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Prof. Dr. Karl-Josef Kuschel - Vortrag

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Toleranzgipfel-Kongreß Stuttgart 7.11.2013Mission – Dialog – Toleranz?Herauforderungen an Judentum, Christentum und Islam<strong>Karl</strong>-<strong>Josef</strong> <strong>Kuschel</strong>Was vor Jahren noch undenkbar schien, ist gegenwärtig Realität. Auch in Deutschlandspielt sich in Teilbereichen eine neuer, doppelter Kulturkampf ab: ein Kampfzwischen religiösen und säkularen Lebensformen und innerhalb des religiösenSegments ein Kampf zwischen Reformern und Traditionalisten. Stichworte müssenhier genügen. <strong>Dr</strong>ei Szenarien vom Schauplatz Deutschland aus den letzten Jahren,damit beginne ich:Szene 1: Mitte der neunziger Jahre entbrennt eine heftiger Rechtsstreit darüber, obin deutschen, namentlich bayerischen Schulen Kreuze in Klassenzimmern hängenbleiben können, obwohl staatliche Schulen zur religiösen Neutralität verpflichtet unddie weltanschauliche Zusammensetzung der Schülerschaft längst nicht mehr homogenist. Ein erstes Signal in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, dass dasgewohnte religiöse Monopol christlicher Kirchen unter Beschuss und Rechtfertigungsdruckgeriet. Das Signal eines Kulturkampfs von Säkularen und Religiösen.Die Geister spalten sich: Was die einen für einen Niedergang des Abendlandes haltenund eine völlige Erosion kultureller Identität Deutschlands, begrüßen die Anderenals konsequente Fortsetzung der „Errungenschaften“ der Aufklärung und alseine längst überfällige Fortschreibung der europäischen Freiheitsgeschichte vonkirchlicher oder religiöser Bevormundung. Die 2010 aufgebrochenen Skandale umsexuelle Vergehen von Priestern an Kindern sowie um Gewaltausübung gegenüberder Kirche anvertrauten Jugendlichen geben den Säkularen weiteren Auftrieb. Dasgilt auch für die Debatte um die empörende Geldverschwendung eines gewissenBischofs aus Limburg. Was als Provinzskandal begonnen hatte, hat sich zu einerStrukturkrise der Katholischen Kirche in Deutschland ausgewachsen. Der Bischofglich einem Kind, das zunächst mit Streichhölzern spielt und plötzlich erleben muss,dass das ganze Haus in Flammen steht. Aus der säkularen Zivilgesellschaft kommenimmer bohrendere Fragen nach dem wirklichen, bisher teilweise öffentlich nieaufgedeckten „Vermögen“ der katholischen Kirche, ja nach dem ganzen staatskirchlichenSystem der Kirchenfinanzierung mit Hilfe der vom Staat für die Kirche erho-Toleranz-Rede Stuttg#8193F2.doc


2benen Kirchensteuern, begründet als Entschädigung für die Enteignungen kirchlichenBesitzes seit der Säkularisierung von 1803. 210 Jahre dauert das nun schon,aber kann das „auf ewig“ so weitergehen?Szene 2: 2012 bricht der Kulturkampf an einer anderen „Front“ aus. Ein Kölner Gerichthatte im Juli überraschend die Beschneidung eines kleinen Kindes, wie sie inJudentum und Islam praktiziert wird, als Körperverletzung verurteilt und für strafbarerklärt. Dieses Urteil wühlte für einige Monate die Gemüter auf, bis der Bundestagim Dezember 2012 durch eine klare und ausgewogene Gesetzgebung Rechtssicherheitschuf. Wieder brachen Fronten auf. Während der Bundestagsdebattedemonstrierten Beschneidungskritiker vor dem Brandenburger Tor unter dem Motto"Mein Körper gehört mir!", Abgeordnete waren bis zuletzt mit blutigen Operations-Videos bombardiert worden. Für Säkulare dagegen ist die Beschneidung ein archaischesRitual aus vormoderner Zeiten, ein Angriff auf das Menschenrecht auf körperlicheUnversehrtheit – alles unter Berufung auf Gottes Willen.Juden und Muslime dagegen fühlten sich in ihrer religiösen Identität geschmäht,sahen ihre Freiheit auf eine eigenständige Religionsausübung bedroht, ja sich ausDeutschland verdrängt. "Viele haben die Diskussion missbraucht, um in dieser Fragealtbekannten Antisemitismus zu transportieren", sagte beispielsweise der Präsidentdes Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, und fuhr fort:"Und zwar keineswegs nur für versteckten, sondern auch für offenen Antisemitismus,in einer Brutalität und Hässlichkeit, die mich sehr schockiert haben." Zudemsei auch in der "seriösen" Debatte einiges schief gelaufen: "Diese schroffen Belehrungen,diese besessene Bevormundung uns gegenüber, der Versuch gar, uns Judenals notorische Kinderquäler zu stigmatisieren – das alles hat uns sehr verletzt."Dabei räumte auch Graumann ein, dass auch die Religionsfreiheit Grenzen habe:"Aber die Debatte hat doch auch gezeigt, dass in der Gesellschaft ein gewisserMangel an Respekt vor Religion herrscht. Es gibt auch einen säkularen Fundamentalismus,der alles zu verurteilen versucht, was mit Glauben zu tun hat."Szene 3: Um Ostern 2012 gehen Meldungen und Berichte durch die Medien, dasssog. Salafisten begonnen hätten, in deutschen Innenstädten kostenlos und massenweiseKorane zu verteilen. Die Rede ist von 25 Millionen. Schnell wird bekannt,um wen es sich bei den „Salafisten“ handelt: um eine kleine Minderheit von islamistischenExtremisten, die einen archaisch anmutenden Islam predigen. In Deutsch-Toleranz-Rede Stuttg#8193F2.doc


3land schätzt man die Zahl der Anhänger auf ca. 4000. Der Ausdruck „Salafisten“oder „Salafismus“ leitet sich ab vom arabischen Wort „salafiyya“, was ungefähr soviel bedeutet wie Rückbesinnung auf die „Vorväter“ oder die „Altvorderen“. Konkretgemeint sind die Gefährten des Propheten Mohammed und die ersten beiden Generationenseiner Anhänger. In der Sache gemeint ist die Orientierung an einemangeblich noch reinen, unverfälschten Islam der Frühzeit, wie er auf der arabischenHalbinsel des 7. Jahrhundert entstanden war und gelebt wurde.Salafisten von heute wollen zu einem solch archaisch-vormodernen Islam zurück.Ihr dualistisch-spalterisches Weltbild lässt sie alle „Neuerungen“ verwerfen, die es inder Geschichte des Islam gegeben hat, insbesondere alle Anpassungen an die Moderne:Demokratie, Menschenrechte, Religionsfreiheit, Emanzipation der Geschlechter.Gegen diese Moderne befindet man sich im „Dschiad“, dem „heiligenKrieg“ gegen die Ungläubigen – innerhalb und außerhalb des Islam. Gegen sie propagiertman die Einführung und Anwendung einer radikal ausgelegten Rechtsordnung(„sharia“). Sicherheitsfachleute erkennen denn auch hier ein ernstzunehmendesGefahrenpotential für alle offenen westlichen Gesellschaften und weisen daraufhin, dass in vielen Fällen der Weg zum Terrorismus über den Salafismus geführthabe, der den ideologischen Nährboden für diese Art der Radikalisierung biete. Derbundesdeutsche Verfassungsschutz hat denn auch begonnen, diese Form einesarchaisch-totalitären Islam unter Beobachtung zu nehmen.Wieder prallen zwei Kulturen aufeinander – mitten in Deutschland: Religiöse Lebensentwürfemit eigenen normativen Überlieferungen, für ihre Anhänger in GottesHeiliger Schrift oder den verbindlichen Auslegungen der Tradition verbürgt. Manvollzieht Aus- und Abgrenzung, beansprucht die Freiheit, anders zu sein, anders zuleben, anders zu denken, anders zu glauben. Und dann die säkularen Lebensentwürfe,nicht weniger gespeist aus normativen Traditionen: denen des antiken Humanismus,der europäischen Aufklärung, der modernen Menschenrechtsbewegung,kurz: aus den Errungenschaften einer Freiheitsgeschichte, die sich aus den Zwängender institutionalisierten Religion als System von individueller und kollektiver Repressionzu emanzipieren wusste und heute allergisch reagiert auf Privilegien undSonderrechte für Religiöse, vor allem auf angeblich inhumane Praktiken in der Weltder Religionen.Toleranz-Rede Stuttg#8193F2.doc


4Schaut man sich um in Europa, sind die Signale eines Kulturkampfes ja nicht zuübersehen: In einem urdemokratischen, freiheitlichen Land wie der Schweiz wird esper Volksabstimmung Muslimen verboten, ihre Moscheen mit Minaretten auszustatten.In Österreich macht bei der letzten Europawahl die FPÖ Propaganda für sichmit einem schamlosen Antiislamismus: „Abendland in Christenhand“ lautet eine Parole;auf Plakaten werden Minarette so stilisiert, dass sie Raketen gleichen; eineFrauengestalt erscheint auf denselben Plakaten in ein tiefschwarze Ganzkörperburkagehüllt. Diese Signale zielen auf geschichtlich seit den Türkenkriegen vorhandeneUrängste von Europäern, vom Islam bedroht zu sein: entweder durch kriegerischeBedrohung von außen oder durch Unterwanderung von innen. In Holland nichtanders. Hier ist bei der vorletzten Reichtagswahl eine Partei die drittstärkste Kraftim Parlament geworden, deren Führer, Geert Wilders, u.a. mit dem Satz geworbenhat, der Koran müsse in Holland so verboten werden wie Adolf Hitlers „MeinKampf“.Latente oder offene Bedrohungsängste vor „dem“ Islam grassieren denn auch inEuropa. Nach dem neuesten „Religionsmonitor“ (2013) der Bertelsmann-Stiftunggibt es beispielsweise in Deutschland „eine grundsätzliche Offenheit gegenüberanderen Religionen“, die aber sei „gepaart mit großen Vorbehalten“ – so wörtlich –„gegenüber dem Islam“. Der Befund überrascht nicht, wenn das seit Jahren medialvermittelte Bild verfolgt. Die komplexe Welt von rd. 1 Milliarde Menschen im mittlerenGürtelbereich der Erde von Marokko im Westen bis Indonesien im Osten – überJahre wird sie nun schon auf Bilder von Fanatismus, Gewaltausübung, Terroranschlägenund Bereitschaft zum Märtyrertum reduziert. Dass es solche Phänomenegibt, ist unbestreitbar, die Reduktion westlicher Medien darauf ist verantwortungslos.Kein Wunder, deshalb, dass nach derselben Erhebung der Bertelsmann-Stiftung2013 „51 % aller Befragten“ in Deutschland den Islam „eher als Bedrohung“ ansähen.Auch international falle auf. „dass insbesondere der Islam als Bedrohungwahrgenommen“ werde: „Dies sagen 76 % der israelischen Befragten, 60 % derSpanier und 50 % der Schweizer sowie 42 % in den USA.“Unübersehbar ist heute ein sich verschärfender „Clash of cultures“, der in wechselseitigenFundamentalismus-Vorwürfen gipfelt: dem aggressiven Fundamentalismusder Religiösen stünde ein nicht weniger aggressiver Fundamentalismus derNichtreligiösen gegenüber. Nutzen die einen die in modernen Staaten garantierteReligionsfreiheit für das Ausleben und die öffentliche Selbstdarstellung ihrer Art vonReligion, fürchten die Anderen den Missbrauch dieser Freiheit für Selbstghettoisie-Toleranz-Rede Stuttg#8193F2.doc


6Was Lateinamerika angeht, haben Pfingstbewegungen und protestantischcharismatische„Sekten“ einen derartigen Massenzulauf, dass sie schon jetzt dasAntlitz eines Kontinents verändert haben, der über Jahrhunderte die Domäne derKatholischen Kirche war. In globaler Perspektive besteht somit kein Grund, an derVitalität der Religionen zu zweifeln, auch des Christentums nicht. Im Gegenteil: Vieleder am schnellsten wachsenden Nationen dieser Erde, Brasilien, Uganda, Philippinen,sind ganz oder stark vom Christentum geprägt.Dasselbe gilt für den Islam, der heute seine größten Zuwächse in asiatischen Staatenaufweist: in Indonesien, Pakistan und Bangladesch. Man schätzt, dass es imJahre 1900 weltweit etwa 200 Millionen Muslime auf der Welt gegeben hat, heutegeht man von ca. 1,5 Milliarden aus. Ein Wachstum um den Faktor sieben. Christentumund Islam sind die am stärksten weltweit verbreitesten und zugleich nochwachsenden Religionen. Für die Welt insgesamt und das Jahr 2050 wird geschätzt,dass rund ein Viertel der Weltbevölkerung (27,5 %) islamischen, 35 Prozent christlichenGlaubens sein wird. Nach diesen Prognosen also werden 2,5 Milliarden Muslimen3,1, Milliarden Christen gegenüber stehen. Und das in nur 2 Generationen.Daraus folgt:Zweitens: Eine Revision der Säkularisierungsbehauptung. Alle Prognosen vomgewissermaßen automatischen Absterben der Religion im Zuge einer Modernisierung,sprich: Technisierung, Industrialisierung, Urbanisierung und Bildung habensich nur partiell bewahrheitet. Was zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch plausibelzu sein schien, muss hundert Jahre später teils falsifiziert, teils differenziert werden.Solche Prognosen treffen nur für einen Teilbereich der Weltgesellschaft zu. NordundWesteuropa hat, was Religion angeht, global gesehen eine Sonderentwicklungdurchgemacht. Viele bei uns in Europa sind deshalb einer Fehleinschätzung erlegen.Man hat die eigene Sonderentwicklung auf die Weltgesellschaft hochgerechnetund dabei übersehen: In anderen Kontinenten dieser Erde spielt Religion für Hundertevon Millionen von Menschen eine nach wie vor prägende, motivierende RolleDas Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL hat schon 2009 diese neue globale Situationunter Berufung auf amerikanische Religionssoziologen (u.a. „God is Back“ vonJohn Micklethwait u. Adrian Wooldridge) zu beschreiben versucht. „Die Welt alsGanzes hat heute mehr Menschen mit traditionellen religiösen Überzeugungen alsje zuvor“, werden die US-Wissenschaftler Ronald Inglehart u. Pippa Norris zitiert,die sich ihrerseits auf den „World Values Survey“ berufen. Daraus wird in SPIEGEL-Stil gefolgert: „Die meisten Geschichtsphilosophen und Religionssoziologen seit derToleranz-Rede Stuttg#8193F2.doc


7Aufklärung lagen daneben. <strong>Karl</strong> Marx, Max Weber, Emile Durkheim, Friedrich Nietzsche,Sigmund Freud – sie alle haben Gott unterschätzt. Die Säkularisierung iststeckengeblieben, Christengott und Allah haben ihre Zukunft noch vor sich.“Legt man diese Erwicklung zugrunde,, stellt sich die Frage: Mit welcher Grundeinstellungbegegnen sich die religiösen Lager, Gruppen oder Bewegungen? Sehe ichrichtig, spiegelt sich die globale Entwicklung in drei Schlüsselbegriffen, die sichden jeweiligen Lagern zuordnen lassen. Die traditionalistischen Gläubigen stehenfür das Wort „Missíon“, die reformoffenen Gläubigen für „Dialog“, die Säkularen für„Toleranz“. Auf den ersten Blick scheinen das abgegrenzte Welten zu sein. Doch giltes hier genauer zuzusehen und die Dialektik aller drei Begriffe zu begreifen.(1) Zunächst zum Stichwort Mission. Das Wort „interreligiöser Dialog“ ist heute inaller Munde. Nicht nur liberale Kräfte benutzen es, sondern auch Politiker aller Couleur,Vertreter von Religionen, ja sogar Päpste, insbesondere die letzten beiden:Johannes Paul II und Benedikt XVI. Beide aber sind zugleich für ein lehramtlichesDokument unter dem Titel „Dominus Jesus“ (2001) verantwortlich und hier wird Klartextgeredet: Heilsexklusivität Jesu Christi! Heilsnotwendigkeit der Kirche! Missionsauftragder Kirche zur Bekehrung der nichtchristlichen Welt zu Christus. Nichtchristensind keineswegs in ihrer Glaubensentscheidung akzeptiert. Sie befinden sichvielmehr – so wörtlich– „objektiv in einer schwer defizitären Situation“ – und zwar„im Vergleich zu jenen, die in der Kirche die Fülle der Heilsmittel besitzen“.Also doch Mission! Nur dass man heute das modische Tarnwort „interreligiöser Dialog“benutzt und nicht offen von „Bekehrung“ und „Taufe“ redet! Benedikt XVI hatdenn auch 2008 (in einem Vorwort zu einem Buch des italienischen Philosophenund emeritierten Präsidenten des Senates der italienischen Republik Marcello Pera)unmissverständlich erklärt, dass ein interreligiöser Dialog „im engen Sinne“ nichtmöglich sei, „ohne den eigenen Glauben in Klammern zu setzen“. Unterstellt wirddamit einem interreligiösen Dialog, „die Wahrheit“ zur Disposition zu stellen und sozu einer „indifferenten Gleichmachung aller religiösen Überzeugungen und Bekenntnisse“beizutragen.Ähnliche Töne kommen aus dem zeitgenössischen Judentum und Islam. Fundamentalistenbestärken sich gegenseitig in ihrer Haltung schroffster Zurückweisung.Dialog sei sinnlos, gefährlich und überflüssig, hört man. Sinnlos, weil er am Judentumoder Islam ohnehin nichts ändern könne; Tora und Halacha stünden ein für alleMal genau so fest wie Koran, Sunna und Scharia. Gefährlich, weil ein „Dialog“ un-Toleranz-Rede Stuttg#8193F2.doc


8weigerlich zur Verwischung der Glaubensidentität führe, ja zur Erosion der Einzigartigkeitder Offenbarung Gottes am Berg Sinai oder im Koran. Und überflüssig, weiles im Verhältnis zu Andersgläubigen nicht auf theologische Debatten, sondern bestenfallsauf Zusammenarbeit in Fragen gesellschaftlicher Praxis ankomme. In derWelt des Islam kommt ein machtvoller und mit großen finanziellen Mittel geförderterMissionarismus hinzu, der von einer Bekehrung der Welt zum Islam träumt und dieWelt dualistisch aufteilt in Wahrheit und Lüge, Glaube und Unglauben, „Haus desFriedens“ und „Haus des Krieges“.In diesem Sinn wird vor allem von christlichen und muslimischen Institutionen heutzutageweltweit offensiv Mission getrieben. Das nicht zu sehen, wäre blauäugig undrealitätsfern. Es gibt ja auch spektakuläre „Missionserfolge“ – zum einen auf Seitendes Islam in Afrika, aber vor allem auf christlicher Seite durch Zeltprediger, Baptistenund wiedergeborene Evangelikale. Inzwischen gibt es mehr als 400 MillionenFreikirchler weltweit. „Es sind die christlichen Fundamentalisten, die gegenwärtig dieErfolgsgeschichte in Glaubensdingen schreiben. Ihre Prediger findet man in denBretterbuden lateinamerikanischer Slums und in den Stadien Afrikas ... Selbst inChina gibt es inzwischen mehr Christen als die 76 Millionen KP-Mitglieder, und diemeisten von ihnen sind unabhängige Protestanten.“ (SPIEGEL 52/2009, 108) Christentumund Islam ringen denn auch – global gesehen – um „Vorherrschaft“, kannman in der genannten SPIEGEL-Ausgabe von 2009 lesen. Begründung: „Sie gebenMilliarden Dollar dafür aus, ihren Glauben auch in den entferntesten Ländern zustärken. Und sie haben Erfolg. Neue, vor Gotteseifer brennende Gemeinden – inden Slums von Rio de Janeiro, in den makellos gepflegten Vorstädten amerikanischerMetropolen, in den quirrligen, chaotischen asiatischen Megacity – beweisen,dass das Geld gut angelegt ist. Missionar zu sein ist kein altmodischer Beruf mehr,er wird gelehrt an US-Hochschulen oder unterstützt durch phantastisch reiche Stiftungenaus Saudi-Arabien.“ (S. 102)Auch hier prallen zwei Paradigmen des Denkens innerhalb der Religionen aufeinander:Missionarisches Sendungsbewusstsein stärkt ja auch die Identität der Anhänger.Identität durch Verwerfung Anders- oder Ungläubiger. Die Welt ist ja auchdualistisch aufteilt: In Gläubige und Ungläubige, Wahrheit und Irrtum. InterreligiöserDialog? Er steht in dieser Welt unter dem Verdacht des Indifferentismus: will sagen,der Vergleichgültigung der Wahrheit und damit zur Auflösung der eigenen Religion.Machen wir uns nichts vor: In vielen Fällen, wo vom „Dialog“ gesprochen wird,handelt es sich in Wirklichkeit um einen „dialogisch verkleideten Monolog“, um mitToleranz-Rede Stuttg#8193F2.doc


9Martin Buber zu sprechen. Der andere, mein Gegenüber, wird nicht eigentlich zurHerausforderung an meinen eigenen Glauben, sondern zum Objekt meiner religiösenPropaganda. Die Begegnung wird nicht genutzt, um den anderen besser kennenzulernen,sondern als Chance einer monologischen Selbstexplikation des eigenenGlaubens – mit dem Ziel, den anderen von seinem „Weg des Irrtums“ abzubringenund zum „wahren Glauben“ zu bekehren. Wer „Mission“ will, will folglichweder Dialog noch Toleranz, der will in letztzer Konsequenz das Verschwinden desGlaubens des je Anderen und die weltweite Durchsetzung der eigenen als der einzig„wahren Religion“.(2) Zum Stichwort „Dialog“. Auch hier durchzieht seit der Aufklärung ein kämpferischerDiskurs die religiösen Lager, ob in Judentum, Christentum und Islam. DerMissionarismus ist zwar eine politische Realität, die mit gewaltigen Geldsummenund modernsten Kommunikationsmitteln Weltbekehrung anstrebt, aber er besitztkeinen Monopolanspruch mehr. Im Gegenteil gilt: Je höher das Bildungsniveau derGläubigen, desto stärker die Ablösung eines simplen dualistischen Denkmustersdurch ein komplexeres Denken, das die eigenen normativen Traditionen neu interpretiert.Im Judentum ist seit der jüdischen Aufklärung, der Haskala, (Moses Mendelsohnund die Folgen) die Selbstisolation durch Rückzug in die geschlossene Welt derHalacha überwunden und durch ein Denken ersetzt, dass Israels Auftrag für dieVölkerwelt ebenso ernst nimmt, ja für Menschen aus den Weltvölkern Wege zumHeil ermöglicht und zwar durch Rückgriff auf die 7 noachidischen Gebote. Selbstdas orthodoxe Judentum war nie so weit gegangen wie der Kirchliche Exklusivismus.Es hat in keiner Form des Judentums je ein „Dogma“ wie „Außerhalb kein Heil“gegeben. Auch Nichtjuden haben Anteil an der kommenden Welt, wenn sie dieGrundgebote der Humanität leben, die es seit Gottes Bund mit seiner Schöpfung,seit dem Bund mit Noah, gibt. Aus dieser gottgewollten Beziehung Israels zu denVölkern folgt Weltverantwortung. Ja, der Stammvaters des jüdischen Volkes sollnach dem Zeugnis der Tora ein Segen für alle Geschlechter sein: „Ich will segnen,die dich segnen. Wer dich verwünscht, den will ich verfluchen. Durch dich sollen alleGeschlechter der Erde Segen erlangen.“ (Gen 12, 3) Interreligiöser Dialog ist alsofür weltoffene Juden nicht der Beginn einer Auflösung jüdischer Identität, sondernAusdruck jüdischer Glaubens an den Schöpfergott, der alle Menschen nach seinemBild geschaffen (Gen 1,26) und ein segensreiches Miteinander von Israel und denWeltvölkern gewollt hat.Toleranz-Rede Stuttg#8193F2.doc


10In der Welt des Christentums haben seit der Aufklärung Denker wie GottholdEphraim Lessing, Johann Gottfried Herder und viele andere neuem Denken Bahngebrochen. Sie haben vor allem die Gewaltgeschichte analysiert, die der Missionarismusweltweit erzeugt hat: die verheerenden Folgen von Kreuzzügen (Lessingspielt sie in seinem <strong>Dr</strong>ama „Nathan der Weise“, 1779), von Pogromen an Juden,von „Bekehrungen“ ganzer Völker, ob in Lateinamerika, Indien oder China. Einegrauenhafte Spur religiösen Vernichtungswahns gegenüber den als „heidnisch“ gebrandmarktenGlaubensformen, eine moralische Überfremdung ganzer Kulturen,eine „Inbesitznahme“ ganzer Völker durch eine angeblich allein selig machendeKirche. Diese Dialektik des Missionarismus führte zu einer Neubesinnung auf dasursprünglich Christliche: das von Jesu Bergpredigt her ausgehende Liebes- undEgalitätsgebot. Es führte nach dem 2. Weltkrieg zu einer neuen Grundeinstellungauch zu Menschen anderen Glaubens, zu einer Wertschätzung ihrer Kultur und Religion,zu einer Bereitschaft wechselseitigen Lernens und Sich Befruchtens. Seithersind im Raum des Christentums gewaltige geistige Energien investiert worden, umWürde und Reichtum anderer Kulturen und Religionen zu wahren und zu erschließen.Ein selbstkritisches und dialogisches Verhältnis wurde möglich zum Judentumund den großen Weltreligionen. Aber es hat bis zum Jahr 1965 gedauert, bis dieseneue Einstellung zu den nichtchristlichen Religionen erstmals in einem SchlüsseldokumentAusdruck gefunden hat. In diesem Jahr verabschiedet das 2. VatikanischeKonzil der Katholischen Kirche die „Erklärung über die Beziehungen der Kirche zuden nichtchristlchen Religionen“. Schlüsselsatz: „Die katholische Kirche verwirftnichts von dem, was in den (großen) Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtigerHochachtung betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Gebote undLehren, die ... nicht selten einen Strahl jener Wahrheit wiedergeben, die alle Menschenerleuchtet ... Deshalb ermahnt sie ihre Kinder, dass sie mit Klugheit und Liebe,durch Gespräch und Zusammenarbeit mit den Anhängern anderer Religionen,indem sie ihren christlichen Glauben und ihr christliches Leben bezeugen, jenegeistlichen und sittlichen Güter sowie jene soziokulturellen Werte, die sich bei ihnenfinden, anerkennen, wahren und fördern.“ (NA 2)Dieses Dokument kann man mit Fug und Recht als die Magna Charta des interreligiösenGesprächs für Christen bezeichnen. Entscheidend ist hier die Einsicht, dassder Einsatz für den interreligiösen Dialog nicht ein „Einklammern“ der Wahrheitsfragebedeutet, nicht der Erosion des Glaubens Vorschub leistet, sondern dem Zeugnisfür die christliche Wahrheit entspringt, also aus der Mitte christlichen GlaubensToleranz-Rede Stuttg#8193F2.doc


11kommt, die im Liebesgebot konkret wird. Wenn man den Anderen so lieben soll wiesich selbst, ist ein Höchstmaß an Verstehen angesagt, des Verstehens gerade auchder Andersheit des je Anderen. Gewiss, so wie es eine Dialektik des Missionarismusgibt, gibt es auch eine Dialektik der Dialogizität: die Standpunktlosigkeit, diePreisgabe eines Wahrheitsgewissens, die Hybridisierung, sprich: Verwässerung derIdentitäten. Eine Religion aber, die sich selbst ernst nimmt, kann das nicht ermöglichenwollen. Ist doch, wie schon „der Volksmund“ sagt, der, der „für alles offen ist“,„nicht ganz dicht“. Echte Religionsgespräche sind etwas anderes. Sie haben nichtdas Ziel, die Differenzen zwischen den Religionen zu überspielen oder die Wahrheitsfrageauszuklammern oder zu bagatellisieren. Vielmehr geht es um „echteZwiesprache“, wie Buber das genannt hat. Das ist das Gegenteil von „Scheingesprächen“,die in zwei Monologen bestehen. Echte Zwiesprache erfolgt aus Begegnungen.Begegnungen, die so tief, so existentiell sein können, dass die Partner sichgegenseitig bereichern und verwandeln und so in ihrem Wahrheitsverständnis vertiefen.Man lebt nicht länger mit dem Rücken zum anderen. Man begegnet dem anderen,indem man in sein offenes Antlitz blickt und sich so „ergreifen“ lässt. DieExistenz des je anderen ist für das eigene Selbstverständnis nicht mehr gleichgültig.Auch in der Welt des Islam haben viele erkannt, dass man den Herausforderungendes 3. Jahrtausends nicht mit den alten, simpel dualistischen Antworten beikommenkann. Testfall ist eine innerislamische Begründung der Menschenrechte unddamit auch des Rechts jedes Menschen auf Religionsfreiheit, die nach modernemVerständnis eine dreifache Freiheit ist: Die Freiheit, eine Religion öffentlich auszuüben,die Freiheit eine Religion zu wechseln und die Freiheit, keine Religion zu wollen.Innerislamisch ist die Diskussion in vollem Gang, ob diese dreifache Religionsfreiheitetwa mit dem Apostasie-Verbot kompatibel ist. Hier gibt es, vor allem imSchutz westlicher Länder, viele innovative Stimmen im Islam. Grundlage für eineislamische Authentifizierung der Menschenrechte ist die Anerkennung des religiösenPluralismus als gottgewollt. Hier hat die europäische Imame- Konferenz durch dreiErklärungen (Graz 2003, Wien 2006 und 2010) wichtige Signale gesetzt. Nach derWiener Erklärung von 2006 gilt: „Der Islam trägt einen lösungsbezogenen Ansatz insich, indem Vielfalt als gottgewollt nicht in Frage gestellt werden soll, sondern gelassenin mehr Kenntnis mündend nutzbar zu machen ist. ‚Gute Werke’ bilden eineMaxime des Handelns. Wie eng Frieden und Gerechtigkeit zusammen liegen, zeigtToleranz-Rede Stuttg#8193F2.doc


12der Anspruch diskriminierungsfreien, gerechten Umgangs miteinander auf, unabhängigvon Herkunft, Religion, gesellschaftlichen Ansehens oder Alter:“(3) Zum Stichwort Toleranz. Toleranz ist heutzutage zu einem Allerwelts-Wort verkommen.Das macht es nötig, genauer auf Geschichte und Wesen der Toleranzeinzugehen und auch hier die Dialektik sichtbar zu machen. Und da es das Schüsselwortauch für diesen Kongress ist, möchte ich hier noch einige grundsätzlicheDinge sagen.Unvergessen bleibt: Die geschichtlichen Ursprünge der Toleranz-Idee sind ein- fürallemal verbunden mit einer Schreckensgeschichte der Unterdrückung und Verfolgungje Andersglaubender, Anderslebender und Andersdenkender. Es waren dieOpfer von Repression und Gewalt, die sich nach Duldung sehnten. Für sie war „Toleranz“alles andere als ein Allerweltswort, sondern ein Schutz- und Überlebenswort.Wenigstens überleben wollte man – als Minderheit in einer Mehrheitsgesellschaft.Wenigstens etwas an eigener Luft zum Atmen brauchte man. Abscheulichstes Beispieldafür ist der mörderische Konfessionskrieg, den man den <strong>Dr</strong>eißigjährigennennt und der zwischen 1618 und 1648 ganze Regionen Europas verwüstete. Dochgerade er verschafft der Toleranz-Idee den geschichtlichen Durchbruch. Unter entsetzlichenOpfern waren zuvor alle Versuche gescheitert, die Differenzen zwischenden christlichen Konfessionen ohne Gewalt zu lösen. Deshalb die Parole: Um desFriedens in einer Gesellschaft willen Toleranz! Nicht weniger aber auch nicht mehr!Das war die „progressivste“ Position, die viele Denker in einem vom Krieg thraumatisiertenEuropa damals einnahmen, ob in Deutschland, Frankreich oder England.Was folgt daraus für die Bestimmung des Wesens der Toleranz? 4 Dimensionenscheinen mir unverzichtbar.Erstens: Toleranz ist oft verwechselt worden mit Gleichgültigkeit und Standpunktlosigkeit.Entsprechend verkam das Wort herunter zu einem Allerweltswort. Vergessenwurde: Toleranz ist selber ein Standpunkt, ein ethischer Wert, für den maneinstehen, unter Umständen kämpfen muß. Denn der Kern der neuzeitlichen Toleranzideeist die Respektierung des Selbstverständnisses des je Anderen, ob in SachenReligion, Politik, sexueller Orientierung oder Lebensstil. Nicht eine Mehrheit,und sei sie noch so demokratisch legitimiert, hat zu entscheiden, was eine Minderheitzu glauben oder wie sie ihren Glauben zum Ausdruck zu bringen hat, sonderndie Minderheit selber. Wo dieser Konsens gebrochen wird, wird eine Grundidee dereuropäischen Aufklärung verraten. Doch Gewaltausbrüche gegen AndersglaubendeToleranz-Rede Stuttg#8193F2.doc


13(ob in christlichen oder islamischen Ländern) zeigen, wie gefährdet das Toleranzgebotnoch heute ist. Nichts ist selbstverständlich. Für sie muss gestritten. Zur Verteidigungder Idee der Toleranz gehören somit Widerspruch und Widerstand überalldort, wo universal anerkannte Menschenrechts-Standards ignoriert oder verletztwerden – aus welchen ideologischen oder religiösen Gründen auch immer. Genitalverstümmelungenoder Zwangsehen, Blutrache oder Todesstrafen wegen Apostasieoder Blasphemie, Unterdrückung von Minderheiten oder Verweigerung von Religionsfreiheit(um nur einige Scheußlichkeiten zu nennen), Schändungen von jüdischenFriedhöfen, Brandschatzungen von Kirchen und Moscheen sind Verbrechen,wie religiös sie auch immer begründet werden. Doch ein zweites ist genau so wichtig:Zweitens: Toleranz ist auf Wechselseitigkeit angewiesen, setzt doch die Respektierungder Andersheit des je Anderen voraus, dass auch ich in meiner Andersheitrespektiert werde. Von daher kann es keine Toleranz für Intoleranz geben, sonstwären die Toleranten die Dummen. Deshalb zielt Toleranz nicht auf Harmonie undFrieden um jeden Preis , sondern auf die „Zivilisierung der Differenz“, wie der amerikanischePhilosoph Michael Walzer einmal gesagt hat.. Das Aushalten-Können vonGegensätzen und Widersprüchen gehört ebenso zu ihr wie das Austragen von Konflikten– nach „zivilisierten“, das heißt gewaltfreien Regeln. Daraus folgt ein <strong>Dr</strong>ittes:<strong>Dr</strong>ittens: Die Wechselseitigkeit des Toleranzgebotes bedarf der Sicherung durcheine für alle verbindliche Rechtsordnung. Nur sie garantiert den Rechtsanspruchauf Toleranz und vermag umgekehrt Verbrechen wider den Geist der Toleranz zuahnden. Freilich muss zur selbstkritischen Klärung sofort hinzugefügt werden:Viertens: Toleranz kann zur Tarnung von Repression missbraucht werden. Es warder Philosoph Herbert Marcuse, der nicht nur mir Ende der sechziger Jahre dieAugen dafür öffnete, dass es in einer Gesellschaft angesichts politischer und ökonomischerMachtverhältnisse eine „repressive Toleranz“ geben kann. Die Dialektikder Toleranz zeigt sich gerade hier, kann doch die Forderung nach „Toleranz“zueinem Instrument der Mächtigen und Herrschenden werden, um Rückfragennach dem Zustand von Gerechtigkeit und Freiheit in einer Gesellschaft gar nichthochkommen zu lassen. Die Herrschenden fordern „Toleranz“ von den Beherrschten,damit die Machtverhältnisse unangetastet bleiben. Die repressive kann zur taktischenToleranz werden. Man fordert für sich Toleranz von anderen, nur um ande-Toleranz-Rede Stuttg#8193F2.doc


14re umso unbehelligter zurückdrängen zu können. Man legt beispielsweise öffentlichLippenbekenntnisse zur Religionsfreiheit ab, arbeitet auch weiter an Missionsstrategien,um die gesamte Welt zu seinem eigenen Glauben zu bekehren.Die geschichtliche Leistung der Toleranz-Idee ist damit offenkundig. Aber auch dessenDialektik, die es erforderlich macht, über das Toleranz-Gebot hinauszugehen.Ein Wort von Goethe aus seinen „Maximen und Reflexionen“ bringt es auf denPunkt: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein; siemuss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“ Auf dieser Linie liegt einWort, das ich dem ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss. Verdanke. 1959 erklärter in seiner Friedenspreis-Rede: „Denken Sie, ich habe mein Leben lang dasWort ‚Toleranz’ nicht leiden können, den anderen dulden, vielleicht sogar erdulden:das ist einmal Anmaßung, dann aber hat es auch den Unterton des Schwächlichen,ja Weichlichen gewonnen.“ An Gotthold Ephraim Lessings „Tapferkeit“ Maß nehmendfordert Heuss stattdessen im Wissen um die geschichtlich beispielloseSchändung von Humanität: „Das Wissen um die Würde des Menschen muss zueiner Kraft werden, die den anderen nicht in seinem Glauben und seiner Tradition‚duldet’, sondern ihn achtet, bis und damit ein in der Menschenliebe gefestigtesGemeingefühl unser Sein und Schicksal überwölbt.“Und auf dieser Linie liegen jüngste Stellungnahmen aus der Welt von Islam undChristentum. Sie haben die Herausforderungen der einen Weltgesellschaft erkannt.Sie schüren nicht Weltbekehrungsstrategien auf Kosten des je Anderen, sondernbetonen das substantiell Gemeinsame, das der gesamten Weltgesellschaft zugutekommen soll. So veröffentlichten im Oktober 2007 138 muslimische Autoritäten ausder ganzen Welt ein Dokument. Es enthält eine Einladung an fast alle Repräsentantenchristlicher Kirchen zu einem Dialog auf der Basis des Doppelgebots der Liebe:Gottesliebe und Menschenliebe. Ein geschichtlich beispielloser Vorgang. Noch nieseit den Zeiten des Propheten habe es – so die Verfasser – einen solchen Vorstoßgegeben, noch nie sei das Gemeinsame zwischen Christentum und Islam so starkherausgestellt worden: die Liebe zu Gott und dem Nächsten. Das Dokument endetmit folgendem Appell:„So lasset unsere Verschiedenheiten nicht Hass und Unfrieden zwischenuns verursachen. Lasset uns nur in Rechtschaffenheit und guten Werkenwettstreiten. Lasset uns einander respektieren, fair, gerecht und freundlichmiteinander umgehen und miteinander in ehrlichem Frieden, Harmonie undgegenseitigem Wohlwollen leben. Gott spricht im Heiligen Qur’an –Toleranz-Rede Stuttg#8193F2.doc


15und dann wird Sure 5,48 zitiert: „Für jeden von Euch haben wir Richtung und Weggeschaffen. Wenn Gott gewollt hätte, hätte er euch zu einer einzigen Gemeinschaftgemacht. Doch er will euch in dem, was er euch gegeben hat, prüfen. So wetteifertum die guten Dinge.“Genau so wichtig ist ein am 2. Mai 2008 in Rom veröffentlichtes Dokument, abgedrucktin einer großen deutschen Tageszeitung. Überraschend auch dies: Hinterden Kulissen hat der Vatikan mit Schiiten aus Teheran verhandelt, und herausgekommenist eine knappe „gemeinsame Erklärung“ in sieben Punkten zum VerhältnisGlaube – Vernunft. Ein wichtiges Signal in Richtung Gewaltprophylaxe. Einer derPunkte lautet: „Glaube und Vernunft sind in sich nicht gewalttätig. Weder Vernunftnoch Glaube sollten für Gewalt gebraucht werden; unglücklicherweise wurden beidezuweilen missbraucht, um Gewalttaten zu begehen. In jedem Fall können diese Ereignisseweder Vernunft noch Glaube in Frage stellen.“ Entscheidend für uns auchdieser Punkt: „Christen und Muslime sollten über Toleranz hinausgehen in der Anerkennungder Unterschiede, doch im Bewusstsein der Gemeinsamkeiten Gott dafürdankbar sein“.Daraus folgt: „Toleranz“ ist nicht mehr und nicht weniger als das unverzichtbarerechtliche und ethische Minimum für das Zusammenleben mit Menschen andererÜberzeugungen unter Voraussetzung von Wechselseitigkeit im Rahmen einer füralle verbindlichen Rechtsordnung. Da gilt das Toleranzgebot uneingeschränkt: Respektierungunterschiedlicher politischer und religiöser Überzeugungen, Anerkennungder selben Würde und derselben Rechte für alle Menschen, Respektierunginsbesondere des Menschenrechts auf Religions- und Gewissensfreiheit. Und inZeiten, in denen in vielen Ländern dieser Erde religiöser Fanatismus sich austobtund über die Menschen Unduldsamkeit, Hass, Spaltung, Terror und Mord bringt, istdieses eiserne Minimum unserer Werteordnung eisern zu verteidigen. Keine Toleranzfür Intoleranz. Keine Toleranz für Verbrechen wider die Menschenrechte!Im Zusammenleben von Menschen verschiedener Religionen aber ist man herausgefordert,über bloße Toleranz hinauszugehen. „Mehr als Toleranz“ ist gefordert undwird da gelebt, wo man bereit ist zu einem umfassenden Lernprozess, der auf einbesseres gegenseitiges Verstehen zielt. Dialog also ist das Gebot der Stunde, richtigverstanden. Er führt zur Wahrnehmung des Reichtums, den die je anderen Reli-Toleranz-Rede Stuttg#8193F2.doc


16gionen zu bieten hat. Damit eröffnet sich die Chance, eingefahrene Vorstellungenvom je Anderen, Vorurteile, Klischees und Stereotypen zu übersteigen und zu einemsachlicheren und damit gerechten Bild der je anderen Tradition zu kommen.Das meint Goethe, wenn er von „Anerkennung“ spricht, die ebenfalls wechselseitigzu erfolgen hat: Wertschätzen des je Anderen im Reichtum seiner Kultur! Und nurwer diesen Reichtum kennt, kann auch unterscheiden. Nur wer um die Andersheitdes Anderen weiß, weiß auch um die Bedeutung des Eigenen! Toleranz verteidigen,wo immer nötig, aber über Toleranz hinausgehen, wo immer möglich: das istGebot der heutigen Stunde. Und wem es möglich ist, der möge auch Gott dafürdankbar sein.Zur Vertiefung und Konkretisierung:<strong>Karl</strong>-<strong>Josef</strong> <strong>Kuschel</strong>, Juden-Christen-Muslime: Herkunft undZukunft, Stuttgart-Ostfildern (Patmos Verlag) 2007;ders., Leben ist Brückenschlagen. Vordenker des interreligiösenDialogs, Stuttgart-Ostfildern (Patmos Verlag) 2012;ders., Theodor Heuss, die Schoah, das Judentum, Israel. EinVersuch, Tübingen (Klöpfer u. Meyer Verlag) 2013.Toleranz-Rede Stuttg#8193F2.doc

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