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Für David


»Alles ist mit allem verbunden.«(John Wheeler)Und:»Liebe ist Heimweh.«(Sprichwort nach Sigmund Freud, »Das Unheimliche«, 1919)


Männer kommen nicht oft hierher, darum ist seine Einlieferungein Ereignis. Halt, so stimmt es nicht, also von vorn: Die Männer,die gewöhnlich hierherkommen, kommen im Anzug, sie kommenmit Hut. Sie kommen, um zu untersuchen, nicht um untersuchtzu werden. Dieser hier aber, nennen wir ihn Jacques, wird niemandenuntersuchen. Er kann nicht einmal mehr stehen. Er kannnicht einmal mehr reden. Du bräuchtest ihn nur kurz anzustoßen,und er fiele um. Du bräuchtest ihn nur anzupusten, und er gingezu Boden.Weil du wieder einmal nicht da bist, wo du sein solltest, sondernganz woanders, unten in der Halle und oben in den Gängen, weildu wieder einmal umherwanderst wie ein Gast, wie eine Besucherinund nicht wie die Patientin, die du bist, darum also siehst dues mit eigenen Augen.Sie tragen ihn auf einer Bahre herein. Er rührt sich nicht, einArm hängt schlaff zur Seite, die Hand schleift über den Boden.Schläft er? Du stellst dich auf die Zehenspitzen, um einen besserenBlick auf sein Gesicht zu erhaschen. Du kannst dir nicht vorstellen,<strong>das</strong>s irgendwer seine eigene Einlieferung verschläft. Vielleichthaben sie ihn mit Chloroform betäubt. Als du näher herantrittst,öffnet er die Augen, so als hätte er dich kommen gehört. Er siehtdich an, etwas stellt sich scharf im Schwarz der Pupille oder imhelleren Ring darum herum. Wo genau im Auge passiert <strong>das</strong> Erkennen,<strong>das</strong> Erschrecken, die Angst, die Freude? Du weißt es nicht,83


ten, du würdest ihnen etwas verraten, dein Körper würde etwaspreisgeben. Tatsächlich hast du fast jedes Geheimnis für dich behalten.Weil du uns in dieser Geschichte nicht nur die Tür bist, sondernauch der Schlüssel, wollen wir zu verstehen versuchen, warumman dich hier schätzt; und <strong>das</strong>, obwohl du nicht viel mehr tust, alsGrimassen zu ziehen, dich hin und her zu werfen und bisweilenzu spucken. Hier ist deine Fallgeschichte, deine Geschichte vomFallen:Im Jahr 1875 wirst du im Alter von fünfzehn Jahren in die Salpêtrièreeingeliefert. Insgesamt verbringst du anderthalb Jahre inder Klinik, von der es heißt, sie sei die wichtigste psychiatrischeAnstalt Europas. Zum Zeitpunkt deiner Hospitalisierung leidestdu bereits seit zwei Jahren an hysterischen Symptomen. Diese beginnenim selben Jahr, in dem, <strong>das</strong> behauptest du zumindest, duvon dem Liebhaber deiner Mutter, Herrn C., zum ersten Mal vergewaltigtwirst. In der Salpêtrière sind viele hundert Frauen vonderselben Diagnose betroffen, aber keine wird so oft fotografiertwie du. Du kannst die verschiedenen Phasen des hysterischen Anfallsperfekt darstellen, so<strong>das</strong>s sie nicht einstudiert wirken, sonderngenau so, wie sie es sein müssen: wahr. Dein Zustand wirdausführlich in dem mehrbändigen Album Iconographie Photographiquede la Salpêtrière dokumentiert und liefert den visuellenBeweis für die Existenz einer Krankheit, an die man schon damalsdroht, den Glauben zu verlieren.Der Ort, den du dein Zuhause nennst, hat viele Namen. Unteranderem: <strong>das</strong> Museum des Leidens, <strong>das</strong> Theater der Pathologien.Tatsächlich heißt er Salpêtrière. Und dieses schöne Wort behältstdu, wie eine Praline, so lange es geht im Mund. An einem Ort, derdiesen Namen trägt, müssten Wunder geschehen, Tote zum Leben85


erweckt, Kranke geheilt und den Lahmen <strong>das</strong> Fliegen beigebrachtwerden.Was du nicht weißt:Der Name steht für keine Heilige und kein geheimes Medikament.Bevor die Anstalt gebaut wurde, durch deren Gänge du jetztspukst, stand hier eine Fabrik. Und auch in dieser Fabrik wurdenichts Wunderbares, nichts Magisches hergestellt, sondern bloßMunitionspulver. Munitionspulver enthält Salpeter. Das ist schonalles. Salpeter – Salpêtrière. Es gibt keinen Engel, der diesen Namenträgt, auch wenn du dir <strong>das</strong> manchmal, nachts im Bett, in derDunkelheit, so erzählst. Du flüsterst dir selbst zu: »Die Salpêtrièrewacht über mich.« Dann stellst du dir eine Frau vor, mit blasserHaut und Haar, <strong>das</strong> in Flammen steht, und in ihrer Hand hält sieein Schwert, aber du fürchtest dich nicht, weil du weißt, <strong>das</strong>s siedir keine Feindin ist, sich im Gegenteil deinen Feinden in den Wegstellt und sie in die Flucht und in den Wahnsinn treibt. Du bistfroh, <strong>das</strong>s sie auf deiner Seite steht.In diesen Hallen aber bestimmt ein anderer. Ein kleiner, buckligerArzt, der dich manchmal an eine Kröte erinnert, oder warte:an eine Krähe, oder warte: an einen Pinguin. Nein, Pinguine hastdu ja noch nie gesehen, dann sagen wir: Er erinnert dich an einTier, <strong>das</strong> du noch nie gesehen hast, <strong>das</strong> du nicht kennst. Sein Nameist Jean Martin Charcot, aber hier nennen ihn alle César. Zwar ister von kleiner Statur, doch nicht nur hier in Paris, nein, im ganzenLand, nein, in ganz Europa gilt er als Großer. César ist ein Zauberer,ein Beschwörer, ein Hypnotiseur, ein Dompteur.Als du vor vielen Monaten hierherkamst, da war es ein Glückfür dich. Du fühltest dich: gefunden. Die Ärzte wollten alles wissen,und zum ersten Mal hörte man dir zu, als du erzähltest vonHerrn C. und wie es ihm gelungen war, deine Mutter zu verzaubern,ihr die Augen zu verkleben, so<strong>das</strong>s sie nur noch ihn sah undnichts wissen wollte über seine nächtlichen Besuche in deinem86


Zimmer. Von dieser Zeit hast du erzählt, hast gestanden und gestammelt.Nicht nur von Herrn C. und deiner Mutter, sondernauch von dem, was danach geschah, von den Freunden deinesBruders, und wie sie auch nicht viel besser waren als Herr C., jüngerimmerhin. Sie legten dir auch keine Hand auf den Mund. Duhattest ja versprochen, nicht zu schreien. Die Ärzte lauschten undnickten und schrieben auf, wollten aber bald schon mehr. Nichtdein Mund, sondern dein Körper sollte sprechen, sollte alles erzählen.Ein Glück, <strong>das</strong>s du dich von all den anderen Frauen hier unterschiedest.Du warst von Anfang an überzeugender. Authentischer.Aus diesem Grund findest du dich fast jeden Dienstag im Vorlesungstheaterwieder. Und wenn du auf dieser Bühne stehst, läuftetwas durch dich hindurch, durch deine Arme, deine Beine; es ist,als ob du ins Leben geschockt würdest, einen Moment kannst dusie tatsächlich spüren, diese Gewalten, wie sie durch dich gehen.Und für den Augenblick gibst du dich auf, für den Augenblick verschwindendie Grenzen, und du bist nicht mehr sicher: Schiebt sichdein Becken vor, krampfen deine Arme, weil du es so willst, weil dues befiehlst, oder befiehlt da etwas in dir und du gehorchst, führstbloß aus? Dann hätte César doch recht, und du tätest gut daran,dich in seine Hände zu begeben; Hände, die wissen, was sie tun,und Arme, die wissen, was sie tun, die dich halten, wenn <strong>das</strong> Leben,der Strom, die Elektrizität aus dir herausfließen und du so schlaffbist, als hätte man alle Knochen aus deinem Körper entfernt.*Zwei Sachen hast du bereits über den Neuen herausgefunden.Dass er Jacques heißt und hier ist, weil er an der gleichen Krankheitleidet wie du. Du verfolgst die Schwestern, um mehr in Erfahrungzu bringen. Besonders auf Mme. Couronne hast du esabgesehen. Sie ist hager, riecht nach schlecht gewordener Milch,87


und wenn sie dich dabei erwischt, <strong>das</strong>s du wieder einmal versuchstzu türmen, schwenkt sie den Zeigefinger nah vor deinem Gesicht.Aber auf den geschwenkten Finger und die strenge Falte zwischenden Brauen fällst du schon lange nicht mehr herein. Manchmalbist du wie ein Hund, dann kannst du die Angst riechen odervielmehr: Du kannst sie sehen. Wenn Mme. Couronne dich vonder Seite mustert, dich heimlich beobachtet, dann zuckt ihr linkesAugenlid. Weil sie weiß, <strong>das</strong>s du ihr überlegen bist, versucht sie,dir aus dem Weg zu gehen, aber du spürst sie überall auf, schiebstdich zwischen sie und die rettenden Türen. Du kannst ihr zwanzigSekunden in die Augen schauen, ohne zu blinzeln. Mme. Couronnefürchtet dich aus zwei Gründen. Zum einen, weil sie dir alleszutraut, zum anderen, weil niemand genau weiß, wie es um dichund César steht; aber man munkelt und flüstert, vermutet undstellt sich vor.Wenn du dir etwas in den Kopf gesetzt hast, kannst du hartnäckigsein, stur wie keine Zweite. Du lässt nicht eher von Mme.Couronne ab, quälst sie mit Reimen und Liedern, bis sie die Händezusammenschlägt und ruft: »Mein Gott, was willst du dennwissen?«Nun, zunächst möchtest du wissen, seit wann er krank ist.»Wie lange ist er denn schon so?«, fragst du. Das so, von demdu sprichst, lässt sich präziser in drei Symptome aufteilen.Das erste Symptom ist der Schwindel. Wenn Jacques sich durchden Gang schleppt und die Füße schleifen lässt, stolpert er immerwieder, muss oft stehen bleiben und sich abstützen. Das zweiteSymptom ist <strong>das</strong> Herzrasen. Wenn Jacques glaubt, allein zu sein,tastet er heimlich an seinen Brustkorb, als frage er sich, was unterdem weißen Stoff, der dünnen Haut so irre schlägt und pocht.Das dritte Symptom sind die Sprachstörungen. Zwar hat er mitdir bisher noch nicht gesprochen, aber du hast gelauscht, als ersich von den Schwestern hat befragen lassen, hast gehört, wie er88


ins Stocken geriet, die richtigen Worte sich nie oder viel zu späteinfinden wollten.»Der hatte einen Unfall«, sagt Mme. Couronne achselzuckendund erzählt weiter, <strong>das</strong>s Jacques von einer Kutsche angefahren wordensei. Auf den Unfall sei ein Anfall gefolgt, wenige Tage, nachdemsie ihn aus dem Hospital entlassen hatten. Mme. Couronne schautdich wissend an. Mit Anfällen kennst du dich aus, da muss sie dirnichts erzählen. Du kannst dir nicht recht vorstellen, wie Jacquesarmerudernd zu Boden geht. Stets bewegt er sich langsam, bedächtig.Wenn er auf einer Bank sitzt, erinnert er dich an eine Puppe,alle Fäden sortiert, alle Gliedmaßen geordnet. Das würdest du gerneinmal sehen, wie <strong>das</strong> Chaos in einen wie ihn hineinfährt, wie ersich selbst entnommen, sich selbst geraubt zum Menschensturmwird. Das würdest du gern einmal sehen, und statt ihn zu Bodenzu drücken, statt ihm ein Knie oder eine Faust in den Bauch zurammen, ihn mit deinem ganzen Gewicht zu fixieren, würdest dudich neben ihn setzen, ihm <strong>das</strong> Haar aus dem Gesicht streichenund sagen: Es wird vorübergehen.Heute ist der Tag, an dem du mit Jacques ins Gespräch kommenwirst, dieser Tag wird es sein, du hast ihn dafür ausgewählt. Duweißt es schon, als du morgens die Augen aufschlägst, aber erstals du Jacques allein auf einer Bank sitzen siehst, kannst du dirsicher sein. Während du dich neben ihn fallen lässt, ein wenig zuschwungvoll, ein wenig zu schnell, versuchst du dich zu erinnern,wie man plaudert. Es liegt eine Weile zurück, <strong>das</strong>s du dich <strong>das</strong>letzte Mal in Konversation versucht hast, in Gesprächen, die nichtum dich kreisten und um Herrn C. Kein Wunder, <strong>das</strong>s dir dieWorte stockend von der Hand, nein, eher aus dem Mund, gehen.Du willst es mit etwas Unverfänglichem probieren und sagst, <strong>das</strong>sheute aber schönes Wetter sei.Jacques antwortet nicht und beobachtet den gekachelten Fuß-89


oden. Du tust es ihm gleich, ihr seid ein aufmerksames Publikumfür diesen schwarz-weiß gemusterten Boden, der auch unter euremwachsamen Blick weiter lebloses Schachbrett bleibt. Ihr sitztstill, ihr sitzt stumm, und dir gehen all die Dinge durch den Kopf,die du Jacques gern sagen würdest, aber sie sind nicht geordnet, siefallen wie der Regen, ein Tropfen nach dem anderen, und wenn dusie in einem Fass, einem Eimer, einer goldenen Schüssel auffängst,dann haben sie sich schon vermischt, sind graue Suppe und ergebenkeinen Sinn mehr: Zufinhaukomsemitdensutoanliechgst.Also schweigst du, zählst bis hundert und wieder zurück zurNull. Du sagst nichts, er sagt nichts, und schon steht eine Schwestervor euch. Sie hilft Jacques auf, alleine kommt er nicht hoch,und bevor du dich versiehst, führt sie Jacques davon, bringt ihn inden anderen Flügel. Du bleibst zurück, und weil niemand in derNähe ist, schlägst du deinen Kopf kurz gegen die Wand, du weißtnicht, wohin mit deinem Ärger, deiner Wut, deiner Angst. Dudenkst: Wenn es drauf ankommt, gelingt mir nie etwas. Und <strong>das</strong>sdir immer die richtigen Worte fehlen. Dann presst du die Händefest gegen die Stirn, drückst die Handballen in die Augenhöhlenund hoffst, <strong>das</strong>s du dich durch den Schmerz nicht mehr denkenhörst, tatsächlich aber verstehst du dich noch ganz genau.An diesem Tag, es ist ein Mittwoch, fühlst du dich mutig. DieDienstagsvorlesung liegt nicht einmal zwanzig Stunden zurück,und du trägst noch jene andere Frau, die Augustine aus dem Vorlesungstheater,in dir.Du drückst dich in den Gängen herum, bis du Jacques findest.Er steht vor den großen Fenstern im ersten Stock und blickt hinunter,als beobachte er jemanden. Als du näher an die Fenstertrittst, siehst du, <strong>das</strong>s sich niemand außer den Krähen im Hofaufhält. Stück für Stück rückst du näher an ihn heran. Du kannsttun, du kannst sagen, was du willst, denn du schickst nun deinen90


geheimen Zwilling vor, und als du sprichst, ist deine Stimme lautund sicher.»Du bist Jacques«, sagst du, als sei er die Berühmtheit und nichtdu, als hättest du schon viel von ihm gehört.Er nickt, wird rot, als sei sein Name eine Peinlichkeit, ein Geheimnis.»Ja«, sagt er.Und obwohl du weißt, <strong>das</strong>s er deinen Namen bereits kennenmuss, <strong>das</strong>s die anderen Patienten sicher über dich gesprochenhaben, bewundernd oder verächtlich, <strong>das</strong>s sie hier alle immerzuüber dich sprechen, streckst du eine Hand aus.»Ich bin Augustine«, sagst du.*Wenn du nicht weißt, wo Jacques sich aufhält, was er tut, mit wemer spricht, rennen tausend Ameisen durch deine Arme und Beine,tausend Ameisen, die dich aufspringen lassen. Trotz des Schneeshastest du über den verlassenen Hof, du scheuchst die Vögel auf,du ziehst den anderen Patienten Grimassen, habt ihr Jacques gesehen,wisst ihr wo Jacques ist?, treppauf, treppab, von einem Flügelin den nächsten.Du wirst unvorsichtig. Man schätzt dich hier wegen deinesKörpers und wie gut du ihn im Griff hast, oder eher: wie gut duvorgibst, ihn nicht im Griff zu haben. Trotzdem ist dies ein Ortder Regeln, und auch deine Regelbrüche sind diesen unterworfen.Hin und wieder darfst du dich neben Jacques auf eine Bank setzen,dürft ihr im Hof eure Runden drehen, aber ihr solltet es nichtgleich übertreiben. Aus gutem Grund gibt es einen Flügel für dieMänner und einen für die Frauen. Die Symptome dürfen nichtabfärben; wie sonst soll man ihre Krankheiten voneinander unterscheiden?In der Dienstagsvorlesung führt man euch zusammen,91


wie bei einer kontrollierten Explosion, und beobachtet auf CésarsAnweisung hin Folgendes: Stellt man einen Mann, sagen wir J., indie Mitte des Auditoriums und eine Frau, sagen wir A. oder M.,neben ihn, und sie sieht, wie des Patienten linkes Bein zuckt, seinerechte Hand zu zittern beginnt, dann wird ihr Körper wie ohne ihrZutun dieselben Symptome hervorbringen.Schon den ganzen Tag über spürst du eine diffuse Unruhe. Dasbist du bereits gewöhnt. Deine Krankheit ist wie ein Nebel, nichtrecht greifbar, etwas undurchsichtig. Einmal pro Woche aberkommt sie zum Punkt, kulminiert im von César erschöpfend dokumentiertenhysterischen Anfall.Über den Anfall gibt es Folgendes zu sagen: Die Frauen mögenunterschiedlich sein (braunes Haar, blondes Haar, groß, klein,schmales oder ausladendes Becken), der Anfall aber verläuft immergleich. César hat anschauliche Zeichnungen anfertigen lassen,um jenen etwas entgegenzusetzen, die behaupten, deine Krankheitexistiere nicht. Sie sei bloß eine Erfindung Césars. Es gibt nunSchaubilder, die <strong>das</strong> Gegenteil beweisen, Fotos, die <strong>das</strong> Gegenteilbeweisen. Denn was ich sehe, <strong>das</strong> gibt es. Was ich sehe, <strong>das</strong> ist da.Der Anfall lässt sich in vier Phasen aufteilen:Die Hystéro-ÉpilepsieIn jener ersten Phase ist dein Körper ein loses Bündel Knochen,und sie schlagen gegeneinander, sie rappeln und klappern.Du bäumst dich auf wie ein Pferd. Du schreist die Bewegung ausdir heraus, und wenn du Glück hast, gerät die Welt um dich insSchwimmen, und einen Moment darfst du aufhören zu sein.Die Grands MouvementsAuch Clownsphase genannt. Denn so gebärdest du dich. Dochjetzt ist nicht mit dir zu spaßen, für ein paar Minuten bist du stark,stärker als César, du könntest die jungen Ärzte packen, sie in dieLuft werfen und herumwirbeln. Das meinst du zumindest, währenddu dich biegst und hochschnellst und zu Boden gehst. Das92


Ende dieser Phase läutest du ein, indem du den Rücken durchdrückst,dein Körper formt einen Bogen, den arc-en-cercle. EineAkrobatin bist du, eine Schauspielerin, eine Kämpferin, ein Tier,ein Monster. Du bist so viel auf einmal, <strong>das</strong>s du alles in allemschon wieder nichts bist.Die Attitudes PassionellesEndlich wird etwas verraten, etwas gesagt. Wer nun gut aufpasst,wird mehr über dich erfahren, als jene, die dir nur zuhören.Die Schauspielerin in dir beteiligt sich nur zu gern an der nunfolgenden Scharade, du stellst eine Liebesszene dar, einen Streit,einen Kampf, du weinst, lachst, schimpfst und beschuldigst. »Siehalluziniert ja«, hörst du vielleicht jemanden sagen und verlierstdich weiter im Spiel. Du musst dir deine Kräfte sparen für:Das DeliriumEine große Traurigkeit bricht über dich herein, oder eher: ausdir heraus. Du schluchzt und weinst laut, schaukelst vor und zurück,bis du vor Erschöpfung zur Seite fällst und reglos liegenbleibst. Nur wer genau hinsieht, kann dich noch flach atmen sehen.*Du liegst in deinem Bett, starrst an die Decke und denkst anJacques. Das Unruhigste an ihm sind seine Augen. Sobald er einenRaum betritt, tastet er ihn mit Blicken ab, lässt sie in die Ecke undzur Decke schnellen, so als fürchte er, die geheimen Gefahren undBedrohungen könnten sich jederzeit und aus dem Hinterhalt anschleichen.Du stellst dir vor, malst dir aus, wie er steht, wie er sitzt, wieer spricht und dich ansieht. In Gedanken zumindest willst du beiihm sein, willst du überall sein, nur nicht hier. Außer dir befindetsich niemand in deinem Zimmer, trotzdem spürst du, wie sichunsichtbare Fäuste in deinen Körper pressen. Jenes unangenehme93


Gefühl hast du Césars neuster Erfindung, der Kompresse, zu verdanken.Mit einem Gurt um deinen Unterleib geschnallt, übt sieununterbrochen Druck aus. Eine effektive Behandlung, hat Césarnicht dir, sondern den anderen Ärzten im Raum erklärt, könnenur durch kontinuierlichen Druck auf die widerspenstigen Organegewährleistet werden. Diese seien wie wilde Tiere, die gezähmtwerden müssten, Tiere, die unter ständiger Beobachtung stehensollten. Du und deine wilden Tiere, in Unterleib und Kopf, ihrhabt genickt und euch euren Teil gedacht.Heute bist du besonders widerspenstig, schon längst versuchstdu nicht mehr, dich dem Druck zu ergeben, ihn als Heilung begreifenzu wollen und nicht bloß als Schmerz. Endlich kommteine Schwester, dann ein Arzt, dann ein zweiter, dann César. Duzappelst und windest dich, behauptest, auf die Toilette zu müssen,behauptest, Durst zu haben, behauptest, hungrig zu sein. Bald beschließtCésar, <strong>das</strong>s es an der Zeit ist, die heutige Sitzung zu beenden.Du setzt dich auf, ordnest dein Haar, denkst, <strong>das</strong>s du jetzt etwaserzählen sollst, aber César winkt ab. Deine Geschichten habensie schon hundert Mal gehört. Du schaust von César zu dem Arzt,der hinter ihm steht, und wieder zurück, du traust deinen Augennicht, aber tatsächlich: César und die anderen beiden Ärzte sindgelangweilt. Sie gähnen nicht, stöhnen nicht, aber ihre Blicke rutschenim Raum herum, ihre Augen schenken dir so viel Aufmerksamkeitwie der Wand in deinem Rücken. Da brichst du in die Stilleein. »Letzte Nacht«, sagst du, »habe ich in meinem Bett gelegenund gehört, wie Männer durch mein Zimmer schlichen. Sie trugenMesser bei sich und fielen über mich her. Ich brauche Schutz.«César sieht auf; der Arzt neben ihm holt Stift und Notizblockhervor und beginnt zu schreiben. Soweit du erkennen kannst,notiert er bloß ein Wort, oder vielleicht zwei.»Ist es möglich, <strong>das</strong>s Sie geträumt haben?«, fragt er.Du schüttelst den Kopf.94


»Nein.« Du sprichst zu laut und ruckst vor, als wolltest du demArzt die Notizen aus den Händen reißen.In den ersten Wochen hier warst du so leise, <strong>das</strong>s man sich vorbeugen,dich bitten musste, <strong>das</strong> Gesagte zu wiederholen, wenn mandich verstehen wollte. Einen Arzt wie César hattest du noch niegetroffen. Oft gerietest du ins Stammeln, ins Stocken, ins Flüsternund wurdest rot. Aber <strong>das</strong> ist lange vorbei. Du bist müde, du hastkeine Lust mehr.Seitdem du hier bist, gibt es zwei Augustines. Die Dienstags-Augustineund die aller übrigen Tage. Etwas im Verhältnis der beidenscheint sich zu verschieben. Das andere Ich, die Dienstags-Augustine, welche du noch bis vor kurzem aufrufen und abstreifenund zurück in den Schrank hängen konntest, geistert nun auchdurch die übrigen Tage. Sie verschwindet nicht mehr, schlimmer:Sie gewinnt die Überhand. Erst letzte Woche bist du zum erstenMal vollständig in einem Anfall verschwunden. Du gabst nichtlänger vor, die Frau mit den zuckenden Gliedmaßen, mit dem vorgeschobenenBecken zu sein: Du warst sie. Und auch nachdem <strong>das</strong>Theater sich geleert hatte, nachdem Charcot und die anderen Ärztenach Hause gegangen waren, bliebst du noch immer die Dienstags-Augustine, mit zitternden Händen und Schwindel im Kopf.Den Nachmittag verbringt Jacques nicht in seinem Zimmer, sondernauf dem Flur. Er hofft, von Augustine gefunden zu werden.Augustine aber fällt heute vor großem Publikum César zu Füßen,und Jacques wartet vergebens. Gerade als er beschließt, seinenPlatz hinter den Fenstern aufzugeben, bemerkt er etwas. Mittenauf dem Hof und ohne <strong>das</strong>s er sie hat vorfahren sehen, steht eineKutsche. Sie ist groß, sie ist schwarz, sie unterscheidet sich durchnichts von allen anderen großen, schwarzen Kutschen des Landes.95


Trotzdem ist er sicher, hat er keinen Zweifel, <strong>das</strong>s es sich bei demGefährt dort draußen um dieselbe Kutsche handelt, die schon einmalseinen Weg kreuzte. Und von dem Anblick der teerschwarzenKiste inmitten des Schnees wird ihm schlecht, wird ihm schwindelig.Er schwitzt, er friert, lehnt die Stirn gegen <strong>das</strong> feuchte Glasund wartet, bis eine der Schwestern ihn entdeckt und zurück aufsein Zimmer führt.*Du hörst Gerüchte von einem neuen Arzt. Du willst mehr über ihnherausfinden und versuchst, die Schwestern zu belauschen, aberwann immer du dich anschleichst, hören sie mit dem Flüsternund Wispern auf. Bisher ist es dir nicht einmal gelungen, seinenNamen herauszufinden, und weil du ihn noch nie mit eigenenAugen gesehen hast, bist du nicht vollends überzeugt, <strong>das</strong>s es ihntatsächlich gibt.»Doch«, sagt Philippa, deine einzige Freundin hier. »Ich habeihn gesehen.«»Und?«, fragst du.Mit deinem strengen Blick bringst du nicht nur Mme. Couronne,sondern auch fast jeden anderen zum Reden. Philippa verschachteltdie Hände, schaut zur Tür und wieder zu dir. »Geh ihmaus dem Weg.«Bevor du weitere Fragen stellen kannst, läuft sie an dir vorbeiund aus dem Zimmer. Beim Durchschreiten der Tür schüttelt siesich kurz, so als gelte es, deine Frage abzustreifen, oder deinen Blickoder jedes Wort, <strong>das</strong> sie über den Arzt ohne Namen gesprochenhat.Als hättest du ihm mit deinen neugierigen Fragen eine Tür geöffnet,begegnest du dem neuen Arzt noch am selben Tag auf dem96


längsten Gang der Salpêtrière. Im gleichen Augenblick und an entgegengesetztenEnden betretet ihr den Flur. Der Mann ist von Kopfbis Fuß in Schwarz gekleidet, und obwohl er nicht von draußenkommt, trägt er einen Mantel über dem Anzug. Die obere Hälfteseines Gesichts, Augen und Nase, ist von einer Maske bedeckt. Duschließt die Augen, öffnest sie wieder: Die Maske hat sich nichtzur Brille gewandelt oder sich als irreführendes Schattenspiel herausgestellt.Obwohl du nicht jeden Arzt hier kennst, nicht allePatienten und sicher nicht <strong>das</strong> ganze Personal, bist du sicher, <strong>das</strong>ses sich bei dem Mann um den neuen Arzt handelt. Und auch wenndich <strong>das</strong> Verlangen überkommt, dich schnellstmöglich, dich weitestmöglichvon ihm zu entfernen, tragen deine Beine dich weiterauf ihn zu. Du versuchst, wenigstens den Kopf zu senken oder zurSeite zu drehen. Die Erkenntnis, <strong>das</strong>s du ihm nicht in die Augenschauen darfst, durchfährt dich so unvermittelt wie der Wunsch,vor ihm davonzulaufen, und deine Augen gehorchen dir so wenigwie deine Beine. Du starrst weiter, denkst an Maskenbälle undVögel in den Farben der Nacht: Krähen und Raben. Die Temperaturenfallen, nein, stürzen; ein kalter Windstoß erfasst dich, fegtnicht an dir vorbei, sondern durch dich hindurch. Der Arzt bewegtsich schneller und langsamer, als du je einen Menschen sich hastbewegen sehen. Oder warte, vielleicht bewegt er sich weder besondersschnell, noch besonders langsam, sondern jenseits aller Geschwindigkeiten.Die Zeit friert um ihn, zersetzt sich und zerfälltin einzelne Bilder: Das erste zeigt ihn in der Ferne, <strong>das</strong> zweite hatihn bis auf wenige Schritte an dich herangebracht, und auf demdritten ist er so nah, <strong>das</strong>s er dich streift. Er dreht dir sein Gesichtzu, und in der gesplitterten Sekunde, bevor es dir endlich gelingt,dich abzuwenden, schaust du nicht in Augen, nicht in Pupillen,sondern in Schächte, in Löcher, in Meere aus Teer.97


Später auf deinem Zimmer zitterst du, als hätte man dich in einEisbad getaucht. Auf deinem Bett sitzend, trocknest du deinHaar – es ist nass, obwohl du nicht durch den Regen draußen gelaufenbist. Philippa sieht dich an, wie es sonst nur die Ärzte tun;als seist du ein Rätsel, als gäbe es etwas zu entdecken, zwischendeinen Augenbrauen, in deinen Mundwinkeln. Dann erklärt siedir, vielleicht zum vierten, vielleicht zum fünften Mal, <strong>das</strong>s du dirkeine Sorgen zu machen brauchst. Der neue Arzt ist nicht wegender Frauen hier. Er gilt als Spezialist, als Koryphäe für männlicheHysterie und wird ausschließlich männliche Patienten behandeln.Philippas Worte ziehen an dir vorbei. Du stehst auf, läufst zumFenster und wieder zurück, versuchst dabei, Wärme in deine Armezu reiben. Aber erst heute Abend, wenn du schon lange im Bett gelegenhaben wirst, werden deine Unterarme, deine Waden, deineZehen und Finger prickeln, als ob jemand Hitze in sie hineinstickenwürde.Schon vor deinem Gespräch mit Philippa hast du gewusst,<strong>das</strong>s du selbst nie im Behandlungszimmer des Arztes sitzen wirst.Nicht um dich selbst machst du dir Sorgen, sondern um Jacques.Denn noch bevor du ihn auf dem Gang begegnetest, ja schon, alsdu <strong>das</strong> erste Mal von einem neuen Arzt hörtest, da musstest du anJacques denken. So, wie du an die Nacht denkst, wenn jemand dirvom Tag erzählt.Philippa redet weiter auf dich ein, aber du hörst ihr nicht zu, duhast keine Zeit zu verlieren, du musst Jacques finden, musst vondem neuen Arzt erzählen, auch wenn du nicht sicher bist, was.Du drängst an ihr vorbei aus dem Zimmer. Auf der Suche nachJacques hastest du durch die Gänge, trittst auf den Saum deinesKleides, stolperst und fällst. Wenn es nach dir ginge, würdestdu rennen, die Treppen hinauf- und hinunterfliegen, aber Mme.Couronne fängt dich ein, packt dich am Arm und teilt dir mit, <strong>das</strong>sdu Jacques erst am Nachmittag wirst sehen dürfen. Du setzt dich98


auf die Bank und beißt in deine rechte Hand. Zumindest für einpaar Sekunden kannst du die Ungeduld so bezwingen, der Trickaber hält nie besonders lange vor. Als Jacques endlich auftaucht,hast du mit deinen Zähnen die Haut um die Fingernägel inStreifen abgezogen. Du versteckst die Hände hinter dem Rückenund wartest, bis Jacques sich gesetzt hat.»Ich gehe weg«, sagst du.»Kannst du doch gar nicht«, sagt er mit einer Stimme ohneHöhen und Tiefen und so, als würde ihn <strong>das</strong> nicht weiter interessieren.»Doch«, behauptest du. »Wenn du willst, nehme ich dich mit.«»Und wieso bist du dann noch hier?«, fragt er.»Ich weiß nicht, wohin ich soll«, sagst du (und <strong>das</strong> stimmt).»Nach Hause sicher nicht.« (Auch <strong>das</strong> stimmt.)»Du kannst jedenfalls nicht einfach gehen.«»Doch«, sagst du, und <strong>das</strong>s dich keiner zwingen kann zu bleiben,wenn du nicht willst.Jacques sagt nichts. Dir ist aufgefallen: Zwischen den Sätzen,manchmal auch mittendrin, legt er so lange Pausen ein, <strong>das</strong>s manfürchten muss, er sei eingeschlafen oder auf seinen Gedankenpferdendavongaloppiert. Du lehnst dich zurück und wartest.»Und wieso jetzt?«, fragt er endlich.Wieso jetzt, Augustine? Seit über einem Jahr bist du hier, unddie Welt dort draußen ist zum Traum, zum Märchen geworden.Sie kommt dir wie eine unwahrscheinliche Geschichte vor; unddu liebst Geschichten, besonders dann, wenn sie unwahrscheinlichsind. Aber würdest du hier sitzen und von Ausbrüchen undAufbrüchen reden, wenn du nicht vom Arzt ohne Namen gestreiftworden wärst?»Weil ich dich gefunden habe!«, sagst du, beugst dich vor undstützt dich mit der rechten Hand auf seinem Bein ab, als müsstestdu nur näher an ihn herankommen, damit er dir glaubt. Er zuckt99


zurück, und du hebst schnell die Hände, als wolltest du dich ergeben.»Bitte komm mit!«, sagst du und rutschst wieder näher anihn heran.Er wendet dir <strong>das</strong> Gesicht zu, mustert dich lange und gründlich,und du wartest, <strong>das</strong>s etwas geschieht, in ihm oder zwischen euch,<strong>das</strong>s er dich erkennt wie schon einmal. Doch er runzelt bloß dieStirn, steht auf und läuft los. Dabei zieht er <strong>das</strong> linke Bein nachund tastet sich an der Wand entlang. Du springst auf und holst ihnnach ein paar Schritten ein. Als er sich an dir vorbeischieben will,nimmst du seine Hand, die nutzlose linke, sie ist kalt und trocken.»Erinnerst du dich an mich?«, fragst du.»Bald wird es mir besser gehen«, sagt er, statt zu antworten, undnickt den leeren Gang hinunter. »Hier gibt es einen neuen Arzt,der kennt sich aus, mit allen Krankheiten. Er kann jeden heilen.«Heftig schüttelst du den Kopf. Der neue Arzt wird Jacquesnicht heilen, davon bist du überzeugt. Wenn du nur wüsstest, wiedu auch Jacques überzeugen kannst. Du darfst jetzt nicht drauflosplappern.Gerade willst du dir eine zusammenhängende Geschichteausdenken, behaupten, etwas Entscheidendes gehört odergesehen zu haben, als die Dienstags-Augustine dich überwältigt.Statt die Worte fein säuberlich aufzureihen, lässt du sie aus demMund purzeln.»Geh nicht hin, du darfst nicht hingehen, er hilft dir nicht, <strong>das</strong>wird er nicht.«»Doch. Wird er.«Du kannst dir denken, was man Jacques erzählt hat. Dass essich bei dem neuen Arzt um einen Spezialisten, einen Pionierhandelt, die neue große Hoffnung.»Aber«, sagst du. »Ich habe ihn gesehen. Ich weiß – «Aber was weißt du denn? Dass der neue Arzt aus der Zeit gefallenist, eine Maske trägt, sich wie ein geflügelter Schatten bewegtund es schafft, <strong>das</strong>s dir vor Angst alle Worte ausgehen. »Er trägt100


eine Maske!«, rufst du, als wäre es ein Beweis, ein untrüglichesZeichen, <strong>das</strong>s er Böses im Schild führt.Jacques hat von der Maske gehört; <strong>das</strong>s sich der Arzt bei einemUnfall die Haut verbrannt habe, <strong>das</strong> halbe Gesicht. Jacques zucktdie Achseln. Auch ohne, <strong>das</strong>s sein Gesicht von Narben entstellt ist,würde er sich an manchen Tagen gerne selbst hinter einer Maskeverstecken.Du, Augustine, glaubst nicht an Narben oder zerstörtes Gewebe,sondern daran, <strong>das</strong>s euch jemand einen Streich spielt. Alshätte sich ein alter Bekannter verkleidet, um sich euch unerkanntnähern zu können. Jacques und du aber, ihr habt keinen gemeinsamenBekannten, und du bist sicher, <strong>das</strong>s diese Scharade nichtin freudigem Gelächter und allgemeiner Erheiterung enden wird.»Geh nicht hin«, sagst du. Und bevor du dich versiehst, hast duJacques umklammert, hängst mit aller Schwere an ihm, als könntestdu ihn so, durch reine Körperkraft, zurückhalten. Er löst deineHände, steht auf und tritt einen Schritt zurück.»Jemand muss mir helfen«, sagt er.»Ich kann dir helfen!«, willst du rufen und bleibst stumm, weildu es in dem Moment selbst nicht glaubst. Du fühlst dich wie eineratlose Schauspielerin vor einem unbeeindruckten Publikum.Beim besten Willen kannst du dich nicht erinnern, für welcheVorstellung sie Eintritt bezahlt haben.Den Nachmittag nach eurem Gespräch verbringt Jacques an seinemLieblingsplatz, hinter den Fenstern im ersten Stock. Er mussschon eine Weile so abwesend auf den Hof gestarrt haben, als ereiner dunklen Gestalt gewahr wird. Wie ein menschengroßer Rabesteht der neue Arzt zwischen den Patienten. Sie alle, so scheint esJacques, halten einen genau bemessenen Abstand zu ihm, so alsverlaufe eine unsichtbare Grenze, ein geheimer Radius um denMann.101


Jacques legt gerade die Hände an die Scheibe, als der Arzt denKopf hebt. Die Augen verborgen unter der schwarzen Maske,könnte er zu den Vögeln in den kahlen Bäumen schauen, zu denschneeschweren Wolken über der Salpêtrière, oder zu Jacqueshinter der Scheibe. Erschrocken tritt Jacques vom Fenster zurück.Er entfernt sich, Schritt für Schritt, bis er an die Wand in seinemRücken stößt. Doch auch hier, im Schutz der Mauern der Salpêtrière,meint er noch immer, den Blick des Arztes zu fühlen, aufund an, ja sogar in sich.*Randvoll mit Angst ist Jacques schon zur Welt gekommen. Esbraucht nicht viel, und die Angst fließt über, deckt die Menschen,die Tiere, die Häuser und Wälder mit einem bläulichen Schimmerein, der sie kalt und bedrohlich werden lässt. Von Anfangan sieht Jacques sich umgeben von gefährlichen Kanten, Rissenund Löchern. Die Stimme der Mutter ist zu laut, die des Vaters zustreng, und bereits in frühen Jahren wird er oft ermahnt, sich zusammenzureißen,sich ein ordentliches Leben zuzulegen. Dass ereines Tages und so unerwartet mit dem Zusammenreißen aufhört,lässt sich nur mit der Kutsche erklären. Das zumindest glaubendie Eltern. Jacques selbst vermutet, <strong>das</strong>s er auch ohne die Kutscheeines Tages und ganz ohne Vorwarnung <strong>das</strong> Zusammenreißenaufgegeben hätte.An diesem Tag hatte etwas in der Luft gelegen, ein heftiges Flimmern.Jacques hatte <strong>das</strong> Haus der Eltern verlassen, wie an jedemTag, und die Straße betreten, mit den Gedanken wie immer woanders.Und plötzlich war er zurückgeholt worden, aus der Luft,von den Wolken und auf die Straße. Der Schmerz, der Lärm, dieWucht des Aufpralls hatten ihn hinabgezogen.102


Die Ärzte nahmen an, <strong>das</strong>s Jacques sich so schnell nicht wiedererholen würde, tatsächlich versöhnten sich die meisten seinerKnochen schon wenige Wochen nach dem Unfall. Es war etwasanderes, <strong>das</strong> nicht mehr zusammenwachsen wollte. Bald spieltesein linker Arm verrückt, dann <strong>das</strong> linke Bein, Jacques’ eine Hälfteentschloss sich, eigene Wege zu gehen. Ein Glück, <strong>das</strong>s Jacques’Vater Arzt war, nicht gerade ein zweiter César, aber immerhineiner, der sich neuen Erkenntnissen nicht verschloss. Das nervöseLeiden, von dem der eigene Sohn so plötzlich betroffen war (soplötzlich, hieß es nun, denn gemeinschaftlich hatte man vergessen,<strong>das</strong>s schon immer etwas nicht gestimmt hatte, etwas sonderbargewesen war an diesem Kind, <strong>das</strong> vor allem Angst hatte, sogar vorden Wolken, sogar vor den Kirchglocken, vor dem Klirren zerbrechendenGlases), <strong>das</strong> nervöse Leiden war ein Leiden, von dem nurwenige Männer betroffen waren. Lange war man davon ausgegangen,es stünde in direktem Zusammenhang mit der besonderenMachart des weiblichen Körpers, einer delikaten physischen Ausrichtung.Nun war man aber nicht erst seit Fällen wie Jacques’ zudem Schluss gekommen, <strong>das</strong>s wandernde Geschlechtsorgane alleinfür die Krankheit nicht verantwortlich sein könnten. Jacques’Vater wandte sich an einen Arzt, der sich an einen Arzt wandte, dersich an einen anderen Arzt wandte, und über viele Ärzte gelangteman zwar nicht zu Charcot selbst, jedoch zu Georges Gilles de laTourette, und war so immerhin schon in der Salpêtrière angekommen.Tourette untersuchte Jacques und bestätigte, was die Elternbefürchtet und gehofft hatten – der Mann litt an hysterischen Zuständen.Man einigte sich auf einen konkreten Auslöser, ein spezifischesEreignis (die Kutsche), <strong>das</strong> für Jacques’ momentane Misereverantwortlich sei. Nun gelte es, die Folgen des Unfalls zu behandeln,Jacques’ natürliche Balance wiederherzustellen. Der Vaternickte, die Mutter nickte. Jacques nickte. Tatsächlich aber glaubtekeiner der drei an die verloren gegangene Balance oder ihre mög-103


liche Wiederherstellung. Sie wussten: Der Junge war mit Schattenim Schädel zur Welt gekommen.Seitdem Jacques hier ist, erwartet niemand mehr, <strong>das</strong>s er sich zusammenreißt.Dieser Ort versammelt per Definition all die, dieimmer dann auseinanderfallen, wenn sie keiner fest- und zusammenhält.Jacques weiß: An dem Tag, an dem er die Salpêtrièreverlässt, wird er sich auch wieder zusammenreißen müssen. Aufseine Entlassung wird die unmittelbare Aufnahme in jenen geheimenVertrag erfolgen, der vorsieht, <strong>das</strong>s man nicht auf offenerStraße, auf dem Marktplatz, in einem Park, vor HundertenAugenpaaren zu Boden geht und weint, schreit, protestiert. »Wiemacht ihr <strong>das</strong>?«, hat Jacques von den Eltern wissen wollen, vonden Freunden, von den Nachbarn und Fremden auf der Straßeauch. Aber keiner konnte antworten, sie verstanden nicht einmaldie Frage. Dabei liegt es doch auf der Hand: Er will verstehen,wie es den Menschen gelingt, ganz selbstverständlich und mit bestimmtenSchritten durch die Straßen zu schreiten, während erstets balancieren muss, wie auf einem Seil, rechts von ihm der Abgrundund links von ihm der Abgrund. Was braucht es, um all <strong>das</strong>nicht zu sehen: die Krankheiten, die Katastrophen, den Tod, deruns bevorsteht, unser Verschwinden und <strong>das</strong> aller, die wir lieben.Und <strong>das</strong> Ende ist wie der Anfang, es ist immer da. Aus welchemStoff muss man gemacht sein, damit einen dieser Gedanke nichtporös werden lässt? Hier drinnen wundert es keinen, wenn manstehen bleiben muss, weil sich von einer Sekunde auf die nächsteRisse durch die Kacheln ziehen. Es wundert keinen, wenn manstundenlang auf einer Bank sitzt und sich nicht rühren kann, nichteinmal den kleinen Finger. Zwar weiß Jacques nicht, was die Ärztesich davon erhoffen, seinen Körper auf unsichtbare Druckstellenhin abzutasten, über den Zustand seiner Organe zu rätseln undseinen Schädel zu vermessen, aber auf Heilung hat er ohnehin nie104


gehofft; bloß auf eine Unterbrechung, eine vorrübergehende Stillstellungder Angst. Nun hört er von einem Arzt, der alles und jedenzu richten vermag. Und zum ersten Mal überhaupt fragt er sich, obihn nicht vielleicht doch einer von der Welt heilen kann.Wie so oft in letzter Zeit steht Jacques hinter den Fenstern undschaut in den Hof hinunter. Auch überall sonst kann er <strong>das</strong> Glaszwischen sich und der Welt spüren. Hier oben lässt sich die Scheibewenigstens anfassen, ist sie nicht bloß im Kopf. Dieses Mal betrachteter nicht den neuen Arzt, sondern dich, Augustine. Es gefälltihm, <strong>das</strong>s die Rollen einmal vertauscht sind. In der Regel bistdu es ja, die ihn aufspürt. Gleich, wo in der Klinik er sich versteckt,du findest ihn überall.An diesem Nachmittag spielst du ein Spiel mit dir selbst, eineArt Hüpfkästchen, nur <strong>das</strong>s deine Kreidezeichnungen unsichtbarsind und niemand außer dir versteht, warum du hüpfst, wie duhüpfst. Jacques beobachtet, wie sich deine Lippen bewegen, währenddu, ganz vertieft in dein Spiel, vor dich hin murmelst, wiesich dein Haar aus dem Knoten löst und dir dein weißes Kleid umden mageren Körper schlackert. Er lässt sich nicht täuschen. Dubist stark, weiß er, und wenn du wolltest, könntest du ihn über dieSchulter werfen und viele Meilen bis hinter den Stadtrand tragen.Er hat gehört, <strong>das</strong>s du hier ein Star bist, <strong>das</strong>s Charcot dich in denDienstagsvorlesungen wie ein Ass aus dem Ärmel zieht. Und alsdu ihn <strong>das</strong> erste Mal ansprachst, als du seinen Namen sagtest, dabekam er seine Sprache nicht zusammen.Die erste Zeit glaubte Jacques, du müsstest Charcots Tochter,seine Nichte oder Geliebte sein, so frei, wie du dich in den Gängenbewegst. Erst ein anderer Patient verriet ihm deine Geschichte,deinen Namen. Keine Nichte, Geliebte oder Tochter also: Du bistauch hier, weil du dich nicht zusammenreißen kannst, und manglaubt, dich zusammenfügen zu können.105


Jacques hört, wie einige der Schwestern sich über dich unterhalten.Am Vortag bist du wieder einmal in Charcots Untersuchungsraumeskaliert, und es heißt, du habest dich verändert, du seist nichtmehr dieselbe. Jacques kann nicht sagen, ob du dich verändert hastoder nicht. Er kennt dich nur so, wie du jetzt bist. Was weiß er, wiedu früher warst. (Fromm wie ein Lamm.) Auch von der momentanenKrise versteht er nichts. Du willst dich also nicht mehr fotografierenlassen, wer aber könnte <strong>das</strong> nicht verstehen? Ein berühmterfranzösischer Schriftsteller, dessen Namen Jacques vergessen hat,ein berühmter namenloser Schriftsteller also hat behauptet, derFotoapparat raube dem Menschen Schichten seiner Seele. Zu recht,denkt Jacques, sollte man der geheimnisvollen Apparatur misstrauen.Schließlich kann sie kaum mit dem Nichts arbeiten. Wennsie an einer Stelle etwas hervorbringt, wird sie an anderer wohletwas fortnehmen. Solange man nicht hat herausfinden können,aus wie vielen Schichten Seele der Mensch sich zusammensetzt,käme Jacques nie in den Sinn, sich fotografieren zu lassen. Warumjemand anderes <strong>das</strong> Risiko auf sich nehmen würde, will sich ihmnicht erschließen, und er fragt dich: »Macht es dir keine Angst?«»Nein«, behauptest du. Und: »Eigentlich nicht.«Dass du wohl vor nichts und niemandem Angst hast, denktJacques. Oder lügst.»Und stört es dich nicht, <strong>das</strong>s sie dich mit nach Hause nehmen,dir ins Gesicht schauen und du nicht mal zurückschauen kannst?«»Das bin doch nicht ich. Es sind nur Bilder. Auf denen zeigeich, was sie sehen wollen. Nichts davon hat mit mir zu tun.«Jacques glaubt dir nicht, er kennt deine Bilder. Auf einem faltestdu die Hände, halb Heilige, halb einfältiges Kind. Auf einemanderen ziehst du eine Fratze, rollst die Augen, zeigst deine spitzen,kleinen Zähne. Besonders vor den wilden Bildern fürchtet ersich. Mit dem gebleckten Gebiss erinnerst du ihn an die Kreaturen,die Albgeschöpfe seiner Kindheit.106


Er hat dich lieber, so wie du jetzt bist: Mit glänzend gekämmtemHaar und ordentlichem Gesicht sitzt du ihm gegenüber. Indiesen Momenten scheint es ihm unwahrscheinlich, unglaubwürdig,<strong>das</strong>s er dich erst wenige Wochen kennt, <strong>das</strong>s es eine Zeit gab,und sie liegt nicht lange zurück, in der er noch nie ein Wort mitdir gesprochen hatte, in der er nichts von dir wusste und du nichtsvon ihm. Gleichzeitig aber weiß er um die Bilder, weiß, <strong>das</strong>s duauf Césars Geheiß hin auseinanderfallen kannst. Er würde dir folgen,aus der Klinik und wohin auch immer du ihn führen willst,er würde dir folgen, wenn er nur nichts wüsste von dem Weiß indeinen Augen und deinen spitzen, kleinen Zähnen.*Heute hast du so getobt, <strong>das</strong>s sie dich mit Chloroform betäubenmussten. Dieser Anfall war anders als alle vorherigen; er gehörtedir allein. Einem Fachpublikum hätte César ihn kaum vorführenwollen, denn er war pures Chaos, ohne Phasen, ohne Struktur.Und als César dir die Hände auf den Bauch legte, tat sich nichts,du schriest weiter, du warst nicht geheilt worden.Dann, sagte César, müsse er an diesem Dienstag wohl eine anderenehmen.Eine andere? Bis vor kurzem glaubten die Ärzte, die Schwesternund César auch, keine könne dieselbe Wirkung erzielen wiedu. Auch du dachtest <strong>das</strong>. Im vorigen Monat aber ist eine neuePatientin an die Salpêtrière gekommen. Ihr Name lautet BlancheWittman, und obwohl sie kleiner ist als du, wirkt sie ein gutesStück größer. Sie hält sich stets sehr gerade, ihr Haar ist wiegesponnenes Gold, ihre Lippen sind blutrot. In einem gläsernenSarg liegt sie allerdings nicht, stolziert stattdessen den halben Tagumher. Blanche, <strong>das</strong> braucht dir keiner der Ärzte zu erklären, istalles, was du nicht bist. Sie zappelt nicht herum wie du. Sie redet107


nicht laut und schnell wie du. Sie sitzt still, spricht leise und schlägtdie Augen nieder. Darauf aber fällst du nicht herein: Sie ist keinePrinzessin, keine Dame. Eines der anderen Mädchen hat dir erzählt,<strong>das</strong>s sie als Näherin arbeitete, bevor sie hierherkam. Erstdie Salpêtrière hat sie veredelt und zu einem Kunstwerk gemacht.César und die anderen können sich nicht sattsehen an ihr. Du hastdeine hundert Fotos, aber sie hat schon bald ein eigenes Gemälde.Blanche in Weiß, fallend oder eher: sinkend. Bestaunt, getragenund gerettet. Dich auf deinen Fotos, zähnebleckend, möchte niemandretten, dich möchte man durch Gitterstäbe bestaunen. Duaber wolltest ja ohnehin nie gerettet werden. Du bist hier, um zuretten.Noch kannst du dir nicht sicher sein, was Blanches Ankunft fürdich bedeutet. Es scheint aber, als sei durch ihr Auftauchen jeneVeränderung besiegelt, die bereits vor einigen Wochen ihren Laufnahm. Es ist wie an diesen Tagen, im Frühling oder Herbst, wenn<strong>das</strong> Wetter dir einen Streich spielt, sich in der einen Sekunde entschiedenheiß oder kühl zeigt und in der nächsten alles zurücknimmt.Ohne Donnern, ohne Tusch ist die Welt eine andere. Dukannst deinen Finger noch nicht darauf legen. Begonnen hat eswohl in den Augen der Ärzte, die dich nicht länger ansehen wieihr Lieblings-, sondern wie ihr Sorgen- und Problemkind. AuchCésars neue Seiten treten immer deutlicher zum Vorschein: Erschaut dich kaum noch an, sondern an dir vorbei und über dichhinweg.Es kommt der Vormittag, an dem er dir die heilenden Händeauflegt und gar nicht erst versucht, in dich hineinzufühlen, dichzu erspüren. Als du dich sträubst, behauptest, keine Lust zu habenauf <strong>das</strong> Fotografieren und <strong>das</strong>s dir die Blitze den Schädel in Brandsetzten, schüttelt César den Kopf und schaut den Assistenten an.»Aber«, sagt César, »deine Krankheit ist auch nichts, woraufman Lust hat, sie kommt nicht, wie du es willst.«108


»Bald bin ich nicht mehr hier«, kündigst du Jacques an. Dann erzählstdu ihm von deinen Plänen, du quasselst und ratterst, deckstihn mit Worten ein, aber Jacques lächelt wie einer, der es besserweiß. Er glaubt dir nicht; er hat sich hier eingerichtet wie in einemgewöhnlichen Leben und kann sich nicht vorstellen, <strong>das</strong>s irgendwer,sicher nicht du oder er, diesen Ort wieder verlassen wird. Alsdu siehst, wie er ganz zufrieden ist in seinem Gefängnis, da musstdu dich auf deine Hände setzen, damit du nicht aufspringst. Mitdeinem ganzen Gewicht drückst du die Finger, die Handtellerauf den Sitz, und es gelingt dir gerade so, ihn nicht zu packen, zuschütteln und zu schreien: Das ist doch kein Zuhause hier. Ist dochnicht die Welt.Aber mit der Welt musst du Jacques gar nicht kommen, vonder Welt hat er bereits genug gesehen, die Welt ist eine zu schnelleKutsche, die sich einem im toten Winkel nähert, und wenn sie einenerfasst, weiß man nicht einmal mehr, wo oben und unten ist.»Ich bleibe jedenfalls nicht«, sagst du. »Hier ändert sich alles.«Tatsächlich scheint dir dieser Ort, dieses Gebäude mit allen, diees hält, wie ein kompliziertes Puzzle, eine Anordnung eng anliegenderPlättchen. Verschiebt sich eines, verschieben sich auch alleanderen, nichts bleibt ohne unmittelbare Auswirkung: BlancheWittman, der Arzt ohne Namen, sie drängen in die neue Mitteund schieben euch an den Rand. Hier ist kein Platz mehr für dich.Jacques muss es doch auch spüren, ein Ziehen in den Waden, inden Unterarmen und im Bauch.»Ich kann aber nicht«, behauptet Jacques und verschränktdie Arme. Wie sollst du so jemanden durch diese Festung derVerrückten, zwischen patrouillierenden Schwestern und einemmaskierten Arzt hindurchmanövrieren? Zwar bist du geschicktim Verschwinden, aber bisher ist es auch immer bloß um dichgegangen, du hast nicht einen ganzen Menschen auf deinem Rückentragen müssen. Du siehst auf ihn hinunter. Dass er kleiner ist109


als du, hast du schon bemerkt, nun aber scheint er dir nur halb sogroß. Je lauter du sprichst, umso weiter sinkt er in sich zusammen.Also reißt du die Zügel herum und versuchst es mit dem Gegenteildessen, was du eigentlich tun willst: Statt ihn zu packen undhinter dir herzuschleifen, drückst du den Rücken fest gegen dieLehne der Bank, statt weiter auf ihn einzureden, hörst du ihmzu.César ist dir ein guter Lehrmeister gewesen, und nun nimmst dudir ein Beispiel an ihm: Du tauchst tief in Jacques ein, bis auf denGrund seiner Person, bis in seine Kindheit, bis in seine Träume.Er erzählt dir, <strong>das</strong>s er sich als Kind nicht vor der Dunkelheitfürchtete, sondern vor Helligkeit. In der Dunkelheit stellte er sichvor, aus nichts weiter als Augen und einem Mund zu bestehen; <strong>das</strong>nächtliche Getier, die Spinnen und Käfer, die er in den Ecken undRitzen seines Zimmers wähnte, konnten ihm dann nichts anhaben,konnten nicht über seine Arme und Beine durch seine Ohrenund Nasenlöcher in seinen Schädel kriechen, denn sein Körperhatte sich längst aufgelöst. Er war Staub, er war verschwunden.Er erzählt dir, <strong>das</strong>s er nicht erst seit der Kutsche mit demSchlimmsten rechnet, <strong>das</strong>s der Unfall eher wie die überraschendoffensichtliche Bestätigung des längst Befürchteten dahergekommenist. Er hat noch nie recht an Möglichkeiten, sondern immereher an Katastrophen geglaubt.Er bestätigt, <strong>das</strong>s es ihm, anders als dir, leichtfalle, stundenlangstill zu sitzen, nichts zu tun, auszuharren, <strong>das</strong>s er im Geheimen davonträume, mit straffen Gurten an ein Bett geschnallt zu werden,so<strong>das</strong>s er sich nicht mehr bewegen kann. Dann erst gäbe es nichtsmehr zu fürchten.Du hörst ihm zu, während der frühe Nachmittag in den spätenNachmittag übergeht, und der späte Nachmittag in den Abend.Und als er zu Ende gesprochen hat, zählst du die Kacheln an dergegenüberliegenden Wand und verflichtst die Finger. Doch sosehr110


du dich auch bemühst, du kannst nicht länger an dich halten. Undschon redest du wieder auf ihn ein, zu schnell, zu laut. Du weißt:Wer stillhält, abwartet und nichts tut, verpasst jene Momente, indenen es gilt, die Beine in die Hand zu nehmen, Haken schlagendund nach Luft schnappend davonzurennen.In dieser Nacht bist du außer dir.Du verlässt deinen Körper, bist nicht mehr einzugrenzen, verlierstdich in einer Wut, die du bisher nicht gekannt hast. DieserOrt ist dir ein Zuhause gewesen, Blanche Wittman und der Arztohne Namen aber haben alles verändert, und nun erkennst du dieHallen als <strong>das</strong>, was sie vielleicht schon immer gewesen sind: alsGefängnis. Du hast hier nichts mehr verloren. Nein, im Gegenteil,du hast hier bereits etwas gefunden, Jacques hast du gefunden,und nun ist es an der Zeit zu gehen, zu verschwinden.Du erinnerst dich an die Zeit, in der du César so nah warst,<strong>das</strong>s du einfach aus der Klinik hättest spazieren können. Hin undwieder hast du genau <strong>das</strong> getan. César wusste darum, wusste aberauch, <strong>das</strong>s du zurückkommen würdest. Denn genauso, wie er dichbrauchte, zum Anschauen, brauchtest du ihn, um angeschaut zuwerden. Und wo hättest du auch hingehen sollen?An diesem Abend hast du es drauf ankommen lassen und bistwie beiläufig auf <strong>das</strong> Tor zur Welt zugesteuert. Besonders weit bistdu nicht gekommen, bevor Mme. Couronne nach dir gerufen hat:»Wo soll es denn hingehen, Mme. – ?«Natürlich sagt sie deinen vollen Namen. Aber den kennen wirnicht. Dein Gesicht auf hundert Fotos liegt uns auch heute nochvor, aber dein voller Name, deine restliche Geschichte ist irgendwoim letzten Jahrhundert abhandengekommen. Deine Spuren werdensich verlieren, sobald du die Salpêtrière verlässt.Noch sind wir aber hier, und noch ruft Mme. Couronne deinenNamen und eilt dir hinterher. Zwar kannst du sie abschüt-111


teln, doch nach ihr kommt eine weitere Schwester; es folgen dieMänner und der Äther und die Nacht und die Schwärze und <strong>das</strong>Nichts.Als du aus dem Nichts wieder auftauchst, findest du dich ineinem kleinen stickigen Raum wieder. Schwaches Licht fällt durchein vergittertes Fenster, und dir kommt der Verdacht, <strong>das</strong>s mandich getötet und in der Erde verscharrt hat, <strong>das</strong>s du dein eigenerGeist geworden bist. Du setzt dich auf. Langsam gewöhnen sichdeine Augen an die Dunkelheit, und du erkennst eine Pritsche,eine eiserne Tür. Also bist du kein Geist, sondern eine gewöhnlicheGefangene. Und wie du dort sitzt, deine Unterarme reibst,die Knie anziehst und fröstelst, da verstehst du, <strong>das</strong>s du dir etwasBesseres wirst einfallen lassen müssen, wenn du diesen Ort je verlassenwillst.*»Noch hier?«, fragt Jacques und versucht, spöttisch wie du zuklingen, findet aber nicht den richtigen Ton. Wenn er spricht, zittertseine Stimme, er stottert und stolpert über die Worte.»Aber nicht mehr lange«, sagst du.»Wann gehst du?«Wenn du mit mir kommst!, willst du rufen, weißt es aberbesser, blickst zur Seite und zu Boden. »Bald schon«, sagst du,und ihr schaut in die Ferne oder zumindest so weit ihr schauenkönnt, bevor sich die nächste Mauer zwischen euch und die Stadtschiebt.»Und wo willst du dann hin?«, fragt Jacques.»Werde ich dann sehen«, sagst du und meinst es so. Es gehtdarum, diesen Ort zu verlassen. Mit ihm. Was danach kommt, istnicht wichtig.»Vielleicht«, sagt er, »komme ich mit.«112


Du gräbst die Fingernägel in die Handinnenflächen, du saugstdie Innenseiten deines Mundes ein und beißt zu, bis es blutet.Währenddessen gibst du keinen Ton von dir, zählst bis zehn undsprichst erst dann. »Wer weiß, ob ich dich jetzt noch mitnehme«,sagst du, und an deine Stimme schmiegt sich der Spott ganz selbstverständlichan.Erschrocken dreht Jacques dir den Kopf zu, versucht herauszufinden,ob du dich lustig machst, aber du hast deine Züge beisammen,dein Gesicht ist schon lange kein Spiegel mehr, und auchkein Fenster.»Übermorgen«, sagst du, als hättest du diesen Zeitpunkt vonlanger Hand geplant und dir nicht eben erst überlegt.»Übermorgen«, sagt er und nickt.»Was ist mit dem Arzt?«Jacques schweigt. Er will dir nicht verraten, <strong>das</strong>s ihm die großeHoffnung durch die Finger geglitten ist, noch bevor er sie richtig zufassen bekam. Dass sich der Arzt wie ein dunkles Gespenst in seineTräume stiehlt und Jacques zu sich herunterzieht, in sein Labor tiefunter der Erde. Von diesen Räumlichkeiten haben ihm die anderenPatienten erzählt. In den ehemaligen Kellern untersuche der Arztseine Patienten mit den fortschrittlichsten Methoden, den neustenTechniken. Es gebe dort einen Stuhl, auf dem schnalle er siefest. Dann schiebe er <strong>das</strong> Lid des rechten Auges nach oben, nehmeeinen Eispickel zur Hand, setze ihn am oberen Rand des Augapfelsan und stoße ihn durch den Schädel, der an dieser Stelle dünn undleicht zu durchdringen sei. Mit kaum mehr als einem Klopfenkönne er bis ins Gehirn gelangen und dort die fehlerhaften Verbindungenkappen. Die Prozedur werde auf der linken Seite wiederholt.Ohne viel Aufhebens sei der Patient geheilt und äußerlichkaum mehr zu sehen als bläulich violette Schatten über den Augen.Um nicht länger an die geflüsterten Geschichten zu denken undan den neuen Arzt, dem er morgen vorgestellt werden soll, schaut113


Jacques dich an, deine rotfleckigen Wangen, die schnellen Hände.Wenn du einmal vergisst, dich auf sie zu setzen, dann verknotestdu deine Finger oder lässt sie durch die Luft flattern wie irre Vögel.Immerzu bist du in Bewegung.Noch nie hat er jemanden so schnell und so viel reden hören,denkt Jacques, und <strong>das</strong>s du immer voller Versprechen und Wortebist. Er ist sicher: Du könntest sogar die Steine überzeugen, <strong>das</strong>ssie auf Bäumen wachsen, und die Fische, <strong>das</strong>s sie besser fliegensollten.Du, Augustine, ahnst nichts von Jacques’ Gedanken. Du weißtauch nichts von den fortschrittlichen Methoden des Arztes, vonden modernen Techniken. Dir aber muss auch niemand von demLabor, von dem Stuhl und dem Eispickel erzählen. Seitdem dichder Arzt ohne Namen gestreift hat, weißt du alles, was du wissenmusst. Du willst Jacques’ Hand nehmen, willst sie drücken, bis erdir verspricht, bis er schwört, auf sein Leben, auf dein Leben, aufdie Leben aller, die ihr kennt, <strong>das</strong>s er mit dir kommen wird.Stattdessen zählst du wieder Kacheln.Die Anspannung macht dich unvorsichtig. Am Nachmittag bistdu durch den Flur getrampelt und hast mit Türen geknallt. Mme.Couronne hat dich ermahnt, doch sie hat es halbherzig getan undohne den alten Elan. Die Schwestern haben zwar noch ein wachsamesAuge auf dich, doch dir ist schon aufgefallen, <strong>das</strong>s sie mit denGedanken woanders sind. Mme. Couronne etwa rümpft gelangweiltdie Nase, wenn du ihr zu nahe kommst, so als ginge bereits einmodriger Geruch von dir aus. Deine Tage, scheint es, sind gezählt,und die Schwestern haben weiß Gott anderes im Kopf als ein Lumpenmädchen,ein Schmuddelkind, <strong>das</strong> gerne Zähne zeigt. Wennsie nicht gerade über Blanche Wittman tuscheln, die Näherin, diesich für eine Dame hält, dann erzählen sie sich Spukgeschichtenüber den neuen Arzt. Weil keine von ihnen freiwillig in <strong>das</strong> Labor114


hinabsteigt, um ihm seinen Kaffee zu bringen, haben sie begonnenauszulosen, wer hinuntergehen muss. Besonders oft muss <strong>das</strong> Losallerdings nicht entscheiden, denn der neue Arzt möchte keinenKaffee, möchte keinen Kuchen, möchte vor allem eines nicht: gestörtwerden. Mit den Schwestern spricht er so gut wie nie, den anderenÄrzten geht er aus dem Weg, nicht einmal mit César scheinter sich zu beraten. Alles in allem scheint es den Schwestern, ersei durch die gröberen Maschen des Systems geschlüpft, als wisseüberhaupt niemand, <strong>das</strong>s und warum er hier ist. Doch wann immerdie Schwestern <strong>das</strong> Problem zur Sprache bringen wollen, legtsich ihnen etwas Schweres auf die Zungen, und ganz plötzlich entgleitenihnen die gerade erst gefassten Gedanken.Wie du die Salpêtrière verlässt?Ganz einfach: überhaupt nicht. Nicht du wirst diesen Ort verlassen,sondern ein Arzt namens Auguste. Mit dem Zylinder aufdem Kopf und im Anzug wird er durch <strong>das</strong> Tor schreiten. Wieaber kommst du an den Zylinder, an den Anzug, an den Namen?Alles drei stiehlst du einem jungen Doktor. Zunächst will er dirweder den Zylinder noch den Anzug geben – <strong>das</strong>s du seinen Namenentwenden wirst, ahnt er nicht.»Bitte«, sagst du und bemühst dich um ein liebes Gesicht. Besondershübsch sieht <strong>das</strong> nicht aus, aber der junge Arzt mag dichgern, hat einen blinden Fleck, wenn es um dich geht. Also bittestdu ihn ein zweites, ein drittes Mal um Zylinder und Anzug.Das ist wieder so eine Verrücktheit, sagt sich der Arzt. Und darübermuss man sich nicht wundern, <strong>das</strong>s die Frauen auf einmalMänner sein wollen, <strong>das</strong> ist nicht nur hier so, sondern auch in derStadt, im ganzen Land. Wenn du dich verkleiden möchtest, dannüberlässt er dir eben <strong>das</strong> Kostüm.Das war schon der schwierigste Teil, jetzt musst du die Veränderungnur noch in dir selbst ankurbeln, und weil du auch im Kern115


ein Chamäleon bist, fällt dir <strong>das</strong> leicht. Als Erstes disziplinierstdu deinen Körper neu. Vor allem ist es dein Gang, deine Haltung,durch welche du dich nicht verraten solltest. Mit weiten, festenSchritten durchmisst du den Raum. Groß bist du ohnehin, nunstreckst du dich, machst einen geraden Rücken, hebst den Kopf,bewegst dich und trittst auf wie einer, der sucht, nicht wie eine,die sich versteckt. Die Lippen presst du zusammen, dein Blick wirdstreng. Und genau so wirst du diesen Ort verlassen. Du wirst nichtan der Außenfassade entlangklettern. Du wirst dich nicht abseilen.Du wirst keinen unterirdischen Tunnel graben. Du wirst diese Klinikverlassen, so wie du sie vor langer Zeit betreten hast: durch dieVordertür, als jemand, der du nicht bist.Am frühen Abend schwebst du durch die obere Etage und dieTreppe hinunter. Erst als du unten angekommen bist, verändertsich dein Schritt, wird schwer und bestimmt. Dein Haar, in einenKnoten geschlungen, hast du unter dem Zylinder versteckt.Du könntest ein junger Arzt namens Auguste sein. Wenn eineSchwester dir entgegenkommt, hältst du den Kopf gerade, schaustdu nicht in die andere Richtung, nicht zu Boden, sondern durchdie Schwestern hindurch, wie die Ärzte es tun. Bevor du die Hallebetrittst, straffst du die Schultern. Du versuchst, dir vorzustellen,<strong>das</strong>s Jacques nicht gekommen ist. Versuchst, dich an dieses Bildvon dir allein in der verlassenen Halle heranzutasten, an <strong>das</strong> Gefühlzu dem Bild. Es gelingt dir nicht. Ohne Jacques gibt es keineFlucht, keinen Plan, keinen Grund weiterzugehen oder stehen zubleiben. Ohne Jacques gibt es bloß Delirium ohne Applaus.Bevor du um die letzte Ecke biegst, hältst du inne. Du schließtdie Augen, streckst deine Fühler aus; du hörst nicht, du schaustnicht, du riechst nicht, du tastest dich vor, in dem Gewebe dieserWelt, fühlst durch die Schichten, die Wände, bis du etwas erkennst,ein Pulsieren, eine Wärme, ein geheimes, deinen Augen noch verborgenesZentrum. Du läufst weiter um die Ecke, und es ist, wie116


du gewusst hast, <strong>das</strong>s es sein würde: Neben Blanche Wittmans Bildwartet er auf dich.Du siehst gleich, <strong>das</strong>s er alles falsch macht. Er ist gar kein festerMensch mehr mit tatsächlichen Umrissen, sondern ein unstetflimmerndes Nebelgebilde. Du schaust ihn an, aber er schaut nichtzurück, und da begreifst du, <strong>das</strong>s er dich nicht erkennt. Augustebröckelt. Nicht im Raum, nicht in der Halle, sondern tief im Schädelhörst du ein Dröhnen, einen tiefen Ton, und du weißt, <strong>das</strong>ssich irgendwo in den Kellern der Arzt auf den Weg zu euch macht.Knirschend verschieben sich Plättchen, nichts hier scheint nochrichtig, scheint noch möglich, auch nicht eure Flucht. Jacques unddu, ihr seid zwei Salzsäulen, zwei Ertappte. Du schluckst. In demAugenblick schlingt sich Jacques’ Blick um deinen, ihr verknoteteuch, stolpernd wirst du auf ihn zu gezogen.»Da bist du«, sagt er.»Ja«, sagst du und willst lächeln, bist aber schon festgewachsenin dieser neuen Person: Auguste, ein ernster Arzt, der vor seinemPatienten steht und ihn aus Gründen, die niemand recht versteht,die aber auch niemand hinterfragen wird, aus dieser Klinikbringt.Aber glaubst du <strong>das</strong> denn tatsächlich, glaubst du, <strong>das</strong>s es zweiPatienten gelingen kann, aus der angesehensten NervenheilanstaltEuropas zu spazieren?Nun, du solltest daran glauben, denn hier ist die eine Sache, diedu noch nicht weißt: Es kann passieren, denn es ist passiert.Vor über hundert Jahren bist du, Augustine, verschwunden.Du Houdini der Salpêtrière hast dich eines Tages oder vielleichteher eines Nachts von der Bühne gestohlen. Geblieben sind nichtsals obskure Fotos; deine Spur hat sich verloren. Alles, was manweiß, ist, <strong>das</strong>s du nie wieder an diesen Ort zurückgekehrt bist.117


Ihr lauft los, und noch immer bewegt Jacques sich so ungelenkund steif, <strong>das</strong>s du ihn am Arm packen und wie einen Schlafwandlerführen musst. Unter den Augen der Schwestern und Ärzteschreitest du gemessen; sobald ihr aber einen leeren Gang betretet,rennst du, Jacques hinter dir herziehend. Ein Zittern geht nundurch <strong>das</strong> Mauerwerk, und ohne <strong>das</strong>s du zurückschauen musst,ahnst du, <strong>das</strong>s der Raum hinter euch sich aufrollt, die Salpêtrièresich in sich selbst zusammenfaltet. Etwas frisst sich durch diekleinsten Teilchen, und jene Festung aus Stein, in der ihr euchgefunden habt, zerfällt, zersplittert, verliert sich in feinstem Staub.Und auch die Zeit rinnt euch davon. Ihr müsst schneller sein. Nunaber kommen euch immer mehr Schwestern entgegen, ein Heervon Frauen, und sie alle gleichen sich bis aufs graue, strengfrisierteHaar. Zehn, nein, hundert, nein, tausend von ihnen marschierenauf euch zu. Doch keine hält euch zurück, sie strömen an euch vorbei,die Augen auf einen Punkt hinter euch gerichtet. Es scheint, alswollten sie nicht euch, sondern jemand anderen aufhalten.Jacques wird langsamer. Die Lampen an den Wänden flackern,der Boden unter euren Füßen zittert; ihr könnt <strong>das</strong> Tor sehen,weit geöffnet für den eiligen Arzt und seinen Patienten. Da bleibtJacques stehen. Du ziehst an ihm, redest auf ihn ein, versuchst, ihmin die Augen zu schauen, aber er blickt an dir vorbei und zum Tor.»Ich weiß nicht, was dahinter kommt«, sagt er.Es dämmert um euch und in euch, und du erinnerst dich, <strong>das</strong>sJacques schon als Kind von der Dunkelheit träumte, davon, in ihrzu zerfließen, zu verschwinden, sich geschützt glaubte, vor demzirpenden, raschelnden Nachtgetier, vor den hundert Augen derKäfer und Spinnen. Doch nur ein Kind kann denken, <strong>das</strong>s es nichtgesehen wird, weil es selbst blind ist.Du hörst ein lautes Klopfen, ein Pochen, ein Hämmern, und duverstehst, <strong>das</strong>s es eure Herzen sind, die in den Wänden schlagen,im Boden, in der Decke und der Luft.118


»Du musst mit mir kommen«, sagst du.»Was ist, wenn du mich nicht findest?«, fragt Jacques, weil erverstanden hat, <strong>das</strong>s ihr zwar gemeinsam durch <strong>das</strong> Tor gehenwerdet, jedoch jeder für sich auf der anderen Seite heraustretenwird.»Ich finde dich«, sagst du. Und wie du es sagst, wird es ein Versprechenund wahr.Die letzte Minute bricht an. In diesen Hallen werden alle Lichtergelöscht; ihr verlasst die Bühne. Und während du durch <strong>das</strong>Tor trittst und die erste Schneeflocke auf dein Haar fällt, spürstdu, wie sich etwas löst, wie du etwas verlierst. Du hältst Jacques’Hand nicht mehr.


Pressestimmen»Dass Katharina Hartwell schreiben kann, lerntman schon auf den ersten Seiten ihres DebütromansDas Fremde Meer - wie klug sie eine Dramaturgieaufbaut, lernt man spätestens auf den letzten,traurigen Seiten ihres Romans.(…) Jede dieserErzählungen könnte für sich stehen. Jede dieserEpisoden hat ihren ganz eigenen Ton. UndKatharina Hartwell erzählt sie alle so gut, <strong>das</strong>s siedamit auf jeden Fall einen neuen Weltrekord imliterarischen Zehnkampf aufgestellt haben dürfte.Aber in ihrem Zusammenspiel passiert etwas fastMagisches. (…) Damit beginnt eineLiebesgeschichte, die so groß und schön ist und sotraurig endet, <strong>das</strong>s man sie wirklich mit allenMitteln und Genres der Literatur zu rettenversuchen muss.« Spiegel online»Eines der kühnsten Debüts der Saison. (…)Hartwell beweist in ihrem Debütroman, <strong>das</strong>s nichtimmer alles nüchtern und abgeklärt sein muss. Dassdie großen Worte noch immer ein Recht daraufhaben, ausgesprochen zu werden. KatharinaHartwell ist eine Erzählerin aus Überzeugung. Inihrer Generation gibt es nicht so viele davon.«Literarische Welt»Zauberhaft.« Neon


»Ein grandioses Debüt. Märchenhaft undverstörend. Katharina Hartwell hat zu Recht allesauf eine Karte gesetzt.« NDR Kultur»Katharina Hartwell räumt auf mit dem Vorurteil,<strong>das</strong>s die am Deutschen Literaturinstitut Leipzigausgebildeten Autoren zwar <strong>das</strong> Handwerkbeherrschen, erzählerisch aber nichts wagen. DieAutorin fabuliert, komponiert und variiert. Sieliefert ein gewagtes, aber überzeugendes Debüt. (…)Auf fast 600 Seiten fährt Katharina Hartwell nahezualle Geschütze auf, wechselt gekonnt die Genres undTöne und liefert den - wenn auch nicht in allenDetails geglückten - furiosen Beleg für die heilendeKraft des Erzählens. (…)Am Ende der Lektürebleibt vor allem Bewunderung für diesenDrahtseilakt, der um jeden Preis belegen will, wasdie Literatur kann - wenn sie sich denn aus ihrenabgesicherten Schlupflöchern hervorwagt.«Deutschlandradio Kultur»Ein komplexes, kraftvolles Buch. (…) BeimBeschreiben großer Gefühle besteht leicht dieGefahr, in Kitsch abzudriften. Hartwell passiert <strong>das</strong>kaum. Ernsthaft und fantasievoll schreibt sie übereine im wahrsten Sinne des Wortes übersinnlicheVerbindung - unerklärlich und höchst spirituell.«dpa (Focus/SchwäbischeZeitung/Stern/Westfälische Nachrichten etc.)


„Der Roman Das Fremde Meer treibt einem denWunsch, zu Hause zu bleiben, gründlich aus.(…)Spannend, oft tragisch und nicht zuletzt herrlichkonsequent.“ Zeit online»Das Fremde Meer erzählt die Geschichte von Janund Marie. Klingt erstmal gar nicht so spektakulär,ist es aber. Denn Hartwell lässt ihre Protagonistenin zehn <strong>Kapitel</strong>n durch zehn völlig unterschiedlicheEpochen taumeln, wechselt Sprach, Stil- undErzählform scheinbar nach Belieben. Wie <strong>das</strong> amEnde dann doch alles zusammenhängt, erfährt manerst im letzten <strong>Kapitel</strong>. Bis dahin hat man dannschon ganze Nächte durchgelesen.« GlamourLovelybooks-Bewertungen»Ich habe Gänsehaut am ganzen Körper! Wie sollich nun noch hoffen, jemals ein faszinierenderesBuch als dieses zu finden? Bisher hatte ich nie dieseseine Lieblingsbuch, aber Das Fremde Meer wird esnun für lange Zeit (vielleicht sogar für immer?!)sein.« Geri , 5 Sterne»Katharina Hartwell verzaubert die Leser und ziehtsie hinein ins fremde Meer von Marie und Jan. Einwirklich unglaubliches Debüt, über <strong>das</strong> ich nicht soviele Worte verlieren möchte, eben weil ich es kaum


in Worte fassen kann. Dieses Buch hat besteChancen auf <strong>das</strong> Buch des Monats und vielleichtsogar des Jahres. Selten habe ich so einfaszinierendes Buch gelesen.« Bibliomania, 4 Sterne»Das Fremde Meer ist ohne Frage mein neuesLieblingsbuch. Es enthält einfach alles, was ich anBüchern gerne habe: Eine ungewöhnliche, neueIdee, Charaktere, die man einfach direkt ins Herzschließen muss, eine wunderschöneLiebesgeschichte, Spannung, Fantasie. Noch dazu istder Erzählstil der Autorin einfach wunderschön,so<strong>das</strong>s man manchmal Formulierungen aus purerLust zwei oder dreimal lesen möchte.« Tonks, 5Sterne»Das Buch ist wirklich genial. (…) Als ich DasFremde Meer beendet hatte, kam bei mir Traurigkeitauf, weil es jetzt vorbei war. Am Ende kann ichsagen, <strong>das</strong>s ich völlig in Maries Gedankeneingetaucht bin. Mein Fazit: Wenn du <strong>das</strong> Buchgelesen hast, klapp es zu, stell es in deinBücherregal, mach was du willst, aber dieGeschichte wird dich in nächster Zeit nicht mehrloslassen. Ich kann es euch nur ans Herz legen.«Nicki-Nudel, 5 Sterne»Der Schreibstil ist überragend. Ich habe vorher nieetwas Vergleichbares gelesen und es wird schwersein, da ein gleichwertiges Buch zu finden. Sehr


vielschichtig, sehr komplex.(…) Das Buch ist keineleichte Kost, denn die Wellen überrollen einen vielzu schnell und manchmal ist keine Marie da, dieeinen retten kann. Trotzdem sehr zu empfehlen,weswegen ich 5 von 5 Sternen gebe, was ich seltentue. Katharina Hartwell ist für mich ein Name, denman sich merken sollte!« Cattie, 5 Sterne»Ein stilles Buch - ein lautes Buch, ein zartes Buch,ein wildes Buch, immer wieder ist es auch einspannendes Buch - aber vor allem ist es ein kluges,ein gekonnt konstruiertes und aufgebautes Buch,<strong>das</strong> all dies vereint. Katharina Hartwell hat hier einKunstwerk geschaffen, eine filigraneGesamtkomposition aus Sprache, Inhalt, Rechercheund Emotionen, die ihresgleichen sucht. Ich musssagen, ich bin ehrlich froh, <strong>das</strong>s es sich hier um einejunge Autorin handelt, die ihren 30sten Geburtstagnoch vor sich hat, denn <strong>das</strong> lässt mich auf weiterewunderbare, erkenntnisreiche, prägende undmöglicherweise <strong>das</strong> Leben oder zumindest die Sichtdarauf verändernde Werke hoffen. Hartwellschreibt vollkommen anders als jeder Autor, den ichvor ihr gelesen habe, sie hat ihren eigenen Stil, abervor allem hat sie etwas zu sagen, sie trägt dieGeschichten in sich. Das merkt man vor allemdaran, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Buch weit entfernt davon ist,gekünstelt bzw. konstruiert zu wirken - all <strong>das</strong>


kommt aus dem tiefen inneren der Autorin undfügt sich durch ihre gekonnte Feder zu einemwundersamen Gesamtkunstwerk.Dieses fremde Meer ist überwältigend und tosend,manchmal ruhig, aber immer wieder schlagen dieWellen über dem Leser zusammen. Ich kann eswirklich jedem ans Herz legen, der guteGeschichten mag, vor allem aber denjenigen, diesich gern überraschen lassen!« Tochter-Alice, 5SterneAmazon-Kundenrezensionen»Das Fremde Meer offenbart einen Text, dergleichzeitig erschüttert und fasziniert, der den Atemanhalten lässt und zu Tränen rührt, ohne pathetischzu werden. Ein großartiger Roman, dessenHandlung sich nur langsam formt und schier aufden letzten zwei, drei Seiten den Knoten entwirrt.Ein Buch, <strong>das</strong> den Leser nach dem Zuschlagen derletzten Seite atemlos zurücklässt, in dessen Wellener allerdings noch einmal eintauchen sollte, um dieimmense Vielschichtigkeit vollends zu erfassen.Katharina Hartwell: Eine Autorin, die man sichunbedingt merken sollte. Ich bin begeistert!« HeikeG


»Beeindruckend ist es, wie Hartwell diese innerenBefindlichkeiten immer wieder neu und anders inFiktionen ausdrückt. Wie sie sensibel die Sehnsucht,die Verschlossenheit, die Angst in Symbolenauszudrücken versteht. Eine Bildsprache, die nichtplump daherkommt, sondern wirken will und kaumin jeder Faser vom Leser einfach so entschlüsseltwerden kann.(…)Ein sprachlich gelungener und in seinerSymbolsprache der Innerlichkeit der beidenLiebenden im Buch anspruchsvoller, sehr intensiverund zum Versinken einladender Roman.« M.Lehmann-Pape»Schon auf den ersten Seiten wird klar, <strong>das</strong>s dieseAutorin schreiben kann, auf den nächsten hundertSeiten entdeckt man dann mit Freude eine gutdurchkonstruierte Geschichte, die sich nach undnach zu einem episodenhaften Roman entwickelt.(…) Es sind Liebesgeschichten en série, immerwieder unter anderen Vorzeichen und immerwieder ergreifend schön. Ein Duell der Genres, einDuell mit Federkielen, <strong>das</strong> seinesgleichen sucht! Einwunderschöner Sommerroman!« Jouvancourt»Der Begriff „Liebesroman“ wird diesem Buch


definitiv nicht gerecht. Natürlich ist es eineLiebesgeschichte, jedoch keine, die man so schontausendfach gelesen hat. Es ist Fantasy, Märchen,Gruselgeschichte und irgendwie alles in einem.Jetzt, wo ich [<strong>das</strong> Buch] gelesen habe, sage ich:Dieses Buch sollte jeder gelesen haben, denn sonstverpasst man etwas ganz Besonderes,Außergewöhnliches, Faszinierendes,Unbeschreibliches!Fazit: 5 Sterne sind nicht genug, für dieses Werk,aber da mir nichts anderes bleibt, gebe ich ebendiese und denke mir 1000 weitere dazu.« Sunny»Ich habe lange kein so berührendes, magisches,phantastisches Buch gelesen. Noch immer habe ichjede Figur deutlich vor Augen und kann mich injede der Geschichten hineindenken, Tage nachdemich sie gelesen habe, so eindringlich sind sie erzählt.Ich finde dieses Buch ganz außergewöhnlich undkann es nur weiterempfehlen.« BettyblueDie Kollegen»Ungeheuerliche, soghafte, magische Erzählungenvon archaischer Kraft münden in eine berührendeLiebesgeschichte. Ich habe diesen Romanverschlungen - und der Roman mich.« MarkusOrths


»Katharina Hartwells Roman ist eineatemberaubend sicher erzählte Verwirbelung derklassischen Motive der Literatur: Liebe, Angst undTod. Berührend einfach, grandios komponiert, vonsprühender Intensität. Ich bin berauscht.« AntjeRávic StrubelBuchhändler-Stimmen»Ganz selten jedoch ist es, <strong>das</strong>s mich ein Buch völligmitreißt, nicht mehr freigibt und mit der letztenSeite nur mit dem Gedanken zurücklässt, <strong>das</strong>s ichgern noch einige hundert Seiten weitergelesen hätte.(...) Vieles begeistert mich an diesem Roman,angefangen von dem liebevollen Porträt der beidenProtagonisten und der treffsicheren Zeichnung derNebenfiguren über die in jedem Sinne fantastischenGeschichten, die voller kleiner und großerAnspielungen und Überraschungen sind, bis hin zurDurchgestaltung der Rahmenhandlung, diekunstvoll ist aber nicht gekünstelt, gefühlvoll abernicht kitschig, humorvoll aber nicht platt.Für mich <strong>das</strong> Buch des Sommers, vielleicht sogar<strong>das</strong> Buch des Jahres!« Marc Rottpeter,Buchhandlung Peterknecht»Wissen Sie, <strong>das</strong>s mich Katharina Hartwells Roman"Das fremde Meer" nicht loslässt? Immer wiederdenke ich an dieses Buch, und je mehr Zeit nach der


Lektüre verstrichen ist, umso intensiver erlebe ichmanche Passagen...« Frank Menden, stories! DieBuchhandlung»Kann die Literatur Leben retten? Weiß ich nicht.Aber hilft sie nicht, oder besser, ist sie nicht einVersuch, Ordnung und Sinn in <strong>das</strong> Chaos Leben zubringen? Rettet sie ein Liebespaar vor dem Tod,macht sie es unsterblich? Aufgeben gilt nicht, aufeinen Versuch kommt es an. Lesen Sie einfach dieGeschichte von Marie und Jan und feiern Sie <strong>das</strong>Leben.« Klaus Bittner, Buchhandlung Klaus Bittner„Mit ihrer eindringlichen Sprache erschafftKatharina Hartwell Welten, die sich wie von selbstmit Leben und Seele füllen.“ Edgar Rai,Buchhandlung Uslar & RaiAus den Blogs»Das Fremde Meer ist einer der ungewöhnlichstenRomane, die ich in den vergangenen Jahren gelesenhabe. Ein Stück weit verweigert er sich jeglicherKategorisierung. Die Geschichten sind fantastisch,die Liebe zwischen Jan und Marie ist es jedoch nicht– es gibt sie wirklich. So gehört <strong>das</strong> Buch zu einemder großartigsten und ungewöhnlichstenLiebesromanen, den ich seit langem gelesen habe.Bei all seiner Ungewöhnlichkeit ist der Roman vorallen Dingen auch mutig, denn die Konstruktiondes Buches ist sicherlich ein Exemperiment, ein


Wagnis, <strong>das</strong> auch scheitern kann. In diesem Fallkann man von einem Scheitern jedoch nichtsprechen, denn dieser Roman ist herrlicherfrischend, weil so anders, als vieles andere, wasman heutzutage in den Buchhandlungen ausliegensieht. Katharina Hartwell ist mit ihremDebütroman ein tragischer Roman gelungen, denich mit einem Kloß im Hals und Tränen in denAugenwinkeln zuklappe, in dem ich mich jedochauch warm und geborgen gefühlt habe.Das Buch liegt immer noch hier auf meinemNachttisch, die zahllosen Post-its werfen einenbunten Schatten. Ich nehme es immer noch gerne indie Hand, blättere hindurch und versinke in derWelt der Worte. Es sind wunderschöne, zarte undhochpoetische Worte. Es sind Worte, die ich amliebsten einstecken und unter meiner Jackeverschwinden lassen würde, um sie bei mir tragenzu können.« Mara Giese, buzzaldrins.com

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