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Wahrnehmung, Motorik, Affekt. Zum Problem des Körpers in der ...

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[Inhaltsverzeichnis]Dimitri Liebsch<strong>Wahrnehmung</strong>, <strong>Motorik</strong>, <strong>Affekt</strong>. <strong>Zum</strong><strong>Problem</strong> <strong>des</strong> <strong>Körpers</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong>phänomenologischen undanalytischen Filmphilosophie.Abstract»See it – feel it – taste it!We cannot be responsible, if you never sleep aga<strong>in</strong>!«(Filmplakat zu Robert O’Neills Blood Mania, 1971)When theoriz<strong>in</strong>g about mov<strong>in</strong>g images, it is imperative to ask how the human body is part ofboth the images’ reception and also their production. Film philosophy has articulated twoalmost oppos<strong>in</strong>g answers to this question. In Vivian Sobchack’s phenomenology the livedbody is ubiquitous. Sobchack not only ascribes an enormous value to bodily perception but, <strong>in</strong>an analogy to the human body, she also develops an extremely problematic concept of afilm’s body. In contrast, the analytical philosopher Noël Carroll shows above all how bodilyperception and motility are not <strong>in</strong>volved <strong>in</strong> the reception of mov<strong>in</strong>g images, or, if they are<strong>in</strong>volved, it is <strong>in</strong> a very different way from typical everyday situations. Moreover, also <strong>in</strong>contrast to Sobchack he emphasizes the importance of bodily affects. Therefore, it is thearticle’s aim, on the one hand, to demonstrate these two positions, and on the other hand, todialectically br<strong>in</strong>g them <strong>in</strong> a fruitful dialogue <strong>in</strong> or<strong>der</strong> to uncover their shortcom<strong>in</strong>gs, especiallywith respect to the central areas of the un<strong>der</strong>ly<strong>in</strong>g concepts as lived body vs. body andmultimodality.Für e<strong>in</strong>e valide Theorie <strong>der</strong> Bewegtbil<strong>der</strong> ist e<strong>in</strong>e Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Fragenotwendig, wie <strong>der</strong> Körper an <strong>der</strong> Rezeption (und teils auch an <strong>der</strong> Produktion) solcher Bil<strong>der</strong>beteiligt ist. In <strong>der</strong> Filmphilosophie f<strong>in</strong>den sich auf diese Frage bislang zwei nahezu


DIMITRI LIEBSCH: WAHRNEHMUNG, MOTORIK, AFFEKT. ZUM PROBLEM DES KÖRPERS IN DER PHÄNOMENOLOGISCHEN UNDANALYTISCHEN FILMPHILOSOPHIE.entgegengesetzte Antworten. In <strong>der</strong> Phänomenologie von Vivian Sobchack ist <strong>der</strong>menschliche Leib ubiquitär. Sie spricht nicht nur <strong>der</strong> leiblichen <strong>Wahrnehmung</strong> e<strong>in</strong>enaußergewöhnlichen Stellenwert zu, son<strong>der</strong>n entwickelt sogar <strong>in</strong> Analogie zum menschlichenLeib das hochgradig problematische Konzept <strong>des</strong> filmischen Leibs. Noël Carroll h<strong>in</strong>gegen, e<strong>in</strong>Vertreter <strong>der</strong> analytischen Philosophie, zeigt vor allem, <strong>in</strong>wieweit die körperliche<strong>Wahrnehmung</strong> und <strong>Motorik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rezeption bewegter Bil<strong>der</strong> gerade nicht o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong><strong>des</strong>t –verglichen mit typischen Alltagssituationen – völlig an<strong>der</strong>s <strong>in</strong>volviert s<strong>in</strong>d. Darüber h<strong>in</strong>ausbetont er im Gegensatz zu Sobchack die Bedeutung <strong>der</strong> (körperlichen) <strong>Affekt</strong>e. Zielsetzung<strong>des</strong> Aufsatzes ist, e<strong>in</strong>erseits diese unterschiedlichen Positionen zu erarbeiten, an<strong>der</strong>erseitssie dialektisch aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu beziehen und damit ihre Defizite aufzudecken. Augenfälligwerden diese <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e im Bereich <strong>des</strong> je zugrunde liegenden zentralen Konzepts (Leibvs. Körper) sowie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Thematisierung von Multimodalität.E<strong>in</strong>führungEs dürfte unstrittig se<strong>in</strong>, dass <strong>der</strong> menschliche Körper zu den zentralen Objekten im Filmzählt. Menschliche Körper bevölkerten die Le<strong>in</strong>wand schon 1895 <strong>in</strong> La sortie de l'us<strong>in</strong>eLumière à Lyon, dem ersten Film <strong>der</strong> Brü<strong>der</strong> Lumière; die Bewegungen undAusdrucksmöglichkeiten menschlicher Körper s<strong>in</strong>d die Basis für unzählige filmische Plots;und sie dienen auch noch als Träger pornographischer Bewegungsmuster o<strong>der</strong> alsZielobjekte <strong>in</strong> Splatter, Slasher und ähnlich blutigen Genres. 1 Strittig h<strong>in</strong>gegen ist die Antwortauf die Frage, welche Rolle <strong>der</strong> Körper für den Film spielt – und das heißt vor allem: <strong>in</strong> <strong>der</strong>Filmrezeption und Filmproduktion.Im Folgenden wird es um philosophische Antworten auf diese Frage gehen. Dazu werde ichzunächst das Spektrum <strong>der</strong> bereits vorhandenen Antworten mit Hilfe von zwei ebensoe<strong>in</strong>flussreichen wie extremen Positionen abstecken. Im ersten Schritt (Teil 1-3) werde ichmich <strong>der</strong> von Vivian Sobchack vertretenen Spielart <strong>der</strong> Phänomenologie widmen, <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>der</strong>Rekurs auf den Körper von zentraler Bedeutung ist, wie sich unschwer an Bemerkungen wie<strong>der</strong> folgenden ablesen lässt – so rätselhaft sie auf den ersten Blick auch ansonsten se<strong>in</strong> mag:»It is the embodied and enworlded ›address of the eye‹ that structures and gives significanceto the film experience for filmmaker, film, and spectator alike« (SOBCHACK 1992: 24).Gegenstand <strong>des</strong> zweiten Schritts (Teil 4-6) ist die von Noel Carroll praktizierte Varianteanalytischer Philosophie, die den Körper <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Teilbereich sogar explizit auszuschließensche<strong>in</strong>t, und zwar wenn sie <strong>in</strong> ihrer Ontologie als e<strong>in</strong>e von mehreren Bed<strong>in</strong>gungen festhält: »xist also nur dann e<strong>in</strong> bewegtes Bild, wenn x e<strong>in</strong>en entkörperlichten Blickw<strong>in</strong>kel besitzt«(CARROLL 1995: 165). Im abschließenden dritten Schritt (Teil 7) wird es darum gehen, diebeiden Positionen dialektisch aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu beziehen. Hier wird zu klären se<strong>in</strong>, welcheAspekte <strong>der</strong> beiden Positionen aufrechtzuerhalten und welche zu modifizieren s<strong>in</strong>d.Ich b<strong>in</strong> mir darüber im Klaren, dass sowohl die unterschiedlichen Resultate vonPhänomenologie und analytischer Philosophie als auch ihre methodischen Divergenzen denE<strong>in</strong>druck entstehen lassen können, dass ich versuche, Äpfel mit Birnen zu vergleichen.Letzteres mag durchaus zutreffen. E<strong>in</strong> <strong>der</strong>artiger Vergleich muss aber nicht zwangsläufigunfruchtbar se<strong>in</strong> – schließlich kann man dabei e<strong>in</strong>e Menge über Obst lernen.1Ausnahmen f<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> Experimentalfilmen wie James Benn<strong>in</strong>gs 13 Lakes o<strong>der</strong> Andy Warhols Empire StateBuild<strong>in</strong>g, die nur das zeigen, was <strong>der</strong> Filmtitel ohneh<strong>in</strong> nennt. Grenzfälle bietet <strong>der</strong> Animationsfilm; zurAuse<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung darüber, <strong>in</strong>wiefern <strong>in</strong> ihm von e<strong>in</strong>er Darstellung menschlicher Körper überhaupt die Re<strong>des</strong>e<strong>in</strong> kann, vgl. schon die Diskussion zwischen Stanley Cavell und Alexan<strong>der</strong> Sesonske <strong>in</strong> CAVELL(1979: 168-173).IMAGE I Ausgabe 17 I 1/2013 104


DIMITRI LIEBSCH: WAHRNEHMUNG, MOTORIK, AFFEKT. ZUM PROBLEM DES KÖRPERS IN DER PHÄNOMENOLOGISCHEN UNDANALYTISCHEN FILMPHILOSOPHIE.1. Kontext und Motive <strong>der</strong> Arbeit SobchacksOft ist behauptet worden, dass sich Sobchacks theoretisches Interesse für den Körper ihremschwerem Krebsleiden und <strong>der</strong> Amputation ihres l<strong>in</strong>ken Be<strong>in</strong>es 1994 verdankt. Sie selbst hatauf den Nachweis Wert gelegt, dass dies ihr Interesse zwar verstärkt, aber nicht begründethabe. Ausschlaggebend für dieses Interesse s<strong>in</strong>d vor allem ihre Erfahrung gewesen, Frau <strong>in</strong>unserer Gesellschaft zu se<strong>in</strong> und als Frau gesehen zu werden (vgl. SOBCHACK 2004: 6f.,184f.), und zwei weitere mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verbundene Motive: nämlich Kulturkritik im allgeme<strong>in</strong>enund Kritik an e<strong>in</strong>er bestimmten Form <strong>der</strong> Filmtheorie im beson<strong>der</strong>en. Diesen letzten beidenMotiven werde ich mich nun widmen.Sobchacks Kulturkritik knüpft an Die Gesellschaft <strong>des</strong> Spektakels <strong>des</strong> Situationisten GuyDebord von 1967 an und konstatiert für die Gegenwart e<strong>in</strong>e Krise <strong>des</strong> Realen, <strong>der</strong> Erfahrungund <strong>des</strong> <strong>Körpers</strong>, die von <strong>der</strong> elektronischen Kultur ausgelöst worden sei: »Television, videotape recor<strong>der</strong>/players, videogames, and personal computers all form an encompass<strong>in</strong>gelectronic system whose various forms ›<strong>in</strong>terface‹ to constitute an alternative and virtual worldthat uniquely <strong>in</strong>corporates the spectator/user <strong>in</strong> spatially decentered, weakly temporalized,and quasi-disembodied state« (SOBCHACK 1992: 300). Worauf ich später nochzurückkommen werde, ist die Tatsache, dass – vom Fernseher abgesehen – 1967, also <strong>in</strong>dem Jahr, <strong>in</strong> dem Debords Manifest erschien, ke<strong>in</strong>e <strong>der</strong> von Sobchack <strong>in</strong>krim<strong>in</strong>iertenTechniken auf dem Markt gewesen ist. Wie dem auch sei, auffallen<strong>der</strong> Weise zählt Sobchackden Film selbst nicht zu den Bestandteilen dieses Systems und setzt das K<strong>in</strong>ematischeausdrücklich vom Elektronischen ab. Mehr noch, Sobchack begreift die nach-klassischeFilmtheorie, die dem Körper ke<strong>in</strong>en prom<strong>in</strong>enten Stellenwert e<strong>in</strong>räumt, ihrerseits als Symptom<strong>der</strong> genannten Krise (vgl. ebd. 300ff.), und damit s<strong>in</strong>d wir beim zweiten Motiv.Bei dieser Filmtheorie handelt es sich um jenen e<strong>in</strong>flussreichen Theorie-Mix, <strong>der</strong> um 1970 <strong>in</strong>Europa und den USA entstand, »when semiotics, structuralism, and psychoanalysis wereregarded as methodological antidotes to a ›soft‹ and unscientific humanist film criticism, andMarxist cultural critique and fem<strong>in</strong>ist theory were regarded as ideological antidotes tobourgeois and patriarchal aestheticism« (SOBCHACK 2004: 56). E<strong>in</strong>en zentralen Stellenwertneben den Arbeiten von Christian Metz nimmt <strong>in</strong> diesem Mix die sogenannte»Apparatustheorie« von Jean-Louis Baudry e<strong>in</strong>. Baudrys theoretischer Ausgangspunktwie<strong>der</strong>um ist Jacques Lacans »Spiegelstadium«, demzufolge <strong>in</strong> <strong>der</strong> menschlichenOntogenese e<strong>in</strong>e folgenschwere Begegnung mit dem eigenen Spiegelbild stattf<strong>in</strong>det. Dievisuelle Prägnanz dieser Begegnung soll dem Säugl<strong>in</strong>g o<strong>der</strong> Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>d, das se<strong>in</strong>erBewegungen nicht o<strong>der</strong> noch kaum mächtig ist, plötzlich zu (s)e<strong>in</strong>em Selbst verhelfen. 2 Wieschon Lacan selbst bezieht sich auch Baudry teils direkt, teils nur metaphorisch auf diesesTheorem. Wir f<strong>in</strong>den daher <strong>in</strong> <strong>der</strong> »Apparatustheorie« neben dem H<strong>in</strong>weis auf diefrühk<strong>in</strong>dliche Situation und den kle<strong>in</strong>en Narziss auch e<strong>in</strong>e Beschreibung <strong>des</strong> K<strong>in</strong>os als e<strong>in</strong>esApparats, <strong>in</strong> dem das (dann vermutlich ältere) passive Subjekt sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Le<strong>in</strong>wand ›spiegelt‹und ideologisch imprägniert wird. Kont<strong>in</strong>uitäten betont Baudry <strong>in</strong>sofern, als er sowohl im»Spiegelstadium« als auch im K<strong>in</strong>o e<strong>in</strong>e »Aufhebung <strong>der</strong> <strong>Motorik</strong> und Prädom<strong>in</strong>anz <strong>der</strong>visuellen Funktion« gegeben sieht (BAUDRY 1970: 41). Diesem Befund schließt sich auchMetz mit leicht lyrischem E<strong>in</strong>schlag an, wenn er über die Besucher <strong>des</strong> K<strong>in</strong>os schreibt:»spectator-fish, tak<strong>in</strong>g <strong>in</strong> everyth<strong>in</strong>g with their eyes, noth<strong>in</strong>g with their bodies« (zit. nachSOBCHACK 1992: 269).2Die von Lacan behauptete empirische Basis für das »Spiegelstadium« gibt es nicht. Die k<strong>in</strong>dliche Erkenntniserfolgt anfänglich nicht plötzlich, son<strong>der</strong>n prozessual. Ausschlaggebend ist dabei auch nicht die visuelle<strong>Wahrnehmung</strong> e<strong>in</strong>er gestalthaften Ganzheit im Spiegel, son<strong>der</strong>n das imitative (Bewegungs-)Verhalten vor demSpiegel. Damit entfällt <strong>der</strong> für Lacan fundamentale Kontrast zwischen e<strong>in</strong>em motorischen Defizit <strong>des</strong> K<strong>in</strong><strong>des</strong>und e<strong>in</strong>em verheißungsvollen, nur visuell erfahrbaren Ganzen (vgl. dazu BILLIG 2006: 9f., 14ff.).IMAGE I Ausgabe 17 I 1/2013 105


DIMITRI LIEBSCH: WAHRNEHMUNG, MOTORIK, AFFEKT. ZUM PROBLEM DES KÖRPERS IN DER PHÄNOMENOLOGISCHEN UNDANALYTISCHEN FILMPHILOSOPHIE.Damit s<strong>in</strong>d die beiden Gegner bezeichnet, die Sobchacks Interesse motiviert haben: dieKultur <strong>des</strong> Elektronischen o<strong>der</strong> – wie sie sie an<strong>der</strong>norts auch nennt – die Hegemonie <strong>des</strong> nurSichtbaren (SOBCHACK 2004: 180) und e<strong>in</strong>e dem entsprechende Filmtheorie, die den Körperebenfalls marg<strong>in</strong>alisiert.2. Sobchacks PhänomenologieNach den Gegnern werde ich mich im Weiteren den Grundlagen von Sobchacks Positionzuwenden. Ähnlich wie im Poststrukturalismus liegt auch mit <strong>der</strong> Phänomenologie, auf die siesich <strong>in</strong> ihrer umfangreichen Studie The Address of the Eye. A Phenomenology of FilmExperience von 1992 und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Reihe von Aufsätzen stützt, ke<strong>in</strong>e Theorie o<strong>der</strong> Methodevor, die ursprünglich zur Analyse von K<strong>in</strong>o o<strong>der</strong> Film konzipiert worden wäre; sie kanngegenüber dem poststrukturalistischen Eklektizismus allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e etwas höhereHomogenität beanspruchen. Sobchack def<strong>in</strong>iert Phänomenologie durchaus konventionell als»foundational study and <strong>des</strong>cription – a ›first‹ philosophy – of phenomena <strong>in</strong> the ›life-world‹ asthey seem given and are taken up as conscious experience« (Sobchack 2009: 435). Mit demGrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> Phänomenologie, Edmund Husserl, lokalisiert sie die entscheidende Struktur <strong>der</strong>bewussten Erfahrung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Intentionalität. Der zufolge ist Erfahrung immer Erfahrung vonetwas: »That is, the act of consciousness is never ›empty‹ and ›<strong>in</strong>-itself‹, but rather always<strong>in</strong>tend<strong>in</strong>g toward and <strong>in</strong> relation to an object […]. The <strong>in</strong>variant correlational structure ofconsciousness thus necessarily entails the mediation of an activity and an object« (Sobchack1992: 18). An<strong>der</strong>s als Roman Ingarden und Allan Casebier, die den re<strong>in</strong>bewusstse<strong>in</strong>sphilosopischen Ansatz von Husserl direkt für die Filmphilosophie fruchtbargemacht haben (vgl. Ingarden 1947 und Casebier 1991: 4f.), orientiert sich Sobchackallerd<strong>in</strong>gs an Maurice Merleau-Pontys <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mitte <strong>des</strong> letzten Jahrhun<strong>der</strong>ts entwickelterVariante von Phänomenologie, die neue Akzente gesetzt hat. Das Subjekt wird hier alsendlich, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt situiert und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sich bewegenden Leib verkörpert konzipiert; das›Hier und Jetzt‹ <strong>des</strong> Leibes gilt dabei als das raum-zeitliche Zentrum und als <strong>der</strong>Orientierungspunkt für noch die schwächste Erfahrungen. Auf dieser Basis wird auch dasBewusstse<strong>in</strong> als »leiblich« konzipiert;3 und dementsprechend gilt die <strong>Wahrnehmung</strong> als dasParadigma von Intentionalität (vgl. SOBCHACK 1992: 38f., 68, 83f.). Drei Aspekte dieserleibhaften <strong>Wahrnehmung</strong>, die für unsere <strong>Problem</strong>atik beson<strong>der</strong>s relevant s<strong>in</strong>d, nämlichAktivität, E<strong>in</strong>heit <strong>der</strong> S<strong>in</strong>ne und Ausdruck, werde ich kurz vorstellen.Wie schon <strong>in</strong> <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Bestimmung von Intentionalität angeklungen, fasst Sobchack<strong>Wahrnehmung</strong> als Aktivität auf, die aufgrund <strong>der</strong> Endlichkeit <strong>des</strong> leiblichen Subjektszwangsläufig selektiv ist. Leibhafte <strong>Wahrnehmung</strong> – dies also <strong>der</strong> erste Aspekt – ist demnachimmer e<strong>in</strong>e Aktivität, die das je Wahrgenommene wie e<strong>in</strong>e Figur von e<strong>in</strong>em Horizont bzw.dem H<strong>in</strong>tergrund <strong>der</strong> Welt abhebt (vgl. SOBCHACK 1992: 64f.). Bereits auf dieser Ebeneweicht Sobchack von Metz, Baudry und <strong>der</strong>en Modellierung e<strong>in</strong>es passiven Subjekts ab.Um den zweiten Aspekt <strong>der</strong> leibhaften <strong>Wahrnehmung</strong>, die E<strong>in</strong>heit <strong>der</strong> S<strong>in</strong>ne, zukonkretisieren, führt Sobchack aus: »perception is also always synaesthetic and synoptic.That is, perception is not constituted as a sum of discrete senses (sight, touch, etc.), nor is it3 Sobchacks Sprachgebrauch ist nicht e<strong>in</strong>deutig. Ihr »lived body« entspricht meist dem deutschen »Leib«,»body« ist oft s<strong>in</strong>nvoll mit »Körper« wie<strong>der</strong>zugeben, manchmal aber auch ebenfalls mit »Leib«. Dieserfließende Übergang wird noch dadurch verstärkt, dass sich das englische »lived body« gegenAdjektivierungen und Verwendungen <strong>in</strong> Komposita sperrt. Ich werde mich im Folgendendiesem legeren Sprachgebrauch anpassen.IMAGE I Ausgabe 17 I 1/2013 106


DIMITRI LIEBSCH: WAHRNEHMUNG, MOTORIK, AFFEKT. ZUM PROBLEM DES KÖRPERS IN DER PHÄNOMENOLOGISCHEN UNDANALYTISCHEN FILMPHILOSOPHIE.experienced as fragmented and decentered. All our senses are modalities of perception and,as such, are cooperative and commutable« (SOBCHACK 1992: 76). Was genau ist damitgeme<strong>in</strong>t? Als synästhetisch bezeichnet Sobchack gerade nicht jene Son<strong>der</strong>fälle imVerständnis <strong>der</strong> psychologischen Term<strong>in</strong>ologie, bei denen sich e<strong>in</strong>e Reizquelle <strong>in</strong> zwei<strong>Wahrnehmung</strong>smodalitäten nie<strong>der</strong>schlägt; das klassische Beispiel dafür wäre dassogenannte farbige Hören, bei dem sich e<strong>in</strong> Mitwahrnehmen von Farben beim Hören vonGeräuschen ereignet, ohne dass es entsprechende Lichtreize gäbe (vgl. dazu SCHÖNHAMMER2009: 231). Worauf Sobchack vielmehr abzielt, ist zum e<strong>in</strong>en, dass das leibhafte Subjekt nichte<strong>in</strong>fach nur hören o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>fach nur sehen kann, son<strong>der</strong>n je<strong>der</strong>zeit multisensorischwahrnimmt. <strong>Zum</strong> an<strong>der</strong>en spricht sie damit jene Informierung <strong>der</strong> S<strong>in</strong>ne durche<strong>in</strong>an<strong>der</strong> an,wie sie beispielsweise bei tiefenräumlicher <strong>Wahrnehmung</strong> zwischen Visuellem undHaptischem stattf<strong>in</strong>det. Als synoptisch bezeichnet Sobchack die <strong>Wahrnehmung</strong>, um nicht nurdie Ganzheitlichkeit <strong>der</strong> leiblichen <strong>Wahrnehmung</strong>, son<strong>der</strong>n auch die <strong>der</strong> Selbstwahrnehmungzu betonen. Damit legt sie abermals E<strong>in</strong>spruch gegen die Anhänger <strong>des</strong> »Spiegelstadiums«e<strong>in</strong>, denen zufolge das Subjekt – schon aufgrund <strong>der</strong> oben bereits angesprochenenfrühk<strong>in</strong>dlichen motorischen Defizite – am Phantasma e<strong>in</strong>es »zerstückelten Körper« laboriert(vgl. LACAN 1953: 67). Nicht geklärt wird von Sobchack allerd<strong>in</strong>gs die Frage, wie weit imRahmen <strong>der</strong> E<strong>in</strong>heit <strong>der</strong> S<strong>in</strong>ne denn die Kommutabilität, die Austauschbarkeit <strong>der</strong> S<strong>in</strong>negehen soll: Neben <strong>der</strong> E<strong>in</strong>sicht, dass je<strong>der</strong> S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>en von den an<strong>der</strong>en unterschiedenenZugang zur Welt darstelle, f<strong>in</strong>det sich auch die Behauptung, dass die gesamte leiblicheExistenz – und das heißt eben auch: alle an<strong>der</strong>en S<strong>in</strong>nesmodalitäten – im Sehen impliziertsei (vgl. SOBCHACK 1992: 94, 78). 4 Hier bleibt e<strong>in</strong> Paradox, denn wenn die S<strong>in</strong>ne dist<strong>in</strong>kt s<strong>in</strong>d,kann <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e (egal welcher) die an<strong>der</strong>en nicht implizieren.Den dritten Aspekt <strong>der</strong> leibhaften <strong>Wahrnehmung</strong>, den Ausdruck, könnte man quasi als dieAußenseite <strong>der</strong> <strong>Wahrnehmung</strong> bezeichnen. Das leibhafte, sich bewegende Subjekt ist nachSobchack <strong>in</strong>sofern auch grundsätzlich expressiv, als se<strong>in</strong> Verhalten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt durch an<strong>der</strong>ewahrgenommen wird o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong><strong>des</strong>t grundsätzlich wahrgenommen werden kann (vgl.SOBCHACK 1992: 40f.).Nimmt man alle drei Aspekte zusammen, so lässt sich Sobchacks bewusste Spielerei mit denMehrdeutigkeiten im Titel ihrer zentralen Arbeit The Address of the Eye folgen<strong>der</strong>maßenauflösen. »Address« ist e<strong>in</strong>erseits <strong>der</strong> Ort, an dem etwas ist, an<strong>der</strong>erseits ist es <strong>der</strong> Ort, demman sich zuwendet. »Eye« und »I«, die englischen Ausdrücke für das Auge und das Ich, s<strong>in</strong>dhomophon. Das Ich hat für Sobchack demnach als verkörpertes Auge se<strong>in</strong>en Ort <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt,ist <strong>der</strong> Welt <strong>in</strong>tentional zugewandt und ist se<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong> Ort, dem man sich zuwenden kann(vgl. SOBCHACK 1992: 24f.).3. Die Pluralität <strong>der</strong> Leiber <strong>in</strong> <strong>der</strong> Filmphilosophie SobchacksIch hatte e<strong>in</strong>gangs die rätselhafte Äußerung Sobchacks zitiert, nach <strong>der</strong> nicht nurFilmemacher und Zuschauer, son<strong>der</strong>n sogar <strong>der</strong> Film selbst Erfahrung mache. Wenn man imDetail nachvollzieht, wie Sobchack die leibhafte <strong>Wahrnehmung</strong> im Kontext <strong>des</strong> Films zusituieren versucht, begegnet man diesem Rätsel wie<strong>der</strong>. Neben <strong>der</strong> Filmproduktion führtSobchack <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Selbstbeschreibung ihres Projekts noch an: »The film experience is4Von dieser letzten fragwürdigen ›Implikation‹ abgesehen, wie<strong>der</strong>holt Sobchack e<strong>in</strong>e dialektische Position ausdem 18. Jahrhun<strong>der</strong>t: Johann Gottfried Her<strong>der</strong> bezeichnete den Menschen mit e<strong>in</strong>er Formulierung, die späterMerleau-Ponty zustimmend zitierte, als »e<strong>in</strong> dauern<strong>des</strong> sensorium commune, nur von verschiedenen Seitenberührt« (MERLEAU-PONTY 1945: 274); und Her<strong>der</strong> betonte ebenfalls, dass die S<strong>in</strong>ne dist<strong>in</strong>kt seien und je<strong>der</strong>davon »se<strong>in</strong>e eigne Welt« habe (vgl. HERDER 1769: 299f.).IMAGE I Ausgabe 17 I 1/2013 107


DIMITRI LIEBSCH: WAHRNEHMUNG, MOTORIK, AFFEKT. ZUM PROBLEM DES KÖRPERS IN DER PHÄNOMENOLOGISCHEN UNDANALYTISCHEN FILMPHILOSOPHIE.<strong>des</strong>cribed as entail<strong>in</strong>g a film and its spectator as two active and differently situated viewersview<strong>in</strong>g <strong>in</strong> <strong>in</strong>tersubjective, dialectical, and dialogical conjunction.«(SOBCHACK 2009: 443) ImFolgenden s<strong>in</strong>d gemäß Sobchack also abermals drei ›Akteure‹ zu unterscheiden:Filmemacher, Zuschauer und Film.a) Der Leib <strong>des</strong> Filmemachers. Um nachzuvollziehen, wie Sobchack die leibhafte<strong>Wahrnehmung</strong> <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Filmproduktion auffasst, ist zunächst zu klären, was sie unter»Filmemacher« verstanden haben will. Ihre direkte Stellungnahme dazu f<strong>in</strong>det sich – eherbeiläufig – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Fußnote: »The term filmmaker is used here and throughout [¼] as nam<strong>in</strong>gnot a biographical person and his or her style or manner of be<strong>in</strong>g through c<strong>in</strong>ematicrepresentation (a focus found <strong>in</strong> Gilles Deleuze’s C<strong>in</strong>ema 1: The Movement-Image andC<strong>in</strong>ema 2: The Time-Image), but rather the concrete, situated, and synoptic presence of themany persons who realized the film as concretely visible for vision« (SOBCHACK 1992: 9).Indieser Fußnote f<strong>in</strong>den sich zwei gegenläufige Tendenzen, e<strong>in</strong>e differenzierende und e<strong>in</strong>esimplifizierende. Sobchack distanziert sich e<strong>in</strong>erseits plausibel von den wenig überzeugendenVersuchen, die Filmproduktion (bzw. ihren relevanten Teil) im Stile <strong>der</strong> klassischenphilosophischen Ästhetik o<strong>der</strong> <strong>der</strong> politique <strong>des</strong> auteurs e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zelnen Individuumzuzuschreiben. An<strong>der</strong>erseits gibt es hier e<strong>in</strong> Pendant zu <strong>der</strong> oben diskutierten Auffassung, diegesamte leibliche Existenz sei im Sehen »impliziert«: Zwar weist Sobchack auf e<strong>in</strong>e Pluralitätvon Personen h<strong>in</strong> – und beim Film könnten das ja immerh<strong>in</strong> Regisseure, Schauspieler,Requisiteure, Kameraleute, Lichtsetzer, Cutter, Ton<strong>in</strong>genieure, Geräuschemacher und vielean<strong>der</strong>e se<strong>in</strong> –, lokalisiert <strong>der</strong>en Ziel aber nur im Visuellen. Von diesen beiden Tendenzenverfolgt Sobchack im Weiteren die simplifizierende: Durch welche weiteren S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong>Filmemacher auch immer <strong>in</strong>formiert se<strong>in</strong> mag, welche Personen auch ansonsten wie beteiligtse<strong>in</strong> mögen, <strong>der</strong> Filmemacher ist für sie <strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> sieht, und zwar durch die Kamera.In <strong>der</strong> Detailbeschreibung dieses Sehens stellt Sobchack im Anschluss an Don Ihde<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e zwei komplementäre Beziehungen zwischen Filmemacher und Kamera heraus,nämlich e<strong>in</strong>e Beziehung <strong>der</strong> E<strong>in</strong>verleibung, »embodiment relation«, und e<strong>in</strong>e hermeutischeBeziehung »hermeneutic relation« (vgl. SOBCHACK 1992: 181-186). Die erste Beziehung <strong>des</strong>Filmemachers zur Kamera ist demnach <strong>in</strong>sofern e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> E<strong>in</strong>verleibung, als die Kamera demFilmemacher dazu verhilft <strong>in</strong>tentionale Akte zu vollziehen, dabei selbst aber <strong>in</strong> mehr o<strong>der</strong>weniger hohem Maße »transparent« bleibt – <strong>der</strong> Filmemacher sieht durch den Apparath<strong>in</strong>durch auf die Welt. Dabei könne die <strong>Wahrnehmung</strong> sowohl e<strong>in</strong>geschränkt als auchverstärkt werden: »Thus, while the filmmaker is no longer able to directly touch the <strong>in</strong>tendedobject, s/he may be able to see it much more closeley and clearly than human vision allows«(SOBCHACK 1992: 183). In <strong>der</strong> zweiten, <strong>der</strong> hermeneutischen Beziehung schlägt lautSobchack zu Buche, dass ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>verleibung vollständig und <strong>der</strong> Apparat immer <strong>in</strong> mehro<strong>der</strong> weniger hohem Maße opak ist – <strong>der</strong> Kontakt zwischen dem eignen Leib und demMaterial <strong>der</strong> Kamera bleibt fühlbar, dementsprechend ersche<strong>in</strong>t die <strong>Wahrnehmung</strong> auch alsvermittelt und nicht restlos als die eigene.Kurz, die leibhafte <strong>Wahrnehmung</strong> <strong>des</strong> Filmemachers wirkt bei Sobchack so, als sei amBeispiel <strong>der</strong> Kameraleute das Credo von Marshall McLuhan, Medien seien extensions ofman, mit phänomenologischen Skrupeln ausbuchstabiert worden.b) Der Leib <strong>des</strong> Zuschauers. Sobchacks Beschreibung <strong>der</strong> Filmrezeption verläuft teils analogzur Beschreibung <strong>der</strong> Filmproduktion; teils ist sie komplexer, da <strong>in</strong> ihr die Rezeption nicht alsisoliert, son<strong>der</strong>n als e<strong>in</strong>e mit <strong>der</strong> Produktion verkettete <strong>in</strong>tegrale Stufe aufgefasst wird.IMAGE I Ausgabe 17 I 1/2013 108


DIMITRI LIEBSCH: WAHRNEHMUNG, MOTORIK, AFFEKT. ZUM PROBLEM DES KÖRPERS IN DER PHÄNOMENOLOGISCHEN UNDANALYTISCHEN FILMPHILOSOPHIE.Auch für den Zuschauer ist dabei wie schon für den Filmemacher das leibhafte (durch an<strong>der</strong>eS<strong>in</strong>ne <strong>in</strong>formierte) Sehen zentral. Mit <strong>der</strong> partiellen Homophonie <strong>des</strong> englischen»synaesthesia« und »c<strong>in</strong>ema« spielend bezeichnet Sobchack daher beide auch als»c<strong>in</strong>esthetic subjects« (vgl. hier und im Folgenden SOBCHACK 2004: 67ff.). Neben dem Sehenthematisiert Sobchack zwar noch an<strong>der</strong>e Modalitäten als wichtig für die Filmrezeption.Erstaunlicherweise bef<strong>in</strong>det sich jedoch ausgerechnet das Hören nicht darunter, obwohlSobchack es mit dem Sehen zusammen zu den für die Filmrezeption »dom<strong>in</strong>ant senses«rechnet. Statt<strong>des</strong>sen widmet sie sich aber ausführlich e<strong>in</strong>er Modalität, die <strong>in</strong> <strong>der</strong>Filmwahrnehmung nur <strong>in</strong>direkt <strong>in</strong>volviert ist und im Alltag oft das Sehen <strong>in</strong>formiert, nämlich dieHaptik. So merkt sie zum leibhaften Sehen an: »This is a vision that knows what it is to touchth<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> the world, that un<strong>der</strong>stands materiality« (SOBCHACK 1992: 133). 5Wie für den Filmemacher unterscheidet Sobchack auch für den Zuschauer wie<strong>der</strong> zwischene<strong>in</strong>er Beziehung <strong>der</strong> E<strong>in</strong>verleibung und e<strong>in</strong>er hermeneutischen Beziehung. Bei dem›e<strong>in</strong>verleibten Apparat‹ handelt es sich <strong>in</strong> diesem Fall um den Projektor, mit <strong>des</strong>sen Hilfe <strong>der</strong>Zuschauer auf die Welt sieht (vgl. SOBCHACK 1992: 177). Auch hier diskutiert Sobchack diemöglichen Folgen <strong>der</strong> E<strong>in</strong>verleibung für die <strong>Wahrnehmung</strong>. Als E<strong>in</strong>schränkung benennt sieabermals den Verlust von Modalitäten (auffallen<strong>der</strong> Weise erwähnt sie hierbei den Verlust<strong>des</strong> Tastens nicht mehr, son<strong>der</strong>n nur noch den <strong>des</strong> Geruchs); darüber h<strong>in</strong>aus behauptet sie,dass <strong>der</strong>artige direkte E<strong>in</strong>schränkungen <strong>der</strong> Modalität <strong>in</strong>direkte Verstärkungen nach sichziehen können. Me<strong>in</strong>es Erachtens ließe sich ergänzen, dass es sich um Verstärkung vonAufmerksamkeit und Imag<strong>in</strong>ation handelt – allerd<strong>in</strong>gs verwendet Sobchack selbst beideAusdrücke nicht. Im Zusammenhang mit den hierfür gegebenen Beispielen kommt sie sogarnoch e<strong>in</strong>mal ausdrücklich auf das Hören zu sprechen, allerd<strong>in</strong>gs nur metaphorisch: »And,although the spectator’s own k<strong>in</strong>esthetic activity is drastically reduced when watch<strong>in</strong>g a film,the perception of movement and its k<strong>in</strong>esthetic ›sense‹ or significance seems immenselyamplified because of the relative quietude of the spectator’s movement. It is as if thespectator’s body were k<strong>in</strong>etically ›listen<strong>in</strong>g‹ to the movement of another« (SOBCHACK 1992:186).Die Analogien zur Beschreibung <strong>der</strong> Filmproduktion enden mit dem H<strong>in</strong>weis darauf, dass <strong>der</strong>Apparat für den Zuschauer ebenfalls nicht restlos transparent ist und dass <strong>des</strong>halb zwischendiesem und jenem e<strong>in</strong>e hermeneutische Beziehung besteht. Die Opazität <strong>des</strong> Apparats wirdnach Sobchack vor allem <strong>in</strong> zwei Fällen deutlich. Erstens unterscheidet sich die unscharfeBegrenzung unseres Sichtfelds von <strong>der</strong> scharfen, <strong>in</strong> unser Sichtfeld fallenden Begrenzung <strong>der</strong>Projektionsfläche; und zweitens ist <strong>der</strong> körperliche Raum <strong>des</strong> Zuschauers, zu dem auch dasschwach leuchtende Schild für den Notausgang und <strong>der</strong> eigene H<strong>in</strong>tern auf dem K<strong>in</strong>osesselgehören, von dem projizierten visuellen Raum unterschieden: »In so far as the visual space Isee before me is not completely isomorphic with the bodily space from which I see, there willbe a pressure from, an echo of, the mach<strong>in</strong>e that mediates my perception« (SOBCHACK 1992:179).Komplexer als die Beschreibung <strong>der</strong> Filmproduktion werden die E<strong>in</strong>lassungen Sobchacksdort, wo sie den Ausgangspunkt <strong>der</strong> Rezeption problematisieren, nämlich jene dreistelligeRelation, <strong>der</strong> zufolge <strong>der</strong> Zuschauer mithilfe <strong>des</strong> Projektors auf die Welt blickt. Was ist nun zuberücksichtigen? Sobchack macht geltend, dass mit Hilfe <strong>des</strong> Projektors nur dasjenigeausgedrückt werden kann, was zuvor, also <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit, durch e<strong>in</strong>e Kamerah<strong>in</strong>durch wahrgenommen wurde. Wegen <strong>der</strong> auch dabei <strong>in</strong>volvierten hermeneutischen5Zu dieser Art ›Wissen‹ hat Sobchack später <strong>in</strong> dem Essay mit dem programmatischen Titel What my f<strong>in</strong>gersknew ausgeführt: »That is, we do not experience any movie only through our eyes. We see and comprehendand feel with our entire bodily be<strong>in</strong>g, <strong>in</strong>formed by the full history and carnal knowledge of our acculturatedsensorium« (SOBCHACK 2004: 63). Für die Filmwahrnehmung, <strong>in</strong> <strong>der</strong> ja ke<strong>in</strong> aktueller haptischer Reiz vorliegt,lässt sich also behaupten, dass sie u.a. von vergangenen haptischen Erfahrungen profitiert.IMAGE I Ausgabe 17 I 1/2013 109


DIMITRI LIEBSCH: WAHRNEHMUNG, MOTORIK, AFFEKT. ZUM PROBLEM DES KÖRPERS IN DER PHÄNOMENOLOGISCHEN UNDANALYTISCHEN FILMPHILOSOPHIE.Beziehung ist e<strong>in</strong>e restlos transparente <strong>Wahrnehmung</strong> von Welt natürlich erst Rechtunmöglich. Außerdem ist anstatt von e<strong>in</strong>er drei- von e<strong>in</strong>er fünfstelligen Relation auszugehen,die die Welt, die Kamera, den Filmemacher, den Projektor und den Zuschauer umfasst unddie auch die <strong>in</strong>tentionalen Akte <strong>des</strong> Filmemachers und <strong>des</strong> Zuschauers mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verkettet:In den Worten Sobchacks: »As a coterm<strong>in</strong>ous perception and expression of a mutually livedworld, the film serves as a conduit for perception – its enabl<strong>in</strong>g technology also thetechnology able to bridge the spatial and temporal separation of filmmaker and spectator sothat their perception and expression might still encounter each other’s activity, dialecticallyaddress<strong>in</strong>g each other’s vision (or ›world view‹) <strong>in</strong> visual dialogue« (SOBCHACK 1992: 173; vgl.ferner ebd., 194). Und wie schon <strong>in</strong> ihrer Diskussion <strong>der</strong> K<strong>in</strong>ästhetik bedient sich Sobchackdabei e<strong>in</strong>er metaphorischen Referenz auf die von ihr nicht direkt thematisierte auditiveModalität.Da die leibhafte <strong>Wahrnehmung</strong> <strong>des</strong> Zuschauers gemäß alledem nicht restlos transparent undals <strong>in</strong>tentionale Aktivität auch nicht völlig passiv se<strong>in</strong> kann, macht Sobchack geltend, dass <strong>in</strong><strong>der</strong> Filmrezeption we<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e totale Identifikation mit dem Gesehenen noch mit dem Apparatzu befürchten sei (vgl. SOBCHACK 1992: 178).c) Der Leib <strong>des</strong> Films. Der letzte – und rätselhafte – Teil von Sobchacks Ausführungen zurLeibhaftigkeit bezieht sich auf den Film als dritten ›Akteur‹ neben Filmemacher undZuschauer. Ihm attestiert sie ebenfalls, über e<strong>in</strong>en Leib zu verfügen, wobei sie die Rede vom»Leib <strong>des</strong> Films« explizit nicht als Metapher verstanden wissen will (vgl. SOBCHACK 1992:xviii, 133).Möglicherweise nimmt sie hier e<strong>in</strong>e Umkehrung e<strong>in</strong>es Vergleichs von Merleau-Ponty vor, <strong>der</strong>mit Blick auf das Zusammenspiel und die Homogenität von S<strong>in</strong>nen, Bewegungen und Haltungbeim Menschen anmerkte: »Nicht e<strong>in</strong>em physikalischen Gegenstand, son<strong>der</strong>n eher e<strong>in</strong>emKunstwerk ist <strong>der</strong> Leib zu vergleichen«(MERLEAU-PONTY 1945: 181). In jedem Fall beerbt siee<strong>in</strong>e Tradition, die von den antiken Mythen über die neuzeitliche Kunstphilosophie h<strong>in</strong>ausschon immer das gelungene Werk mit dem Lebewesen o<strong>der</strong> Organismus verglichen o<strong>der</strong>identifiziert hat: Man denke nur an die Skulpturen <strong>der</strong> Bildhauer Daidalos und Pygmalion, diesich <strong>der</strong> Sage nach verlebendigten, o<strong>der</strong> an die theologischen Anleihen <strong>der</strong> Genie- undAutonomieästhetik, die den Künstler als Schöpfer feierten. Aber abgesehen davon, dass diesfür die aktuelle Ästhetik ke<strong>in</strong>e unproblematischen Referenzen s<strong>in</strong>d – wie plausibilisiertSobchack ihre Behauptung, dass ausgerechnet e<strong>in</strong>e so flüchtige Ersche<strong>in</strong>ung wie <strong>der</strong> Filme<strong>in</strong>en Leib haben soll?Für e<strong>in</strong>e Ontologie <strong>des</strong> K<strong>in</strong>ematischen, also für e<strong>in</strong>e Wesensbestimmung <strong>des</strong>sen, was demElektronischen entgegengesetzt ist, reicht es nach Sobchack nicht aus, die auch räumlichverstreuten Teile <strong>der</strong> k<strong>in</strong>ematischen Technologie aufzulisten – als da wären: Kamera,Projektor, Le<strong>in</strong>wand, Chemikalien, Zelluloid usw. Vielmehr macht sie geltend, dass für denLeib <strong>des</strong> Films, anstatt sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Summe <strong>der</strong>artiger Teile zu erschöpfen, <strong>in</strong>tentionalesVerhalten konstitutiv sei: »The film’s body orig<strong>in</strong>ally perceives and expresses perception asthe very process and progress of the view<strong>in</strong>g-view as it constitutes the viewed-view as visibleboth for itself and for us. This movement and process is the concerted and synopticproduction of two primary ›organs‹ of the film’s body: the camera as its perceptive organ andthe projector as its expressive organ« (SOBCHACK 1992: 206).Sich <strong>der</strong>gestalt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt bewegen und Aktivität zeigen zu können, grenzt den leibhaftenFilm nach Sobchack von gewöhnlichen Apparaten ab, die etwa wie das Mikroskop o<strong>der</strong> dasTelefon als Prothese (»prosthetic device«) dienen können (vgl. SOBCHACK 1992: 171).IMAGE I Ausgabe 17 I 1/2013 110


DIMITRI LIEBSCH: WAHRNEHMUNG, MOTORIK, AFFEKT. ZUM PROBLEM DES KÖRPERS IN DER PHÄNOMENOLOGISCHEN UNDANALYTISCHEN FILMPHILOSOPHIE.Wie sieht nun die Zwischenbilanz zu Sobchacks Filmphilosophie aus? In ihrer ausführlichenBeschreibung <strong>der</strong> Rolle(n), die <strong>der</strong> Körper bzw. <strong>der</strong> Leib für den Film besitzt, konzentriert siesich vor allem auf den Aspekt <strong>der</strong> <strong>Wahrnehmung</strong>, wobei <strong>in</strong> <strong>der</strong> Auswahl <strong>der</strong> angesprochenenModalitäten <strong>der</strong> hohe Stellenwert <strong>der</strong> Haptik kontra<strong>in</strong>tuitiv bleibt. Der Aspekt <strong>der</strong> <strong>Motorik</strong> wirdnur gestreift und eher <strong>in</strong> Bezug auf den Leib <strong>des</strong> Films als <strong>in</strong> Bezug auf den menschlichenKörper thematisiert; und <strong>der</strong> Aspekt <strong>der</strong> <strong>Affekt</strong>e bleibt weitestgehend ausgeklammert.Wenngleich Sobchacks Auswahl und ihre eigenwilligen Ausführungen zum Leib <strong>des</strong> Filmsbisweilen Rätsel aufgeben, ist ihre Zielsetzung klar und deutlich. Sie wi<strong>der</strong>setzt sichdurchgängig dem poststrukturalistischen Erklärungsmodell, wonach <strong>der</strong> Zuschauer passivbleibt, nur visuell rezipiert und wehrlos e<strong>in</strong>em technischen Apparat ausgesetzt ist.4. Anfänge und Kontext <strong>der</strong> Arbeit CarrollsIch hatte e<strong>in</strong>gangs angedeutet, dass sich die Positionen Sobchacks und Carrolls deutlichunterscheiden, dass aber die Überschneidungen zwischen ihnen nahelegen, die beidenPositionen als s<strong>in</strong>nvoll vergleichbar anzusehen. 6 Bereits e<strong>in</strong> kurzer Blick <strong>in</strong> die <strong>in</strong>tellektuelleBiographie von Carroll zeigt, dass er sowohl mit <strong>der</strong> Applikation von Merleau-PontyscherPhänomenologie auf Fragen von Film und Körper vertraut ist als auch e<strong>in</strong>e ähnlich kritischeHaltung wie Sobchack gegenüber <strong>der</strong> poststrukturalistischen Filmtheorie e<strong>in</strong>genommen hat.Beide Überschneidungen seien im Folgenden kurz skizziert.In se<strong>in</strong>er Dissertation Comedy Incarnate. Buster Keaton, Physical Humor and Bodily Cop<strong>in</strong>gvon 1976 untersucht Carroll, wie Keaton im Film The General se<strong>in</strong>e Figur <strong>des</strong> Johnnie Graysich an den D<strong>in</strong>gen <strong>der</strong> Welt abarbeiten und bewähren lässt. Zu Grays erfolgreichemVerhalten, zu se<strong>in</strong>em Geschick und se<strong>in</strong>er Intelligenz im Umgang mit se<strong>in</strong>er materialenUmwelt merkt Carroll an: »This is not a matter of reflection but of what Merleau-Ponty mightcall ›bodily <strong>in</strong>tentionality‹« (CARROLL 1976: 121). Im Gegensatz zu Sobchack, die vor allem andie Ontologie und/o<strong>der</strong> Erkenntnistheorie Merleau-Pontys anknüpft, nimmt Carroll damit e<strong>in</strong>zentrales filmphilosophisches Motiv <strong>des</strong> Franzosen auf. Schließlich hatte dieser betont, dasssowohl die Phänomenologie als auch <strong>der</strong> Film an e<strong>in</strong>em speziellen Thema gleichermaßenInteresse hätten, nämlich daran, »die Verb<strong>in</strong>dung von Geist und Körper, von Geist und Weltund den Ausdruck <strong>des</strong> e<strong>in</strong>en im an<strong>der</strong>en hervortreten zu lassen« (MERLEAU-PONTY 1947: 82).Carroll setzt <strong>in</strong> Comedy Incarnate auch <strong>in</strong>sofern e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en Akzent als Sobchack, als erhier noch vor allem den Körper im Film und nicht die Rolle <strong>des</strong> <strong>Körpers</strong> für den Filmanalysiert. Wie schon <strong>in</strong> <strong>der</strong> »improvised variant of phenomenology« se<strong>in</strong>er Dissertationwidmet er sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folgezeit öfters Fragen <strong>der</strong> <strong>Wahrnehmung</strong>, stützt sich dafür allerd<strong>in</strong>gsvor allem auf den Kognitivismus (vgl. CARROLL 1976: 14), auf den ich später noch etwasnäher e<strong>in</strong>gehen werde.Während sich Carroll von <strong>der</strong> Phänomenologie erst allmählich entfernte, stand se<strong>in</strong>e Arbeitschon von Beg<strong>in</strong>n an im Konflikt mit <strong>der</strong> poststrukturalistischen Filmtheorie. Auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>enSeite lehnten mehrere Verlage die Veröffentlichung se<strong>in</strong>er Dissertation mit <strong>der</strong> Begründungab, sie entspreche nicht dem poststrukturalistischen state of the art (vgl. CARROLL 1976: 1).Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite hat Carroll dieses »amalgam of Anglo-French v<strong>in</strong>tage, most oftencomprised, at least, of Althusserian-<strong>der</strong>ived Marxism, Barthesian textual criticism, and, mostimportantly, of Lacanian Psychoanalysis« immer wie<strong>der</strong> grundsätzlicher Kritik unterzogen(CARROLL 1988: 226). Von se<strong>in</strong>er Monographie Mystify<strong>in</strong>g Movies. Fads and Fallacies <strong>in</strong>Contemporary Film-Theory von 1988 bis h<strong>in</strong> zu jenem Sammelband mit demprogrammatischen Titel Post-Theory. Reconstruct<strong>in</strong>g Film Studies, den er 1996 geme<strong>in</strong>sam6E<strong>in</strong>e ausführlichere Darstellung <strong>der</strong> Filmphilosophie Carrolls f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> LIEBSCH 2010b.IMAGE I Ausgabe 17 I 1/2013 111


DIMITRI LIEBSCH: WAHRNEHMUNG, MOTORIK, AFFEKT. ZUM PROBLEM DES KÖRPERS IN DER PHÄNOMENOLOGISCHEN UNDANALYTISCHEN FILMPHILOSOPHIE.mit dem Filmwissenschaftler David Bordwell veröffentlichte, zielt er dabei sowohl auf denstarken politischen Anspruch als auch auf methodische Eigenheiten <strong>der</strong> Poststrukturalisten.Der Anspruch, alle großen <strong>Problem</strong>fel<strong>der</strong> wie Subjekt, Ideologie, Kultur und Gesellschaftkompetent zu bearbeiten, führt nach Carroll nicht nur zu e<strong>in</strong>er Überfor<strong>der</strong>ung undÜberschätzung <strong>der</strong> Filmtheorie, son<strong>der</strong>n auch zu e<strong>in</strong>er Vernachlässigung ihres eigentlichenGegenstands, <strong>des</strong> Films (vgl. CARROLL 1996a: 37ff., 67f. u. ö.). Dass Bordwell und er die Titel»grand theory«o<strong>der</strong> »Theory« mit dem im Englischen unüblichen großen »T« für diepoststrukturalistische Theorie verwenden, muss man daher teilweise als Ironieverstehen.E<strong>in</strong>e entscheidende Rolle spielt <strong>in</strong> Carrolls Augen die Bauweise dieser Filmtheorie,nämlich »top down« mit allgeme<strong>in</strong>en Theorien über das Subjekt, die Ideologie usw.anzufangen und diese dann dem Gegenstand Film überzustülpen (vgl. CARROLL 1988: 230f.).E<strong>in</strong> weiteres methodisches <strong>Problem</strong> <strong>des</strong> filmtheoretischen Poststrukturalismus sieht Carroll <strong>in</strong>dem Charakter <strong>der</strong> verwendeten Begriffe: »The most obvious, recurr<strong>in</strong>g problem withcontemporary film theory is that its central concepts are often systematically ambiguous, due<strong>in</strong> some cases, but not all, to their essentially metaphorical nature« (CARROLL 1988: 226).Zwar spricht er sich, wie noch zu zeigen se<strong>in</strong> wird, ke<strong>in</strong>eswegs grundsätzlich gegen denGebrauch von Metaphern <strong>in</strong> den Wissenschaften aus. Im Fall <strong>des</strong> Poststrukturalismusvermutet er allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>en deutlichen Bezug zwischen <strong>der</strong> prekären Bauweise <strong>der</strong> Theorieund dem Charakter <strong>der</strong> Begrifflichkeit: Bei e<strong>in</strong>er ambitionierten Theorie, die für dieBeschreibung disparatester Phänomene überdehnt werde, bestehe zwangsläufig dieTendenz zu mehrdeutiger Begrifflichkeit (CARROLL 1988, 230f.).In e<strong>in</strong>em Satz: Während sich Carroll an<strong>der</strong>s als Sobchack von <strong>der</strong> Phänomenologieemanzipiert, teilt er gleichwohl mit <strong>der</strong> Phänomenolog<strong>in</strong> die Zielsetzung, auch und geradee<strong>in</strong>e Alternative zur poststrukturalistischen Filmtheorie entwickeln zu wollen.5. Analytische Philosophie und Kognitivismus bei CarrollPositive Kontur gew<strong>in</strong>nt Carrolls Methode durch die Orientierung an <strong>der</strong> analytischenPhilosophie und durch se<strong>in</strong>e schon erwähnte Sympathie für den Kognitivismus (vgl. CARROLL1996b: 325). Ich werde im Folgenden selbstverständlich ke<strong>in</strong>en erschöpfenden Überblicküber diese beiden Quellen gegeben können, allerd<strong>in</strong>gs versuchen, auf e<strong>in</strong>ige wesentlicheE<strong>in</strong>flüsse h<strong>in</strong>zuweisen.Ihre historischen Ursprünge hat die analytische Philosophie u.a. im britischen Empirismus, <strong>in</strong>den Anregungen durch Gottlob Frege und durch den Wiener Kreis, aber auch beiTheoretikern wie Bertrand Russell. E<strong>in</strong>en guten E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> das philosophischeSelbstverständnis Carrolls bietet e<strong>in</strong> kurzer Auszug aus e<strong>in</strong>em <strong>der</strong> zentralen Essays <strong>der</strong>analytischen Philosophie, aus Russells »On Scientific Method <strong>in</strong> Philosophy« von 1914: »Ascientific philosophy such as I wish to recommend will be piecemeal and tentative like othersciences; above all, it will be able to <strong>in</strong>vent hypotheses which, even if they are not wholly true,will yet rema<strong>in</strong> fruitful after the necessary corrections have been made« (RUSSELL 1914: 66).Demnach haben wir es hier mit e<strong>in</strong>em fallibilistischen Programm zu tun, das e<strong>in</strong>zelneTheoriestücke testet, diskutiert und gegebenenfalls verän<strong>der</strong>t. Die empfohleneVorgehensweise entspricht, teils bis <strong>in</strong> die Wortwahl h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, dem Verfahren Carrolls. Anstattim Stile <strong>der</strong> »grand theory« übergreifende erste Pr<strong>in</strong>zipien o<strong>der</strong> zentrale Begriffeanzunehmen, aus denen dann e<strong>in</strong>e kohärente Filmtheorie abzuleiten wäre, empfiehlt Carrolle<strong>in</strong> Fortschreiten von Thema zu Thema, das von e<strong>in</strong>em »piecemeal theoriz<strong>in</strong>g« begleitet wird:»In produc<strong>in</strong>g small-scale theories, our concern is that we frame our questions explicitly andclearly and <strong>in</strong> a way that is manageable enough for us to supply answers to our questions«(CARROLL 1988: 232f.). Fragen dieser Art wären beispielsweise: Wie funktioniert Filmmusik?IMAGE I Ausgabe 17 I 1/2013 112


DIMITRI LIEBSCH: WAHRNEHMUNG, MOTORIK, AFFEKT. ZUM PROBLEM DES KÖRPERS IN DER PHÄNOMENOLOGISCHEN UNDANALYTISCHEN FILMPHILOSOPHIE.Was ist das Wesen <strong>der</strong> filmischen Metapher? Können Dokumentarfilme objektiv se<strong>in</strong>? Obsich aus diesem »bottom up« letztlich e<strong>in</strong>e kohärente Filmtheorie entwickeln lässt, kannCarroll offen lassen. Für die konkrete Arbeit ist – <strong>in</strong> gut empiristischer Manier – <strong>der</strong> Bezug aufden Gegenstand, also auf den Film, E<strong>in</strong>heitsstiftung genug.Neben <strong>der</strong> Struktur se<strong>in</strong>er Theorie übernimmt Carroll aus <strong>der</strong> analytischen Philosophie dreie<strong>in</strong>schlägige ›Bordmittel‹, nämlich die Klärung <strong>der</strong> zu verwendenden Begriffe, denreflektierten Umgang mit Metaphern und den expliziten E<strong>in</strong>satz logischer Mittel. Zur Klärung<strong>der</strong> Begriffe zählt nach Carroll, sich Rechenschaft darüber abzulegen, nach welchen RegelnBegriffe angewendet werden o<strong>der</strong> auch nicht. Ex negativo illustriert er diese Regelhaftigkeitan zentralen Begriffen <strong>der</strong> »grand theory«, <strong>der</strong>en ungeregelten und <strong>in</strong>flationären Gebrauch erbemängelt. Um zwei se<strong>in</strong>er Beispiele zu nennen: »Abwesenheit« sei dort e<strong>in</strong> <strong>der</strong>artig vagerBegriff, das mit ihm sowohl das Verhältnis <strong>der</strong> Welt zum Vorführraum als auch die Kastrationbezeichnet und bei<strong>des</strong> mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> identifiziert werden könne, und als »Spiegel« – e<strong>in</strong>enE<strong>in</strong>druck hatten wir im Zusammenhang mit Lacan ja bereits gewonnen – werde buchstäblichalles bezeichnet (vgl. hier und im Folgenden CARROLL 1988: 47ff., 227ff.). Dennoch sprichtsich Carroll ke<strong>in</strong>eswegs grundsätzlich gegen den Gebrauch von Metaphern <strong>in</strong> <strong>der</strong>Wissenschaft aus, son<strong>der</strong>n legt zwei (eher weiche) Kriterien für s<strong>in</strong>nvolle Metaphern vor.Demnach sollten sie erstens nicht weniger <strong>in</strong>formativ se<strong>in</strong>, als die Begriffe, die sie ersetzen,und zweitens sollten sie systematisch und fruchtbar se<strong>in</strong>, also e<strong>in</strong>e Reihe von Vergleichenbzw. Extrapolationen ermöglichen, die dann wie<strong>der</strong>um – <strong>in</strong> gewisser Weise – getestet werdenkönnen.Was das letzte ›Bordmittel‹ aus <strong>der</strong> analytischen Philosophie betrifft, den expliziten E<strong>in</strong>satzlogischer Mittel, sei hier lediglich e<strong>in</strong> Detail erwähnt, das <strong>der</strong> Klärung von Begriffen verwandtist. Bei zentralen Elementen se<strong>in</strong>er Theorie verwendet Carroll viel Arbeit auf dasangemessene Def<strong>in</strong>itionsverfahren. Bei <strong>der</strong> Def<strong>in</strong>ition bewegter Bil<strong>der</strong>, auf die ich imFolgenden noch genauer e<strong>in</strong>gehen werde, legt Carroll beispielsweise Wert darauf,ausschließlich notwendige Bed<strong>in</strong>gungen für das Vorliegen bewegter Bil<strong>der</strong> anzugeben (vgl.CARROLL 1995: 173f.; 2008: 54f.). Das bedeutet, dass diese Bed<strong>in</strong>gungen zwar erfüllt se<strong>in</strong>müssen, dass aber selbst dann, wenn sie erfüllt s<strong>in</strong>d, immer noch nicht ausgemacht ist, ob essich bei dem Gegenstand, <strong>der</strong> diese Bed<strong>in</strong>gungen erfüllt, tatsächlich schon um e<strong>in</strong> bewegtesBild handelt. Man kann sich nur sicher se<strong>in</strong>, dass es sich nicht um e<strong>in</strong> bewegtes Bild handelt,wenn diese Bed<strong>in</strong>gungen nicht erfüllt s<strong>in</strong>d. Dieses aufwendige logische Arrangement br<strong>in</strong>gte<strong>in</strong>en gewissen Spielraum mit sich, den man sich leicht an e<strong>in</strong>er Anekdote aus <strong>der</strong>Philosophiegeschichte vergegenwärtigen kann: Platon soll vor se<strong>in</strong>en Schülern denMenschen als zweifüßiges, ungefie<strong>der</strong>tes Tier def<strong>in</strong>iert haben, woraufh<strong>in</strong> Diogenes e<strong>in</strong>engerupften Hahn ›als Menschen‹ mit <strong>in</strong> die Akademie brachte (DIOGENESLAERTIUS 2008: VI, §40). Begreift man aber Zweifüßigkeit, Ungefie<strong>der</strong>tse<strong>in</strong> und Tierse<strong>in</strong> nur als notwendigeBed<strong>in</strong>gungen, ist Diogenes’ Scherz witzlos – ke<strong>in</strong>er wird dann auf den Gedanken kommenkönnen, das Vorliegen dieser Eigenschaften sei bereits h<strong>in</strong>reichend für Menschse<strong>in</strong>.Um noch auf die letzte hier relevante Facette <strong>in</strong> <strong>der</strong> Methode, auf den Kognitivismus, zusprechen zu kommen: Carroll beschreibt die Kognitivisten nicht als e<strong>in</strong>heitliche Schule mite<strong>in</strong>heitlicher Theorie, son<strong>der</strong>n als Gruppe von Forschern, die durchaus konfligierende »smallscale theories« entwickeln, sich aber <strong>in</strong> Bezug auf e<strong>in</strong>en wesentlichen Aspekt ihres Ansatzese<strong>in</strong>ig s<strong>in</strong>d: »the emphasis that it places on the efficacy of models that exploit the role ofcognitive processes, as opposed to unconscious processes, <strong>in</strong> the explanation of c<strong>in</strong>ematiccommunication and un<strong>der</strong>stand<strong>in</strong>g« (CARROLL 1996b: 321). Mit se<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>treten für denKognitivismus opponiert Carroll gegen die Psychoanalyse <strong>in</strong> <strong>der</strong> »grand theory« auf doppelteWeise. E<strong>in</strong>erseits macht er sich für den empirischen Test von Hypothesen stark. An<strong>der</strong>erseitsweist er – ausgerechnet mit Rekurs auf Freuds Traumdeutung – darauf h<strong>in</strong>, dassPsychoanalyse nur für die Erklärung <strong>des</strong> Irrationalen zuständig sei. Wo h<strong>in</strong>gegen wie beimFilm e<strong>in</strong> Zustand o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Verhalten durch H<strong>in</strong>weis auf Organisches, Rationales o<strong>der</strong> dasIMAGE I Ausgabe 17 I 1/2013 113


DIMITRI LIEBSCH: WAHRNEHMUNG, MOTORIK, AFFEKT. ZUM PROBLEM DES KÖRPERS IN DER PHÄNOMENOLOGISCHEN UNDANALYTISCHEN FILMPHILOSOPHIE.normale Funktionieren von Kognition und <strong>Wahrnehmung</strong> erklärt werden könne, gebe es fürsie nichts zu tun. Der Kognitivismus verdrängt demnach – wohlgemerkt im nicht-freudschenS<strong>in</strong>ne – die Psychoanalyse; und er bedient sich, wie auch die Phänomenologie, aus <strong>der</strong>aktuellen Forschung <strong>der</strong> Psychologie, Physiologie usw.6. Der Körper <strong>in</strong> Carrolls »piecemeal theories«Während <strong>der</strong> Körper o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Leib für Sobchack das zentrale und bereits durch ihre Methodevorgegebene Thema ist, handelt es sich bei ihm für Carroll um e<strong>in</strong> Thema neben an<strong>der</strong>en,das gemäß <strong>des</strong> »piecemeal theoriz<strong>in</strong>g« auch ke<strong>in</strong>en festen systematischen Ort hat, son<strong>der</strong>n<strong>in</strong> unterschiedlichen Kontexten immer wie<strong>der</strong> neu zum Gegenstand wird. Abgesehen vonse<strong>in</strong>er Dissertation, die sich allerd<strong>in</strong>gs dem Körper im Film widmet und <strong>des</strong>halb hier nichtberücksichtigt wird, s<strong>in</strong>d das vor allem die Ontologie und – teils im Anschluss an se<strong>in</strong>e StudieThe Philosophy of Horror or Paradoxes of the Heart von 1990 – e<strong>in</strong>ige Bemerkungen zu den<strong>Affekt</strong>en.a) Körper und Ontologie. Carroll hat sich seit 1995 dreimal zu filmontologischen Fragengeäußert und damit u.a. beabsichtigt, den Film im System <strong>der</strong> Künste zu situieren (vgl.CARROLL 1995: 156; 1996b: 49 und 2008: 54). Für alle <strong>in</strong> diesem Zusammenhangentstandenen Texte trifft zu, dass sie – <strong>in</strong>spiriert von André Baz<strong>in</strong>s berühmter Essay-Sammlung Qu’est-ce que le c<strong>in</strong>éma? – die Frage »what is c<strong>in</strong>ema?« aufgreifen (vgl. CARROLL1995: 155; 1996b: 49 und 2008: 53). Angesichts <strong>des</strong>sen überrascht es, dass sich CarrollsTexte an<strong>der</strong>s als die Arbeiten Sobchacks nicht auf den Film im engeren S<strong>in</strong>ne bzw. auf dasDispositiv K<strong>in</strong>o und den dort projizierten Film konzentrieren, son<strong>der</strong>n deutlich abstrakteransetzen. Anstatt e<strong>in</strong> bestimmtes physisches Medium legt Carrolls Ontologie e<strong>in</strong>e Funktionzugrunde: den E<strong>in</strong>druck von Bewegung zu vermitteln. Die Gattung <strong>der</strong> Artefakte, denendiese Funktion zu eigen ist, nennt Carroll »bewegte Bil<strong>der</strong>«; und das Medium Film gilt dabeials e<strong>in</strong>e wichtige, aber eben nur als e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Arten dieser Gattung: »This function can beimplemented <strong>in</strong> an <strong>in</strong>def<strong>in</strong>ite number of media – celluloid-based film, most obviously, but alsovideo, broadcast TV, handmade cartoon flip books, CGI, and truth be told, who knows whatsuccessive generations will <strong>in</strong>vent?« (CARROLL 2008: 63).In se<strong>in</strong>er ausführlichen Def<strong>in</strong>ition <strong>der</strong> bewegten Bil<strong>der</strong> f<strong>in</strong>den sich ursprünglich vier, späterfünf notwendige Bed<strong>in</strong>gungen, wobei sich gemäß <strong>der</strong> erwähnten Medienpluralität – an<strong>der</strong>sals bei Sobchack – die Projektion nicht darunter bef<strong>in</strong>det. Dass Carroll sich auf notwendigeBed<strong>in</strong>gungen beschränkt, verschafft ihm e<strong>in</strong>en gewissen Spielraum. Er kann e<strong>in</strong>räumen, dassGrenzfälle wie das Daumenk<strong>in</strong>o o<strong>der</strong> die von präk<strong>in</strong>ematographischen Apparaten erzeugtenEffekte (etwa <strong>des</strong> Zootrops, das Bewegungsverläufe im Inneren e<strong>in</strong>er sich bewegendenTrommel zeigen konnte) zwar alle Bed<strong>in</strong>gungen erfüllen; er muss solche Grenzfälle<strong>des</strong>wegen aber noch nicht automatisch als bewegte Bil<strong>der</strong> akzeptieren. Damit stellt sichnatürlich die Frage: Warum will er sie nicht als bewegte Bil<strong>der</strong> akzeptieren? Carroll versuchthier e<strong>in</strong>en Ausgleich zu f<strong>in</strong>den zwischen e<strong>in</strong>er möglichst allgeme<strong>in</strong>en systematischenBeschreibung auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite und <strong>der</strong>Alltagssprache und dem Commonsense auf <strong>der</strong>an<strong>der</strong>en Seite: Daumenk<strong>in</strong>o und Zootrop s<strong>in</strong>d schließlich nicht das, »that people usually have<strong>in</strong> m<strong>in</strong>d when they talk about motion pictures« (CARROLL 2008: 75; vgl. ferner 1995: 173f.).Ausführlich thematisiert er den Körper, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e se<strong>in</strong>e <strong>Wahrnehmung</strong> und <strong>Motorik</strong>,lediglich ausgehend von <strong>der</strong> ersten Bed<strong>in</strong>gung. Der dafür relevante Anfang se<strong>in</strong>er Def<strong>in</strong>itionlautet: »x ist nur dann e<strong>in</strong> bewegtes Bild, 1) wenn x über e<strong>in</strong>en entkörperlichten Blickw<strong>in</strong>kelIMAGE I Ausgabe 17 I 1/2013 114


DIMITRI LIEBSCH: WAHRNEHMUNG, MOTORIK, AFFEKT. ZUM PROBLEM DES KÖRPERS IN DER PHÄNOMENOLOGISCHEN UNDANALYTISCHEN FILMPHILOSOPHIE.verfügt (o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> abgetrenntes Display besitzt […]« (CARROLL 1995: 173). 7 Carroll entwickeltdiese Bed<strong>in</strong>gung aus <strong>der</strong> Diskussion und Wi<strong>der</strong>legung <strong>des</strong> von ihm so genannten»fotografischen Realismus«. Zu verstehen ist darunter e<strong>in</strong>e von Baz<strong>in</strong> angeregte und vonPhilosophen wie Roger Scruton, Kendall Walton und an<strong>der</strong>en ausgearbeitete Doktr<strong>in</strong>, die aufzwei Prämissen beruht: Dem Film liegt das Foto zugrunde; und das Foto (wie auch <strong>der</strong> Film)ist als e<strong>in</strong>e optische Prothese aufzufassen.Gegen die erste Prämisse <strong>des</strong> »fotografischen Realismus« wendet Carroll e<strong>in</strong>, dass das Fotonicht das e<strong>in</strong>zige Medium ist, <strong>in</strong> dem bewegte Bil<strong>der</strong> realisiert werden. Außer den bisherke<strong>in</strong>esfalls ausgeschöpften Möglichkeiten computergenerierter Bil<strong>der</strong>, die für die Zukunft e<strong>in</strong>enoch größere Konkurrenz zum Foto versprechen, br<strong>in</strong>gt er dabei schon <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheitetablierte Verfahren wie Animation o<strong>der</strong> matte shots <strong>in</strong>s Spiel (vgl. CARROLL 1996b: 60); beiletzteren wurden etwa bemalte o<strong>der</strong> projizierte H<strong>in</strong>tergründe verwendet o<strong>der</strong> Szenen durchbemalte Glasscheiben h<strong>in</strong>durch gefilmt.Die Wi<strong>der</strong>legung <strong>der</strong> zweiten Prämisse gestaltet sich allerd<strong>in</strong>gs aufwendiger. Dass Foto undFilm als optische Prothesen aufzufassen s<strong>in</strong>d, heißt <strong>in</strong> Carrolls Rekonstruktion, dass sie wieMikroskope, Operngläser o<strong>der</strong> Teleskope funktionieren müssten (vgl. hier und im FolgendenCARROLL 1995: 157ff. und 1996b: 55-60). Demnach wären sie selbst transparent; wir sähendurch sie h<strong>in</strong>durch auf die präsentierten Objekte; außerdem erweiterten sie unsere visuellenMöglichkeiten, <strong>in</strong>dem sie auch Kle<strong>in</strong>es und Entferntes sichtbar machen könnten. Im S<strong>in</strong>ne<strong>des</strong> pr<strong>in</strong>ciple of charity macht Carroll den fotografischen Realismus sogar noch gegen denE<strong>in</strong>wand stark, dass Fotos und Filme nur Objekte aus <strong>der</strong> Vergangenheit zeigen können,<strong>in</strong>dem er Gleiches zum<strong>in</strong><strong>des</strong>t für die Beobachtung von weit entfernten Sternen, also für e<strong>in</strong>enbeson<strong>der</strong>en E<strong>in</strong>satz <strong>des</strong> Teleskops anführt (vgl. CARROLL 1996b: 58f.). Dennoch wi<strong>der</strong>legtCarroll die zweite Prämisse, und zwar <strong>in</strong>dem er außer <strong>der</strong> visuellen <strong>Wahrnehmung</strong>, noch dreiim emphatischen S<strong>in</strong>ne körperliche Eigenheiten berücksichtigt: den Gleichgewichtss<strong>in</strong>n, dask<strong>in</strong>ästhetische Empf<strong>in</strong>den sowie die Fähigkeit zur körperlichen Bewegung.Der Anstoß zu dieser Wi<strong>der</strong>legung stammt vom analytischen Philosophen Frances Sparshott,<strong>der</strong> präzisierend über die Zweideutigkeiten <strong>der</strong> Filmwahrnehmung schreibt: »A subtlerexplanation is that c<strong>in</strong>ema vision is alienated vision. A man’s sense of where he is dependslargely on his sense of balance and his muscular senses, and all a filmgoer’s sensory cuesother than those of vision and hear<strong>in</strong>g relate firmly to the theater and seat <strong>in</strong> which he sits«(SPARSHOTT 1971: 18). Carroll greift dies auf und fügt e<strong>in</strong>e Beschreibung jenes Verhaltens an,das auf <strong>der</strong> Basis e<strong>in</strong>er <strong>der</strong>artigen <strong>Wahrnehmung</strong> möglich bzw. unmöglich ist. Demnach ist esuns auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite möglich, uns etwa zur Le<strong>in</strong>wand o<strong>der</strong> zum Bildschirm körperlichauszurichten. Weil aber das auf <strong>der</strong> Le<strong>in</strong>wand o<strong>der</strong> dem Bildschirm Gesehene nicht mit demübere<strong>in</strong>stimmt, was wir über den Gleichgewichtss<strong>in</strong>n o<strong>der</strong> das k<strong>in</strong>ästhetische Empf<strong>in</strong>denerfahren, ist es uns unmöglich, uns auf das dort Gesehene körperlich auszurichten. Carrollillustriert diesen Sachverhalt u.a. anhand <strong>der</strong> Mauer auf <strong>der</strong> Insel, vor <strong>der</strong> die weiße Frau <strong>in</strong>Ernest Schoedsacks und Merian Coopers K<strong>in</strong>g Kong von 1933 dem Riesenaffen geopfertwerden soll: »Der Raum zwischen <strong>der</strong> großen Mauer auf <strong>der</strong> Schädel<strong>in</strong>sel, wie sie auf demBildschirm ersche<strong>in</strong>t, und me<strong>in</strong>em Körper besitzt ke<strong>in</strong>e Kont<strong>in</strong>uität. Der Raum, <strong>in</strong> dem sich dieMauer bef<strong>in</strong>det, ist zwar durch den Film optisch erreichbar, aber phänomenologisch [sic!] vondem Raum getrennt, <strong>in</strong> dem ich lebe« (CARROLL 1995: 159). Das wie<strong>der</strong>um unterscheidetFilme von optischen Prothesen, die es schließlich ermöglichen, dass wir uns körperlich aufdas Gesehene ausrichten – wir können z.B. die Sänger<strong>in</strong> auf <strong>der</strong> Bühne mit dem Opernglasverfolgen. Carroll hat denselben Sachverhalt auch noch etwas an<strong>der</strong>s fomuliert. ImGegensatz zu Foto und Film liefern demnach die gewöhnliche <strong>Wahrnehmung</strong> und die7Um ke<strong>in</strong>e Missverständnisse aufkommen zu lassen: Mit dieser Bed<strong>in</strong>gung alle<strong>in</strong> ist e<strong>in</strong>e Abgrenzung bewegterBil<strong>der</strong> beispielsweise von <strong>der</strong> Malerei natürlich noch nicht möglich.IMAGE I Ausgabe 17 I 1/2013 115


DIMITRI LIEBSCH: WAHRNEHMUNG, MOTORIK, AFFEKT. ZUM PROBLEM DES KÖRPERS IN DER PHÄNOMENOLOGISCHEN UNDANALYTISCHEN FILMPHILOSOPHIE.<strong>Wahrnehmung</strong> mit Hilfe optischer Prothesen immer auch Aufschluss über das Verhältnis <strong>des</strong>eigenen <strong>Körpers</strong> zum wahrgenommenen Objekt, sie bieten also »egocentric <strong>in</strong>formation«(CARROLL 2008: 99f.). Damit ist die zweite Prämisse <strong>des</strong> »fotografischen Realismus«, nämlichdass Fotos und Filme optische Prothesen seien, h<strong>in</strong>fällig.Kommen wir an dieser Stelle zur ersten notwendigen Bed<strong>in</strong>gung für das Vorliegen bewegterBil<strong>der</strong> zurück: Weshalb Carroll im Anschluss an Sparshotts »alienated vision« für bewegteBil<strong>der</strong> auf »entkörperlichten Blickw<strong>in</strong>keln« besteht, dürfte deutlich geworden se<strong>in</strong>.Nachzureichen bleibt, weshalb er <strong>in</strong> diesem Zusammenhang alternativ von »abgetrenntenDisplays« spricht. Als »abgetrennt« bezeichnet er sie, weil ihr virtueller Raum ke<strong>in</strong>eKont<strong>in</strong>uität mit dem Raum unserer Erfahrungen besitzt. Den Ausdruck »Display« zieht er dem<strong>der</strong> »Darstellung« vor, weil jener weniger als dieser auf die Abbildung von erkennbarenGegenständen festgelegt ist; und das wie<strong>der</strong>um harmoniert eher mit <strong>der</strong> E<strong>in</strong>sicht, dass dieerste Prämisse <strong>des</strong> »fotografischen Realismus« falsch ist und dass bewegte Bil<strong>der</strong> nicht nurim Medium <strong>der</strong> Fotografie erzeugt werden können.b) Körper und <strong>Affekt</strong>. Das zweite »piecemeal«, <strong>in</strong> dem sich Carroll mit dem Körper befasst, istse<strong>in</strong>e Theorie <strong>der</strong> <strong>Affekt</strong>e. Sie steht <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em direkten systematischen Zusammenhang mit<strong>der</strong> Ontologie; sie wird vielmehr ebenfalls durch den Gegenstand Film nahegelegt, <strong>der</strong> bereitsmit so e<strong>in</strong>schlägigen Genre-Bezeichnungen wie »Horror«, »Weepie« o<strong>der</strong> »Thriller« se<strong>in</strong>enBezug zu den <strong>Affekt</strong>en dokumentiert (vgl. CARROLL 2008: 147).Für Carroll zeichnen sich <strong>Affekt</strong>e durch e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Eigenschaft, aber darüber h<strong>in</strong>ausdurch vielfältige Ausprägungen aus: »By ›affect‹ I am referr<strong>in</strong>g to felt bodily states – statesthat <strong>in</strong>volve feel<strong>in</strong>gs or sensations. The compass of affect is broad, compris<strong>in</strong>g, among otherth<strong>in</strong>gs, hard-wired reflex reactions, like the startle response, sensations (<strong>in</strong>clud<strong>in</strong>g pleasure,pa<strong>in</strong>, and sexual arousal), phobias, <strong>des</strong>ires, various occurrent, feel<strong>in</strong>g-toned mental states –such as fear, anger, and jealousy – and moods« (CARROLL 2008: 149).Wie lässt sich dieseBemerkung explizieren? <strong>Affekt</strong>e s<strong>in</strong>d gefühlte körperliche Zustände, sie können durch mehro<strong>der</strong> weniger komplexe Stimuli o<strong>der</strong> Situationen <strong>in</strong>duziert werden. Neben <strong>der</strong> Schreckreaktionund dem Adrenal<strong>in</strong>stoß f<strong>in</strong>den sich daher die eigentlichen Emotionen wie Zorn, Liebe,Scham, Trauer o<strong>der</strong> Heiterkeit, die jeweils als unbewusster Abgleich von Stimuli undInteressen bestimmte Verhaltenstendenzen nahelegen. Und neben diesen wie<strong>der</strong>um gibt esGrenzfälle wie das Spiegelungsverhalten, bei dem wir unser Gegenüber <strong>in</strong> Mimik, Gestik o<strong>der</strong>Körperhaltung unwillkürlich imitieren, um e<strong>in</strong>e Ahnung von den Emotionen diesesGegenübers zu erhalten (vgl. CARROLL 2008: 147f., 151f. und 185f.).Alle <strong>der</strong>artigen <strong>Affekt</strong>e s<strong>in</strong>d nach Carroll von zentraler Bedeutung bei <strong>der</strong> Filmrezeption und -produktion. Für das Publikum sieht er daher e<strong>in</strong>e ganze Reihe von Optionen. Filme können<strong>der</strong> direkten und <strong>in</strong>tensiven Stimulanz, also e<strong>in</strong>er Art affektiver Gymnastik (»affectivecalisthenics«) dienen, zur Selbsterkenntnis <strong>in</strong> <strong>der</strong> Entdeckung neuer Gefühle führen o<strong>der</strong>aber die Reichweite von Emotionen vergrößern: Sei es, dass das Publikum an ihm zuvorunbekannten Menschen Anteil nimmt, sei es – Carroll ist ke<strong>in</strong> Schönfärber –, dass es siehassen lernt (CARROLL 2008: 147f.). 8 Ähnlich vielfältige Zielsetzungen können demnach auchdie Filmemacher verfolgen: »Moviemakers, <strong>in</strong> this regard as <strong>in</strong> others, are amateurpsychologists, experiment<strong>in</strong>g <strong>in</strong>tuitively with the human sensory apparatus for the purpose of8In <strong>der</strong> Ausarbeitung se<strong>in</strong>er <strong>Affekt</strong>heorie legt Carroll großen Wert auf den Nachweis, dass das Verhältniszwischen Publikum und (fiktionalem) Charakter sich nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er simplen Identifikation erschöpft (vgl. CARROLL2008: 161-184).IMAGE I Ausgabe 17 I 1/2013 116


DIMITRI LIEBSCH: WAHRNEHMUNG, MOTORIK, AFFEKT. ZUM PROBLEM DES KÖRPERS IN DER PHÄNOMENOLOGISCHEN UNDANALYTISCHEN FILMPHILOSOPHIE.art, fame, and money, but often with results that sometimes reveal how we, as <strong>in</strong>carnatedbe<strong>in</strong>gs, work« (CARROLL 2008: 190).Um an dieser Stelle e<strong>in</strong>e Zwischenbilanz zu Carrolls Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit bewegtenBil<strong>der</strong>n und/o<strong>der</strong> Filmen zu ziehen: In se<strong>in</strong>em »piecemeal theoriz<strong>in</strong>g« werden verschiedeneRollen angesprochen, die <strong>der</strong> Körper für den Film übernimmt. Carroll thematisiert die Aspektevon <strong>Wahrnehmung</strong> und <strong>Motorik</strong> <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e im Zusammenhang mit ontologischenFragestellungen, wobei diese Thematisierung eher <strong>in</strong>direkt ist und <strong>in</strong> kritischer Absicht erfolgt:Die Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> nicht-visuellen <strong>Wahrnehmung</strong> und <strong>Motorik</strong> dient vor allemdazu zu zeigen, was nicht das Proprium <strong>der</strong> Filmrezeption ausmacht. Der Aspekt <strong>der</strong>gefühlten körperlichen Zustände wie<strong>der</strong>um ist für Carroll von produktions- wierezeptionsästhetischer Bedeutung; <strong>der</strong> Bezug auf die <strong>Motorik</strong> erfolgt hier aber nicht <strong>in</strong>kritischer Absicht, son<strong>der</strong>n um <strong>in</strong> diesem Kontext e<strong>in</strong>en Son<strong>der</strong>fall, das Spiegelungsverhalten,zu beschreiben.7. Sobchack und CarrollEs ist kurios, dass sich <strong>in</strong> den bis hierh<strong>in</strong> berücksichtigten Arbeiten we<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e direkteAuse<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung von Sobchack mit Carroll noch vice versa nachweisen lässt. Beidehaben o<strong>der</strong> hatten immerh<strong>in</strong> (auch <strong>in</strong>stitutionell) Bezüge zur Phänomenologie, kritisieren denPoststrukturalismus, haben sich bis spätestens Mitte <strong>der</strong> 1990er Jahre – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em se<strong>in</strong>erzeitnoch sehr überschaubaren Feld – als Filmphilosophen <strong>in</strong> den USA positioniert und zeichnensich ansonsten durch <strong>in</strong>- und extensive Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit den Arbeiten an<strong>der</strong>er <strong>in</strong>ihrem Gebiet aus. Verblüffen<strong>der</strong> als das Schweigen zwischen Sobchack und Carroll ist jedochme<strong>in</strong>es Erachtens, dass beide zu so deutlich verschiedenen Ergebnissen haben kommenkönnen. Sobchack spart e<strong>in</strong>e Diskussion <strong>der</strong> <strong>Affekt</strong>e weitgehend aus, berührt Fragen <strong>der</strong><strong>Motorik</strong> nur am Rande und führt gleich drei Leiber im Zusammenhang mit e<strong>in</strong>er ausführlichenDiskussion <strong>der</strong> <strong>Wahrnehmung</strong> <strong>in</strong>s Feld. Carroll h<strong>in</strong>gegen diskutiert die <strong>Affekt</strong>e e<strong>in</strong>igermaßene<strong>in</strong>gehend, bezieht sich <strong>des</strong> Öfteren auf Fragen <strong>der</strong> <strong>Motorik</strong>, und verwendet imZusammenhang mit <strong>der</strong> <strong>Wahrnehmung</strong> die plakative Rede vom »entkörperlichtenBlickw<strong>in</strong>kel«. Diesen Befund als unproblematische Koexistenz unterschiedlicher Ansätze zu<strong>in</strong>terpretieren, halte ich für verfehlt. Ich werde quasi als Ersatz für den unterbliebenenAustausch versuchen, ihre Ausführungen dialektisch aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong> beziehen. Dabei wird eszunächst um e<strong>in</strong>e Kritik an Sobchack aus Carrolls Perspektive gehen und dann darum, e<strong>in</strong>tragen<strong>des</strong> Motiv aus Sobchacks Arbeit gegen Carrolls Ontologie zu wenden.a) Leiber vs. Körper. Auch Carroll dürfte Sobchack zugestehen, dass wir leibhaft s<strong>in</strong>d, dasswir uns als Zuschauer vor <strong>der</strong> Le<strong>in</strong>wand nicht <strong>in</strong> so etwas wie e<strong>in</strong> ›re<strong>in</strong>es Auge‹ verwandelnkönnen und dass wir daher mit unserem ganzen Sensorium, unseren motorischenFähigkeiten und den Spuren aus <strong>der</strong> Vorgeschichte unseres Leibes wie Gewohnheiten,Er<strong>in</strong>nerungen, Sensibilitäten und Ähnlichem Filme anschauen. Wenn wir aber nicht umh<strong>in</strong>können, leibhaft zu se<strong>in</strong>, dann ist <strong>der</strong> H<strong>in</strong>weis trivial, dass auch die Filmwahrnehmung leibhaftist. Philosophisch <strong>in</strong>teressant wäre es jedoch, über die Fragen Aufschluss zu gew<strong>in</strong>nen, obsich hier Allgeme<strong>in</strong>es und Beson<strong>der</strong>es, also leibhafte <strong>Wahrnehmung</strong> und leibhafteFilmwahrnehmung unterscheiden und <strong>in</strong>wiefern sie es tun.Carroll bejaht die erste Frage offenkundig. In se<strong>in</strong>er Erläuterung zeigt er, dass nichtallgeme<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Filmwahrnehmung e<strong>in</strong>e Diskrepanz zwischen visueller<strong>Wahrnehmung</strong> e<strong>in</strong>erseits und dem Verbund aus Gleichgewichtss<strong>in</strong>n, K<strong>in</strong>ästhesie und <strong>Motorik</strong>IMAGE I Ausgabe 17 I 1/2013 117


DIMITRI LIEBSCH: WAHRNEHMUNG, MOTORIK, AFFEKT. ZUM PROBLEM DES KÖRPERS IN DER PHÄNOMENOLOGISCHEN UNDANALYTISCHEN FILMPHILOSOPHIE.an<strong>der</strong>erseits besteht; wegen mangeln<strong>der</strong> »egocentric <strong>in</strong>formation« kann ke<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>nvollemotorische Ausrichtung auf das Gesehene erfolgen, vom haptischen Kontakt (<strong>des</strong>sen Fehlennoch an<strong>der</strong>e Gründe hat) e<strong>in</strong>mal ganz abgesehen. Sobchack wird man unterstellen müssen,dass sie die Frage nach <strong>der</strong> Unterscheidung am liebsten mit »ne<strong>in</strong>« beantworten würde. Sieverfolgt durchgängig e<strong>in</strong>e Strategie, <strong>der</strong>en Zielsetzung man <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em gewissen S<strong>in</strong>ne als›Naturalisierung‹ von Film und Filmwahrnehmung bezeichnen kann.Sobchack zieht erstens ke<strong>in</strong>e Schlüsse daraus, dass es ke<strong>in</strong>en kont<strong>in</strong>uierlichen Raumzwischen dem Zuschauer und dem auf <strong>der</strong> Le<strong>in</strong>wand Gesehenen gibt. Obwohl sie denProjektor nicht ausdrücklich als optische Prothese bezeichnet, unterstellt sie ihm <strong>der</strong>enFunktionsweise: Ungeachtet <strong>der</strong> partiellen Opazität soll er nach Sobchack ermöglichen, durchihn h<strong>in</strong>durch auf die Welt zu sehen. Das ist nicht nur falsch, son<strong>der</strong>n lässt auch ihre Kritik an<strong>der</strong> elektronischen Kultur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em fragwürdigen Licht ersche<strong>in</strong>en. (Da im Gegensatz zur ihrervere<strong>in</strong>fachenden Darstellung schon <strong>der</strong> Film ke<strong>in</strong>e »egocentric <strong>in</strong>formation« mehr für denZuschauer bereit hält, kann nicht erst die elektronische, son<strong>der</strong>n muss bereits diek<strong>in</strong>ematische Kultur für die grassierende Dezentrierung und ›Entleiblichung‹ verantwortlichgemacht werden. Dies deckt sich auch mit dem bereits erwähnten Umstand, dass Debord,<strong>der</strong> Kronzeuge Sobchacks, se<strong>in</strong>e Kulturkritik schon äußern konnte, bevor das Gros <strong>der</strong> vonSobchack beanstandeten elektronischen Techniken populär wurde.)Zweitens versucht Sobchack die Rolle von S<strong>in</strong>nesmodalitäten aus <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en leibhaften<strong>Wahrnehmung</strong> aufzuwerten, die wie die Haptik und die taktilen Qualitäten (etwa vongezeigten Stoffen) o<strong>der</strong> aber <strong>der</strong> Geruch (z.B. von präsentierten Speisen) nicht unmittelbar <strong>in</strong>die aktuelle Filmwahrnehmung <strong>in</strong>tegriert s<strong>in</strong>d. Die dem zugrunde liegende Behauptung, imSehs<strong>in</strong>n seien die an<strong>der</strong>en S<strong>in</strong>ne ›impliziert‹, bleibt ebenso problematisch wie das Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong>von ihr diskutierten Fälle. Diese legen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel nahe, dass es e<strong>in</strong> entscheiden<strong>des</strong>Anliegen <strong>der</strong> Filmrezeption sei, e<strong>in</strong> defizitäres s<strong>in</strong>nliches Angebot <strong>des</strong> Films allererst zukomplettieren. Klammert man jedoch Sobchacks Emphase e<strong>in</strong>, stellt sich die Frage, ob sichh<strong>in</strong>ter <strong>der</strong> Aufwertung dieser S<strong>in</strong>nesmodalitäten tatsächlich etwas an<strong>der</strong>es verbirgt als das,was traditionell als Leistung von Er<strong>in</strong>nerung und Imag<strong>in</strong>ation verhandelt wird.Drittens ist ihre Beschreibung <strong>der</strong> Filmproduktion reduktionistisch und e<strong>in</strong>seitig an <strong>der</strong>Tätigkeit <strong>der</strong> Kameraleute orientiert. Sobchack lässt alle jene Produktionsverfahren unter denTisch fallen, die nicht analog zur visuellen <strong>Wahrnehmung</strong> von Welt begriffen werden können.Darunter fallen beispielsweise, um sich ihrer Redeweise anzupassen, die ›Erzeugung vonWelt‹ (durch Drehbuchautoren, Schauspieler und metteurs en scène) o<strong>der</strong> auch die›Zerstückelung und Rekomb<strong>in</strong>ation von Welt/en‹ (<strong>in</strong> <strong>der</strong> Montage).Rätselhaft bleibt viertens Sobchacks Behauptung, <strong>der</strong> Film sei Leib – zumal <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit<strong>der</strong> weiteren Behauptung, dass dies wie schon im Falle <strong>der</strong> haptischen Filmwahrnehmungnicht metaphorisch geme<strong>in</strong>t sei. Selbst mit e<strong>in</strong>er reduktionistischen Beschreibung <strong>der</strong>Filmproduktion wie ihrer ist nicht nachvollziehbar, woraus e<strong>in</strong>e Assemblage aus technischenGeräten, Chemikalien und Zelluloid denn Eigenaktivität, Verhalten, Homogenität o<strong>der</strong>organisches Wachstum entwickeln soll. Gut nachvollziehbar ist h<strong>in</strong>gegen ihre Motivation fürdiese Behauptung. Der Film soll zum Gegenüber werden, mit dem e<strong>in</strong> Dialog möglich ist.Weshalb sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Filmrezeption e<strong>in</strong> »visueller Dialog« im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es Austauschesereignen soll, ist aber – fünftens und letztens – ebenfalls nicht plausibel. Höre ich mir nur an,was jemand sagt, dann führt jemand e<strong>in</strong>en Monolog, dem ich lausche. E<strong>in</strong> Dialog entstehterst dann, wenn ich mich zum Gehörten äußere, me<strong>in</strong> Gegenüber darauf antwortet usw. Esist ebenfalls ke<strong>in</strong> Dialog, wenn ich nur die Aufzeichnung von etwas abhöre, was jemandfrüher gesagt hat. In diesem Fall f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong> Austausch nicht nur e<strong>in</strong>fach nicht statt, er ist sogarunmöglich. Da es sich beim Film um nichts an<strong>der</strong>es als e<strong>in</strong>e Aufzeichnung handelt – und überIMAGE I Ausgabe 17 I 1/2013 118


DIMITRI LIEBSCH: WAHRNEHMUNG, MOTORIK, AFFEKT. ZUM PROBLEM DES KÖRPERS IN DER PHÄNOMENOLOGISCHEN UNDANALYTISCHEN FILMPHILOSOPHIE.den Vergangenheitscharakter s<strong>in</strong>d sich Sobchack und Carroll e<strong>in</strong>ig –, besteht ke<strong>in</strong> Grund,den Dialog als Struktur <strong>der</strong> Filmrezeption anzunehmen. 9Die fünf Punkte dieser seltsamen ›Naturalisierung‹ Sobchacks stehen im Zusammenhang mite<strong>in</strong>er technischen Eigenart ihrer Texte. An Schlüsselstellen zitiert sie aus Merleau-Pontysontologischen und erkenntnistheoretischen Analysen, unterstellt <strong>der</strong>en direkte Anwendbarkeitauf die Filmphilosophie und nutzt diese Analysen nach e<strong>in</strong>em simplen Austausch <strong>der</strong>Referenz dann auch zur Erörterung von filmphilosophischen Fragen (vgl. beispielsweiseSOBCHACK 1992: 130, 141, 212ff., 223f. und 2004: 76f.). Spätestens mit diesem F<strong>in</strong>gerzeigwird deutlich, dass Sobchacks Filmphilosophie auch <strong>in</strong>haltlich <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie Merleau-PontysBeschreibung <strong>der</strong> phänomenologischen Grundkonstellation kopiert (wonach das leibhafteSubjekt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt den Blicken <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Subjekte begegnet) und lediglich an die Stelle<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Subjekte den Film setzt. An<strong>der</strong>s gesagt: Wie vom Proze<strong>der</strong>e <strong>der</strong>poststrukturalistischen »grand theories« bekannt, stülpt Sobchack dem Gegenstand Film dieallgeme<strong>in</strong>e Phänomenologie »top down« über. Infolge<strong>des</strong>sen liegt es auch nahe, dass ihrezentralen Begriffe wie »Leib« o<strong>der</strong> »Dialog« ambig werden o<strong>der</strong> metaphorisch verwendetwerden müssen. Ebenso wenig überraschend ist dann die zunächst überraschendeTatsache, dass sich Sobchack bei allem E<strong>in</strong>satz für die Rechte <strong>des</strong> Leibes ausgerechnet fürse<strong>in</strong>e affektive Seite so gut wie nicht <strong>in</strong>teressiert. Diese taucht <strong>in</strong> <strong>der</strong> auf <strong>Wahrnehmung</strong>ausgerichteten Grundkonstellation schließlich nicht explizit auf.b) Multimodalität. In ihrer Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> leibhaften Filmwahrnehmung <strong>in</strong>sistiertSobchack auf Multimodalität und hebt <strong>in</strong> diesem Zusammenhang neben dem Sehen dasHören als dom<strong>in</strong>anten S<strong>in</strong>n heraus. Die For<strong>der</strong>ung, Multimodalität und das Hören <strong>in</strong> <strong>der</strong>Filmphilosophie ernst zu nehmen, ist e<strong>in</strong>e berechtigte For<strong>der</strong>ung, die ich im Folgenden auchgegenüber Carrolls Ontologie geltend machen werde. Wie Carroll sicherlich weiß, sieht undhört man <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel etwas, wenn man sich vor den Fernseher o<strong>der</strong> <strong>in</strong>s K<strong>in</strong>o setzt.Außerdem s<strong>in</strong>d noch nicht e<strong>in</strong>mal die silent movies im Worts<strong>in</strong>ne stumm gewesen, immerh<strong>in</strong>ritt schon 1915 <strong>der</strong> Ku-Klux-Klan <strong>in</strong> David Wark Griffiths Birth of a Nation zur Ouvertüre vonRichards Wagners Walküre durch die Gegend. Dennoch ist Carrolls Filmontologiekategorisch ›taub‹, und das ist fatal.Zu Carrolls Verteidigung könnte man nun vorbr<strong>in</strong>gen, dass es sich bei se<strong>in</strong>er Ontologie janicht e<strong>in</strong>fach um e<strong>in</strong>e Ontologie <strong>des</strong> Films handelt, son<strong>der</strong>n um e<strong>in</strong>e <strong>des</strong> »bewegten Bil<strong>des</strong>«.Diese Verteidigung ist me<strong>in</strong>es Erachtens jedoch nicht überzeugend. Unter e<strong>in</strong>e Gattung wie»bewegtes Bild« müssten schließlich alle Arten subsumiert werden können – und daruntermüsste sich auch das f<strong>in</strong>den können, was üblicherweise Gegenstand <strong>der</strong> Rezeption vor demFernseher o<strong>der</strong> im K<strong>in</strong>o ist. (Der Bequemlichkeit halber werde ich <strong>der</strong>artige Artefakte imFolgenden »Filme im alltäglichen S<strong>in</strong>ne« nennen.) Außerdem handelt es sich bei dem Gros<strong>der</strong> <strong>in</strong> Carrolls Ontologie verhandelten Fälle ausgerechnet um Filme im alltäglichen S<strong>in</strong>ne,also um Casablanca o<strong>der</strong> die HBO-Serie Rom, und nur bei e<strong>in</strong>em Bruchteil um re<strong>in</strong>e»bewegte Bil<strong>der</strong>« ohne Ton (wie etwa Experimentalfilme o<strong>der</strong> Artefakte aus <strong>der</strong>K<strong>in</strong>etoskopie). Carrolls Ontologie müsste also Filme im alltäglichen S<strong>in</strong>ne thematisierenkönnen und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat spricht sie sie ja auch an. Damit stellt sich allerd<strong>in</strong>gs die Frage, aufwelche Weise sie es tut. Die Antwort ist e<strong>in</strong>fach: Carrolls Ontologie thematisiert solche Filmeeben nur so weit, wie es sich bei ihnen um »bewegte Bil<strong>der</strong>« handelt. AkustischeEigenschaften entgehen ihr. An<strong>der</strong>s gesagt: Carrolls »bewegte Bil<strong>der</strong>« verhalten sich zu9Die nicht dialogische, son<strong>der</strong>n asymmetrische Struktur <strong>der</strong> Filmrezeption beschreibt übrigens Cavellbezeichnen<strong>der</strong>weise als ungesehenes Betrachten. Für ihn liegt daher auch nicht <strong>der</strong> Vergleich mit <strong>der</strong>lebensweltlichen Normalität, <strong>der</strong> Interaktion von Individuen, nahe, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Vergleich mit <strong>der</strong> Magie, die –wie <strong>der</strong> R<strong>in</strong>g <strong>des</strong> Gyges – den Betrachter den Blicken <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en entzieht (vgl. CAVELL 1979: 40f.).IMAGE I Ausgabe 17 I 1/2013 119


DIMITRI LIEBSCH: WAHRNEHMUNG, MOTORIK, AFFEKT. ZUM PROBLEM DES KÖRPERS IN DER PHÄNOMENOLOGISCHEN UNDANALYTISCHEN FILMPHILOSOPHIE.Filmen im alltäglichen S<strong>in</strong>ne nicht alle<strong>in</strong> wie die Gattung zu e<strong>in</strong>er Art, son<strong>der</strong>n zugleich – und<strong>in</strong> dieser Reihenfolge! – wie <strong>der</strong> Teilaspekt zum Ganzen.An diesem Punkt könnte man für Carroll vorbr<strong>in</strong>gen, dass se<strong>in</strong>e Def<strong>in</strong>ition Filme jake<strong>in</strong>eswegs zur Gänze thematisieren muss und nicht verpflichtet ist, alle Eigenschaften vonFilmen im alltäglichen S<strong>in</strong>ne zu nennen. Gemäß ihrer Struktur nennt die Def<strong>in</strong>ition ja lediglichdie notwendigen Bed<strong>in</strong>gungen, also die Bed<strong>in</strong>gungen, die vorliegen müssen, damit etwas als»bewegtes Bild« bezeichnet werden kann; und selbstverständlich ist <strong>der</strong> Ton nichts, wasetwas zu e<strong>in</strong>em »bewegten Bild« macht. Formal ist es also korrekt, wenn Carrolls Ontologievom Ton absieht. S<strong>in</strong>d damit aber alle wesentlichen Eigenschaften von Filmen im alltäglichenS<strong>in</strong>ne schon genannt? Auch hier ist die Antwort e<strong>in</strong>fach, sie lautet: ne<strong>in</strong> – und das nicht nur <strong>in</strong>H<strong>in</strong>sicht auf Fernsehformate wie Nachrichten o<strong>der</strong> Talk-Shows. Man stelle sich nur vor, wasvon e<strong>in</strong>er Komödie Eric Rohmers übrig bliebe ohne das ewige Parlando ihrer Held<strong>in</strong>nen undHelden. Und was würde aus Der weiße Hai ohne die Musik von John Williams und vor allemohne das bedrohliche Zwei-Ton-Motiv <strong>in</strong> den tiefen Streichern und Bläsern, das man hört,selbst wenn man den Hai nicht sieht?Ungeachtet ihrer Meriten, verschiedene Medienarten unter die Gattung <strong>der</strong> »bewegtenBil<strong>der</strong>« subsumieren zu können, ist Carrolls Ontologie <strong>der</strong> Multimodalität, wie sie sich beimFilm im alltäglichen S<strong>in</strong>ne f<strong>in</strong>det, nicht angemessen. Um dieser gerecht zu werden, wäre e<strong>in</strong>an<strong>der</strong>es Def<strong>in</strong>itionsverfahren s<strong>in</strong>nvoll, das etwa die Filme im alltäglichen S<strong>in</strong>ne als»Prototypen« verstünde (vgl. HOLENSTEIN 1985: 194ff.). 10 Auf diese Weise könnten dann jeneArtefakte auch theoretisch fokussiert werden, die de facto ohneh<strong>in</strong> im Zentrum von CarrollsOntologie stehen; und erst dann könnte Carrolls Ontologie ihrer eigenen Zielsetzung gerechtwerden und den Film im Kontext <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Künste situieren.In diesem Zusammenhang will ich abschließend noch e<strong>in</strong>e begriffliche Eigenheitkommentieren. An<strong>der</strong>s als <strong>der</strong> im Deutschen seltene Ausdruck »bewegtes Bild« erfüllen imEnglischen »mov<strong>in</strong>g pictures«, »motion pictures«, »mov<strong>in</strong>g images« und die Kurzform»movies« zwei unterschiedliche Aufgaben. Diese Ausdrücke können erstens und imWorts<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>en re<strong>in</strong> visuellen Gegenstand bezeichnen, aber zweitens ebenfalls pars pro totoden Film im alltäglichen S<strong>in</strong>ne me<strong>in</strong>en. Carroll redet über das erste, aber <strong>in</strong> Ausdrücken, dieauch für das zweite verwendet werden. Was das Defizit se<strong>in</strong>er Def<strong>in</strong>ition betrifft, so ist Carrolloffenbar dieser sprachlichen Eigenheit aufgesessen – o<strong>der</strong> aber er beutet sie bewusst aus,um das Defizit zu kaschieren. Da Carroll <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Ontologie den normalen Sprachgebrauchund den Commonsense durchaus respektiert und reflektiert, wie se<strong>in</strong>e Diskussion <strong>der</strong>Grenzfälle Daumenk<strong>in</strong>o und Zootrop gezeigt hat, ist die zweite Option allerd<strong>in</strong>gswahrsche<strong>in</strong>licher.Durch die Konfrontation <strong>der</strong> Phänomenologie Sobchacks und <strong>der</strong> analytischen PhilosophieCarrolls s<strong>in</strong>d im Vorhergehenden die Leistungen und Grenzen <strong>der</strong> beiden Ansätze deutlichgeworden, jedenfalls soweit sie die Rolle/n <strong>des</strong> <strong>Körpers</strong> für den Film thematisieren.Erstaunlicherweise liegen die Schwächen <strong>der</strong> beiden (bei Sobchack s<strong>in</strong>d es gravierende, beiCarroll s<strong>in</strong>d es kle<strong>in</strong>ere) genau <strong>in</strong> den Bereichen, die man prima facie zu ihren Stärkengezählt hätte: Die Phänomenologie Sobchacks hat <strong>Problem</strong>e, dem Phänomen Film gerechtzu werden, und Carrolls Ontologie vermag ausgerechnet bei <strong>der</strong> Wahl <strong>des</strong>Def<strong>in</strong>itionsverfahrens nicht zu überzeugen. Positiv festhalten lässt sich, dass e<strong>in</strong>esubstanzielle philosophische Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit bewegten Bil<strong>der</strong>n (im weitesten, alsodie talkies e<strong>in</strong>schließenden S<strong>in</strong>ne) den Bereich <strong>des</strong> re<strong>in</strong> Optischen weit überschreiten muss.Dabei geht es weniger darum, dass zu dem Gesehenen parallele taktile Qualitäten –10 Dass im ästhetischen Kontext die Angabe von notwendigen (und gegebenenfalls auch h<strong>in</strong>reichenden)Bed<strong>in</strong>gungen nicht alternativlos ist und dass vielmehr e<strong>in</strong>e Pluralität von Def<strong>in</strong>itionsverfahren besteht, dieunterschiedliche Zwecke erfüllen, zeigt grundsätzlich STRUBE(1993: 29-39).IMAGE I Ausgabe 17 I 1/2013 120


DIMITRI LIEBSCH: WAHRNEHMUNG, MOTORIK, AFFEKT. ZUM PROBLEM DES KÖRPERS IN DER PHÄNOMENOLOGISCHEN UNDANALYTISCHEN FILMPHILOSOPHIE.wohlmöglich imag<strong>in</strong>ativ – ›h<strong>in</strong>zugefühlt‹ werden können. Entscheidend ist vielmehr, erstensdie <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Wahrnehmung</strong> tatsächlich mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> und mit <strong>der</strong> <strong>Motorik</strong> <strong>in</strong>teragierenden S<strong>in</strong>nezu berücksichtigen und zweitens zu verfolgen, wie das Mosaik <strong>der</strong> vom bewegten Bilddargebotenen Modalitäten (auch <strong>in</strong> zeitlicher H<strong>in</strong>sicht) zusammengesetzt ist. Da es sich beidiesen Bil<strong>der</strong>n um bewegte handelt und sie daher auf vielfältige Weise und beson<strong>der</strong>skörperlich wirken können, ist schließlich und drittens nicht zu vergessen, dass »motionpictures« auch »e-motion pictures« s<strong>in</strong>d (CARROLL 2008: 147).IMAGE I Ausgabe 17 I 1/2013 121


DIMITRI LIEBSCH: WAHRNEHMUNG, MOTORIK, AFFEKT. ZUM PROBLEM DES KÖRPERS IN DER PHÄNOMENOLOGISCHEN UNDANALYTISCHEN FILMPHILOSOPHIE.LiteraturBAUDRY, J.-L.: Ideologische Effekte erzeugt vom Basisapparat (1970). In: Eikon.Internationale Zeitschrift für Photographie und Medienkunst 5 (1993), S. 36-43.BILLIG, M.: Lacan’s Misuse of Psychology. Evidence, Rhetoric and the Mirror Stage. In:Theory, Culture, and Society 23/4 (2006,) S. 1-26.CARROLL, N.: Comedy Incarnate. Buster Keaton, Physical Humour, and Bodily Cop<strong>in</strong>g (1976).Malden (MA), Oxford [Blackwell] 2009.CARROLL, N.: Mystify<strong>in</strong>g Movies. Fads and Fallacies <strong>in</strong> Contemporary Film Theory.New York,Oxford [Columbia University Press] 1988.CARROLL, N.: Auf dem Weg zu e<strong>in</strong>er Ontologie <strong>des</strong> bewegten Bil<strong>des</strong> (1995). In: LIEBSCH2010a, S. 155-175.CARROLL, N.: Prospects for Film Theory. A Personal Assessment. In: Bordwell, D./Carroll, N.(Hrsg.): Post-Theory. Reconstruct<strong>in</strong>g Film-Studies. Madison (WI) [University of Wiscons<strong>in</strong>Press] 1996a, S. 37-68.CARROLL, N.: Theoriz<strong>in</strong>g the Mov<strong>in</strong>g Image. Madison (WI) [University of Wiscons<strong>in</strong> Press]1996b.CARROLL, N.: The Philosophy of Motion Pictures (2008). Malden (MA), Oxford [Blackwell]2 2009.CASEBIER, A.: Film and Phenomenology, Cambridge, New York [Cambridge University Press]1991.CAVELL, S.: The World Viewed. Reflections on the Ontology of Film, enlarged Edition.Cambridge (MA), London [Harvard University Press] 1979.DIOGENESLAERTIUS: Leben und Me<strong>in</strong>ungen berühmter Philosophen. Buch I-VI. Hamburg[Me<strong>in</strong>er] 2008.HERDER, J. G.: Kritische Wäl<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Betrachtungen über die Wissenschaft und Kunst <strong>des</strong>Schönen. Viertes Wäldchen über Riedels Theorie <strong>der</strong> schönen Künste (1769). In: <strong>der</strong>s.:Werke Bd. 2. Frankfurt am Ma<strong>in</strong> [Deutscher Klassiker Verlag] 1985, S. 247-442.HOLENSTEIN, E.: Sprachliche Universalien. E<strong>in</strong>e Untersuchung zur Natur <strong>des</strong> menschlichenGeistes. Bochum [Brockmeyer] 1985.INGARDEN, R.: Der Film (1947). In: LIEBSCH 2010a, S. 49-69.LACAN, J.: Das Spiegelstadium als Bildner <strong>der</strong> Ichfunktion wie sie uns <strong>in</strong> <strong>der</strong>psychoanalytischen Erfahrung ersche<strong>in</strong>t (1953). In: <strong>der</strong>s.: Schriften. Bd. 1, Olten, Freiburgim Breisgau [Walter] 1973, S. 61-70.LIEBSCH, D. (Hrsg.): Philosophie <strong>des</strong> Films. Grundlagentexte, dritte, aktualisierte Auflage.Pa<strong>der</strong>born [mentis] 2010a.IMAGE I Ausgabe 17 I 1/2013 122


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