Er hat dich lieber, so wie du jetzt bist: Mit glänzend gekämmtemHaar und ordentlichem Gesicht sitzt du ihm gegenüber. Indiesen Momenten scheint es ihm unwahrscheinlich, unglaubwürdig,<strong>das</strong>s er dich erst wenige Wochen kennt, <strong>das</strong>s es eine Zeit gab,und sie liegt nicht lange zurück, in der er noch nie ein Wort mitdir gesprochen hatte, in der er nichts von dir wusste und du nichtsvon ihm. Gleichzeitig aber weiß er um die Bilder, weiß, <strong>das</strong>s duauf Césars Geheiß hin auseinanderfallen kannst. Er würde dir folgen,aus der Klinik und wohin auch immer du ihn führen willst,er würde dir folgen, wenn er nur nichts wüsste von dem Weiß indeinen Augen und deinen spitzen, kleinen Zähnen.*Heute hast du so getobt, <strong>das</strong>s sie dich mit Chloroform betäubenmussten. Dieser Anfall war anders als alle vorherigen; er gehörtedir allein. Einem Fachpublikum hätte César ihn kaum vorführenwollen, denn er war pures Chaos, ohne Phasen, ohne Struktur.Und als César dir die Hände auf den Bauch legte, tat sich nichts,du schriest weiter, du warst nicht geheilt worden.Dann, sagte César, müsse er an diesem Dienstag wohl eine anderenehmen.Eine andere? Bis vor kurzem glaubten die Ärzte, die Schwesternund César auch, keine könne dieselbe Wirkung erzielen wiedu. Auch du dachtest <strong>das</strong>. Im vorigen Monat aber ist eine neuePatientin an die Salpêtrière gekommen. Ihr Name lautet BlancheWittman, und obwohl sie kleiner ist als du, wirkt sie ein gutesStück größer. Sie hält sich stets sehr gerade, ihr Haar ist wiegesponnenes Gold, ihre Lippen sind blutrot. In einem gläsernenSarg liegt sie allerdings nicht, stolziert stattdessen den halben Tagumher. Blanche, <strong>das</strong> braucht dir keiner der Ärzte zu erklären, istalles, was du nicht bist. Sie zappelt nicht herum wie du. Sie redet107
nicht laut und schnell wie du. Sie sitzt still, spricht leise und schlägtdie Augen nieder. Darauf aber fällst du nicht herein: Sie ist keinePrinzessin, keine Dame. Eines der anderen Mädchen hat dir erzählt,<strong>das</strong>s sie als Näherin arbeitete, bevor sie hierherkam. Erstdie Salpêtrière hat sie veredelt und zu einem Kunstwerk gemacht.César und die anderen können sich nicht sattsehen an ihr. Du hastdeine hundert Fotos, aber sie hat schon bald ein eigenes Gemälde.Blanche in Weiß, fallend oder eher: sinkend. Bestaunt, getragenund gerettet. Dich auf deinen Fotos, zähnebleckend, möchte niemandretten, dich möchte man durch Gitterstäbe bestaunen. Duaber wolltest ja ohnehin nie gerettet werden. Du bist hier, um zuretten.Noch kannst du dir nicht sicher sein, was Blanches Ankunft fürdich bedeutet. Es scheint aber, als sei durch ihr Auftauchen jeneVeränderung besiegelt, die bereits vor einigen Wochen ihren Laufnahm. Es ist wie an diesen Tagen, im Frühling oder Herbst, wenn<strong>das</strong> Wetter dir einen Streich spielt, sich in der einen Sekunde entschiedenheiß oder kühl zeigt und in der nächsten alles zurücknimmt.Ohne Donnern, ohne Tusch ist die Welt eine andere. Dukannst deinen Finger noch nicht darauf legen. Begonnen hat eswohl in den Augen der Ärzte, die dich nicht länger ansehen wieihr Lieblings-, sondern wie ihr Sorgen- und Problemkind. AuchCésars neue Seiten treten immer deutlicher zum Vorschein: Erschaut dich kaum noch an, sondern an dir vorbei und über dichhinweg.Es kommt der Vormittag, an dem er dir die heilenden Händeauflegt und gar nicht erst versucht, in dich hineinzufühlen, dichzu erspüren. Als du dich sträubst, behauptest, keine Lust zu habenauf <strong>das</strong> Fotografieren und <strong>das</strong>s dir die Blitze den Schädel in Brandsetzten, schüttelt César den Kopf und schaut den Assistenten an.»Aber«, sagt César, »deine Krankheit ist auch nichts, woraufman Lust hat, sie kommt nicht, wie du es willst.«108
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