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Allein unter Schafen - Alexandre Dupeyron

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DIE WELT DES SCHAFSMEHR ALS NUR MÄH50bAngst, deshalb bleibt er immer an meinerSeite. Aber Schafe haben vor Kindern mehrAngst als umgekehrt. Wir klettern über dasGatter, Matteo pirscht sich vorsichtig an dieTiere heran, er will sie streicheln – da rennensie davon.Etorri, Asers Hund, hört auf die knappenKommandos und treibt die Tiere zusammen.Gute drei Dutzend laufen jetzt auf die Straße.Mein Sohn Elias fragt: „Die passen doch garnicht alle ins Auto!?“ Die Antwort ist ein langerHirtenstab, Aser drückt ihn Elias in dieHand – und schon folgt die Herde brav meinemSohn. Matteo geht lieber auf Abstandund trottet den <strong>Schafen</strong> hinterher. Am Hofangekommen, lotst Elias die Herde in denStall, schließt das Tor und strahlt wie nacheiner bestandenen Prüfung.Schafe hätten wir jetzt also schon mal ausnächster Nähe gesehen. Aber wo ist ein Schäfer,wie ich ihn mir erträume? Einer, der Tageund Nächte lang mit seinen <strong>Schafen</strong> über dieWeiden zieht. Nicht so ein Moderner mit Geländewagen,Handy und steriler Käserei.Nachdem die Tiere versorgt sind, frage ichAser danach.Aser zeigt Richtung Berg. „Da drüben istEnrikes Hütte – da müsst ihr hinwandern!“Meine Söhne blicken dem ausgestrecktenArm von Aser nach. Und murren nicht.Natürlich hat auch Schäfer Enrike einHandy. Wir sollen ihn bei seiner Hütte treffen.Endlich wandern!Wir verabschieden uns von Aser und seinerFamilie und schultern Zelt, drei Schlafsäcke,Klamotten für jede Witterung, vielWasser, Brot, Wurst und Käse. Ein paar Meter– und schon stapft Elias auf der Jagd nacheiner Heuschrecke in den Sumpf und kriegtnasse Füße. Eine dreiviertel Stunde späterwill Matteo getragen werden. Bis wir endlichvor jener Hütte stehen, die Enrike gehört.Aber Enrike ist nicht da.Ich verrate nicht, dass er erst morgen frühkommen wird, mit dem Auto. Enrike ist 68Jahre alt und verzichtet lieber aufs Zelten. Ichblicke über die Alm, schwärme: „Ist das nichttoll?“ Elias brummt: „Und wo sind die Schafe?“Auf der Alm stehen Pferde und Kühe.Keine Schafe. Am Horizont, dort wo die Almzum Gorbeia aufsteigt, entdecken wir lauterweiße Punkte. Wir rennen los – und die Schafeweg. Sie haben rote Punkte auf dem Hintern,wie Rücklichter, keuchend sehen wirden hoppelnden Farbtupfern in der Dämmerungnach. Schließlich pirschen wir uns andie Herde heran, wie Indianer. Matteo flüstert:„Die haben Angst. Vor mir!“ Elias erklärt,ganz fachmännisch: „Wir braucheneinen Stab und einen Hund, wir müssen aufEnrike warten.“Wir sitzen vor dem Zelt, kauen auf Baguetteund Chorizo-Wurst und schauen zu,wie sich die Nacht über die Welt legt. DieKuhglocken verstummen. „Ganz schön gemütlich“,sagt Elias.Von wegen: Die Nacht ist beschissen, derBoden aus Stein. Ich klaue Matteos Kissenund fühle mich mies dabei. Heftiger Windlässt jeden Zeltzipfel flattern. Beim Pinkelntritt sich Elias Disteln in den Fuß. Am Morgenseufzt Matteo: „Ich will heim.“Am nächsten Morgen klappert ein uralterLandrover den Berg herauf. Ein weißhaarigerMann steigt aus und lacht uns an. An den Füßenträgt er dicke Wollsocken, um die Sohlensind Lederriemen gebunden. Das kann nurEnrike sein, der Schäfer. Die – mehr oder weniger– wirkliche Version jenes Bildes, dasmir Tomi Ungerer in den Kopf gepflanzt hat.Er ist der letzte seiner Art hier. Seit er vierzehnJahre alt ist, hütet er Schafe. Wie schonsein Vater, wie schon sein Großvater. Enrikehat seinen Hof im Tal, dort baut er Obst undGemüse an. Seine Söhne wollen weder damitnoch mit den 300 <strong>Schafen</strong> hier oben auf derABENTEUER AM MORGEN:KATZENWÄSCHE AM TÜMPEL.Alm irgend etwas zu tun haben. „Denen istdas zu blöd“, sagt Enrike.Jetzt ist der Schäfer da, gehen wir also dieSchafe holen! Aber Matteo greint: „Schonwieder wandern?“ Ich übersetze Enrike, dassmein Sohn lauffaul ist. Er lacht: „Ich auch.Aber ich hab ja den Hund – der holt die Schafefür mich.“ Der Hund rennt los, wir springenhinterher.Enrike gibt pfeifend Kommandos undlotst den Hund damit aus der Ferne. DieSchafe trappeln wie eine Wolke über die Weide,im Zeitraffertempo kommen sie zu unsherüber – wir klatschen dem Hund Applaus.Elias rennt im Slalom um Disteln, Kuhfladenund Schafsköttel, „so macht Wandern Spaß!“,sagt er. Wir folgen der Herde und ihrem Hirtendie Alm hinauf, so gut es eben geht. DennEnrike hat für sein Alter einen strammenSchritt. Zurück an seiner Hütte, müssen wirschieben und pressen, Schafe sind ja so stur!Enrike möchte die Lahmenden verarzten,aber die Schafe wollen nicht in die Koppel, siestemmen sich mit ihren Hufen und Hinternwie Türstopper in die Wiese, doch sie habenkeine Chance. Enrike zückt ein scharfes Messerund schneidet großzügig Hufe ein, bis erdie Dornen und Splitter entfernt hat. Eliasschlägt die Hand vor die Augen, er kann keinBlut sehen. Erst nach einer Weile schielt ervorsichtig durch die Finger.Matteo versucht, sich einem Schaf zu nähern.Es hoppelt weg. Wie es denn heißt, willer wissen. „Ardiak,“ sagt Enrike. Und das da?Matteo deutet auf das nächste. „Ardiak.“ Ardiakheiße Schaf auf baskisch, sagt Enrike, sieFOTOS: GETTYSTER MUSTERMANN/BLINDAGENTUR; MUSTER MUSTERMANN/BLINDAGENTURPAAR DICKE SOCKEN KANN MANAUS DER WOLLE STRICKEN, DIE EINMILCHSCHAF PRO JAHR PRODUZIERT.SCHAFE KÖNNEN ZWISCHEN50 VERSCHIEDENEN ARTGENOS-SEN UNTERSCHEIDEN UND INSCHNEE EINGEGRABEN BIS ZUZWEI WOCHEN ÜBERLEBEN.MUTTERSCHAFZIBBEEXTREME SHEEP HERDING, SCHAF-KREISEL UND ERNIE & BERT UNTERNIDO.DE/SCHAFESCHAFE TRINKENNIEMALS AUSFLIESSENDENGEWÄSSERN.VATERSTÄRBOCKWIDDERHILFT SCHÄFCHENZÄHLEN?1 2 3 4 5PROF. CHRISTIAN KRÜGERVOM SCHLAFMEDIZINISCHENZENTRUM HAMBURG:„LEIDER OFT NICHT. DAS ZÄHLEN BASIERTAUF DER GEISTIGEN VORSTELLUNGSKRAFTUND ERZEUGT MONOTONE BILDER IM KOPF.FÜR VIELE IST DAS SO LANGWEILIG, DASS SIEMIT DER ZEIT ABSCHWEIFEN UND SICHANDERWEITIG GEDANKEN MACHEN.“KINDLAMMDAS LAMM IST NEBENDER TAUBE DAS AM HÄU-FIGSTEN VORKOMMENDETIER IN DER CHRISTLICHEN IKONOGRAFIE.DER ERSTE HEISS-LUFTBALLON DERBRÜDER MONTGOL-FIER WURDE AM 5.JUNI 1783 IN DERNÄHE VON ANNO-NAY IN FRANKREICHSTEIGEN GELASSEN.DARIN: EINE ENTE,EIN HAHN UND EINSCHAF.chaben keine Namen. Er <strong>unter</strong>scheide sie nachGröße, Alter, Geschlecht und nach ihremHinken. „Kuscheln kann man nicht, die rennenimmer davon.“ Matteo verschränkt dieArme und stellt fest: „Außerdem sind die hiernackt.“ Kein Wunder: Enrike hat sie erst vorzwei Wochen geschoren.Plötzlich platschen dicke Tropfen auf unsher<strong>unter</strong>, schnell in die Hütte. Enrike öffnetdie rote Tür, darin stehen ein Ofen und sechsStockbetten. „Hier haben mal viele Hirten geschlafen.Alle ausgestorben – bis auf mich“,lacht er. Auf einem Regalbrett stehen Gin,Brandy und Sherry. „Schnell noch einSchlückchen“, sagt Enrike und hält den Jungseine Flasche hin. „Ich will heim. Wollt ihrbleiben?“Meine Kinder schütteln die Köpfe. Siewollen mit Enrike fahren. Im Auto schimpftMatteo: „Die Hunde sind cool, aber die Schafewaren dämlich“. Und Elias sagt: „Dasnächste Mal gehen wir Termiten suchen, diesind schlau und können sogar Häuser bauen.“Der Wagen ruckelt über das Geröll, talabwärts,und ich denke über die letzten Tagenach. Ja, ich bin schuld. Daran dass wir in derStadt leben. Dass wir uns einbilden, alles wasFell hat, wolle sich von uns kraulen lassen.Dass wir alte Bilderbücher lesen und romantischenIdealen nachhängen. Den nächstenUrlaub dürfen die Kinder bestimmen!Einige Wochen später fahren wir über denBrenner. Matteo sagt: „Hier sieht es aus wiebei Enrike“, und Elias erwidert versonnen:„Nur nicht so schön.“ Ich bin fassungslos:„Das Schafehüten hat euch also gefallen?“Das sei doch eine super Reise gewesen, sagensie. Die schönen Wiesen. Die Nacht auf demBerg. Das Wandern mit Enrike. Und dieSchafe!8 9

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