13.07.2015 Aufrufe

Brückengang (PDF) - Renate Kletzka

Brückengang (PDF) - Renate Kletzka

Brückengang (PDF) - Renate Kletzka

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>Brückengang</strong>Langen Nordend <strong>Renate</strong> <strong>Kletzka</strong>


GrußwortDieter PitthanBürgermeister der Stadt LangenIm Langener Nordend ist eine Brücke vollerSymbolkraft entstanden, ein farbenfrohes Wandbild,das das Viertel des früheren HessischenÜbergangswohnheims bereichert und für Trennungund Verbindung steht. Dieses Wohnheimbot Tausenden von Flüchtlingen und Aussiedlerneine erste Unterkunft und war für sie eine Brückein ihre neue Heimat. Auch die Langener Künstlerin<strong>Renate</strong> <strong>Kletzka</strong> hat als Kind diese Erfahrungengemacht. Umso authentischer ist das vonihr gestaltete Werk, das jetzt Fassaden an dreiHäusern an der Annastraße und der Elisabethenstraßeschmückt.Das Übergangswohnheim hat nicht nur dasNordend, sondern unsere ganze Stadt über fünfJahrzehnte entscheidend mitgeprägt. Inzwischenist die Umgestaltung des Quartiers durchdie Sanierung des großen Wohnblocks an derAnnastraße und des Abrisses von Altblocks weitvorangeschritten. Projekte wie die Gestaltung desPlatzes der Deutschen Einheit stehen noch bevor.Der „<strong>Brückengang</strong>“ von <strong>Renate</strong> <strong>Kletzka</strong> passtsehr gut zum Namen des Platzes, der bis an dasWandbild heranreicht. Denn eine Brücke führtetwas zusammen, so wie die ehemals getrenntendeutschen Staaten.Ich danke der Künstlerin für ihr Engagement, daszur Verschönerung des Nordends und zur Erinnerungan das Übergangswohnheim beiträgt. MeinDank gilt zudem der Baugenossenschaft Langen,in deren Besitz die drei Wohnblocks sind.Finanziert wurde die Wandgestaltung aus demProgramm „Soziale Stadt“.


Balkonblick, Annastraße 19642


Geschichte des LagersPeter HolleDas Lager hat einige Namen getragen. Ursprünglichhieß es von Amts wegen „Wohnsiedlung LandHessen“, später tauften es die Behörden in Landesflüchtlingslager um. Zuletzt galt die offi zielle Bezeichnung„Hessisches Übergangswohnheim fürSpätaussiedler“ (HÜW). Als Kürzel war im Rathaus undunter Journalisten einige Zeit lang „LaFlüLa“ inGebrauch (für Landesfl üchtlingslager). Im Volksmundfirmierte der Gebäudekomplex im Geviert von Straßeder Deutschen Einheit/Elisabethenstraße/Annastraßejedoch durchgängig über ein halbes Jahrhundertimmer nur als „das Lager“.Das Karree wurde von 1957 an im wahrsten Sinne desWortes aus dem Boden gestampft. Der Bau gründetesich auf das Bundesvertriebenengesetz von 1953.Dessen Paragraph 8 besagte, dass die Bundesländergemäss einer festgelegten Quote – sie betrug damalsfür Hessen 7,3 Prozent des „Bundeszugangs“ –Aussiedlerfamilien aufzunehmen und unterzubringenhatten. Das geschah in Übergangswohnheimen.Hessen hatte deren neun, unter anderem in Hasselroth,Hochheim, Schöneck, Büdingen und Buchschlag.Die größte dieser Einrichtungen entstand indes amStandort Langen.Eingefädelt und in trockene Tücher gebracht wurdedas Langener Projekt im Juni 1956. Da fasste dasOrtsparlament einen „Verfügungsstellungsbeschluss“,das heißt die hiesigen Volksvertreter bekundeten ihreBereitschaft, dem Land Hessen Gelände für ein – sohieß es im Text – „Landesdurchgangslager fürFlüchtlinge“ zur Verfügung zu stellen. Die Langenerhatten damals eine Bedingung gestellt – und die warerfüllt worden. Der zuständige Regierungsrat Sippelgarantierte und gelobte im Haupt- und Finanzausschussder Langener Stadtverordneten namens„seines“ Ministeriums (Hessisches Ministerium desInnern – Landesamt für das Flüchtlingswesen), „dassder Stadt durch die Landeswohnsiedlung keinerleiKosten und soziale Lasten, insbesondere Fürsorgekosten“entstehen.Im Jahr drauf, am 21. Juni 1957, hoben alleStadtverordneten die Hand und sagten Ja zumVerkauf. Verhökert wurden 6186 Quadratmeter Baugrund,der zum Quadratmeterpreis von 3,20 Mark ansLand Hessen ging. Das Areal befand sich im hohenNorden der Langener Feldgemarkung „nördlich derGärtnerei Herth“ und setzte sich aus zwei Parzellender Flur XXI zusammen – Numero 123/2 (3309Quadratmeter) und Numero 131/1 (2877 Quadratmeter).Die Stadtkasse strich dafür 19.795 Mark ein pluseiner „Entschädigung für Obstbäume und Kulturen“ inHöhe von 3650 Mark. Machte unterm Strich eineEinnahme von 23.445,20 Mark.3


Hochgezogen und auch bezogen wurden noch imgleichen Jahr zwei 977.000 Mark teure viergeschossigeWohnblocks mit den späteren Adressen Straßeder Deutschen Einheit 1-3 und 2-4. Die beidenLaubenganghäuser boten in ihren 44 Dreizimmer- undvier Zweizimmerwohnungen Quartier für 520 Menschen.Jede Wohneinheit in diesem ersten Bauabschnittschlug für das Land Hessen mit 22.000 Markzu Buche. Das Land trug auch die Erschließungskostenvoll und berappte sämtliche Anliegerbeiträge andie Stadt Langen. Das heißt: Es nahm den StraßenundKanalbau zur Gänze auf seine Kappe undfi nanzierte die Strom-, Gas- und Wasseranschlüsse.Das alles nahm in Siebenmeilenstiefeln seinen Lauf:Richtfest feierte man im Landesfl üchtlingslager am26. März 1957, die Einweihung am 9. September desJahres.Die Versorgungsleitungen und die Fahrwege warenbereits auf den zweiten Bauabschnitt hin ausgelegt –den fünfgeschossigen Wohnblock Annastraße 60-70.Der 117 Meter lange Gebäuderiegel ward zwischenMärz und Mai 1959 bezugsfertig. In den 48 Dreizimmerwohnungenlebten später bis zu 580 Frauen undMänner.Im dritten Bauabschnitt entstand das Gemeinschaftshaus.In dessen Zentrum: ein großer Saal, der durchZiehharmonikawände in drei Sälchen unterteiltwerden konnte. Des Weiteren baute das Land hierzwei Kinderpavillons, eine Bibliothek, Lesezimmer,Duschräume und Wannenbäder.Letzte Lager-Erweiterungen liefen 1992/93, als an derElisabethenstraße 59, 61 und 63 Blocks hochgezogenwurden. Das Territorium des Übergangswohnheimsfasste nunmehr 12.400 Quadratmeter. Eskamen bis zu 1.200 Menschen unter.Das HÜW war stets dicht belegt. Mit DDR-Flüchtlingen,Ausreisern, Haftentlassenen. Mit Vertriebenen ausPolen, Rumänien, CSSR, Sowjetunion und anderenOstblockstaaten. Mit Boat People aus Vietnam. MitAsylbewerbern. Seit 1992 dann hauptsächlich mitSpätaussiedlern aus den GUS-Staaten und Russland,insbesondere aus Sibirien, Kasachstan und Kirgisien.April 2001 verkündet das Hessische Sozialministeriumdas Aus fürs HÜW. Die Aussiedler werden vonnun an direkt auf Städte und Gemeinden verteilt undnicht mehr an großen Lager-Standorten konzentriert.In Langen sollen Ende 2002 die Lichter ausgehen.Das klappt nicht. Das ganze Jahr 2003 leben nochMenschen im Camp.Zweieinhalb Jahre dauern auch die Verhandlungenzwischen Stadt und Land, ehe im Oktober 2004 derBesitzer wechselt und die Kommune das HÜW-Arealfür 3,43 Millionen Euro erwirbt.Der Abriss der Laubenganghäuser beginnt mit einemBaggerbiss am 4. August 2005. Die ältesten Lager-Häuser werden plattgemacht, die Straße der DeutschenEinheit geschleift. Auf dem frei geräumten Arealsollen Quartiersplatz und Begegnungszentrum für denStadtteil Nordend angelegt werden.4


Um die Lagerbauten ist von 1957 peu à peu Langensgrößter Stadtteil – das Nordend – entstanden. Nachamtlicher Schätzung kommt gut die Hälfte der jetzt(2008) in diesem von Nördlicher Ringstraße, Lutherstraße,Nordumgehung und Bahnlinie begrenztenViertel wohnenden 7000 Menschen direkt oderindirekt aus dem einstigen Hessischen Übergangswohnheim.Fürs gesamte Langener Stadtgebietrechnet man mit einer Quote von rund 20 Prozent„HÜW-Langenern“. Vor allem diesem Zuzug vonFlüchtlingen, Heimatvertriebenen und Spätaussiedlernist der augenfällige Anstieg der Einwohnerzahlengeschuldet. Waren 1956 in Langen rund 17.000Personen gemeldet, so weist die 2008er-Statistik andie 36.000 Köpfe aus.Eigentlich sollten die Flüchtlinge und Vertriebenen ja –so dekretierten es die damaligen Richtlinien – nichtlänger als neun Monate im Lager bleiben und dann ineine Wohnung „außerhalb“ umgezogen sein. Doch diemeisten Bewohner blieben zwischen drei und sechs,manche bis zu acht Jahren in den engen HÜW-Herbergen. Dafür gab es unterschiedliche Gründe.Beispielsweise harrten einige Familien solange imHeim aus, bis sie für ein eigenes Haus Geld angesparthatten. Andere fanden lange Zeit keine passendeBleibe – bis weit in die 1990er Jahre herrschte inLangen ein empfi ndlicher Mangel an bezahlbarenWohnraum.Aber es gab Arbeitsplätze. Auch und gerade deshalbsind viele hier „hängen geblieben“. So meldet WilhelmWeiske, der damalige Leiter des FlüchtlingswohnheimsLangen, im März 1962 an seine vorgesetzteBehörde, das Regierungspräsidium Darmstadt: „Seit1957 bis zum März 1962 sind insgesamt 880Familien mit 3.195 Personen durch das Lagergegangen. Etwa ein Drittel davon ist in Langenansässig geworden. Dieser hohe Anteil ist sowohl aufden großzügigen Wohnungsbau mit seinen Sonderprogrammenund auf die guten Erwerbsmöglichkeiten inLangen zurückzuführen.“Weiske beziffert die Zahl der Neubürger, die in denersten fünf Jahren des Lagers „wohnungsmäßigversorgt“ wurden und ihre neue Heimat quasi vor denLagertoren in der Sterzbachstadt fanden, auf 954.Von denen hätten bei ihrem Auszug aus dem LaFlüLa466 Frauen und Männer „ein Arbeitsverhältnis ineinem der ortsansässigen Betriebe“ gehabt. Und die,die im März 1962 im Lager noch auf eine Sozialwohnungwarteten – es waren 827 Personen – hatten imGros ebenfalls einen Job in einem Langener Betrieb.Weiske spricht von 220. Seine Fünfjahres-Bilanz: „DenLangener Industrie- und Gewerbebetrieben wurdensomit also nahezu 700 Arbeitskräfte zugeführt.“6


7Abriss 2005


Familie <strong>Kletzka</strong> 19648


<strong>Brückengang</strong><strong>Renate</strong> <strong>Kletzka</strong>DavorDie Zeit davor war ich Kind. In meinem Kopf entstehenBilderfetzen aus unbeschwerten Kindertagen. Da istder Kartoffelacker hinterm Haus, der Garten vor demHaus und mein Lieblingsplatz, die Kirschbäume rechtsvom Haus. Wollte man uns besuchen, musste maneine kleine Brücke überqueren. Hühner, Kaninchenund Ziegen gehörten zur Familie, die Katzen streuntenums Haus. Eine unbefestigte Straße führte durch diekleine Siedlung, etwas abseits vom Dorf. Meine Weltwar grün, naturverbunden und voller abenteuerlicherOrte. Meine Welt war in Ordnung.Es war immer was los bei uns. Ich habe 2 großeSchwestern, einen großen Bruder und eine kleineSchwester. Ich bin das vierte Kind in dieser fünfköpfi -gen Kinderbande, 1956 in Ratibor/Racibórz(Oberschlesien/Polen) geboren.Aus der Perspektive meiner Eltern sah unser Lebenanders aus. Die Rahmenbedingungen warenbeschwerlich und die Wege waren lang. Doch selbstals Kind von 7 Jahren habe ich intuitiv verstanden,dass diese äußeren Lebensumstände nicht diewirklichen Gründe waren, die meine Eltern veranlasstendas Land zu verlassen. Uns ging es gut, sehr gutim Vergleich. Es war die Tatsache, die eigene Identitätnicht leben zu können. Die Muttersprache war tabuund die kulturellen Bezüge konnten nur mit Vorbehaltgelebt werden. Im Nachkriegspolen waren wir dieDeutschen.Meine Eltern entschlossen sich zur Übersiedlung in dieBundesrepublik Deutschland. 1963 stellten sie zumdritten mal einen Ausreiseantrag. Ich erinnere mich anihre Freude als nach langem Warten die Ausreisegenehmigungkurz vor Weihnachten eintraf. Ich warzuvor mit 7 Jahren eingeschult worden und hattegerade 3 Monate polnische Schule hinter mir.WährendDer Abschied fiel allen nicht leicht. Ein paar Kistenwurden gepackt und vorausgeschickt. Am 20. Februar1964 war es soweit. Eine Familie, Eltern 38/37, 5Kinder 13 - 6 Jahre alt, bepackt mit einigen Koffernund Taschen, setzten sich aus dem oberschlesischenKornica Gemeinde Groß Peterwitz in RichtungDeutschland in Bewegung. Nachts ging es mit demZug über die bedrohliche Grenze. Es herrschte Unruheals die polnischen und deutschen Grenzsoldaten dieDokumente prüften, erleichterte Stimmung danach.Die Eltern hatten gewählt, der Weg führte uns nachLangen.Im Gegensatz zu uns Kindern konnten meine Elternihre Muttersprache wieder sprechen, für uns Kinderhieß es nun, eine neue Sprache lernen.9


Entwurf auf Leinwand, AnnastraßeEine meiner ersten bleibenden Erinnerungen an dieAnkunft in Langen ist der Blick auf eine Obstauslageim Langener Norden, dieses Bild hat sich alsverheißende Begrüßung eingeprägt. Auch die erstenAugenblicke unserer Ankunft im Lager/HÜW sindunvergessen. Ich sehe die Tränen meiner Mutter, die 2Zimmer mit Stockbetten, das Gemeinschaftsbad. DerGaskocher in der Küche, der mit 10 Pf Münzengefüttert werden musste, hat einen besonderenErinnerungswert.Alles war neu, die Zukunft ungewiss. Ich glaube, abdiesem Zeitpunkt begann es für meine Eltern leichterzu werden, während es für uns Kinder zunächstbeschwerlicher wurde. Um die Sprache zu lernenverbrachte ich mit meinen 3 älteren Geschwistern 1Jahr in einer klösterlichen Förderschule an der Saar.Erst danach begann meine normale Schullaufbahn inLangen.Der Hausbau im Langener Neurott verzögerte unserenAuszug. 3 Jahre dauerte unser Aufenthalt imFlüchtlingslager/HÜW in der Annastr. 62, 2. Stocklinks. Drei Jahre Aufbau und Neuanfang für alleBeteiligten. Wir waren angekommen. Die Unterschiedebegannen zu verschwinden. Heute verweist keinAkzent mehr auf den Landeswechsel, wir hatten Glückmit der Zeitplanung. Es gab in dieser Anfangszeit vielUnterstützung und Hilfe für unsere Eingliederung. Aberes gab auch Momente des Fremdseins.Waren wir in Polen die Deutschen, so waren wir inDeutschland zuweilen die Polen!10


DanachMeine Entscheidung für einen künstlerischen Werdegang,für die freie bildende Kunst, fi el erst geraumeZeit nach dem Studium der Visuellen Kommunikationan der Hochschule für Gestaltung in Offenbach.Die Bindung an Langen ist geblieben. Nach 7 JahrenFrankfurt kam ich nach Langen zurück. Das Lager warein Übergangsort in meiner persönlichen Geschichte.Ein Ort zwischen zwei Welten, zwei Lebensabschnitten.Mit diesem Kunstprojekt im Nordend kehre ich andiesen Ort zurück. Hier verbindet sich meine Biographiemit meinem Beruf, es entsteht Kunst mitgelebtem Hintergrund.Es gab keine Alternative, ich wählte die Brücke alsSymbol. Eine Brücke verbindet Getrenntes. Sie überbrücktGräben, Hürden, Flüsse. Hilft Abgegrenztes,Geteiltes zugänglich zu machen. Sie führt von einemOrt zum anderen. Die Brücke ist der Weg.An der Hand meiner Eltern bin ich als Kind dieseBrücke gegangen. Im Zusammenhang mit dem ThemaFlüchtlinge, Aussiedler, Übersiedler bekommt dasSinnbild der Brücke eine tiefe Bedeutung. Sie symbolisiertTrennung und Verbindung. Menschen verlassenihr Zuhause um Heimat zu suchen - gehen weg, umanzukommen. Sie bewegen sich zwischen zweiWelten: in der einen sind sie nicht mehr zuhause, inder anderen noch nicht. In diesem “Dazwischen“leben sie im Flüchtlingslager. Neben der realenÜbersiedlung werden im übertragenen Sinne vieleweitere Brücken überschritten: Sprache, Religion,Kultur.Entwurf auf Leinwand, Elisabethenstraße11


Fotomontage von Entwürfen auf Leinwand12


Der <strong>Brückengang</strong> beinhaltet Unruhe und Unsicherheit,aber auch Zuversicht und Hoffnung. Es ist ein Weg insUngewisse mit Stolpersteinen, Verwicklungen undunsicherem Halt, aber auch ein Weg in die erträumteZukunft. Auch nach vielen Jahren gelebter Integrationund eindeutigem Zugehörigkeitsgefühl trägt man den<strong>Brückengang</strong> in sich. Etwas bleibt von dem Dazwischen.Es hält wach, wehrt sich gegen Abgrenzung,Fremdenfeindlichkeit, Stigmatisierung: sucht dasGemeinsame im Unterschied.Als die Grenze nach Polen, am 1. Mai 2004 mit demBeitritt Polens zur EU ihren Schrecken verlor, saß ichmit polnischen Künstlerkollegen in Polen vor demFernseher und fühlte Freude und Erleichterung. Die fürmeine Familie schicksalhafte Grenze wurde geöffnet.Meine Künstlerfreunde dagegen waren fröhlich aberauch beunruhigt. Für sie begann etwas Neues,Unsicheres. Die Vorzeichen haben sich geändert.Will man Verbindungen verhindern oder kappen dannzerstört man eine Brücke, wie so oft bei kriegerischenAuseinandersetzungen. Aber die meisten werdenwieder aufgebaut und es werden neue errichtet. Diebesondere Chance ist: eine Brücke ist von beidenSeiten begehbar!13Fotodokumentation vom Arbeitsprozess


19Abschlussfoto Juni 2008


Auf dem schwebenden WegMotiv Brücke – ein kunsthistorischer VorlaufDr. Roland HeldDa ist ein Land der Lebenden und ein Land der Toten,und die Brücke zwischen ihnen ist die Liebe – daseinzig Bleibende, der einzige Sinn.Thornton WilderDie Brücke von San Luis ReyWährend dieser Satz geschrieben wird, laufen dieJubiläumsfeierlichkeiten anläßlich des 125jährigenBestehens der Brooklyn Bridge. Vom deutschstämmigenIngenieur J.A.Röbling genial als stählerne, vonGranit-Sandstein-Pylonen stabilisierte Hängebrückemit 486 Meter Spannweite geplant, wurde sie 1883fertiggestellt und verbindet seither Manhattan mitBrooklyn und dem vorgelagerten Long Island. EinWahrzeichen New Yorks, fasziniert sie die Phantasieihrer Benutzer nachhaltig genug, daß der amerikanischeDichter Hart Crane ein episches Gedicht, in demer die schicksalhafte Besonderheit seiner Nationfeierte, 1930 widmungsmäßig „The Bridge“ nannte.Ob festgegründet und gedrungen in ihrer Optik oderschwerkraftspottend schlank und leicht – Brückenkönnen Kunstwerke sein. Sie vermögen entscheidendzum Eindruck eines urbanen Gesamtkunstwerksbeizutragen. Was wären Venedig, Amsterdam, Paris,Prag, Istanbul, Isfahan, Hangzhou ohne Brücken? AlsThema inspirieren sie freilich auch neue Kunstwerke.In der Malerei des Abendlandes wirkt das christlicheJahrtausend, als Kunst unvorstellbar war ohne heilgeschichtlichenBezug, nach bis heute. Desgleichen, undsei’s noch so unterschwellig, das Symbol der Brückeals Verbindung zwischen Erde und Himmel, Diesseitsund Jenseits. Oder, um es mit Symbolforscher RenéGuénon in allgemeineren, spirituell-psychologischenBegriffen auszudrücken: die Brücke versinnbildlicht invielen Kulturen die Verbindung zwischen dem, wasman erkennen kann, und dem, was jenseits derErkenntnis liegt. Das gilt es im Hinterkopf zu behalten,wenn das Brückenmotiv als vermeintlich naturalistisches,intellektuell „harmloses“ Element ab 1500 inder Darstellung einer Landschaft auftaucht. Sollte sieauch nur ein minisküles Ingredienz im Sfumato-Fernenpanorama sein wie die Bogenbrücke über derlinken Schulter von Leonardos „Mona Lisa“(um1502), ein Gewässer überspannend zwischen Felsmassiven,zackig und schroff wie aus erdgeschichtlichfrühen Tagen. In Giorgiones Rätselbild „Das Gewitter“(um 1508) gibt die rustikale Bretterbrücke, diezwischen den Bildhälften der männlichen und derweiblichen Hauptfi gur vermittelt, nur einen weiterenDreh der besagten Rätsel-Schraube ab. Brückenbegegnen, nahezu gleichzeitig, in mit dem Eifer desWirklichkeitsentdeckers wiedergegebener Szeneriewie Dürers Aquarell der „Drahtziehmühle“ und inraumtiefen, detailreichen Weltlandschaften in Öl wiejenen, auf denen Joachim Patinir seine Phantasieschweifen ließ. (Wie es ja auch auf den weltlandschaftsähnlichkonzipierten, aus dem Gegensatz vonGebirgen und Gewässern lebenden Rollen der ostasiatischenTuschemalerei von Brücken nur so wimmelt!)20


dekadenlang beherrschte. Hatte damit das Thema„Brücke“ abgedankt? Keineswegs. Wenn sich aufGemälden von Franz Kline, Maria Vieira da Silva oderK.R.H. Sonderborg einschlägige Teilmotive fi nden,dann meldet sich nur die Urfunktion von Brücke informaler Gestalt zurück: als Verbindung, Verklammerung,Überbrückung zu dienen für getrennteBildbereiche.In diesem Zusammenhang ist <strong>Renate</strong> <strong>Kletzka</strong>s Malereibestens aufgehoben. Changierend zwischen gänzlichfreien und zeichenhaft an elementare Dinge wie Haus,Berg, Fluß, Mauer, Baum, Tor, Straße erinnerndeFormen, kommt darin neben Balken, die wie massiveRiegel oder Barrieren wirken, immer wieder auchBrückenhaftes vor. Manchmal gar als jene ArtKlammer, welche die beiden Hälften eines Diptychons- denn unsere Künstlerin arbeitet gerne in Gruppenund Serien - zur Einheit fügt. Das Resultat kann einBeispiel für das autonome Spiel von Bildzutaten sein,Konkrete Kunst, die ihren Mitteln pur und ohneGegenstandsverweis zum Ausdruck verhelfen will.Ebenso gut aber kann etwas von bilderbuch- undversatzstückhaft munterer Erzählerischkeit dabei herauskommen.„Eine Brücke ist von beiden Seitenbegehbar“, so das Fazit, das <strong>Renate</strong> <strong>Kletzka</strong> in ihrenautobiographischen Gedanken in diesem Katalogzieht. Und, ein paar Sätze davor: „Die Brücke ist derWeg.“ Freilich ein ganz besonderer Weg. Wer siebetritt, hält Bodenhaftung und ist doch der Erdevorübergehend enthoben. Die Brücke ist gleichsamder schwebende Weg und somit eine hochgradigpoetisch aufgeladene Menschheitserfi ndung.Verwandt dem Regenbogen, der in Märchen undSagen beschritten werden kann. Verwandt der zauberischenVerwandlung...Das Kunst-am-Bau-Projekt, das <strong>Renate</strong> <strong>Kletzka</strong> imLangener Nordend anvertraut worden ist, ermöglichtes ihr, den erwähnten Verklammerungskniff wieüberhaupt ihre spezifi sche Bildsprache, ihren aktuellenFarbkanon zu übertragen von der Leinwand auf dieHauswand: eine ganz andere Dimension! Genaugenommenspannt sich das geländerbegleitete Brückenmotivüber mehrere Hauswände und den luftigenFreiraum dazwischen. Wobei die zwei fl ankierendenStirnwände die Hälften der orangeroten Bogenbrücketragen, während die Längswand-Fassade dazwischendrei Farbzungen zeigt, die überraschend nicht dieBögen, sondern deren Aussparungen rhythmischsichtbar zu machen scheinen. Oder stehen sie für dieFundamente von Brückenpfeilern? In jedem Fallbegegnen wir zeitgenössischer Wandmalerei, mitkalligraphischen Einsprengseln, voll festem Vertrauenauf die Fläche als probaten Ereignisort des Bildes.Statt einer Landschaft, in die man hineinspazieren zukönnen glaubt (wie sie die hyperrealistischen „Murals“im Kalifornien der siebziger und achtziger Jahreanboten), haben wir es zu tun mit einer Landschaftaus Zeichen. Das mag trocken klingen. <strong>Renate</strong> <strong>Kletzka</strong>jedoch, die es sich nicht nehmen läßt, bei denFinessen überm Grundfarbauftrag selbst Hand anzulegen,verspricht: „Einfach nur anstreichen geht nicht.Das mach’ ich lebendig.“23


DankJoachim Kolbe und Carsten Weise danke ich für IhrVertrauen in meine künstlerische Arbeit.Bei der Firma Keim bedanke ich mich herzlich für dietatkräftige Unterstützung bei der Herstellung dieserBroschüre. Ich danke Dieter Pitthan, Peter Holle undDr. Roland Held für Ihre speziellen Textbeiträge. ZuletztDankeschön Marc Strohfeld, was wäre diese Broschüreohne seine wunderbaren Bilder.Impressum<strong>Renate</strong> <strong>Kletzka</strong>Thüringer Straße 24, 63329 Egelsbach, 06103-21821<strong>Renate</strong>@kletzka-art.dewww.kletzka-art.deTexteDieter Pitthan, Bürgermeister LangenPeter Holle, Journalist LangenDr. Roland Held, Kunsthistoriker Darmstadt<strong>Renate</strong> <strong>Kletzka</strong>, Künstlerin Langen/EgelsbachFotosMarc Strohfeld, Seite 5, 7, 14 (3), 15, 16 (2), 17, 18 (1), 19Paul <strong>Kletzka</strong>, Seite 2, 8alle anderen <strong>Renate</strong> <strong>Kletzka</strong>Gestaltung: <strong>Renate</strong> <strong>Kletzka</strong>Umsetzung: Firma Keim GmbHDruck: Druckhaus Bohl GmbHCopyright bei den Autoren, Fotografen und <strong>Renate</strong> <strong>Kletzka</strong>, 200824


<strong>Brückengang</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!