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M 20 4.5.4 Expertengruppe C: Gruppenprozesse, Vorurteile und ...

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4.5 Wie uns Gruppen verändern2573. In welchen Konflikt werden die Versuchspersonen jeweils gebracht? Welche Rolle spieltder Gruppendruck für die geschilderten Abläufe? Benennen Sie hierzu di¤erenziert dieGemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede zwischen den beiden Experimenten.4. Formulieren Sie auch mit eigenen Worten: Was macht es so schwer, eine Meinungsäußerung,die Formulierung eines Tatbestandes, einer Sinneswahrnehmung aufrechtzuerhalten,wenn die Gruppe/bestimmte Gruppenmitglieder in der Ö¤entlichkeit eine anderePosition bezieht/beziehen.5. Stellen Sie Vermutungen über den Persönlichkeitstypus an, der am ehesten dem „Gruppendruck“widerstehen kann. Was würde Ihrer Meinung nach passieren, wenn einer dersechs Vergleichspersonen die richtige Wahrnehmung äußern würde?6. Vergleichen Sie Ihre Ergebnisse mit der folgenden Auswertung des Experiments in M <strong>20</strong>.7. Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus diesen Experimenten ziehen? Was besagenSie z. B. für den Zusammenhang von Realitätswahrnehmung, die Entstehung von sozialenNormen <strong>und</strong> Gruppenprozess? Beziehen Sie in Ihre Überlegungen mögliche Kritikpunktean diesen Experimenten <strong>und</strong> an Ihrer Versuchsanordnung ein (siehe hierzu auch die Methodenseite265 f.).Und danach? Versuchspersonen äußern sichNach dem Experiment wurden die naiven Versuchspersoneninterviewt, wobei sich herausstellte,dass Personen, die mindestens in derHälfte aller Beurteilungen nachgegeben hatten,nicht gemerkt hatten, wie sie im Experimentgetäuscht worden waren. Allerdings warden meisten bewusst, dass ihre Wahrnehmungenvon denen der Mehrheit abwichen, aber sieschlossen daraus, dass die Mehrheit wohl Rechthätte. Einige der Versuchspersonen, die sich inihrem Urteil der Mehrheit anschlossen, bemerktennicht, wie ihre Wahrnehmungen von510denen der Mehrheit abwichen, sondern sie sahennur das, was die Mehrheit auch berichtete.Eine kleine Gruppe von nachgebenden Versuchspersonenmerkte allerdings, dass sie etwasanderes als die Mehrheit sahen, hatten dasGefühl, die Mehrheit irre sich in ihrem Urteil,aber sie entschieden sich dafür, mit der Majoritätzu urteilen, um nicht anders als die anderenzu denken.H. C. Lindgren: Einführung in die Sozialpsychologie.Weinheim <strong>und</strong> Basel, 1973, S. 13915<strong>20</strong>M <strong>20</strong><strong>4.5.4</strong> <strong>Expertengruppe</strong> C: <strong>Gruppenprozesse</strong>, <strong>Vorurteile</strong> <strong>und</strong> AggressionenDer Zusammenhang von <strong>Vorurteile</strong>n <strong>und</strong> Gruppenzugehörigkeit ist häufig untersuchtworden. Zu den bekanntesten <strong>und</strong> auch heute noch oft erwähnten Untersuchungengehört die Versuchsreihe, die der türkisch-amerikanische Psychologe Mustafer Sherif zuBeginn der 50er Jahre durchführte.Arbeitsaufträge1. Lesen Sie zunächst die Versuchsbeschreibung M 21. Versuchen Sie das Ergebnis(siehe Zeile 97) zu erraten.2. Überlegen Sie gemeinsam, durch welche Maßnahmen der geschilderte Prozesswieder rückgängig gemacht werden könnte. Notieren Sie Ihre Vorschläge, <strong>und</strong> lesen Sieanschließend den zweiten Teil des Experiments (M 22).


258 4. Der Mensch – ein Gruppenwesen?M 21Die Ferienlager Sherifs – Teil I<strong>20</strong>253035404550Dass man auch in sehr erfolgreicher Weise mitden Spielen Jugendlicher, etwa 12-jähriger Jungen,experimentieren kann, hat niemandhübscher demonstriert alsder schon im Zusammenhang mitdem autokinetischen E¤ekt erwähnteM. Sherif. In den Jahren1949, 1953 <strong>und</strong> 1954 veranstaltete erSommerlager mit ungefähr zweiDutzend Teilnehmern, psychischnormalen Jungen, die einander vorhernicht gekannt hatten, <strong>und</strong> dieaus ähnlichen häuslichen Verhältnissenstammten. Zwei Studentenfungierten als Beobachter, die sichan den Unternehmungen der Burschenlebhaft beteiligten, ohne sich dabei aberin die Rolle von Gruppenführern manövrierenzu lassen. Der Versuchsleiter selbst trat als Verwalterdes in den Bergen gelegenen Geländesauf, in dem die Lager abgehalten wurden. Er gabsich dabei als ein etwas einfältiger Brummbär,dem niemand seine ‚naiven Fragen‘ (z. B. danach,welcher Gruppe ein bestimmter Jungeangehöre) übelnehmen konnte.Die drei Versuchsreihen Sherifs folgendemselben vierphasigen Schema, wobei jedesStadium etwa drei bis vier Tage dauerte. Im erstenStadium hatten die Jungen Gelegenheit,einander näher kennenzulernen <strong>und</strong> sich spontanzu Fre<strong>und</strong>schaftsgruppen zusammenzuschließen.Sehr stark entgegen ihren anfänglichenSympathien erfolgte im zweiten Stadiumdie Aufteilung in zwei Untergruppen, die – mitje 12 Mitgliedern – getrennt voneinander hausten<strong>und</strong> sich bestätigten. Die Bildung dieserbeiden Gruppen erfolgte aufgr<strong>und</strong> einer soziometrischenBefragung, <strong>und</strong> zwar so, dass in dieneu zu bildenden Gruppen jeweils vorwiegendLagerteilnehmer kamen, die sich in der erstenPhase nicht besonders eng aneinander angeschlossenhatten. Durch dieses von den Jungenselbst als unbillig empf<strong>und</strong>ene Arrangementwird der Einfluss von Faktoren verringert, diebei freier Partnerwahl zu Sympathiebindungenführen. Dies war notwendig, um die bindungsstiftendeWirksamkeit des Gruppenkontaktsmöglichst rein zur Geltung zu bringen. Tatsächlichkam es in den künstlich zusammengestelltenGruppen innerhalb weniger Tage zu einemsehr intensiven Zusammenschluss. DieGruppen entwickelten – jede für sich – ein echtesWir-Erlebnis, so dass schon nach kürzesterZeit niemand mehr den ursprünglichen zerrissenenFre<strong>und</strong>schaftsbanden nachtrauerte.Die dritte Phase des Experiments entwickeltesich aus der zweiten nahezu von selbst.Mit einem Mal tauchte nämlich bei jeder derbeiden Gruppen, die sich inzwischen u. a. aucheigene Namen beigelegt hatten –, Bulldogs‘<strong>und</strong> ‚Red Devils‘ im Lager des Jahres 1949 –, dieFrage nach dem Leben der anderen Gruppe auf.Diese mag sich etwa in der folgenden Überlegunggeäußert haben: ‚Wir haben uns alles sonett eingerichtet, wir sind außerdem auch alletüchtige Sportler, bei den anderen – da drüben– klappt es sicher nicht so gut, die können sichmit uns überhaupt nicht messen!‘ Empfindungendieser Art sind es, um die es im Gr<strong>und</strong>edem Versuchsleiter ging; in ihnen scheidet sichdie Binnen-Gruppe von der Außengruppe bzw.wie ich sagen möchte, die ‚Wir-Gruppe‘ von der‚Die-Gruppe‘. Natürlich wurde den beidenGruppen nun auch Gelegenheit dazu gegeben,sich aneinander zu messen. Es kam also zusportlichen Wettkämpfen (Tauziehen) <strong>und</strong> zugemeinsamen Ausflügen – es kam freilich auchzum Ausbruch eines erheblichen Maßes angruppenspezifischer Aggressivität. Das Tauziehenmündete in eine Rauferei, man beschuldigteeinander der Unehrlichkeit, Schimpfnamenflogen hinüber <strong>und</strong> herüber, Überfälle aufdie feindliche Unterkunft ereigneten sich, mitFallobst wurden Schlachten ausgetragen, <strong>und</strong>schließlich wurde sogar die Fahne der gegnerischenDie-Gruppe einmal feierlich verbrannt.In einer Kampfpause sammelten die Beobachterauf jeder der beiden Seiten die Urteileüber die Wir-Gruppe <strong>und</strong> die Die-Gruppe. Vorgelegtwurde eine Reihe von sechs Adjektiven(mutig, ausdauernd, ordentlich, hinterlistig,spielverderberisch, unsauber), die jeweils hinsichtlichihrer Gültigkeit für die entsprechendeGruppe zu bestimmen waren. Dazu standenfünf Kategorien in Gestalt der Sätze zur Verfügung:‚Alle X-Leute sind ...‘ ,Einzelne X-Leutesind ...‘ bis zu ‚Keiner von den X-Leuten ist ...‘.Das Ergebnis lässt sich leicht erraten.P.R. Hofstätter: Gruppendynamik. Reinbek bei Hamburg,1957, neu durchgesehene Auflage, 1971, S. 108–111 (gekürzt)556065707580859095


4.5 Wie uns Gruppen verändern259Die Ferienlager Sherifs – Teil IIDie jeweilige Wir-Gruppe belegte sich selbstvorwiegend mit günstigen Attributen, die rivalisierendeDie-Gruppe hingegen mit ungünstigen.[Die Abbildung unten] zeigt auf der Ordinatedie Prozentsätze, mit denen die Urteileüber die jeweils eigene Gruppe (A = Autostereotyp)bzw. über die Fremdgruppe (H = Heterostereotyp)auf die fünf Kategorien der Einstellung(Abszisse: 1 = extrem unfre<strong>und</strong>lich, 5 =extrem fre<strong>und</strong>lich) entfielen. Die von Sherifu. a. (1961) im Experiment des Jahres 1954 fürdie beiden Gruppen getrennt erhobenen Prozentsätzehabe ich dabei gemittelt, weil sie sichnur unwesentlich voneinander unterschieden.Das Selbstbild (A) ist in der Rivalitätsphaseüberaus positiv; es ließe sich in die Aussageübertragen: ‚wir sind alle mutig, ausdauernd<strong>und</strong> kameradschaftlich‘. Das Bild der Gegengruppe(H) enthält erheblich mehr negative alsfre<strong>und</strong>liche Züge. Der mittlere Unterschied (D)zwischen den beiden Stereotypen beläuft sichauf 38,5 Prozent.Im vierten <strong>und</strong> letzten Stadium des Experimentsging es um die Belegung der Gruppenfehden,d. h. um die Rückgliederung derbeiden Kleingruppen in eine gemeinsame51015<strong>20</strong>25Großgruppe. Mutatis mutandis* findet sichwohl das Abendland heute genau an dieserStelle. Als wirksam erwiesen sich vier Situationen:a) Der ‚gemeinsame Gegner‘, d. h. ein sportlicherWettkampf der Lagerteilnehmer mit einerMannschaft aus dem benachbartenStädtchen;b) die ‚gemeinsame Not‘, d. h. das angeblicheVersagen der Wasserzufuhr zum Lager, daseine mühsame Unternehmung in den Bergennotwendig machte;c) der ‚gemeinsame Vorteil‘, d. h. die Entlehnungeines Spielfilms, für welche die Ersparnissebeider Gruppen herangezogenwerden mussten;d) die ‚gemeinsame Freude‘, d. h. ein besondersviele Vorbereitungen erfordernderAusflug in ein entlegenes <strong>und</strong> sehr reizvollesNaturschutzgebiet.Tatsächlich verschwanden im Zuge dieser Erlebnissedie Animositäten zwischen den beidenGruppen. Eine abermalige Befragung mithilfedes bereits geschilderten Verfahrens ergabauch keinen Unterschied mehr in der Bewertungzwischen Wir-Gruppen <strong>und</strong> Die-Grup-3035404550M 22%80Rivalitäts-PhaseA%80Integrations-Phase6060A4040H<strong>20</strong>H<strong>20</strong>1 2 3 4 5(–) (+)1 2 3 4 5(–) (+)D=∑d 25A10A38 1032 <strong>20</strong>H 24 HA = Selbstbilder von GruppenH = Fremdbilder von Gruppen


260 4. Der Mensch – ein Gruppenwesen?556065pen; bei beiden überwogen nunmehr die positivenPrädikate (siehe Abbildung S. 259).Während die Autostereotype sich von der Rivalitätsphasezur Integrationsphase nur geringfügigverändert hatten (D = 9,9 %), verschobensich die Teterostereotype sehr stark (D =23,7 %); sie näherten sich damit den Autostereotypenan (D = 10,0 %). In verallgemeinernderAusdrucksweise könnte das bedeuten:Indem man den einstigen Rivalen als Partnerakzeptiert, verzichtet man ein wenig auf denGlanz des Bildes, das man sich von sich selbstmacht; ein Mehrfaches von dem aber, was manaufgibt, kommt dem Bilde des anderen zugute.Es liegt wohl nicht allzufern, hier an die christlicheMaxime des ‚Diliges proximum tuum, sicutte ipsum*‘ (Matth. 22, 39) zu denken, die zueiner Verringerung des Abstandes zwischenSelbstbild <strong>und</strong> Fremdbild auffordert, nicht aber– im Sinne einer falschen Übersetzung – dazu,dass man den Nächsten wie sich selbst ‚lieben‘solle.Historisch gesehen zielte die Maxime übrigensauf die Verfestigung der Kohäsion* einerMinoritätsgruppe ab; sie bezog sich auf derenBinnenkontakt <strong>und</strong> so gut wie gar nicht auf denAußenkontakt, etwa zu den ‚Pharisäern‘, derenBild das Neue Testament mit allen nur erdenklichennegativen Zügen ausstattet.P. R. Hofstätter: Gruppendynamik. Reinbek bei Hamburg,1957, neu durchgesehene Auflage, 1971, S. 109 ƒ.707580Arbeitsaufträge1. Formulieren Sie mit eigenen Worten den jeweiligen Ablauf in den vier Phasen desSherif-Experiments. Zeigen Sie auf, von welchen Annahmen die Sozialwissenschaftlerjeweils ausgehen bzw. was sie jeweils zu untersuchen beabsichtigen. Markieren Sie dabeideutlich die Unterschiede zwischen in den jeweiligen Phasen hergestellten „Situationen“.Was wollte Sherif gerade mit der „Phase IV“ bewirken/erforschen?2. Erklären Sie mithilfe der Methodenseite (Seite 265) die methodischen Gr<strong>und</strong>lagen desExperiments:•Um welchen Experimenttypus handelt es sich? Welches sind jeweils die Hypothesen,die UV <strong>und</strong> die AV? Welche Störfaktoren sollten, welche konnten ausgeschaltet werden?3. Welche Aussagekraft – für die Ausgangsfrage – haben für Sie• „das Bohnenspiel“• „die Wettkampfspiele“.Schätzen Sie insbesondere deren Stellenwert im Experiment ein.4. Fassen Sie abschließend die wesentlichen Auskünfte des Experiments mit eigenen Wortenzusammen. Klären Sie dabei:• Inwieweit können die im Spiel entstandenen Urteile als <strong>Vorurteile</strong> (Stereotype*) bezeichnetwerden.• Wie hängt die entstehende Aggressivität mit diesen <strong>Vorurteile</strong>n zusammen?• Welche Funktion haben diese Mechanismen für das Bewusstsein der Gruppenmitglieder?5. Diskutieren Sie die Übertragbarkeit der experimentellen Ergebnisse auf unseren Alltag(z. B. Schule, Wohngebiet <strong>und</strong> Gleichaltrigengruppe). Ziehen Sie Schlußfolgerungen ausdem Experiment für die Möglichkeit gruppenspezifische <strong>Vorurteile</strong> abzubauen.4.4.5 <strong>Expertengruppe</strong> D: Gruppenstruktur, Gruppenführung <strong>und</strong> AutoritätArbeitsaufträge1. Erläutern Sie anhand der hier abgebildeten Kooperationsmodelle M 23:• Wie wird in diesen verschiedenen Modellen die Macht verteilt? Wer kann mit wemKontakt aufnehmen? Welche Rolle spielen wohl Führung, Kontrolle <strong>und</strong> Zwang dabei?• Wer trägt jeweils die Verantwortung für Entscheidungen?


262 4. Der Mensch – ein Gruppenwesen?Das Milgram-ExperimentDie Wirkung von irrationaler Autorität ist Gegenstand zahlreicher sozialpsychologischerUntersuchungen. Zu den bekanntesten gehört das Experiment, das der amerikanischePsychologe Milgram 1961 durchführte. Das Experiment wurde 1970 im Max-Planck-Institutin München mit ganz ähnlichen Ergebnissen wiederholt.M 25aAutorität <strong>und</strong> Gehorsam im ExperimentEs ging um Gehorsam. Die Testreihe wurde am10. März 1970 erö¤net. Die Versuchsperson,ein älterer Mann, hatte die ausgetretenen Holztreppendes Hauses im Norden Münchens bezwungen.Er war mittelgroß, ein Beamter wohl,kurz vor oder nach seiner Pensionierung; eindurch <strong>und</strong> durch unverbindlicher Mensch. (...)Ein Weißbekittelter ö¤nete <strong>und</strong> stellte sichals Herr K. vor, begrüßte den Besucher herzlichim Max-Planck-Institut, überreichte ihm25 Mark als Anerkennungsgebühr <strong>und</strong> führteihn in ein klinisch kahles Zimmer, in demschon ein junger Student wartete, „Versuchsperson“wie der alte Mann.Herr K. hielt eine kleine Rede – sie war einstudiertwie jede seiner Bewegungen, jeder seinerSätze in dieser Testreihe: „Meine Herren,unser Experiment soll den E¤ekt von Bestrafungauf den Lernprozess herausarbeiten. Wirwissen nämlich sehr wenig über dieses Problem.Bei seiner Lösung sollen Sie uns helfen.Einer von Ihnen soll Lehrer, einer soll Schülersein.“Über die Rollenverteilung entschied eine(vorgetäuschte) Auslosung. Der alte Mannwurde „Lehrer“. Die drei Personen gingen indas angrenzende Zimmer.51015<strong>20</strong>25Zuerst fielen dem alten Mann die kleinen,weißen Mäuse auf, die in einem Käfig in derEcke des etwa 25 Quadratmeter großen Zimmersherumturnten. Dann wanderte sein Blicküber eine Fernsehkamera, über zahllose elektrischeKabel, die alle in einem länglichen,schwarzweißen Metallkasten endeten, der aufeinem Tisch in der Mitte des Raumes stand.Aus der Stirnwand des Kastens ragtendreißig helle, rechteckige Druckschalter, überihnen blinkten Lämpchen.Dann sah der Mann durch eine o¤en stehendeTür den elektrischen Stuhl. Zweifellos,es war ein elektrischer Stuhl. Zu den Armlehnenführten Kabel, einige Riemen hingenlocker herab, irgendetwas blitzte metallischauf. Das Gerät wirkte bösartig.Herr K. ging in das Nebenzimmer, die beidenanderen folgten. Mit einer einladenden Gestebat der Versuchsleiter den jungen „Schüler“,auf dem Stuhl Platz zu nehmen: „Wirmüssen jetzt ihre Arme festschnallen. Sie werdensich nicht bewegen können.“In seiner linken Hand hielt Herr K. plötzlicheine Pastentube, schmierte etwas von ihrem Inhaltauf den Arm des „Schülers“: „Damit keineBrandblasen entstehen. Die Paste erleichtertden Stromfluss durch Ihren Körper.“Zwei Elektroden wurden am bewegungsunfähigenlinken Arm des Schülers befestigt. Deralte Mann half lächelnd, <strong>und</strong> Herr K. sagte:„Der ,Lehrer‘ wird Ihnen über Mikrophon vomZimmer nebenan ca. sechs<strong>und</strong>zwanzig Wortpaarevorlesen, etwa so: Tag-Blau, Nacht-Wald,Mutter-Liebe, Wasser-Seemann <strong>und</strong> so weiter.Dann wird er das Wort ,Tag‘ wiederholen <strong>und</strong>vier weitere Worte dazu. Sie müssen sich an dasrichtige zugehörige Wort erinnern. Kommt dasWort Blau an vierter Stelle, dann drücken Siemit ihrem Finger Knopf Nummer 4 dieser Antwortboxhier. In einer ähnlichen Box leuchtetdann Ihre Antwort im Zimmer des ,Lehrers‘auf.“Die Stimme des Experimentators erinnerteden „Schüler“ an die eines routinierten Schmierenkomödianten:„Sollten Sie einen Fehler ma-303540455055606570


4.5 Wie uns Gruppen verändern2637580859095100105110chen, erhalten Sie einen Elektroschock als Bestrafung.“Testleiter <strong>und</strong> Lehrer verließen den Schüler,gingen zurück in den Raum, in dem der Metallkastenstand: ein Elektroschockgenerator.Der alte Mann erhielt einen Probeschock von45 Volt, um die Stärke der Bestrafungen kennenzu lernen. Dann gab Herr K. dem Lehrer dieListe mit den Wortpaaren: „Sprechen Sie beiIhrer Befragung in dieses Mikrophon hier. KontrollierenSie die Antwort des Schülers in derkleinen Antwortbox. Leuchtet das falsche Nummernschildauf, sagen Sie ,falsch‘, drückendann den ersten Hebel am Schockgenerator<strong>und</strong> sagen dem Schüler, mit welcher Volthöheer bestraft wurde. Lesen Sie die richtige Antwortvor, <strong>und</strong> gehen Sie zur nächsten Frageüber. Die Bestrafung beginnt bei 15 Volt <strong>und</strong>endet bei 450 Volt.“Der alte Mann betrachtete aufmerksam denschwarzen Kasten. Über den Schaltern standdie Volthöhe. Unter ihnen las er Signaturen derSchockstärken: Von „leicht“ zu „sehr stark“,„äußerst stark“ <strong>und</strong> „gefährlich.“ Bei 450 Voltmarkierten ominöse „xxx“ die Wirkung desStromschlags.Dieser alte Mann drückte nun im Verlaufdes Tests alle Schalter. Schmerzensschreie ausdem Nebenzimmer bei 75 Volt rührten ihnnicht; als der Schüler bei 150 Volt aus dem Experimententlassen werden wollte, sagte HerrK.: „Machen Sie weiter.“ Bei 180 Volt hörte deralte Mann aus dem Nebenzimmer Jammernum Gnade <strong>und</strong> Erbarmen. Bei 300 Volt verweigerteder Schüler jede weitere Antwort. „Ichmache nicht mehr mit! Lasst mich raus. Ichweigere mich. Schluss!“ Dann hörte mannichts mehr. Der alte Mann fragte, bekam keineAntworten, drückte die Schalter erbarmungslos,kalt-herzig, maschinell: „Der sagt ja nichtsmehr. Jetzt mag er nicht mehr.“ Der Versuchwar beendet. (...)Was die Getesteten nicht wussten, war dies:Der „Schüler“ war in das Experiment eingeweiht;die Auslosung war gefälscht; die grauenhaftenSchreie stammten von einem Tonbandgerät,das sich automatisch ein- <strong>und</strong>ausschaltete.Die Versuchsreihe, die sechs Wochen dauerte<strong>und</strong> in Gemeinschaftsarbeit zwischen demMax-Planck-Institut <strong>und</strong> dem BayerischenFernsehen produziert wurde, hatte ein Vorbild:Die Experimentreihe des amerikanischen PsychologenStanley Milgram. Er wollte 1960 herausfinden,warum die Deutschen zwischen1933 <strong>und</strong> 1945 so gehorsam waren. Gab es einentypisch deutschen Volkscharakter der Unterwürfigkeit?In den Städten New Haven <strong>und</strong>Bridgeport startete Milgram seine Vorversuche.Er kam nie nach Deutschland. Denn bis zu66 Prozent seiner Versuchspersonen drücktenalle Hebel. Stanley Milgram reichte das: „Mitbestürzender Regelmäßigkeit haben sich in unseremExperiment ‚gute Leute‘ den Forderungeneiner Autorität gebeugt <strong>und</strong> haben böseDinge getan.“„In Deutschland“, so hatten Experten desMax-Planck-lnstituts prophezeit, „werden eshöchstens <strong>20</strong> Prozent sein. Wir sind demokratischergeworden.“ Die Prognose war ein Irrtum.Michael Naumann: Das Opfer schrieb mit.In: ZEITmagazin, 2. Oktober 1970. S. 30f.1151<strong>20</strong>125130135140Autorität <strong>und</strong> Gehorsam im ExperimentM 25b51015Das Ergebnis dieses Versuchs ist deprimierend<strong>und</strong> erschreckend zugleich: Von 100 Personen,die aufgr<strong>und</strong> einer Zufallsstichprobe (Randomverfahren)ausgewählt, an diesem Experimentteilnahmen, (nicht alle konnten in diesem Filmgezeigt werden) gingen beim Gr<strong>und</strong>versuch85 % bis zur schwersten Strafe, d. h. sie drücktendie Taste, von der sie annehmen mussten,dass dem Schüler dadurch ein Stromstoß von450 Volt verabreicht wurde. Zwar protestiertenviele, aber nur 15 % verweigerten die Bestrafung.(Bei der in Bezug auf Alter, Geschlecht,Einkommen, Ausbildung etc. fast identischenGruppe in den USA betrug die totale Gehorsamsrate65 %). Nur 8 % zweifelten an der Echtheitder Inszenierung. Auch nachdem demLehrer die Möglichkeit einer Verweigerung(2. Versuchsbedingung) vorgeführt wordenwar, waren immer noch 52 % bereit, weiterzumachen<strong>und</strong> zu strafen, nur 48 % verweigerten.98 % aller Versuchspersonen waren der Ansicht,bei diesem Versuch würde tatsächlich einMensch gequält. 15 % gaben nachher bei derAufklärung an: „Das Opfer hätte tot sein können“,als die Schreie bei den immer stärkerwerdenden Stromstößen schließlich ganz verstummten.40 % glaubten, dass es starkeSchmerzen gehabt hätte. 5 % waren der Ansicht,dem „Schüler“ sei nichts passiert.Begleitmaterial zum Film: Abraham – Ein Versuch. Hrsg.v. d. B<strong>und</strong>eszentrale für politische Bildung. Bonn, S. 4<strong>20</strong>25


264 4. Der Mensch – ein Gruppenwesen?Arbeitsaufträge1. Worum ging es nach den Aussagen des Experimentators in diesem Experiment <strong>und</strong> wasist der eigentliche Sinn des Experiments?2. Beschreiben Sie den Aufbau <strong>und</strong> die Durchführung des Experiments <strong>und</strong> berücksichtigenSie hierzu auch die Methodenseite (Seite 265 f.).3. Warum gelingt es dem Versuchsleiter die Versuchspersonen so leicht in die gewünschteRichtung zu beeinflussen?4. Diskutieren Sie mögliche Konsequenzen aus den Versuchsergebnissen für das Thema„Gruppenstruktur, Gruppenführung <strong>und</strong> Autorität“. Bearbeiten Sie in diesem Zusammenhangauch die Aufgabe 5.5. Erläutern Sie die drei Positionen zu der in der Überschrift (M 26) gestellten Frage <strong>und</strong>nehmen Sie selbst dazu Stellung.M 26Das Experiment <strong>und</strong> die Moral: Darf man den Menschen in Versuchung führen?Das Experiment in München (M 25 a/b) gingauf Versuche des amerikanischen PsychologenStanley Milgram zurück. Es wurde am 1.10.1970vom Bayerischen Fernsehen ausgestrahlt. ImAnschluss an die Sendung fand unter der Leitungvon Dr. Lechleitner eine Aussprache statt,die hier auszugsweise wiedergegeben wlrd:51015<strong>20</strong>2530Frau Dr. Mitscherlich: „Ich würde meinen,es (das Experiment) ist nicht berechtigt, dennSie machen genau dasselbe mit diesen Personen,was man macht, wenn man den Menscheneben zum Objekt macht. Sie haben ihn zumObiekt gemacht. Und es ist die Frage, ob es inder Humanwissenschaft notwendig ist, denMenschen zum Objekt zu machen, oder ob esandere Methoden gibt, genau das auch zu erkennen,was Sie experimentell erkannt haben.“Diplompsychologe Mantell: „Sehr vieleMenschen haben Anstoß daran genommen,dass so ein Experiment überhaupt durchgeführtwurde <strong>und</strong> haben das vor allem unter moralischenGesichtspunkten gesehen. Milgramhat als Antwort darauf gegeben, dass die Versuchspersonenjederzeit hätten aufstehen <strong>und</strong>weggehen können, <strong>und</strong> dass ihre Beteiligungvöllig freiwillig war. Er war außerdem der Meinung,dass der Zwang, unter dem das Experimentdurchgeführt wurde, keineswegs als soeine Zwangssituation zu beschreiben wäre,dass der Mensch um seine Würde dadurch betrogenwürde.“Prof. Matussek: „Ich halte es doch für außerordentlichwichtig, dass man eine Eigenschaft,die fast in jedem von uns steckt – oder wir könnensagen: in allen von uns steckt –, sichtbarmachen kann. Und es wäre falsch, diese Eigenschaftnur darauf zu beschränken, dass einMensch den anderen quälen kann, sonderndass ein Mensch sich in einer Situation irgendeinerfunktionellen Autorität anpasst – ob eseine Stewardess in einem Flugzeug ist, ob es ein– sagen wir mal – Strandkorbwärter in Sylt istoder ob es ein Polizeibeamter ist oder ob es einBeamter hinter dem Schalter ist bei der Postoder bei der Bahn. Es gilt hier das Prinzip, dasDostojewski schon aufgezeigt hat, dass wir alle,ohne Ausnahme, danach tendieren, unsereFreiheit wegzuwerfen <strong>und</strong> die Verantwortungeinem anderen zu schenken. Das scheint mirdas Zentrale dieses Experiments zu sein, <strong>und</strong> esist gut, wenn das Experiment so deprimierendwirkt, weil es uns eine anthropologische Seitezeigen kann, dass wir mit unserer Freiheit imAllgemeinen wenig anfangen, dass wir im Allgemeinennicht die Situation kontrollieren,denn die Situation ist ja so, dass jeder hätte sagenkönnen: das ist ein Scheinexperiment, sonderndass wir gar nicht genau hinschauen.“Aus: Begleitmaterial zum Film: Abraham – ein Versuch.Hrsg. v. d. B<strong>und</strong>eszentrale für politische Bildung. Bonn,S. 53540455055

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