davon überzeugen,die Unabhängigkeit Anhuis von der Qing-Regierung zu erklären. Er warfür kurze Zeit, vom 8. bis zum 28. November 1911, Militärgouverneurder Provinz (dudu 都 督 ). Siehe hierzu auch den knappen Bericht vonRobert Roberfroid SJ, in: ibid., S. 317f.24 Thoralf Klein, Die Basler Mission in Guangdong (Südchina) 1859–1931,München 2002, S. 430.25 Qin Heping 秦 和 平 , Jidu zongjiao zai Sichuan chuanbo shigao 基 督 宗教 在 四 川 傳 播 史 稿 [Geschichte der Verbreitung des <strong>Christen</strong>tums inSichuan], Chengdu: Sichuan renmin chubanshe 2006; siehe dazu JeffMcClain’s Rezension, in: Frontiers of History in <strong>China</strong> 2 (2007) 2, S. 291.<strong>China</strong> heute XXXI (2012), Nr. 1 (173)


51Historische Notizen歷 史die Modernisierung im Allgemeinen. 26 Dieselbe Ablehnungvon Veränderungen ist auch während der Revolutionselbst festzustellen, die ja üblicherweise als eine Modernisierungsrevolutiongilt. Für viele war sie allerdings eine Revolutiongegen die Moderne. Wir deuten das Abschneidender Zöpfe (bianzi 辮 子 ), dieser altehrwürdigen Anhängsel,als Ausdruck einer anti-mandschurischen Gesinnung. Vorallem auf dem Land wurde dies oftmals verstanden als „einehan-<strong>chinesische</strong> Bewegung, die sich nicht so sehr gegen dieMandschuren richtete als gegen die verwestlichenden Reformen,die sie eingeführt hatten. Für viele war der Zopfkein Symbol ihrer Unterwerfung unter die Mandschuren,sondern das ihrer eigenen Identität als Chinesen.“ 27 In einigenTeilen <strong>China</strong>s wurden kurze Haare mit Reformennach westlichem Muster assoziiert, „die als Ursache hoherSteuern und Ergebnis ausländischer Einflüsse galten“. In Sichuanwar der Widerstand ausdrücklich anti-westlich orientiert;die Protestierenden schnitten ihre Zöpfe nicht ab,sondern trugen ihr Haar im Stile der Darstellungen lokalerOpern aus der Ming-Dynastie. „Nur ein Jahr später versuchtedie Sekte der Roten Laternen durch einen Aufstandin der zweitgrößten Stadt Sichuans, Chongqing, die Mandschu-Herrschaftwieder zu errichten und alle Ausländerwie auch Chinesen ohne Zöpfe zu töten.“ 28Wenn man berücksichtigt, dass die Mehrheit der <strong>chinesische</strong>n<strong>Christen</strong> auf dem Land lebte, ist anzunehmen dassviele von ihnen die modernisierungsfeindliche Einstellungder Nicht-<strong>Christen</strong> ihres Umfelds teilten. Schließlich warensie Teil desselben ländlichen kulturellen Milieus, welchessich deutlich unterschied von den städtischen Zentrender Küstenregion und einigen der größeren Binnenstädte,zu deren Bewohnern Aktivisten aus reform-orientiertenEliten gehörten, darunter auch jene Gruppe, die man als„christliche Intelligenz“ bezeichnen könnte. Die Frage nacheiner Unterstützung der revolutionären Sache lässt sichauch im Lichte dessen betrachten, inwiefern einzelne <strong>Missionare</strong>und Missionsgesellschaften die Einstellung lokalerKonvertiten zu sozialen und politischen Veränderungenbeeinflusst haben. So war es vor allem der liberale Flügelder protestantischen Großkirchen, und hierbei nochmal imBesonderen die amerikanischen Protestanten, die als Vertreterdes „social gospel“ die Modernisierung propagiertenund einen politischen Wandel begrüßten. Demgegen überwaren Vertreter der konservativen und fundamentalistischen„Großkirchen“ wie auch Evangelikale vor allem ander direkten Evangelisierung interessiert und schenktensozialen und politischen Fragen kaum Beachtung. Tatsächlichführten einige der radikaleren evangelikalen Predigerdie chaotischen Zustände des Jahres 1911 als Zeichen fürdas Kommen der „Endzeit“ an. Römisch-katholische Pries-26 Roxann Prazniak, Of Camel Kings and Other Things: Rural Rebels againstModernity in Late Imperial <strong>China</strong>, Lanham, MD 1998.27 Henrietta Harrison, <strong>China</strong>. Inventing the Nation, London – New York2001, S. 135.28 Ibid., S. 137.ter waren zwar selbstverständlich an einer Vielzahl sozialerProjekte beteiligt, jedoch lehnten sie sowohl einen politischenwie auch einen religiösen Liberalismus vehement ab.Zudem versuchten sie ihre Konvertiten von einem Engagementin den politischen Bewegungen dieser Zeit abzuhalten.Diese unterschiedlichen Faktoren beeinflussten dieReaktion <strong>chinesische</strong>r <strong>Christen</strong> auf die Herausforderungdurch die Revolution in den verschiedenen Teilen des Landes.Letztlich jedoch war das Hauptanliegen aller <strong>Missionare</strong>und Konvertiten politische und soziale Stabilität, um denGlauben verbreiten und praktizieren zu können.Wie dem auch sei, in den nördlichen Provinzen warendie unmittelbaren Auswirkungen des Aufstands vonWuchang nur gering. Der deutsche Priester Georg MariaStenz SVD (Xue Tianzi 薛 田 資 , 1869–1928) berichtete AnfangNovember aus Süd-Shandong:Von der Revolution haben wir noch nicht viel gemerkt.… Einzelne erfahrene Leute ausgenommen, ist das Ganzenur Mache dummer, grüner Jungen. … Das Volk bekümmertsich überhaupt nicht um die Sache.Jedoch fragte er sich, wie lange dieser Zustand noch anhaltenwürde. Stenz war sich bewusst, dass es in Orten weitersüdlich Blutvergießen gegeben hatte und die Chinesen allgemeindie Revolution befürworteten. Fast alle Schüler inRegierungsschulen hatten ihre Zöpfe abgeschnitten.Unsere Jungens hier wollten auch schon dran, ich habees aber einstweilen nicht erlaubt. In Nanking hatten dieSchüler ihre Zöpfe abgeschnitten, als die kaiserlichen Soldatenwieder Herren der Lage wurden und jeden einfachköpften, der keinen Zopf hatte. 29Die Unruhen im Süden Shandongs, auf die Stenz anspielte,begannen damit, dass 3.000 kaiserliche Soldaten des dreizehntenRegiments der siebten Division in Qingjiangpu 清江 浦 (Nord-Jiangsu) Anfang November 1911 meuterten,weil sie keinen Sold erhalten hatten. Sie kehrten in ihreHeimat im südlichen Shandong und im Norden Jiangsuszurück und plünderten mehrere wohlhabende Städte aufihrem Weg dorthin. Die nördlichsten Bezirke Jiangsus undAnhuis, bekannt als Huaibei 淮 北 , waren bereits von allgemeinemAufruhr, Hungerrevolten und weithin grassierendemBanditentum stark in Mitleidenschaft gezogen. ImGefolge der Meuterei errichteten Anhänger der GemindangStützpunkte in Qingjiangpu, Xuzhou 徐 州 und einigen anderenOrten an der Eisenbahnlinie Tianjin–Pukou (Tian-Pu tielu 津 浦 鐵 路 ). Von Qingjiangpu und Xuzhou herdehn ten die republikanischen Kräfte ihre Herrschaft notdürftigauf die anderen Städte in der Huaibei-Region aus,indem sie die alten Amtsinhaber in ihren Postern beließen.Aber in den ländlichen Gebieten, die zumeist weder von29 Stenz an seine Schwester Maria und ihren Ehemann Eduard Koll, Jining,30. November 1911, in: Stephan Puhl, Georg M. Stenz SVD (1869–1928).<strong>China</strong>missionar im Kaiserreich und in der Republik, Nettetal 1994, S. 166.<strong>China</strong> heute XXXI (2012), Nr. 1 (173)


歷 史Historische Notizen 52kaiserlichen noch von revolutionären Truppen kontrolliertwurden, blieb die politische Situation während der gesamtenRevolution instabil. Ende November 1911 trat eine provisorischeRegierung in Xuzhou zusammen, die sich jedochnicht offen für die Republik aussprach, aus Angst vor derRache des loyalistischen Generals Zhang Xun. Dieser besetzteXuzhou tatsächlich am 4. Dezember 1911, zwei Tagenach seiner Niederlage in Nanjing. Erst Mitte Februar 1912gelang es der 39. Brigade des Beifajun 北 伐 軍 (Nordfeldzug-Heer),auch bekannt als Guangfujun 光 復 軍 (Heer fürdie Wiedergeburt <strong>China</strong>s), unter Führung von Chen Minghou,Zhang von dort zu vertreiben. 30 Dieser verlegte seinHauptquartier nach Yanzhou, Süd-Shandong, und nahmeine unklare Position zwischen den Truppen Yuan Shikaisim Norden und jenen der Republik im Süden ein. 31In diesen unruhigen und unsicheren Zeiten bliebendie <strong>Missionare</strong> keine bloßen Beobachter im <strong>chinesische</strong>nHinterland. Zusätzlich zu ihren geistlichen Aufgaben warensie bemüht, Hilfe für Regionen zu organisieren, die vonHungersnot betroffen waren, und wo nötig, Unterkunft,medizinische Versorgung und Schutz für vertriebene bzw.geflohene oder verängstigte <strong>Christen</strong> und Nicht-<strong>Christen</strong>bereitzustellen. Manchmal wurden sie von den kriegsführendenParteien um Vermittlung gebeten. So hatten am 8.Januar 1912 Streitkräfte von zweifelhafter Zusammensetzungden Sitz der Kreisregierung in Guoyang 渦 陽 (Anhui)im Namen der Revolution erobert, ohne auch nur einenSchuss abzufeuern. Sie ließen alle Gefangenen frei, nahmenden Kreisbeamten fest, plünderten das Haus des verhasstenLeiters der lokalen Selbstverwaltungsgesellschaft und verteiltenGetreide an die arme Bevölkerung der Stadt. WenigeWochen darauf entsandte Beijing General Jiang Guiti 姜 桂題 (1843–1922), einen der wichtigsten Untergebenen YuanShikais, als bevollmächtigen Unterhändler zu Verhandlungenmit dem lokalen „revolutionären“ Kommandanten.Bemerkenswert dabei ist jedoch der Umstand, dass manden ortsansässigen Missionar, den französischen Jesuiten30 Vor der Revolution setzte sich Chen Minghou 陳 明 侯 (Chen Gan 陳 干 ),aus dem Bezirk Changyi (Changyi xian 昌 邑 縣 , Shandong), für moderneSchulen ein und engagierte sich in der Bewegung zur Wiedererlangungder Schürfrechte in Shandong. Siehe Shandong jindaishi ziliao 山 東 近代 史 資 料 [Material zur Geschichte Shandongs in der Neuzeit], Jinan:Shandong renmin chubanshe 1958; Nachdruck Tokio: Daian 1968), Bd.2, S. 222; Tsingtauer Neueste Nachrichten, 13. September 1908, S. 2, und20. Februar 1909, S. 7. Wie viele andere sogenannte „Revolutionäre“arrangierte sich auch Chen mit der Herrschaft Yuan Shikais im Sommer1912.31 Zu weiteren Details über die Ereignisse in der Huaibei-Region, sieheRosario Renaud SJ, Suchow. Diocese de Chine, Bd. 1: (1882–1931), Montreal1955, S. 385-410; Young-tsu Wong, „Popular Unrest and the 1911Revolution in Jiangsu“, in: Modern <strong>China</strong> 3 (1977) 3, S. 329f. Zu ZhangXuns Niederlage in Nanjing am 2. Dezember 1911 siehe Ralph L. Powell,The Rise of Chinese Military Power 1895–1912, Princeton 1955, S. 327f.;Edmund S.K. Fung, The Military Dimension of the Chinese Revolution:The New Army and Its Role in the Revolution of 1911, Vancouver 1980,S. 222f. Zhangs Präsenz in Yanzhou kommentieren Missionarsberichtein: Richard Hartwich SVD, Steyler <strong>Missionare</strong> in <strong>China</strong>, Bd. 3: Republik<strong>China</strong> und Erster Weltkrieg 1911–1919, Nettetal 1987, S. 107-110.Joseph Dannic (Nie Sizong 聶 思 聰 , 1867–1923), bat, zwischenbeiden Seiten zu vermitteln. 32Dies war nur einer von mehreren Fällen, in denen katholischePriester während der mehrmonatigen unruhigenPhase der Revolution zu Verhandlungen hinzugezogenwurden. Der erfahrene französische Jesuiten-Missionar LeopoldGain hielt fest, daß die katholischen Priester in diesemBereich sehr aktiv waren, obwohl sie sich in den verschiedenenlokalen Auseinandersetzungen von 1911–1912 neutralverhielten.In Hubei, Shaanxi, Nanjing, Shandong, wie auch inXuzhoufu und in Anhui haben Imperialisten [d.h. Monarchisten],Tartaren, Republikaner [und] organisierteRäuberbanden entweder gemeinsam oder abwechselnd<strong>Missionare</strong> gebeten, zu vermitteln, für sie Fürsprache zuhalten oder zu schlichten. Die <strong>Missionare</strong> verweigertensich dem nie und scheuten vor keinem Hindernis undkeiner Gefahr zurück, um Blutvergießen zu beenden,Schaden abzuwenden und den Hass zu stillen, mit einemWort, um als Friedensstifter zu wirken … 33Ein weiterer Fall von missionarischer Vermittlung fandunter ungleich gefährlicheren Umständen im Osten vonShandong statt. Militante Republikaner hatte hier frühzeitigeinen Vorposten in dem Vertragshafen Yantai 煙 台(Che foo 芝 罘 ) errichtet und waren in der Folge ebenfalls inGaomi 高 密 , Jimo 即 墨 und Zhucheng 諸 城 auf der HalbinselShandong aktiv. Der deutsche Priester Josef KöstersSVD (Gu Side 顧 思 德 , 1870–1922) verfaßte einen Berichtzu den Ereignissen in Zhucheng, das am 2. Februar 1912von einer Gemingdang-Einheit mit Unterstützung vonSchülern der lokalen Schule besetzt wurde.Obwohl wir die nicht christentumsfeindliche Richtungder eigentlichen Revolutionäre aus der Zeitung ganz gutwussten, konnte doch niemand voraussehen, wozu eventuellder Pöbel fähig sein könnte, wenn einmal die Bandeder Ordnung gelöst sind.Die Lage des Missionars hätte um einiges brenzliger werdenkönnen, als er sich, wenngleich mit einigen Vorbehalten,dazu bereiterklärte, den Bezirksmagistrat von Zhucheng,Wu Xun 吳 勛 , in der Missionsstation zu verstecken. Jedochgab Kösters an, dass es ihm gelang, erfolgreich zwischenden Vertretern der Revolutionären Partei und dem Magistratzu vermitteln:32 Einen unterhaltsamen Bericht über die Umstände von Dannics Vermittlungsmissionund die Dankesbekundungen der Stadtbevölkerung bietetsein Brief vom 10. Februar 1912, in: Relations de Chine 4 (1912), S. 520-523. Weitere Details siehe R.G. Tiedemann, „Anti-Christian Conflict inLocal Perspective. The Life and Times of Pang Sanjie: Patriot, Protector,Bandit or Revolutionary?“, in: Peter Chen-main Wang (Hrsg.), Contextualizationof Christianity in <strong>China</strong>: An Evaluation in Modern Perspective,Sankt Augustin – Nettetal 2007, S. 243-275.33 Leopold Gain SJ, „Dans la Chine nouvelle“, datiert Shanghai, Oktober1915, in: Etudes 146 (20. Februar 1916), S. 508.<strong>China</strong> heute XXXI (2012), Nr. 1 (173)


53Historische Notizen歷 史In den folgenden Tagen entspann sich ein regelrechterfriedlicher Verkehr zwischen den Häuptern der Revolutionund der Mission …Weitere Komplikationen und Gefahren für die Mission entstandendadurch, dass der Magistrat den Gouverneur vonShandong über die Eroberung Zhuchengs informiert undum die Entsendung von Truppen gebeten hatte. Am 11.Februar erschien ein als Bettler verkleideter Soldat in derMissionsstation und überbrachte einen Brief des Befehlshabersder kaiserlichen Truppen, in dem dieser Köstersaufforderte, die Station zu verlassen, da ein Angriff aufdie Gemingdang-Streitkräfte in der Stadt unmittelbar bevorstand.Der Missionar war sich der damit verbundenenGefahren bewusst und bot an, zwischen den Honoratiorenvon Zhucheng und den Regierungstruppen zu vermitteln.Sein Vorschlag wurde von allen Seiten angenommen, woraufsich Kösters zum Lager der kaiserlichen Soldaten begab.Inzwischen waren jedoch andere Einheiten der Regierungstruppeneingetroffen und hatten das Feuer eröffnet. Die revolutionärenSoldaten wurden rasch überwältigt und vielevon ihnen getötet. Daraufhin suchten einige der lokalenHonoratioren mit ihren Wertsachen Zuflucht in der Missionsstation,da die kaiserlichen Truppen die Stadt plünderten.Einige der reichsten von jenen, denen der PriesterSchutz gewährte, äußerten den Wunsch, sich zu bekehren.Bald aber, da die Gefahr vorüber war, machten sich diealten Hindernisse: Opiumgenuss, Vielweiberei usw., wiedergeltend. 34Es wird nicht überraschen, dass sich aus den Erinnerungenvon Wang Linge 王 麟 閣 , einem überlebenden Tongmenghui-Anhängeraus Zhucheng, ein völlig anderes Bild ergibt.Er erwähnt keine Vermittlungsversuche, sondern klagt den„reaktionären“ katholischen Priester Kösters an, mit demMagistrat gemeinsame Sache gemacht und als Spion für diekaiserlichen Truppen gearbeitet zu haben. Natürlich mussman hierbei berücksichtigen, dass dieser Bericht in demideologisch aufgeladenen Klima der 1950er Jahre erstelltwurde. Er schließt mit einer Liste von 23 Menschen, die inZhucheng umgebracht worden waren, darunter ein Predigerder Berliner Mission (Baling xinyihui 巴 陵 信 義 會 ) mitdem Familiennamen Tian 田 . 35Im Allgemeinen jedoch versuchten sowohl kaiserlicheTruppen wie auch die Revolutionäre, die Aktivitäten christlicherGemeinden zu schützen. Die <strong>Missionare</strong> im Binnenlandhatten stärkere Bedenken wegen der Gefahr durch„Horden von Banditen und Piraten, die das Land heimsuchenund die unklare Lage wie auch das Fehlen staatlicherMacht nutzen, um sich zum Plündern zusammenzurotten“. 36Dieser allgemeine anarchische Zustand wurde in vielenTeilen des Landes durch Naturkatastrophen zusätzlichverschärft. In der Provinz Gansu wurden die Auseinandersetzungenzwischen Qing-Loyalisten und Revolutionärennoch unübersichtlicher aufgrund der Anwesenheit von verschiedenennicht-regulären Truppen, Geheimgesellschaftenund Bruderkriegen zwischen muslimischen Faktionen.Beamte des amerikanischen und britischen Konsulats hattendie <strong>Missionare</strong> im Binnenland angewiesen, sich in di<strong>eV</strong>ertragshäfen zu begeben, aufgrund der räumlichen Entfernungwar dies für die vielen Protestanten in Gansu jedochkeine praktikable Lösung. Durch seinen Bericht ausGansu, dieser Grenze zwischen dem <strong>chinesische</strong>n und demtibetischen Kulturkreis, lieferte David Paul Ekvall (Ai Zixin艾 自 新 , 1871–1912) von der Christian and Missionary Alliance(Xuandaohui 宣 道 會 ) einen Einblick in die Haltungder protestantischen <strong>Missionare</strong> in dieser Provinz. Dabeifügte er hinzu:So wie es aussieht, mit der Revolutionären Armee, denkaiserlichen Soldaten und den muslimischen Rebellenhier, ist ein Drei-Fronten-Kampf in der Provinz zu erwarten… Das größte Gefahrenpotential für alle in Gansu, dieeinfache Bevölkerung wie auch die Ausländer, liegt in einemAufstand der Muslime Gansus, da diese mindestensein Drittel der Bevölkerung bilden. Allein die Aussicht aufVerwüstungen durch die Muslime versetzt die Chinesenin Angst und Schrecken, da sie wissen, dass die Muslime,wenn sie sich erheben, von beispielloser Grausamkeit sind.Wir haben gute Gründe zu bezweifeln, dass die kaiserlichenSoldaten oder auch die Revolutionäre Armee imstandewären, dieser neuen Gefahr Herr zu werden. Eskönnte nötig werden, dass sich alle <strong>Missionare</strong> Gansuszum gegenseitigen Schutz an einem Ort versammeln unddort solange ausharren, bis unsere jeweiligen Heimatregierungenuns mit einem Entsatz-Heer zu Hilfe kommenoder mit den Anführern der Revolutionären Armee Vereinbarungenfür ein sicheres Geleit an die Küste treffenkönnen. 37Der Missionar wies sogar darauf hin, dass ein buddhistischerTempel, den die Mission erworben hatte, „leicht sobefestigt werden könnte, dass er für einen anstürmendenMob unüberwindlich wäre, wenn er von einigen entschlossenenMännern verteidigt würde“. 38 Letzten Endes überstandendiese <strong>Missionare</strong> die Revolution in Gansu fast unversehrt.Aus dem nordöstlichen Teil Gansus berichtete JohnFidd ler (Fei Delie 費 德 烈 , 1865–1955) von der <strong>China</strong> In-34 Josef Kösters SVD, „Die Revolution in <strong>China</strong> und ihre Bedeutung für dieMission“, in: Steyler Missionsbote 39 (1911–1912), S. 171-174.35 Wang Linge 王 麟 閣 , „Jimo, Gaomi, Zhucheng duli zhi huiyi“ 即 墨 , 高密 , 諸 城 獨 立 志 回 憶 [Gedanken zur Unabhängigkeit von Jimo, Gaomiund Zhucheng], in: Shandong jindaishi ziliao 山 東 近 代 史 資 料 , Bd. 2, S.232-236.36 „The Revolution in <strong>China</strong>“, in: The Alliance Weekly 37.20 (17. Februar1912), S. 314.37 Ekvall, „Present Conditions of Foreigners in Kansu“, in: The AllianceWeek ly 37.25 (23. März 1912), S. 392.38 Ibid., S. 395. Siehe auch id., „From the Tibertan Borders“, in: The AllianceWeekly 38.4 (27. April 1912), S. 56.<strong>China</strong> heute XXXI (2012), Nr. 1 (173)


歷 史Historische Notizen 54land Mission (Neidihui 內 地 會 ) darüber, dass die Gelaohui哥 老 會 oder „Gemeinschaft der Älteren Brüder“ am19. November mit ihren Angriffen auf den Yamen des Präfektenin Ningxia 寧 夏 und andere Ziele begonnen hatte.Im Gefolge dessen plünderten sie das Haus des Missionars,„raubten uns alles und ließen nichts zurück, außer dem,was sie bereits zerstört hatten, ausländische Dinge wie denHerd, die Orgeln und die Glasscheiben in Fenstern und Türen“.Später vertrieb eine andere Militäreinheit die Gelaohuiaus Ningxia. 39 Die Gemeinschaft der Älteren Brüder, einesowohl in ihrem Hass auf die Qing wie auch die Ausländerextreme Geheimgesellschaft, hatte sich der Tongmenhuiangeschlossen und die Reihen der Neuen Armeen vor allemin Sichuan und Shaanxi infiltriert.Berichte der belgischen <strong>Missionare</strong> der Kongregationvom Unbefleckten Herzen Mariens (Shengmu shengxinhui聖 母 聖 心 會 , CICM) bestätigen, dass der gesamte NordwestenGansus während der Revolution in allgemeine Anarchiefiel. Angesichts des Banditentreibens mobilisiertendie Priester der CICM ihre <strong>Christen</strong> in einigen Gemeindenzur Verteidigung und konnten so Angriffe von Räubern abwehren.Bedrohlicher war die Anwesenheit von Truppender Gelaohui. Eine Gruppe der „Älteren Brüder“, die Xiaoqiaopan小 橋 畔 , ein Dorf <strong>chinesische</strong>r <strong>Christen</strong> im ApostolischenVikariat der südwestlichen Mongolei, plünderte undbrandschatzte, konnte schließlich durch die <strong>Christen</strong> PaterJuul Tanghes (Dang Yiren 黨 以 仁 ) aus der benachbartenmongolischen Siedlung Boro Balγasun (chin.: Cheng chuan城 川 ) in die Flucht geschlagen werden. Zur Erleichterungvon <strong>Missionare</strong>n und <strong>Christen</strong> wurden das Banditenwesenund die Aktivitäten der Geheimgesellschaften unter Kontrollegebracht, sobald die Gemingdang-Truppen die öffentliche Ordnung in der Region wiederherstellten. 40Es gab auch eine düstere Seite der Revolution, die jedochin den gängigen historischen Darstellungen beschönigtwird. So war sie natürlich nicht nur eine anti-monarchistischeBewegung, sondern richtete sich auch gegen dieMandschuren. Sicherlich waren diese in vielerlei Hinsichteine fremde, privilegierte und herausgehobene ethnischeGruppe geblieben, die in separaten und abgeschlossenenVierteln in einigen <strong>chinesische</strong>n Städten lebte. 41 Im Zugeeines grundsätzlich irrationalen Nationalismus, der sichim ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts regte, zeigte sichauch bei vielen <strong>chinesische</strong>n Aktivisten in den Städten,„dass sie eine revolutionäre Begeisterung mit deutlich rassistischenUntertönen pflegten. Andere expliziter rassis-39 Fiddler, Brief aus Ningxia, vom 26. Dezember 1911, in: The AllianceWeekly 38.4 (27. April 1912), S. 56f.40 Diese zusammenfassende Darstellung basiert auf mehreren Berichten in:Missions en Chine, au Congo et au Philippines 24 (1912). Zu rivalisierendenmuslimischen Aktivitäten in Shaanxi and Gansu siehe auch JonathanN. Lipman, Familiar Strangers: A History of Muslims in Northwest <strong>China</strong>,Seattle 1997, Kapitel 5.41 Für weitere Details hierzu siehe Edward J.M. Rhoads, Manchus and Han:Ethnic Relations and Political Power in Late Qing and Early Republican<strong>China</strong>, Seattle 2000.tische Gruppen organisierten sich im Geheimen.“ 42 VieleEinheiten der Neuen Armeen waren stark beeinflusst vonder anti-mandschurischen Ideologie der Tongmen hui. Die<strong>chinesische</strong> Presse nutzte jede Gelegenheit, die Abneigunggegen die Mandschuren zu schüren, indem sie mit allengrausigen Details die „Verbrechen der Mandschuren“ vormehr als 250 Jahren darstellte. John Darroch (Dou Yue’an竇 樂 安 , 1865–1941), ein Vertreter der Religious Tract Societyin <strong>China</strong>, fragte sich, ob die „Greueltaten“, die dengegenwärtigen mandschurischen Herrschern vorgeworfenwurden, entweder frei erfunden waren oder enorm übertriebenwurden, obwohl er die intensiven nationalistischenGefühle, die in den Worten und Taten vieler Chinesen zumAusdruck kamen, durchaus anerkannte. 43Einige Beobachter aus der Mission wiesen auf die mörderischeGewalt gegen Mandschuren in Wuchang, Fuzhou,Zhenjiang, Taiyuan und Nanjing während der Revolutionhin. Die heftigsten Angriffe auf Banner-Leute fanden jedochin Xi’an 西 安 , der Provinzhauptstadt von Shaanxi,statt. Hier begann die Revolution am 22. Oktober 1911mit einem systematischen und gnadenlosen Ansturm vonTeilen der Neuen Armee auf die Garnisonsstadt der Mandschuren.Ernest Frank Borst-Smith (Si Mude 司 慕 德 ,1882–1958), ein Mitglied der Baptist Missionary Society(Da Ying jinxinhui 大 英 浸 信 會 ), beschrieb das Massakerwie folgt:Daraufhin erfolgte etwas, das jeden zivilisierten Menschenmit Schmerz und Abscheu erfüllen muss – die buchstäblicheAusrottung der Mandschuren … Ihre Stadt wurde inBrand gesteckt, und zahlreiche Menschen verbrannten beilebendigem Leibe. Insgesamt drei Tage lang zog sich dastödliche Gemetzel, bei dem Männer, Frauen und Kinderohne Unterschied oder Gnade erschlagen wurden. 44John Charles Keyte (Qi Yangde 祁 仰 德 , 1874–1942), einweiterer baptistischer Missionar aus England, berichtete:Als die Mandschuren erkannten, dass weiterer Widerstandzwecklos war, knieten sich viele von ihnen hin, legtenihre Waffen nieder und flehten die Soldaten um ihrLeben an. Sie wurden erschossen, noch während sie knieten.Manchmal lagen die Toten in einer ganzen Reihe da.In einem Durchgang wurde so eine Gruppe zwischen zehnbis zwanzig Leuten kaltblütig umgebracht. … Die Zahlder Toten … die während der Revolution entweder ermordetworden waren oder Selbstmord begangen hatten, umeinem schlimmeren Schicksal zu entgehen, schätzten dieAusländer in Sianfu auf nicht unter zehntausend. 4542 Joyce A. Madancy, The Troublesome Legacy of Commissioner Lin: TheOpium Trade and Opium Suppression in Fujian Province, 1820s to 1920s,Cambridge, Mass. 2004, S. 190.43 Darroch, S. 24f.44 Ernest Frank Borst-Smith, Caught in the Chinese Revolution: A Record ofRisks and Rescue, London 1912, S. 20.45 Charles John Keyte, The Passing of the Dragon: The Story of the ShensiRevolution and Relief Expedition, London 1913, S. 44f.<strong>China</strong> heute XXXI (2012), Nr. 1 (173)


55Historische Notizen歷 史Eine Gruppe mandschurischer <strong>Christen</strong>, vermutlich Baptisten,überlebte, weil sie nicht in der Mandschuren-Stadtwar, sondern bei einem Sonntagsgottesdienst in einer östlichenVorstadt von Xi’an. 46Die Mandschuren in Xi’an waren offensichtlich einer„virulent rassistischen Rhetorik, die seit mehr als einemJahrzehnt zum ideologischen Repertoire der Revolutionäregehörte“, 47 zum Opfer gefallen, jedoch wurden bei dieserGelegenheit – unerwarteterweise – auch einige der ausländischen<strong>Missionare</strong> angegriffen. Am 22. Oktober 1911 umMitternacht stürmte ein „wütender Mob“ das Grundstückschwedischer <strong>Missionare</strong>, die Mitglieder der ScandinavianAlliance Mission of North America (Beimei Ruinuo hui 北美 瑞 挪 會 ) waren. Ida Beckman (1865–1911), ihre jungeTochter sowie fünf schwedische Schulkinder und derenLehrer Wilhelm T. Vatne (1889–1911) wurden dabei getötet.Dieser mörderische Angriff auf <strong>Missionare</strong> war extremungewöhnlich. In anderen Teilen <strong>China</strong>s waren die republikanischenwie kaiserlichen Truppen allgemein darauf bedacht,die <strong>Missionare</strong> selbst und das Eigentum der Missionenzu schützen. Borst-Smith stellte entsprechend fest, dassnicht Revolutionäre die Ausländer verletzt hatten, sondernein „wütender und wild durcheinander gewürfelter Mob“. 48Erik Richard Beckman (Bai Jince 白 錦 策 , geb. 1866), derden Angriff überlebt hatte, wurde noch genauer und gaban, dass die Mehrheit der Revolutionäre in Xi’an Mitgliederder Gelaohui wären. 49Zumindest in einem Fall konnten katholische Priesterin diesem blutigen Ringen zwischen Chinesen und MandschurenFrieden stiften. Nach einer lange andauerndenBelagerung der Banner-Garnison in Jingzhou 荊 州 durchrepublikanische Truppen betätigte sich der belgische Franziskaner-BruderMarcellus Sterkendries (Ma Xiude 馬 修德 , 1865–1928) als Vermittler in den darauffolgenden Friedensverhandlungen.Unter anderem stimmten die Mandschurender Auslieferung ihrer Waffen und Munition zu,darunter 3.000 Gewehre und 16 Kanonen, die in der katholischenKirche gelagert werden sollten. Am 13. Dezember1911 kam der mandschurische General Liankui 連 魁 zurKapitulation in die franziskanische Mission, und die Revolutionäreunter Tang Xizhi 唐 犧 支 (1887–1924) rücktenvier Tage später in Jingzhou ein, ohne Zwischenfälle undohne Vergeltung an den überlebenden Mandschuren zuverüben. Einige dieser Überlebenden bekehrten sich anschließendzum <strong>Christen</strong>tum. 5046 Borst-Smith, Caught in the Chinese Revolution, S. 21.47 Rhoads, Manchus and Han, S. 228.48 Borst-Smith, Caught in the Chinese Revolution, S. 25.49 E.R. Beckman, The Massacre at Sianfu and other Experiences in Connectionwith the Scandinavian Alliance Mission of North America, Chicago1913, S. 48, 91 und 104. In Xi’an gab es ebenfalls eine Mission der italienischenFranziskaner, jedoch war es nicht möglich, Nähreres über dieErlebnisse der Brüder und ihrer Konvertiten während der Revolutionsunruhenin der Hauptstadt Shaanxis in Erfahrung zu bringen.50 Rhoads, Manchus and Han, S. 198-200; Carine Dujardin, Missioneringen moderniteit. De Belgische minderbroeders in <strong>China</strong> 1872–1940, LeuvenDie NachwehenAnlässlich des 100. Jahrestags der Revolution von 1911,dem wir uns nun nähern, wird dieses Ereignis zweifellosauf verschiedenste Weise gefeiert werden. Ungeachtet derüblichen Deutungen war sie keine gewaltfreie Angelegenheit.Wie die Missionarsberichte verdeutlichen, fanden sichunter denen, die während der Revolution getötet oder verwundetworden waren, in überdurchschnittlich hohemMaße Mandschuren. Außerdem muss die allgemeine Anarchie,die sich im Hinterland ausbreitete, einen beträchtlichenVerlust an Menschenleben und Besitztümern unterden einfachen Chinesen, auch den Konvertiten, geforderthaben. Demgegenüber wurden <strong>Missionare</strong> nicht in nennenswertemUmfang von dem Konflikt in Mitleidenschaftgezogen – mit Ausnahme der ausländischen Gemeinschaftin Xi’an. Es ist daher nicht verwunderlich, dass viele Protestanten,besonders jene in den sicheren, weltoffenen Metropolen,dazu neigten, die revolutionäre Bewegung zu unterstützen.Vor allem Amerikaner hatten demokratische undrepublikanische Ideen in <strong>China</strong> verbreitet. Anfang 1912, alsdas Ringen um die Macht noch nicht entschieden war, prognostizierteein protestantischer Missionar günstige Folgenfür das <strong>Christen</strong>tum:Wenn die Revolution vollendet ist, werden wir erleben,dass die Welt mehr als je zuvor die Vernunft und anderepositive Eigenschaften der Chinesen erkennen kann. Viel<strong>eV</strong>orstellungen von den „rätselhaften Chinesen“ werdenverschwinden, und man wird fähig sein, die Dinge so zusehen, wie sie sind.Er war zuversichtlich, dass infolge von Bildung, Freiheitund religiöser Toleranzder Ungeist der Verfolgung durch das Feuer dieser Revolutionfür immer vernichtet wird. 51Nach Ansicht eines Missionars der MissionsgesellschaftAmerican Presbyterian (North) (Meiguo bei zhanglaohui美 國 北 長 老 會 ), Courtenay Hughes Fenn (Fang Tairui 芳泰 瑞 , 1866–1953), war „die Revolution des [<strong>chinesische</strong>n]Staats selbst, nach allgemeinem Konsens, in beträchtlichemMaße eine Folge der Mission; einer Mission, die mit ihrenfrüheren und gegenwärtigen Methoden eine der wesentlichenrevolutionären Kräfte bildet.“ Er schloss damit, dasseine solche Revolution, wie sie in dieser Nation stattgefundenhat, von der Mission ein unmittelbares und aggressivesVorgehen erfordert, um in den Genuss aller neuenPrivilegien und Möglichkeiten zu kommen, sowie eineAnpassung ihrer Methoden, um dieses Vorgehen möglichst1996, S. 228-230, mit einem Foto von Sterkendries und einer Gruppemandschurischer Konvertiten auf S. 200; Fidelis Vrijdaghs, Een Belgischemissionaris: P. Marcellus Sterkendries, minderbroeder, redder der Tartaren,Mechelen 1925.51 Editorial, in: Chinese Recorder 43 (1912) 1, S. 3f.<strong>China</strong> heute XXXI (2012), Nr. 1 (173)


歷 史Historische Notizen 56effektiv zu gestalten für die Vollendung jener noch größerenRevolution, auf die wir hoffen, nämlich die Errichtungdes Reiches Christi inmitten dieser neuen Republik als einergrundlegenden und allgegenwärtigen beherrschendenKraft, die allein ein festes Fundament einer wahrhaftigenRepublik errichten, die Freiheit ihrer Bürger wahren undfür beständigen Wohlstand sorgen kann wie auch zu bewirkenvermag, dass diese ein Segen für die Welt wirdstatt eines Fluches. 52Wie der folgende Kommentar in der Zeitschrift der Christianand Missionary Alliance zeigt, sahen auch amerikanischeevangelikale <strong>Missionare</strong> die Zukunft des <strong>Christen</strong>tumsin <strong>China</strong> sehr positiv. „<strong>China</strong> durchlebt gerade eine gewaltigepolitische Revolution, die, auch wenn sie zeitweilig mitGefahren für die <strong>Missionare</strong> und einem deutlichen Stillstandder Missionsarbeit verbunden ist, zweifellos in ihremErgebnis zu einem größeren Spielraum und weiteren Möglichkeitenfür die Evangelisierung im ganzen kaiserlichen<strong>China</strong> führen wird.“ 53 Eine Missionarin dieser Organisation,Harriet Rutherford Hess (1865–1967), die Frau vonIsaac L. Hess (Xi Naiyang 希 迺 錫 , 1856–1923), berichteteaus Wuzhou, Guangxi:Wir haben allen Grund anzunehmen, dass uns die neuenBedingungen, die durch die Rebellion geschaffen werden,größere und erstaunlichere Chancen zur Verbreitung desReich Gottes eröffnen, als wir sie bisher kannten. Wir spü-ren dies bereits. Das <strong>Christen</strong>tum, zuvor eine verachteteSache, ist plötzlich sehr beliebt; und Ausländer wie einheimische<strong>Christen</strong>, die zuvor verhasst waren, werden nungeachtet und geschätzt. 54Protestantische <strong>Missionare</strong> aus Europa hatten ein gespaltenesVerhältnis zur Reformbewegung und zur Revolution.Katholische Priester enthielten sich in ihren Schriftenebenfalls ausdrücklicher Kommentare, an denen sich ihreMeinung zu den „Umstürzlern“ hätte ablesen lassen. AllenMissionsgesellschaften gemeinsam war der Wunsch nachRe ligionsfreiheit und einem stabilen wie auch sicheren Umfeldfür ihre Arbeit. Obwohl die Religionsfreiheit in derVerfassung der Republik festgelegt worden war, befürchteteman, dass konservative Kräfte während der PräsidentschaftYuan Shikais danach streben würden, den Konfuzianismusals Staatsreligion <strong>China</strong>s zu etablieren, und so die von derVerfassung garantierten Rechte aushöhlen könnten. Gleichzeitigwurde die junge Republik fast von Anbeginn durchmilitärische Konflikte und soziale Unruhen erschüttert. Jedochermöglichten gerade diese chaotischen Zustände häufig<strong>Missionare</strong>n, als Heiler, Ernährer, Beschützer und Vermittlerzu agieren. Das heißt, die ausländischen Predigerhatten sich den lokalen Bedingungen gut angepasst, undihre Gegenwart wurde von der Bevölkerung im Allgemeinensehr geschätzt. Eine wirkliche Bedrohung für ihre Präsenzin <strong>China</strong> sollte erst in den 1920er Jahren entstehen.52 C.H. Fenn, „Mission after the Revolution“, in: Chinese Recorder 43 (1912)11, S. 635.53 The Alliance Weekly 37.17 (27. Januar 1912), S. 257.54 Mrs I.L. Hess, „Wuchow Items“, in: The Alliance Weekly 38.8 (25. Mai1912), S. 121.<strong>China</strong> heute XXXI (2012), Nr. 1 (173)

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!