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360 GRAZ | Die Stadt von allen Zeiten - GrazMuseum

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<strong>Die</strong>explodierende<strong>Stadt</strong>1809 – 1914<strong>360</strong> <strong>GRAZ</strong><strong>Die</strong> <strong>Stadt</strong> <strong>von</strong><strong>allen</strong> <strong>Zeiten</strong>


erlandeEuropa 1908RusslandFrühindustrialisierung – ein Grazer IdyllmburgDeutsches ReichPribramPragOlmützKrakauLembergIm Vordergrund beherrscht noch die Beschaulichkeit des Biedermeierdas Bild. Man erkennt sie am Mühlgang, der die Hauptenergiequelleder damaligen Zeit antrieb: die Wasserräder der Mühlen. <strong>Die</strong> GrazerSchwitzermühle befindet sich rechts, die Rottalmühle mit den beidenhohen Giebeln weiter nördlich.BrünnBernSalzburgÖsterreich - UngarnWienPreßburgEperiesKaschauSarospatakCzernowitzLinks im Bild liegt ein Floß auf der Mur, die noch immer Verkehrswegfür Waren und Personen ist.SchweizInnsbruckLeobenGrazAgramUngarisch-AltenburgPápaFünfkirchenBudapest ErlauDebrezinGroßwardeinKetschkemetNagy-EnyedHermannstadtKlausenburgDoch im Zentrum steht das neue Maschinenzeitalter. 1833 wurde dieerste steirische und damals größte österreichische Kettenbrücke, dieFerdinand-Kettenbrücke, errichtet. Um die Fahrbahn zu halten, brauchtees zwei mächtige gemauerte Kettenhäuser beiderseits der Mur.nacoorsikainienItalienRepublikSan MarinoSarajewoSerbienBelgradMontenegroGrenze der Österreichisch-Ungarischen MonarchieRomCetinjeSprachgebiete der Österreichisch-Ungarischen MonarchieDeutschTschechischPolnischMagyarisch (Ungarisch)SlowakischRuthenisch (Ukrainisch)RumänienBukarestBulgarienSprachzugehörigkeitSofiaSlowenischOsmanisches Reich SerbischKroatisch Rumänisch ItalianischLadinisch FriulanischKonstantinopelTechnischen Meisterleistungen wie dieser ist auch der Ausbau derEisenbahnstrecken zu verdanken. Nach Graz wird die Eisenbahnschließlich 1844 führen.Auch die moderne städtische Verwaltung beförderte die Industrialisierung.<strong>Die</strong> erste Papierfabrik, die Papier aus Holz in Massenproduktion herstellte,sollte aber erst Mitte des Jahrhunderts entstehen. Im Bild sieht man nochihre Vorgängerin, die „Pruggmeiersche Hadernstampfe“: eine Papiermühle,in der Papier aus Pflanzenfasern bzw. Lumpen hergestellt und in großenRäumen unter dem Dach und im Garten zum Trocknen aufgelegt wurde.Graz und die labile GroßmachtGriechenlandChiosSamosAthenIn den Revolutionen <strong>von</strong> 1848 ging es um Demokratie und Liberalisierung.<strong>Die</strong>se Forderung war bei vielen österreichischen Völkern mit dem Wunschnach nationaler Selbstständigkeit verbunden. Das habsburgische Systemgeriet unter Druck.Malta<strong>Die</strong> Verantwortlichen standen dem Nationalitätenproblem zunächst Kreta ratlosgegenüber und versuchten, sich durch Volkszählungen Überblick überdie ethnischen Zugehörigkeiten zu verschaffen. <strong>Die</strong>s gestaltete sich schwierig,da die Befragten oft selbst nicht wussten, zu welcher Volksgruppe, welcherSprache sie sich bekennen sollten. Viele Grazer Sloweninnen und Slowenenetwa glaubten, sich als deutschsprachig erklären zu müssen.ChaniaZypern(britisch)Das deutschsprachige Bürgertum fürchtete um seinen Einfluss. Mit derEroberung Bosniens im Jahr 1878 gewannen die slawischen Bevölkerungsteileweiter an Gewicht. Das stärkte die deutschnationalen Bewegungen.In Randzonen und Mischgebieten wie dem Sudetenland und der Steiermarkhatten sie besonders viel Zulauf. In Graz etwa bekämpfte der Verein Südmarkseit 1889 die „Slowenisierung“ und fühlte sich für die deutschen Sprachinselnbis zur Adria verantwortlich. 1914 hatte er immerhin 90.000 Mitglieder.Conrad Kreuzer: <strong>Die</strong> neuerbaute Kettenbrücke der Hauptstadt Graz – Ansicht vom Schloßberggegen Westen, 1836Tempera auf Papier<strong>GrazMuseum</strong>, Inv.-Nr. MAL05 / 0059223


Ein „Windischer“ macht Österreich mobilWas wäre die österreichische Fahrradindustrie ohne Puch-Fahrräder?Gegründet wurden die Puchwerke <strong>von</strong> dem aus der Untersteiermarkstammenden Janez Puh. Johann Puch, wie er sich bald nannte, begannseine Karriere in der Graziosa-Fahrradfabrik in der Annenstraße. 1889eröffnete er seinen eigenen Betrieb. 1900, als der Rennfahrer Josef Fischerauf der Strecke Bordeaux-Paris mit einem Puch-Fahrrad den ersten Platzerrang, wurden seine Erzeugnisse auf einen Schlag berühmt. 1908 liefdas 100.000. Puch-Fahrrad vom Band und die Puchwerke produziertenbereits Motorräder und Automobile.Zu der Zeit, als Janez Puh vom kleinen Handwerker zum Fabrikbesitzeraufstieg, wandelte sich Graz <strong>von</strong> einem verschlafenen Provinzstädtchenzu einer pulsierenden Metropole des Kaiserreichs. <strong>Die</strong> Anbindung andas Eisenbahnnetz mit der Trasse Graz-Mürzzuschlag im Jahr 1844 hattedie <strong>Stadt</strong> ins Industriezeitalter befördert. Neben den Puchwerken locktenweitere Großbetriebe wie die Brauereien Reininghaus und Puntigam,die Andritzer Maschinenfabrik, die Weitzer Waggonfabrik oder oder dieSchuhfabrik Pollak (heute: Humanic) zigtausend Menschen vom Umlandin die <strong>Stadt</strong>.Staatliche Hauptbildstelle: Panorama <strong>von</strong> Graz, 1919Film, Länge: 3:00 minFilmarchiv AustriaIm Rhythmus der GroßstadtDer Film zeigt eine frühe Kamerafahrt durch Graz, aufgenommen aus demFührerstand einer Straßenbahn und der Schloßbergbahn. Solche Aufnahmenentstanden in der Frühzeit der Filmgeschichte häufig. <strong>Die</strong> bewegten Bilderwaren das ideale Medium zur Visualisierung des modernen städtischen Lebens.Der technische Fortschritt war es, der im 19. Jahrhundert die Entwicklungder europäischen Großstädte in Gang setzte. <strong>Die</strong> Entstehung <strong>von</strong> Fabrikenim Zuge der Industrialisierung und der Ausbau der Infrastruktur bestimmtenimmer stärker das Erscheinungsbild der Städte. Sie gaben den Rhythmusdes Alltags vor und ermöglichten es den Menschen, diesem Rhythmus zufolgen – in immer größeren Massen.Auch die Grazer Bevölkerung wuchs <strong>von</strong> 116.770 Einwohnerinnen undEinwohnern im Jahr 1880 auf 210.845 im Jahr 1923. Der Ausbau derBahnverbindungen brachte Pendler/-innen in die <strong>Stadt</strong>, was den Bedarfan Verkehrsmitteln noch erhöhte.Puch-Damenfahrrad, Modell VII, Rahmennummer 3197, Baujahr 1900Lampls Fahrradmuseum, Werndorf<strong>Die</strong> erste Grazer Pferdetram verband ab 1878 Südbahnhof und Jakominiplatzmiteinander. 1894 eröffnete die Schloßbergbahn, zunächst <strong>von</strong>einer Dampfmaschine angetrieben. Um 1900 wurden beide elektrifiziert.Den ersten Film gab es 1896 in Graz zu sehen, ein Jahr nach der weltweitersten Filmvorführung der Brüder Lumière im französischen Lyon.45


Graz bis ca. 1860 / ab ca. 1861Urbanisierung und die Planung <strong>von</strong> <strong>Stadt</strong>WienSüdbahn 1854Wien„Öffnung“ ist ein Begriff, der uns in der Grazer Geschichte mehrmals begegnet.Doch er kann unterschiedliche Bedeutungen annehmen. EineÖffnung stand Mitte des 19. Jahrhunderts an: <strong>Die</strong> alten Befestigungsanlagenwurden rückgebaut bzw. geschleift. <strong>Die</strong> Altstadt wuchs stärker mitden Vorstädten zusammen. Doch das geschah nicht überall auf die gleicheWeise. Im Osten entstanden die Universitäten und Gründerzeit-Wohnviertel –wie geschaffen für die „gebildeten Stände“.GöstingMurIm Westen errichtete man Bahnlinien, die Industrie und Gewerbe anlockten– hier entstanden Arbeiter/-innenviertel. <strong>Die</strong> wachsende <strong>Stadt</strong> mitsamt dennotwendigen Ver- und Entsorgungssystemen wurde umfassend geplant.Linkes MuruferRechtes MuruferKalvariengürtelIII. GeidorfRosenhainHilmteichLeechwaldAlte PoststraßeMariaTrostGroßteils bürgerliches Wohnen,Erholungs- und BildungsfunktionSchloss EggenbergEggenberg„Sommerfrische”WetzelsdorfAlte PoststraßeBahnhofsgürtelSüdbahnhof(heute: Hauptbahnhof)Annenstraße 1846Eggenberger GürtelLazarettgürtelKeplerstraße 1875SchönaugürtelKarlauer GürtelGrazbach 1879 Einwölbung –1883GlacisRingstraßeConrad-<strong>von</strong>-Hötzendorf-Str.HeinrichstraßeIV. LendKeplerbrücke 1836KFUI. Innere <strong>Stadt</strong>II. St. LeonhardTUV. GriesVI. JakominiMünzgrabenstraßeSchörgelgasseLeonhardstraßeGeplante GürtelstraßeLKH 1912Reserviert für Industrie undGewerbe, Hauptwohngebietefür Arbeiter/-innen und <strong>von</strong>der <strong>Stadt</strong>planung bereits 1892festgeschriebenRechtes Murufer: Bevölkerungswachstumdurch Zuwanderung<strong>von</strong> Arbeiter/-innenSüdliche <strong>Stadt</strong>grenze: beiderseitsder Mur Konzentration geruchsintensiverEinrichtungen(Sturzbrücke und Poudrettefabrik –die spätere Seifenfabrik)1878 erste Pferde-Tramway,elektrisch ab 1898Raaba-Bahnhof/Staatsbahnhof(heute (heute Ostbahnhof)Ostbahnhof)Bevölkerungsentwicklung:Bevölkerungsverteilung1869:Poudrettefabrik(später: Seifenfabrik)Triester StraßeSturzbrückeKöflachTriestBudapestGraz-Köflacher Bahn 1860 Südbahn 1857 1873 Ungarische Westbahn FehringBevölkerungLinkes MuruferRechtes Murufer67


Graz bis ca. 1860Graz ab ca. 1861<strong>Die</strong> Voraussetzungen fürIndustrialisierung und <strong>Stadt</strong>erweiterungwurden geschaffen:Neuerungen am linken Murufer:Öffnung der Innenstadt: Erst durchLandesbaudirektor Martin Kinkerfolgt die „organische Verbindung“zwischen der „offenen“ Inneren <strong>Stadt</strong>und ihrer Umgebung:Damit das im Mitbesitz befindlicheGlacis zum Park werden kann,bekommt das Militär im Tauschdafür den Feliferhof.Der ehemals als Barriere dienende<strong>Stadt</strong>graben wird Teil der Ringstraße.Erste Parzellierungen und einheitlicheVerbauungen rund um dieInnere <strong>Stadt</strong> (z. B. im Bereich Glacis)Modernisierung: Es erfolgtein Ausbau der Infrastruktur(z. B. Kanalisation, neue Verkehrswege)und man setzt sich eine„<strong>Stadt</strong>verschönerung“ zum Ziel,u. a. durch Zerstörung älterer Baustruktur(<strong>Stadt</strong>tore, Mauern, Gräben).Neuerungen am rechten Murufer:Neue Verkehrswege:Durch die neuen Bahnlinien wirddie Bedeutung der Bezirke Lendund Gries als Industrie- undGewerbebezirke innerhalb derdamaligen <strong>Stadt</strong>grenzen endgültigfestgeschrieben.1844: Eröffnung der Südbahnlinie1860: Eröffnung der Graz-Köflacher-Bahn (für Grazer Industriebetriebewichtiger Zubringer aus den Braunkohlerevieren)Auswirkungen der Gründerzeitam linken Murufer:Wohnen: Es kommt zur großflächigenErrichtung <strong>von</strong> Gründerzeitviertelnfür Bürgertum undAristokratie.Bildung: In der Wohnumgebungdes Bildungsbürgertums werdenneue Universitätsbauten (KFU, TU)errichtet.Herz-Jesu-Kirche: Im neuenbürgerlichen Wohnviertel wird1891 der größte katholischeKirchenbau der <strong>Stadt</strong> eingeweiht.Erholung: Für die Bewohner/-innenwerden bürgerliche Erholungsorteerschlossen (Leechwald, Rosenhain,Hilmteich).Institutionen werden aus demZentrum („Innere <strong>Stadt</strong>“) ausgelagert,etwa das Landeskrankenhaus(vormals AKH in der Paulustorgasse).Bevölkerungswachstum: Erfolgtauch durch den Zuzug <strong>von</strong> Beamten,Aristokratie sowie Pensionistinnenund Pensionisten („Pensionopolis“).Auswirkungen der Industrialisierungam rechten Murufer:Industrialisierung: Rund um denSüdbahnhof siedeln sich mehrereSchwerindustriebetriebe mitTausenden Arbeiter/-innen an.Industriebetriebe und Arbeiter/-innenviertel entstehen auch inden angrenzenden GemeindenEggenberg und Gösting.Militärstützpunkte: ZwischenSüdbahnlinie und <strong>Stadt</strong>grenze(Alte Poststraße) entstehen großeKasernenbauten.Im Zuge des Wandels der GemeindeEggenberg zum Arbeiter/-innenbezirkspaltet sich die „Sommerfrische“Wetzelsdorf ab.Neben zahlreichen Arbeiter/-innenorganisationen öffnet 1895inmitten der rasch wachsendenArbeiter/-innensiedlungen dieVinzenzkirche ihre Tore.Das Ende des 19. Jh. geplanteGürtelstraßensystem wirdhauptsächlich in der Murvorstadtvoll ausgebaut.Amtshaus: Das rasche<strong>Stadt</strong>wachstum führt zu einemgroßen Bevölkerungsverlust inder Inneren <strong>Stadt</strong> und hat einenstarken Ausbau der städtischenVerwaltung zur Folge. <strong>Die</strong> Innere<strong>Stadt</strong> wird mehr und mehr zumVerwaltungszentrum.Funktionswandel: DurchIndustrialisierung verliertWasserkraft und damit auchdas Viertel am linken Mühlgangan Bedeutung. <strong>Die</strong> Mehrheitder Arbeiter/-innen lebt undarbeitet nun am rechten Murufer.89


Graz heute„Recht auf <strong>Stadt</strong>“WienWien<strong>Die</strong> 1960er-Jahre brachten wieder Bewegung ins Bürgertum. Vorbei dieZeit, wo Staat und <strong>Stadt</strong> „<strong>von</strong> oben“ verordnet werden konnten. <strong>Die</strong>Menschen wollten mitbestimmen, was in ihrem Lebensumfeld geschieht.In Graz entstanden in mehreren <strong>Stadt</strong>teilen Initiativen, die ihr „Recht auf<strong>Stadt</strong>“ einforderten. Gleichzeitig fand ein Übergang vom Industriezeitalterzur Wissensgesellschaft statt. In Eggenberg, entlang der Alten Poststraße,wird die ehemalige Industriezone zunehmend <strong>von</strong> neuen Kunst-, KulturundBildungsinstitutionen genutzt.KalvariengürtelKalvarienbergbrückeNordspangeBahnhofsgürtelKeplerbrückeHauptbahnhofHauptbrückeStraßenbahn: 2007 wird dieVerlängerung der Straßenbahnlinie 6nach langjähriger Diskussionund einer Anrainer/-innenbefragungrealisiert.Eggenberger GürtelRadetzkybrückeEhemals geplante GürtelstraßeMurkraftwerk: Ab 2009 entwickeltsich eine intensive Auseinandersetzungüber den Bau einer Mur-Staustufe im südlichen <strong>Stadt</strong>gebiet,die nicht zuletzt um das ThemaNachhaltigkeit kreist.LazarettgürtelAlte PoststraßeSchönaubrückeSchönaugürtelKarlauer GürtelBeteiligung und Initiativen:Ausgewählte BeteiligungsverfahrenGeplante <strong>Stadt</strong>autobahn durch EggenbergAusgewählte InitiativenÜbergang Industrie- zurWissensgesellschaft:KöflachLjubljanaTriester StraßeSeifenfabrikBudapestAutobahn: <strong>Die</strong> Realisierung dergeplanten <strong>Stadt</strong>autobahn durchden Bezirk Eggenberg wird 1973durch eine Bürger/-inneninitiativemit mehr als 35.000 Unterschriftengestoppt.Gürtelverlängerung: <strong>Die</strong> innerhalbder Bevölkerung umstrittene„Nordspange“ wird als Verlängerungdes Kalvariengürtels im Jahr 2002eröffnet.Urban Graz West: Im Rahmendes <strong>Stadt</strong>entwicklungsprojektswurden zwischen 2000 und 2008neue Nutzungen für ehemaligeIndustriebetriebe initiiert.FachhochschulcampusFH JoanneumH elmut-List-HalleStart-Up Center Graz WestStillgelegte Fabriken1011


Graz vs. WienWas wäre, wenn … Graz so dicht verbaut worden wäre wie Wien?Mitte des 19. Jahrhunderts eroberte die Eisenbahn Europa. Mit ihr standein schnelles Transportmittel zur Verfügung, das die Entwicklung derIndustrie beflügelte. <strong>Die</strong> Industrie brauchte Arbeitskräfte, die wiederumWohnungen benötigten.<strong>Die</strong>se Entwicklung war sowohl in Graz als auch in Wien zu spüren. In beidenStädten stieg die Bevölkerungszahl <strong>von</strong> 1850 bis 1910 auf das DreibisVierfache. Unablässig wurde parzelliert und gebaut. <strong>Die</strong> neuen Häuserwaren meist straßenseitig geschlossene Blöcke. Von außen sahen sie den<strong>Stadt</strong>palais des Adels ähnlich, innen enthielten sie oft nur Kleinwohnungen.Zur Straße hin zu wohnen galt als durchaus prestigeträchtig, solange dieStraße asphaltiert und kanalisiert war.Der Unterschied in der Bebauung <strong>von</strong> Graz und Wien liegt in der Bebauungsdichte.In Wien waren die Bauherren häufig Finanziers oder Unternehmen,sie legten Häuserblocks mit Hinterhöfen und Betriebsgebäuden an. In Grazwohnten die Eigentümer/-innen meist selbst in ihren Häusern. Sie pflegtendas biedermeierliche Konzept des begrünten Innenhofs. <strong>Die</strong> Häuserblocksblieben kleiner und niedriger als in Wien. Oft wurde nicht einmal dieerlaubte Bebauungshöhe ausgenutzt. Auch heute ist Wien dreimal so dichtbesiedelt wie Graz.Graz: Innenstadt, Murvorstadt und Neustadt© <strong>Stadt</strong>vermessungsamt Graz12Wien: Westliche Vorstädte und Vororte© MA 41-<strong>Stadt</strong>vermessung der <strong>Stadt</strong> Wien1857 war die Bahnstrecke <strong>von</strong> Wien über den Semmeringbis Triest fertiggestellt. Dass diese Verbindung über Graz ging,ist weniger Erzherzog Johann zu verdanken als der Angst desHofes vor einer ungarischen Revolution (die dann auch 1849niederzuschlagen war). Wegen dieser Befürchtung war dieursprüngliche Trassenführung über Ungarn wieder abgeblasenworden. Nach der Etablierung der Österreichisch-UngarischenMonarchie freilich war die Verbindung mit Ungarn wiedererwünscht: Der Ostbahnhof, Endpunkt der 1873 errichtetenungarischen Westbahn, zeugt da<strong>von</strong>.


<strong>Die</strong> Gestaltder <strong>Stadt</strong>Alles dreht sich um die <strong>Stadt</strong>Zwei Dinge zeichnen dieses Panorama aus: die unüblichePerspektive – in der heutigen fotografischen Technikals „Fischauge“ bezeichnet – und die trotz des kleinenFormats ungeheure Detailgenauigkeit. Der als Aufnahmepunktdienende Schloßberg kommt in der eigentlichen<strong>Stadt</strong>ansicht nicht vor, sondern steht als eigene Darstellungim Zentrum des Bildes. Der Blick des Künstlers erfasstdie <strong>Stadt</strong> mit dem Grazer Becken und den begrenzendenHügelketten. Abgeschlossen wird die kreisförmige Ansichtdurch ein umlaufendes Schriftband, das die Legende zurDarstellung liefert.Carl Reichert: Panorama <strong>von</strong> Graz, aufgenommen vom Schloßberg, 1865Farblithografi e<strong>GrazMuseum</strong>, Inv.-Nr. GRA05 / 00181Verteidigung gegen innere und äußere Feinde<strong>Die</strong> Entwicklung zur <strong>Stadt</strong> Graz, wie wir sie heute kennen,begann mit einem Knalleffekt, und zwar 1809. In diesemSchlüsseljahr der <strong>Stadt</strong>entwicklung wurde die Festung aufdem Schloßberg gesprengt. Darauf bestanden die französischenBesatzer, nachdem ihnen Major Hackher unter demBefehl Erzherzog Johanns erbittert Widerstand geleistet hatte.In der Folge wurden auch ein Teil der landesfürstlichenBurg sowie – sehr früh im europäischen Vergleich – vieleder alten Wehranlagen geschleift. An ihrer Stelle entstandendie Ringstraße und der Kern der „Gartenstadt“ Graz: dieenglischen Gärten auf dem Schloßberg und im <strong>Stadt</strong>park.Daran anschließend entwickeln sich gründerzeitlicheWohnviertel in Geidorf und St. Leonhard. Auf dem Geländedes „Hofgartens“ wird der nobelste Platz <strong>von</strong> Graz errichtet,der klassizistische Franzensplatz, heute Freiheitsplatz.Parallel dazu werden Verkehrswege reguliert und begradigt;moderne, große Brücken verbinden die Altstadt mit denBezirken Gries und Lend. <strong>Die</strong> zum Bahnhof führende Annenstraßewird angelegt. Im Umfeld der Eisenbahn siedelnsich Industriebetriebe an. Allein zwischen 1885 und 1900entstehen 1.800 Neubauten. – Damit ist das heutige Grazin seinen Grundzügen festgelegt und abgeschlossen.Das zweite und kleinere Schloßbergmodell Anton Siglspräsentiert den überwiegend kahlen Schloßberg etwa40 Jahre nach seiner Sprengung. Freiherr <strong>von</strong> Weldenhatte bereits begonnen, aus der früheren Festung eingärtnerisches Gesamtkunstwerk zu machen. Darüberhinaus sind auf dem Hochplateau die rudimentärenmilitärischen Befestigungen zu sehen, die die Staatsmachtangesichts der Unruhen <strong>von</strong> 1848 anlegen ließ.Noch ein letztes Mal sollte der Schloßberg kriegerischenZwecken dienen, als auf seinem Rücken im ZweitenWeltkrieg Fliegerabwehrkanonen aufgestellt wurden.Anton Sigl: Kleines Schloßbergmodell, 1850Holz, Pappmaché, Farbe<strong>GrazMuseum</strong>, Inv.-Nr.OBJ05 / 00262Ein Leben für den <strong>Stadt</strong>hügelAnton Sigl (1776–1863) stammte aus der Südsteiermarkund war als ständischer Kanonier und Feuerwächterauf dem Grazer Schloßberg beschäftigt. In seiner Freizeitschuf er aus Pappmaché und Holz zwei plastischeModelle des Schloßbergs, die uns bis heute überauswertvolle historische Hinweise zur baulichen Geschichtedes Grazer <strong>Stadt</strong>hügels liefern. Das sogenannte „großeModell“ des <strong>GrazMuseum</strong>s steht zur Zeit im Glockenturm:Es zeigt den Zustand der Befestigungsanlagen vorder Zerstörung durch die Franzosen 1809.Porträt Anton Sigl, um 1800Öl auf LeinwandGraz, Universalmuseum Joanneum, Alte Galerie, Inv.-Nr. 123815


Der Blick des Malers findet nach Hause<strong>Die</strong>ses Bild ist Teil eines sechsteiligen Panoramas der<strong>Stadt</strong> vom Schloßberg aus. Wie beim Temperagemäldeder „Neuerbauten Kettenbrücke“ geht auch hier derBlick über das Glockengießerhaus Richtung Nordwesten.Neu hinzugekommen ist die ab 1839 erbaute Militärschwimmschule.<strong>Die</strong> Kettenbrücke war eine der erstenihrer Art auf dem Gebiet der Monarchie, sie galt alstechnische Pionierleistung. Wohl auch, weil ConradKreuzer mit seiner Familie lange Jahre im lendseitigenAnkerhaus wohnte, taucht die Brücke immer wiederin seinem Werk auf.Conrad Kreuzer: Blick vom Schloßberg nach Nordwesten mit der KaiserFerdinand-Kettenbrücke und der Militärschwimmschule, 1841Tempera auf Papier<strong>GrazMuseum</strong>, Inv.-Nr. MAL06 / 00806Momentaufnahmen der <strong>Stadt</strong>entwicklungHeute gilt es als nahezu sicher, dass diese AufnahmenEnde des 19. Jahrhunderts im Auftrag der <strong>Stadt</strong> Grazangefertigt wurden, um die rasanten Veränderungen im<strong>Stadt</strong>bild zu dokumentieren. Entgegen der Fokussierungauf den historischen Baubestand der Inneren <strong>Stadt</strong>,machte Leopold Bude (1840–1907) <strong>von</strong> den über 400uns heute bekannten Fotografien fast zwei Drittel inden Außenbezirken. Schon zuvor hatte Bude sich alsPorträt- und Kunstfotograf einen Namen gemachtund besaß in der heutigen Girardigasse das größte Fotoatelierder Steiermark.Leopold Bude: Grenadiergasse und Lazarettgasse, 1893Fotografi en<strong>GrazMuseum</strong>, Inv.-Nr. FOT05 / 01359 und GDF-B105 / G<strong>Die</strong> offene <strong>Stadt</strong> wird grünUnter Landesbaudirektor Martin Kink wurden baulichabgrenzende <strong>Stadt</strong>mauern und <strong>Stadt</strong>tore niedergerissen.Teile des zugeschütteten <strong>Stadt</strong>grabens wurden zurRingstraße umgestaltet und für das einst militärischgenutzte Glacis erstellte man ein Parkkonzept. Damitsollte Graz sein mittelalterliches Aussehen ablegen,sich modernisieren und verschönern. Kink zeichneteauch für die Verbauung rund um das demolierte Neutorverantwortlich, wo die Errichtung des Erzherzog-Johann-Denkmals geplant war.<strong>Die</strong> Industrielle Revolution gingin Graz, auch wegen der unterentwickeltenVerkehrsverhältnisse,zunächst nur sehr langsam<strong>von</strong>statten. <strong>Die</strong> Universitäts- undVerwaltungsstadt blieb lange<strong>von</strong> Klein- und Mittelbetriebengeprägt. <strong>Die</strong> um 1850 einsetzendeIndustrialisierung war aber dennochdie Grundlage dafür, dass sich dieEinwohner/-innenzahl bis 1900fast verdreifachte. <strong>Die</strong> heute fürEvents genutzte Seifenfabrik imArbeiterbezirk Liebenau ist einindustriehistorisches Denkmal.Aber Graz hatte zu keiner Zeitden eindeutigen Charakter einerIndustriestadt.16Erweiterungsprojekt der <strong>Stadt</strong> Graz zwischen dem Neutor und der Murnach Kink, 1863Plan (Reproduktion, Original: 41 x 34,2 cm)Graz, Steiermärkisches Landesarchiv, Inv.-Nr. Baupläne Graz M6 / 130


Das Eigeneund das FremdeObgleich Staatskanzler Metternich nach Kräften versuchte,ihn zu unterdrücken, lebte der liberale Geist auch imbiedermeierlichen Vormärz, der Zeit bis zur Märzrevolution<strong>von</strong> 1848, weiter. Doch der Liberalismus, für den auchErzherzog Johann stand, prägte den Denkstil der Gebildetenin den Freimaurerlogen, den Akademien, Salons undLesezirkeln. <strong>Die</strong> zweite Zielscheibe des MetternichschenPolizeistaats war der Nationalismus: unvereinbar mit denvielen Völkern der habsburgischen Monarchie.In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundertswuchs Graz industriell nach Westen gegendie Bahn zu. Damit formierte sich die <strong>Stadt</strong>endgültig in zwei Hälften: jenseits der MurKleinhandwerker/-innen, Kleinbürger/-innenund Arme und noch weiter westlich – rundum die Fabriken – die Quartiere der Arbeiter/-innen. Im Osten das Besitz- und Bildungsbürgertum,das sich sein religiöses Zentrummit der Herz-Jesu-Kirche schuf. Ihr westlichesGegenstück ist die 1895 geweihteVinzenzkirche in Eggenberg, das damalsaußerhalb der <strong>Stadt</strong> lag.1848 wurde Metternich hinweggefegt, nationale Selbstbestimmungimmer lauter gefordert. <strong>Die</strong> Frankfurter Nationalversammlungwählte Erzherzog Johann, den populärenMetternich-Gegner, zum Reichsverweser. Ein deutscherNationalstaat einschließlich der Steiermark sollte entstehen.Doch Johann musste sein Amt schon nach eineinhalbJahren niederlegen.Nach 1850 konkurrierten zwei Zentren um den Anspruch,Deutschland politisch neu zu organisieren: die preußischeUnion und der österreichisch dominierte Deutsche Bund.<strong>Die</strong>s trug später dazu bei, dass viele deutschsprachige Bürger/-innen ihre nationalen Hoffnungen in Preußen setzten – nichtnur in Graz, der später „deutschesten <strong>Stadt</strong>“ der Monarchie.


20Vorsicht, Zigeuner!<strong>Die</strong>ses kriminologische Erkennungsbild tarnt sichhinter wissenschaftlicher und fotografischer Objektivität,um die menschenverachtende Perspektive desHerrenmenschen auf die zu überwachenden Zigeunerzu verschleiern. Neben „Hausiererjuden“ zähltennicht-sesshafte Roma und Sinti stets zu den Prototypenunerwünschter Landstreicher/-innen. Siebildeten die größte europäische Minderheit und wurdenin Teilen Europas bis ins 19. Jahrhundert hinein alsSklaven und Sklavinnen gehalten. Sie wurden diskriminiert,vertrieben, verfolgt und ermordet – wie amGrazer <strong>Stadt</strong>rand 1938 <strong>von</strong> den Nationalsozialisten.Profi le <strong>von</strong> Zigeunerinnen, um 1900Fotografi en auf KartonHans Gross Kriminalmuseum, Universitätsmuseen der Universität Graz,Inv.-Nr. 641 Zig.In der „deutschesten“ <strong>Stadt</strong>Als der österreichische Ministerpräsident Badeni 1897zwei Sprachverordnungen verkündete, durch die inBöhmen und Mähren die Zweisprachigkeit aller Behördeneingeführt werden sollte, kam es auch in Graz zuAusschreitungen. Sie konnten nur durch den Einsatzdes bosnisch-herzegowinischen InfanterieregimentsNr. 2 beendet werden, dessen Angehörige vor alleman ihrer exotischen Kopfbedeckung, dem Fez, zuerkennen waren. Da sie kein Deutsch sprachen, war dieGefahr gering, dass sie sich mit den deutschnationalenDemonstranten verbrüdern würden.Fez, Ende 19. Jh.Filz<strong>GrazMuseum</strong>, Inv.-Nr. MIL05 / 02550Grazer Bürger träumen <strong>von</strong> Baumwollfeldern<strong>Die</strong> fantasievolle Darstellung der Baumwollpflanzean einer tropischen Küste und die Verladung <strong>von</strong> Baumwollb<strong>allen</strong>weisen auf die Produktpalette der ehemaligen„Current- und Modewarenhandlung Geymayer“ im HausLuegg am Hauptplatz 11 hin. Kleider, Bänder, Stoffeund modische Accessoires wurden in dem Geschäftverkauft, das sich diese künstlerisch hochwertige Formeiner Geschäftstafel leistete.Firmenschild „Zum Wollbaum“, um 1850Öl auf Eisentafel<strong>GrazMuseum</strong>, Inv.-Nr. MAL06 / 00791Ein Platz wird deutscherDer Platz am Ende der südlichen Herrengasse musste sichschon einige Namensänderungen gef<strong>allen</strong> lassen.Ursprünglich nach dem damals noch bestehenden <strong>Stadt</strong>torschlicht Eisenthorplatz genannt, wurde er zunächstin Auerspergplatz und 1899 in Bismarckplatz umbenannt.Schon im Jahr zuvor hatte man gesehen, wie groß derEinfluss der Deutschnationalen in der Gemeindestubegeworden war, als zum 50-jährigen Regierungsjubiläumdes österreichischen Kaisers am Rathaus nicht dieschwarz-gelben Fahnen Österreichs, sondern die schwarzrot-goldenenDeutschlands vorherrschten.Hinweisschild Bismarckplatz, o. J.Gusseisen lackiert<strong>GrazMuseum</strong>, Inv.-Nr. OBJ05 / 00183<strong>Die</strong> Revolution in KettenEin Jurist und Ehrenbürger der <strong>Stadt</strong> Graz setzte sichin der heftig diskutierten Sprachenfrage für die Rechteder slowenischen Bevölkerung ein. Vincenz Emperger,der Sprecher der Grazer Kleinbürger/-innen, nahm aucham blutigen Ende der Revolution in Wien teil, was ihmeine Verurteilung zu 18 Jahren Festungshaft einbrachte,<strong>von</strong> denen er zwei Jahre auf dem berüchtigten Spielbergin Brünn absaß. 1858 wurde er begnadigt undrehabilitiert. Er starb 1867 als Rechtsanwalt in Graz.Ignaz Preisegger: „Dr. Vincenz v. Emperger Sprecher der Grazer Bürgeram 15. und 16. März 1848“, 1848Lithografiert bei Josef Franz Kaiser<strong>GrazMuseum</strong>, Inv.-Nr. GRA05 / 08039Von Dr. Vincenz <strong>von</strong> Emperger in der Haft getragene Hand- und Fußfessel,Mitte 19. Jh.Eisen, geschmiedet<strong>GrazMuseum</strong>, Inv.-Nr. OBJ06 / 00730Fürs deutsche Vaterland<strong>Die</strong> riesige Festhalle aus Holz – 50 Meter breit, 21,5Meter hoch und fast 100 Meter lang – wurde fürdas Deutsche Sängerbundfest auf dem Festplatz hinterder Industriehalle in der Fröhlichgasse errichtet.Für einige Tage im Sommer 1902 war Graz nach derZeit als Kaiserresidenz im Mittelalter wieder Mittelpunktder deutschen Lande. Über 15.000 Sänger und 200.000Zuschauer/-innen nahmen an dem deutschvölkischenEreignis teil. Nach Ende der Veranstaltung wurde die Hallewieder vollständig abgetragen.Oskar Seitz: 6. Deutsches Sängerbundfest, 1902Fotografi e<strong>GrazMuseum</strong>, Inv.-Nr. FOT05 / 0047321


DasstadtbürgerlicheProjektDas 19. Jahrhundert ist das Jahrhundert des Bürgertums.Adel und Klerus verlieren ihre Privilegien, die bürgerlichenIdeale werden Realität. <strong>Die</strong> Gleichheit als Gleichheit vordem Gesetz wird bald selbstverständlich, die politischeGleichberechtigung des Bürgertums wächst. <strong>Die</strong> Freiheitals Person und die Freiheit des Eigentums schaffen wichtigeVoraussetzungen für die Entwicklung des Kapitalismus.Und die Brüderlichkeit schließlich verwirklicht sich imRecht – als Schutz der Schwachen vor den Übergriffen derMächtigen. Das 19. Jahrhundert ist das Jahrhundert derIndustrialisierung und die <strong>Stadt</strong> der Ort, wo sie wesentlich<strong>von</strong>statten geht. In Graz ist es Erzherzog Johann, der alsBürger den Startschuss dafür gibt. Das <strong>von</strong> ihm begonnene„bürgerliche Projekt“ erfasst bald alle Ebenen des Lebens:Politik, Kultur, Wirtschaft, Bildung und Infrastruktur.An der Wende zum 20. Jahrhundert gehörten die Jugendstilbauten desGrand Hotel Wiesler, des Hotels Erzherzog Johann oder des GroßkaufhausesKastner & Öhler zu den wenigen Zeichen internationaler Modernität.Eine weitere Manifestation war das auch überregional sehr beachtete Landeskrankenhaus.Wegen seiner stadtfernen Lage zunächst bekämpft, wurde dieausgedehnte Anlage im Pavillonsystem mit unterirdischen Verbindungsgängenwegen ihrer überlegenen Funktionalität und sezessionistischen Ornamentikrasch angenommen.Doch schon bald nach der Gründerzeit der 1870er- und1880er-Jahre ist die große Zeit des liberalen Bürgertumsvorüber. Der Kapitalismus produziert einen doppeltenBoden. Unter der scheinbaren Rationalität der kapitalistischenWirtschaftsordnung formiert sich ein Kleinbürgertum,das sich <strong>von</strong> dieser bedroht fühlt. Es reagiert mitder Entwicklung einer Gegenwelt, die klein, überschaubarund voller Feindbilder ist.


Graz gibt Gas1846 wurde <strong>von</strong> der „Germanischen Gazbeleuchtungs-Gesellschaft“ mit Sitz in Paris das erste Gaswerk inGraz auf der sogenannten „Kühtratte“ zwischen demheutigen Schönaugürtel und der Steyrergasse in Betriebgenommen. Das Gas wurde aus der Vergasung <strong>von</strong> Kohlegewonnen, weshalb man das Werk außerhalb der <strong>Stadt</strong>errichtete. Bis 1900 wurde das Gebiet jedoch dichtverbaut und die Bewohnerinnen und Bewohner beklagtendie Beeinträchtigung durch Rauch und Gestank. Erst1940 wurde in Rudersdorf ein neues Gaswerk errichtet.Josef Kuwasseg: Das erste Gaswerk in Graz, 1846Aquarell<strong>GrazMuseum</strong>, Inv.-Nr. GRA05 / 01303Fast adelig, beinahe heilig<strong>Die</strong> Familie Rochel zählte zu den alteingesessenenKaufmannsfamilien in Graz. Ihre Aufstellungerinnert an Darstellungen der Heiligen Familie:Mutter und Kind ähneln Maria und Jesus. Der Mannsteht als Familienoberhaupt hinter ihnen. Das aufdem Tisch stehende Goldgefäß, der Teppich wieauch der exotische Papagei spiegeln den Reichtumder Familie wider und könnten ein Verweis auf ihreHandelsbeziehungen in ferne Länder sein. DurchSchmuck, Kleidung und den roten Vorhang wird dieSelbstdarstellung des Adels imitiert.Paul Künl: <strong>Die</strong> Kaufmannsfamilie Rochel in Graz, um 1850Öl auf Leinwand<strong>GrazMuseum</strong>, Inv.-Nr. MAL05 / 00583Denk mal, ein Brunnen!Der Erzherzog-Johann-Brunnen am Hauptplatz wurdeam 8. September 1878 in Anwesenheit des Kaisersenthüllt. In diesem Denkmal treffen sich zwei ursprünglichvöllig getrennte Initiativen: das Legat eines GrazerAdeligen für einen Monumentalbrunnen am Hauptplatzund die Idee, Erzherzog Johann am Platz vor demEisernen Tor ein Denkmal zu errichten. Ein GrazerGemeinderat vereinte beide Projekte zu einem Kompromiss:Dem Denkmal mussten nur noch Wasserspeierund Auffangbecken hinzugefügt werden und derErzherzog-Johann-Brunnen am Hauptplatz war fertig.Beer & Mayer: Enthüllungs-Feierlichkeit Erzherzog Johann-Monument,08.09.1878Fotografi e<strong>GrazMuseum</strong>, Inv.-Nr. FOT05 / 00400<strong>Die</strong> Revolution spricht Deutsch1848 kam es in vielen europäischen Städten zu bürgerlichenRevolutionen. Zwar wurde auch in Grazdemonstriert, aber es blieb zunächst vergleichsweiseruhig. <strong>Die</strong> zeitweilige Aufhebung der Pressezensursorgte kurzfristig für eine Vielzahl regierungskritischerGedichte und Zeitschriften. Eine Folge des Jahres1848 war die Gründung studentischer Verbindungen.In Graz erstarkte die deutsch-nationale Bewegung mitdem Ziel der „deutschen Einheit“.Aufruf an die Bewohner der <strong>Stadt</strong> Gratz <strong>von</strong> Graf Wickenburg, 1848Druck auf Papier<strong>GrazMuseum</strong>, Inv.-Nr. ARC05 / 370Arbeitnehmer Nestroy24Johann Nestroy begann seine Karriere am ständischenSchauspielhaus in Grätz. Er war hier <strong>von</strong> 1826 bis1831 fix engagiert und ging vom Bassbariton der Operzum musikalischen Sprechtheater über. Theater inStädten wie Graz waren zu dieser Zeit die Unternehmenmit den meisten Beschäftigten. Erst später kamenZuckersiedereien oder Brauereien hinzu. Kaufleute undBankiers machten im Biedermeier noch größere Gewinneals Fabrikanten. Als Nestroy 1859 in Graz starb, hattendie Theater als große Arbeitgeber bereits Konkurrenz <strong>von</strong>der Industrie bekommen.Johann Nestroy als Jupiter, um 1860Holzstatuette, gefasst, Stoffbespannung<strong>GrazMuseum</strong>, Inv.-Nr. SKU05 / 0010225


<strong>Die</strong> feinenUnterschiede<strong>Die</strong> Glanzzeit <strong>von</strong> <strong>Stadt</strong> und Bürger/-innen kam mit derIndustrialisierung. Das gebildete und vermögende Bürgertumwurde zur tonangebenden gesellschaftlichen Größe.Viele Städte erreichten eine Bevölkerungszahl und eineAusdehnung wie nie zuvor.1885 wandelte sich Graz <strong>von</strong> einer bürgerlichliberalenzur „deutschesten <strong>Stadt</strong> derMonarchie“. Bürgermeister Franz Graf war einin <strong>allen</strong> „deutschen Landen“ gefeierterHeld gewaltsamer Demonstrationen, die alsRassenkampf der Germanen gegen die Slaweninszeniert wurden. Bei Repräsentationsbauten,wie dem Städtischen Amtshaus <strong>von</strong> 1904,ist das „Nationale“ direkt oder indirekt Hintergrundeiner Baugesinnung, die alle Stile(alt-)deutsch zu deklinieren wünscht. Liberalebevorzugten die Renaissance, Deutschnationaledie Gotik.Menschen zogen in die <strong>Stadt</strong>, um Arbeit zu finden. WeilWohnraum fehlte, wurde neu gebaut – oft nur notdürftigeUnterkünfte. So entstand unter der dünnen Schicht deswohlhabenden Bürgertums eine große Mehrheit, dieunter ärmlichen Verhältnissen den Wohlstand der Wenigensicherte. Der Weg zur sozialen Revolution war vorgezeichnet:Arbeiterinnen und Arbeiter organisierten sich, umgerechte Entlohnung, gerechte Arbeitszeiten und eineGrundversorgung zu fordern.Weil viele Männer schlecht bezahlt wurden, mussten mehrFrauen arbeiten – oft für einen noch geringeren Lohn.Doch die Arbeit in Büro oder Fabrik, die städtische Umgebungüberhaupt, eröffneten ihnen Freiheiten, die etwa für Hausangestellteundenkbar waren. <strong>Die</strong> neue Aufbruchstimmungbefeuerte eine Vielzahl <strong>von</strong> Gruppierungen, die sich für mehrRechte und Selbstbestimmung für Frauen einsetzten.


Industrialisierung auf SchieneJohann Weitzer (1832–1902) eröffnete 1854 eineWagenschmiede in Graz, in der er mit drei GesellenKutschen fertigte. 1861 verlegte er seine mittlerweilegroß gewordene Wagenfabrik in die Nähe des Bahnhofsund produzierte fortan Eisenbahnwaggons. Weitzerwar damit einer der Ersten in Graz, die das Potenzialder Eisenbahn erkannten und ihre Fabriken daraufausrichteten. In der Folge ließen sich zahlreiche großeIndustriebetriebe entlang der Bahn nieder. Durchdie Ansiedelung und Beschäftigung tausender Arbeiter/-innen entwickelte sich hier in den darauffolgendenJahrzehnten ein Arbeiterbezirk.Wagen- und Maschinenfabrik Joh. Weitzer in Graz, o. J.Papier (Reproduktion, Original: 47,8 x 59,3 cm)Graz, Steiermärkisches Landesarchiv, Inv.-Nr. OBS Graz I G B 6 C 001Frauen im Kontor<strong>Die</strong> angespannte finanzielle Situation vieler bürgerlicherFamilien machte es notwendig, dass junge Frauenvor ihrer Heirat arbeiten mussten – zum Beispiel als„Stenotypistin“ bzw. Schreibkraft. Sobald eine größereZahl <strong>von</strong> Frauen in diesem Beruf arbeitete, verlor eran Ansehen und wurde schlechter bezahlt – ein Umstand,der typisch für weibliche Büroberufe war. Aber diearbeitenden Frauen begannen, sich zu organisieren. Parallelzu den Arbeiter/-innenbildungsvereinen entstanddie bürgerliche Frauenbewegung.Frauenarbeit im Büro der Farbenfabrik Zankl, 1912Fotografi e<strong>GrazMuseum</strong>, Inv.-Nr. 659 / 82-64Sportliche EmanzipationRadfahren war für Frauen zunächst umstritten, galtes doch für bürgerliche Frauen – und nur für jenekam das teure Sportgerät in Frage – als unschicklich,öffentlich Anstrengung, ein verschwitztes Gesicht,Knöchel oder gar Waden zu zeigen. Auch die Mode –bodenlange Kleider mit Korsett – war für das Radfahreneher hinderlich. 1893 wurde unter anderem <strong>von</strong>Elise Steiniger und Vicenza Wenderich der Damen-Bicycle-Club gegründet, in dem sich die Frauen undTöchter der Herren des Grazer-Bicycle-Clubs trafen.Erster Grazer-Damen-Bicycle-ClubWiener Mode, Heft 11, XIV. Jg., 1. März 1901, S. 444–445<strong>GrazMuseum</strong>, Inv.-Nr. 710<strong>Die</strong> Frau des Mittelstands kochtBis 1957 erschien „<strong>Die</strong> süddeutsche Küche“ oder„<strong>Die</strong> große Prato“ in 80 Auflagen und in 16 Sprachenübersetzt. <strong>Die</strong> Autorin des populären KochbuchsKatharina Pratobevera sammelte Kochrezepte und gabneben einer Kochanleitung auch Rat zu Haushaltsführungund Benehmen <strong>von</strong> Hausfrauen des Mittelstandes.Dass sie auch heute noch eine der bekanntestenGrazer Frauen ist, hat zum einen mit ihrer bürgerlichenHerkunft und zum anderen mit der großen Popularität<strong>von</strong> Kochbüchern zu tun.Portrait Katharina Pratobevera, 1846Öl auf KartonKulturamt Graz<strong>Die</strong> ersten Studentinnen der SteiermarkAb 1897 waren Frauen an der Philosophischen Fakultätzum Studium zugelassen. Oktavia Rollett, Tochterdes Rektors der Universität, war im Jahr 1900 genausowie Maria Schuhmeister eine der ersten ordentlichenStudentinnen in Graz. 1905 schloss sie ihr Medizinstudiummit Auszeichnung ab. Als erste praktizierendeÄrztin in der Steiermark war sie sehr beliebt undbehandelte oftmals auch kostenlos. Aigner-Rollettengagierte sich in zahlreichen Vereinen der bürgerlichenFrauenbewegung.Maria Schulmeister und Oktavia Aigner-Rollett bei Institutsarbeiten währendihrer gemeinsamen Studienzeit in Graz 1900–1905Foto auf Metall (Reproduktion, Original: 9 x 7 cm)Graz, Steiermärkisches Landesarchiv, Inv.-Nr. A-Aigner Reinhold K10 H108Bildung für Hausfrauen und Mütter<strong>Die</strong> Initiative für ein Mädchenlyzeum in Graz ging <strong>von</strong>Männern und Frauen des Bürgertums und niederenAdels aus, die liberal und antiklerikal eingestellt waren.Ihre Töchter sollten durch einen allgemeinen, ehergeisteswissenschaftlichen Unterricht zu gebildeten Hausfrauenund Müttern erzogen werden. 1885 wurdedas Lyzeum in die städtische Verwaltung übernommen.Der Besuch des sechsklassigen Lyzeums berechtigteallerdings nicht zum Studium an der Universität.Lehrplan des Mädchenlyzeums, 1901Tinte auf Papier (Reproduktion, Original: 34 x 31,1 cm)<strong>Stadt</strong>archiv Graz, Faszikel Mädchenlyzeum 6 / 1894 / 964572829


Graz ist weiblich und dientInnerhalb <strong>von</strong> rund sechzig Jahren verdreifachte sich im19. Jahrhundert die Grazer Einwohner/-innenzahl vorallem durch Arbeitsmigration. <strong>Die</strong> vielen <strong>Die</strong>nstbotinnenmachten Graz mehrheitlich weiblich. Der zweisprachigeAusweis verweist zudem auf eine mehrsprachige Steiermark.Dennoch lässt sich die Angst vor Überfremdungnicht durch Anteil oder Einfluss slowenischsprachigerGrazer/-innen erklären. <strong>Die</strong>se machten laut Volkszählunglediglich wenige Prozent aus und gehörten fast alleärmeren Bevölkerungsschichten an.<strong>Die</strong>nstbotenausweis slow. / dt., 1898Papier gebunden„recycled history“ – Sammlung Joachim HainzlDer Feuerwehrmann als Maler<strong>Die</strong> insgesamt neun Teile umfassende Serie an Brandbildernwurde vermutlich <strong>von</strong> einem Feuerwehrmannangefertigt. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts lag derstädtische Feuerlöschdienst in der Hand derlandständischen Kanoniere und der Rauchfangkehrer.Mehrere Großbrände sowie die Einstellung der bisherigenBrandalarmierung durch Kanonenschüsse vomSchloßberg aus veranlassten den Grazer Magistrat,ein eigenes „Pompier-Korps“ aufzustellen.Schielden: Hauptansicht des Brandes im Feldhof 1891, Brand der FabrikWeitzer 1899, Brand der Mälzerei der Bierbrauerei <strong>von</strong> Reininghaus 1890Buntstift auf Papier<strong>GrazMuseum</strong>, Inv.-Nr. GRA06 / 10071; GRA06 / 10058; GRA06 / 1005530Das private Wohnhaus, nicht zur Siedlung gruppiert, sondern in positiverBeziehung direkt an die öffentliche Straße angrenzend, dieses urbaneMuster der Gründerzeit hat laut Immobilienpreisspiegel nach wie vor diegrößte Nachfrage. Den Gipfel stellt das Viertel um die Herz-Jesu-Kirchedar, jenen neofrühgotischen Rohziegelbau <strong>von</strong> Georg Hauberisser d. J.,der den gutbürgerlichen, östlichen Teil der <strong>Stadt</strong> städtebaulich beherrscht.Sein 1887 vollendeter Südwestturm gehört zu den höchstendes heutigen Österreich.


Aus Gründen des Umweltschutzes stellt das<strong>GrazMuseum</strong> diese Broschüre unterwww.grazmuseum.at auch als PDF zur Verfügung.www.grazmuseum.at

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