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Internationale Denkschrift der GKPN - denis-diderot.info

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Aufklärungund KritikZeitschrift für freies Denken und humanistische PhilosophieHerausgegeben von <strong>der</strong> Gesellschaft für kritische Philosophie NürnbergSchwerpunkt:Denis Di<strong>der</strong>ot zum 300. GeburtstagHerausgeber:Prof. Dr. Wulf KellerwesselDr. Werner RauppAutoren:Prof. Dr. Peter BexteDr. Philipp BlomProf. Dr. Daniel BrewerProf. Dr. Pierre ChartierDr. Mark DarlowProf. Dr. Heidi Denzel de TiradoPD Dr. Daniel DohrnDr. James FowlerProf. Dr. Russell GoulbourneDr. Andreas HeyerProf. Dr. Marian HobsonProf. Dr. Wulf KellerwesselProf. Dr. Rudolf LütheDr. Werner RauppProf. Dr. Thomas RießingerCharles Augustin Sainte-BeuveFranck SalaünDr. Ursula WinterProf. Dr. Franz M. WuketitsDr. Robert Zimmer4/2013 ISSN 0945-6627 20. JahrgangMitherausgeber:Prof. Dr. Hans Albert (Heidelberg)Prof. Dr. Gerhard Besier (Dresden)Prof. Dr. Dieter Birnbacher (Düsseldorf)Dr. Gerhard Czermak (Friedberg/Bay)Dr. Edgar Dahl (Gießen)Dr. Karlheinz Deschner (Haßfurt)Dr. Gerhard Engel (Hildesheim)Prof. Dr. Lothar Fritze (Chemnitz)Dr. Horst Groschopp (Berlin)Prof. Dr. Rainer Hegselmann (Bayreuth)Prof. Dr. Horst Herrmann (Steißlingen)Prof. Dr. Eric Hilgendorf (Würzburg)Prof. Dr. Norbert Hoerster (Reichenberg)Dr. Dr. Joachim Kahl (Marburg)Prof. Dr. Bernulf Kanitschei<strong>der</strong> (Gießen)Prof. Dr. Wulf Kellerwessel (Aachen)Prof. Dr. Mark Lindley (Boston)Prof. Dr. Erich H. Loewy (Sacramento)Prof. Dr. Rudolf Lüthe (Aachen)Prof. Dr. Ludger Lütkehaus (Freiburg)Ludwig A. Minelli (Forch-Zürich)Prof. Dr. Hubertus Mynarek (O<strong>der</strong>nheim)Dr. Hans-Joachim Niemann (Poxdorf)Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber (Brühl)Dr. Werner Raupp (Hohenstein)Dr. des. Dominik Riedo (Bern)Prof. Dr. Thomas Rießinger (Bensheim)Prof. Dr. Hans-Martin Sass (Bochum)Prof. Dr. K. A. Schachtschnei<strong>der</strong> (Nürnberg)Prof. Dr. Hermann J. Schmidt (Dortmund)Dr. Michael Schmidt-Salomon (Trier)Prof. Dr. Peter Singer (Princeton)Prof. Dr. Anton Szanya (Wien)Prof. Dr. Gerhard Vollmer (Neuburg)Prof. Dr. Franz M. Wuketits (Wien)


InhaltProf. Dr. Wulf KellerwesselDenis Di<strong>der</strong>ot – <strong>Denkschrift</strong> zum 300. Geburtstag. Einleitung und Überblick .............. 4Danksagung ............................................................................................................ 13Dr. Werner RauppDenis Di<strong>der</strong>ot – „ein einzig Individuum“. Ein Streifzug durch Leben und Werkdes französischen Philosophen mit einem Blick auf seine Wirkungsgeschichtein Deutschland ........................................................................................................ 14Prof. Dr. Rudolf LütheHumanismus o<strong>der</strong> Naturalismus? Anmerkungen zur Gegensätzlichkeit <strong>der</strong>Menschenbil<strong>der</strong> von Di<strong>der</strong>ot und Rousseau ........................................................... 62Prof. Dr. Daniel BrewerDie Enzyklopädie: Innovation und Nachwirkung ..................................................... 68Dr. Robert Zimmer„Eine geländebezogene Philosophie“. Di<strong>der</strong>ot als aufklärerischer Publizist ............... 80Prof. Dr. Heidi Denzel de TiradoDi<strong>der</strong>ot als Briefschreiber und <strong>der</strong> Traum von SMS und E-Mail ............................... 89Prof. Dr. Russell GoulbourneDi<strong>der</strong>ot und die Antike ........................................................................................... 101Dr. Ursula WinterNaturerkenntnis und Theorien <strong>der</strong> Materie in Di<strong>der</strong>ots Denken ............................... 112Dr. Philipp BlomDenis Di<strong>der</strong>ot, Moralphilosoph. Eine Charakterskizze und eine Suche .................... 125Prof. Dr. Wulf KellerwesselDi<strong>der</strong>ots aufklärerische Moralkonzeption im Kontext seiner Moral- undGesellschaftskritik in „Jacques, <strong>der</strong> Fatalist und sein Herr“ .................................... 138PD Dr. Daniel DohrnKontrafaktizität und Fatalität in Di<strong>der</strong>ots Jacques le Fataliste et son Maître .............. 151Dr. James Fowler„LISEZ QUE JE VOUS AIME“ – Sexualität, Liebe und Tugend in Di<strong>der</strong>ots Werken .. 161Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot


Prof. Dr. Franz M. Wuketits„Alles verän<strong>der</strong>t sich, alles vergeht ...“ Denis Di<strong>der</strong>ot und die Anfängedes Evolutionsdenkens ............................................................................................ 177Dr. Andreas HeyerDie anthropologische Fundierung von Di<strong>der</strong>ots politischer Philosophie ....................... 193Prof. Dr. Thomas RießingerDi<strong>der</strong>ot und Katharina II. ....................................................................................... 207Prof. Dr. Peter BexteDas Paradox <strong>der</strong> Wahrnehmung. Mit Augengläsern im Salon ................................. 218Dr. Mark DarlowDi<strong>der</strong>ots Stimme(n): Musik und Reform. Von <strong>der</strong> ‚Querelle des Bouffons‘bis zu ‚Le Neveu de Rameau‘ ............................................................................... 227Franck SalaünDie Erfahrung des Theaters bei Di<strong>der</strong>ot ................................................................. 239Prof. Dr. Marian HobsonDer Standpunkt und <strong>der</strong> Rückspiegel: Di<strong>der</strong>ot o<strong>der</strong> wie man Zeit vorstellt ............... 253Prof. Dr. Pierre Chartier»Eine Stimme findet Gehör erst aus <strong>der</strong> Tiefe des Grabes.« Die Rezeption vonDi<strong>der</strong>ot in Frankreich von den Anfängen bis zum Anbruch <strong>der</strong> Gegenwart ............. 265Charles Augustin Sainte-BeuveDi<strong>der</strong>ot ................................................................................................................... 278Literaturverzeichnis .................................................................................................. 292Zu den Autoren dieser Ausgabe ............................................................................. 313GKP im Internet ..................................................................................................... 318Impressum .............................................................................................................. 3212Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot


Denis Di<strong>der</strong>ot, Gemälde von Louis-Michel van Loo, 1767Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot 3


Dr. Werner Raupp (Hohenstein)DENIS DIDEROT – „EIN EINZIG INDIVIDUUM“EIN STREIFZUG DURCH LEBEN UND WERK DES FRANZÖSISCHEN PHILOSOPHEN MIT EINEM BLICKAUF SEINE WIRKUNGSGESCHICHTE IN DEUTSCHLANDDédié au polymathe Reinhard Breymayerà l’occasion de son soixante-dixième anniversaire le 4 janvier 2014,en gratitude.Nicht wenige seiner Zeitgenossen hieltenDenis Di<strong>der</strong>ot (1713-1784) für ein chaotischesGenie o<strong>der</strong> ein Abbild seines konfusenRomanhelden, den er in den Jahren nach1762 kreiert und „Rameaus Neffe“ (Leneveu de Rameau) genannt hatte ( 20.).Mit seinen oft blitzartigen Ideen und Paradoxienkonnte er in Erstaunen setzen,aber auch Kopfschütteln hervorrufen. DieReaktionen kamen nicht von ungefähr. Dervielseitige Di<strong>der</strong>ot, den angeblich eineschillernde Aura umgab, war dank seinereklektischen Vorgehensweise und seinesdialektischen Denkens nicht immer leichtzu verstehen. Ähnlich wie seine wandlungsfähigenGesichtszüge – bisweilen besaßer täglich „hun<strong>der</strong>t verschiedene Physiognomien“,je nach <strong>der</strong> Sache, von <strong>der</strong>„[er] ergriffen war“ (so seine vielzitierteBemerkung im Salon 1767, in: DPV, XVI,1990, 82) – konnte sich auch seine „geistigePhysiognomie“ än<strong>der</strong>n.Der „philosophe“, wie er bald nur nochgenannt wurde, erschien als rationalistischerDenker <strong>der</strong> Aufklärung, aber ebensoals ein romantisches Genie o<strong>der</strong> auch alsSophist und Causeur, <strong>der</strong> zu keinem Endekommt. Stets suchte er alles miteinan<strong>der</strong>zu verweben, und seine Vorliebe für das‚Undenkbare‘ ließ ihn für manche zumunergründlichen Metaphysiker werden.Der Literaturkritiker Jean-François de LaHarpe persiflierte ihn so: „Nie ist die Naturbesser verhüllt worden, als wenn Di<strong>der</strong>otsie erklärt hat“ (zit. n. Lepape, 1994, 157).Bei all seiner Wandlungsfähigkeit war erein nimmermü<strong>der</strong> Kämpfer für Freiheit undToleranz, für Aufklärung und Bildung. Ermachte sich nicht nur, wie allgemein bekannt,als Herausgeber <strong>der</strong> Encyclopédieeinen Namen, son<strong>der</strong>n auch als Publizistund Schriftsteller, als Dramatiker, KunstundMusikwissenschaftler und schließlichals Wegbereiter <strong>der</strong> Demokratie.1. SIÈCLE DES LUMIÈRESSein Stern ging erst im 20. Jahrhun<strong>der</strong>tvollends auf. Heute zählt Di<strong>der</strong>ot in Frankreichneben Voltaire und Rousseau unbestrittenzu den großen Gestalten des facettenreichen18. Jahrhun<strong>der</strong>ts, wie er auchals wegweisen<strong>der</strong> Kopf <strong>der</strong> europäischenKultur- und Geistesbewegung <strong>der</strong> Aufklärungangesehen wird. Mit seinem polyphonenWerk hatte er den Rahmen seiner Zeitgesprengt. Es lässt sich vor allem vor demHintergrund <strong>der</strong> um 1750 einsetzenden‚Anthropologischen Wende‘ mit ihrer Orientierungam Naturrecht und ihrer Hinwendungzum ‚ganzen Menschen‘ verstehen. 1Und dabei verkörperte er wie kaum einan<strong>der</strong>er den für die Epoche des Siècle desLumières charakteristischen Typ des „philosophe“,eines allseitig interessierten Gelehrten,vor dem kein Thema sicher war.Dieses „Zeitalter <strong>der</strong> Lichter“, wie man diefranzösische Aufklärungszeit nennt, umschreibtRaymond Trousson in seiner um-14Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot


fassenden Biographie über Di<strong>der</strong>ot, den„wahren Prometheus“ (2005), mit verklärendenWorten: „Großes Schauspiel – diesesJahrhun<strong>der</strong>t um Di<strong>der</strong>ot zu sehen. Allekamen reihenweise, um am Brunnen ausFeuer zu schöpfen. […] UnergründlicheQuelle. Man schöpfte dort hun<strong>der</strong>t Jahre.Das Unendliche bleibt noch“ (Trousson,2005, [722]). 2Auch jenseits des Rheins fand <strong>der</strong> universellePhilosoph schon bald Gehör. Dortsollte er ein an<strong>der</strong>es Bild erhalten als inseinem Heimatland. Lessing war zunächstvon ihm beeindruckt, wenn er ihn zu den„Wolkenmachern“ und „Weltweisen“ zählte,<strong>der</strong> die „Stützen <strong>der</strong> bekanntesten Wahrheiten[…] erzittern“ ließ (1751; <strong>der</strong>s.,Werke, II, 1998, 698;). Und gegen Endedes Jahrhun<strong>der</strong>ts zeigte sich auch Schiller„recht entzückt“ von ihm. Nach <strong>der</strong> Lektüreseiner kunstphilosophischen Anschauungenin den Essais sur la peinture (1765)schrieb er an Goethe: „Fast jedes Dictumist ein Lichtfunken“ (Schillers Werke,XXIX, 1977, 25 [12.12.1796]). 2013 jährtsich sein Geburtstag zum 300. Male.2. HERKUNFT UND JUGENDDi<strong>der</strong>ots Leben fällt in das Zeitalter desAncien Régime, des vom Absolutismusgeprägten Herrschafts- und Gesellschaftssystemsin Frankreich (und auch überhauptin Europa) vor <strong>der</strong> Revolution von 1789.Sein markantester Vertreter ist <strong>der</strong> pompöseLudwig XIV. (1638-1715), <strong>der</strong> sein Landin den Verfall <strong>der</strong> Sitten und an den Randdes finanziellen Ruins geführt hat.Zwei Jahre vor dem Tod des „Sonnenkönigs“von Versailles erblickt Di<strong>der</strong>ot in <strong>der</strong>kleinen katholischen Bischofsstadt Langresin <strong>der</strong> Champagne (heute Dép. Haute-Marne) am 5. Oktober 1713 das Licht <strong>der</strong>Welt. Unweit <strong>der</strong> monumentalen KathedraleSt.-Mammès befindet sich das Geburtshausauf <strong>der</strong> Place Di<strong>der</strong>ot (damals la PlaceChambeau). Seit 1884 erinnert auf diesemPlatz eine Bronzestatue an den großen Sohn<strong>der</strong> Stadt, die Frédéric-Auguste Bartholdi(<strong>der</strong> Gestalter <strong>der</strong> Freiheitsstatue auf LibertyIsland von 1886) anlässlich von Di<strong>der</strong>ots100. Todestages errichtet hatte.Über seine frühen Jahre ist nicht allzu vielbekannt. Er stammt aus einer angesehenenFamilie und bekommt <strong>der</strong>en Stolz in dieWiege gelegt. Seine Mutter, Angélique, geboreneVigneron (1677-1748), ist die Tochtereines Gerbers, <strong>der</strong> man Gutherzigkeitnachsagt. Der Vater ist <strong>der</strong> wohlhabendemaître coutelier Didier Di<strong>der</strong>ot (1685-1759);seine Messer und Skalpelle werden weithingeschätzt, nicht zuletzt von renommiertenChirurgen. Auch er stand, aufgrund seinerzähen Arbeitsamkeit und jansenistischenFrömmigkeit, in hohem Ansehen(vgl. bes. F. M. Grimm [1.3.1771], in: CLIX, 1879, 253 [1.3.1771]). Das offensichtlichharmonische Ehepaar gehört zu denalteingesessenen Handwerkerfamilien <strong>der</strong>Stadt; <strong>der</strong> Name Vigneron lässt sich bisMitte des 16., <strong>der</strong> Di<strong>der</strong>ots sogar bis Mittedes 15. Jahrhun<strong>der</strong>ts nachweisen (vgl.Stammtafel, in: Löpelmann, 1934, o.P, u.Trousson, 2006, 11-13).Wohlbehütet wächst Denis in Langres infrommen, bürgerlichen Verhältnissen nebenfünf Geschwistern auf, von denen dreidas Erwachsenenalter erreichen. Dort besuchter ab 1723 das Jesuitenkolleg unddurchläuft zusammen mit Schülern aus <strong>der</strong>Mittelschicht und des Adels eine theologisch-humanistischeBildung. Mit zwölfJahren erlebt er eine religiöse Krise undbeabsichtigt, Priester zu werden. Wenigspäter erhält er die Tonsur (22.8.1726).Sie ermöglicht ihm, später die beträchtlichenPfründe eines Onkels zu übernehmen,Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot 15


<strong>der</strong> als Kanonikus an <strong>der</strong> Cathédrale Saint-Mammès de Langres amtiert.Denis ist bereits in frühen Jahren überauslebhaft, aber auch empfindsam. Eine spannungsgeladenePersönlichkeit kündigt sichan. Dem Wetterhahn von Langres ähnelnd 3 ,sollte sie in ihren wechselvollen Lebensjahren,jeden nur möglichen Zeitwirren ausgesetzt,ihren Kopf stets und ständig nachallen Seiten hin drehen. 43. DIE FRÜHEN PARISER JAHRE1728 (o<strong>der</strong> aber 1729) zieht <strong>der</strong> 15-Jährigenach Paris, um seine Studien fortzusetzen.Die damals bereits 600.000 Einwohnerzählende Seine-Metropole hatte schonimmer junge Menschen angezogen. Zusehendswird Di<strong>der</strong>ot von <strong>der</strong> Umbruchstimmung<strong>der</strong> Aufklärung erfasst, die vor allemin Salons und Cafés vernehmbar wird,wo beson<strong>der</strong>s die „philosophes“ verkehren.Insbeson<strong>der</strong>e in „Rameaus Neffe“sollte diese Welt ihren literarischen Ausdruckerlangen.Di<strong>der</strong>ots Bildungsweg ab 1728 lässt sichaufgrund <strong>der</strong> wi<strong>der</strong>sprüchlichen Quellenlagenicht mehr eindeutig bestimmen 5 ;überhaupt liegen die ersten Pariser Jahrebis etwa 1742 weitgehend im Dunkeln. DerStudent besucht zunächst vermutlich amjesuitischen Collège Louis-le-Grand in Paris(wo auch Molière und Voltaire studierthatten), o<strong>der</strong> noch in Langres, den Rhetorikunterricht(o<strong>der</strong> an beiden Orten, vielleichtdurch eine längere Krankheit unterbrochen)(1728-29/30). Wohl seit 1730widmet er sich, höchstwahrscheinlich amjansenistischen Collège d’Harcourt, demPhilosophiestudium (in Logik und Physik– Aufnahme als Magister Artium an <strong>der</strong>Pariser Universität am 2.9.1732). Esschließt sich das dreijährige Theologiestudiuman <strong>der</strong> berühmten Sorbonne an,ohne Erwerb des Doktorgrads, <strong>der</strong> nochzwei weitere Jahre erfor<strong>der</strong>t hätte (6.8.1735,Quinquennium).Das Studium entzündet in Di<strong>der</strong>ot beson<strong>der</strong>sdie Liebe zu antiken Autoren, die ihnein Leben lang begleiten werden; zugleichwerden in ihm Zweifel an <strong>der</strong> mythischenGlaubenslehre <strong>der</strong> Kirche geweckt. So bleibtihm das geistliche Amt verwehrt. Er wirdAnwaltsgehilfe, jedoch nur für kurze Zeit(1736/1737). Vom Freiheitsdrang beseelt,schlägt er den Weg eines Bohémiens ein(ca. 1737-1741), den die Di<strong>der</strong>ot-Biographien(vgl. Raupp, 2013, 16 f.) zumeist inbunten Farben schil<strong>der</strong>n. Er unterrichtetMathematik und verdient seinen Unterhaltauch als Hauslehrer o<strong>der</strong> Ghostwriter, <strong>der</strong>Traktate für Missionare verfasst.Er entwickelt sich zum gärenden Polyhistorund wird von grenzenloser Neugier getrieben,die er durch ein scheinbares Wirrwarrvon Studien aller Art – von <strong>der</strong> Naturwissenschaftbis zur Kunst – zu stillen sucht;er müht sich sogar um das klassische Problem<strong>der</strong> Quadratur des Kreises. Er wird<strong>der</strong> Aufklärer par excellence und möchteein angesehener Schriftsteller werden. Zumeistist er klamm – statt Geld trägt er Homerund Vergil in <strong>der</strong> Hosentasche. EinemBekannten antwortet er auf die Frage, waser denn werden wolle: „Meine Liebe gehörtdem Studium, damit bin ich vollkommenglücklich“ (M.-A. de Vandeul in ihrenMémoires [s.u.], 1787, in: DPV, I, 1975,12).Musische Stunden verbringt <strong>der</strong> „philosophe“in Theater und Oper. Ebenso diskutierter täglich im Café, wo er sich imFrühjahr 1742 mit Jean-Jacques Rousseaueng befreundet. (Die Freundschaft geht1757 jedoch in die Brüche, aus Freundenwerden Gegner; <strong>der</strong> hochsensible, ja neurotischeRousseau wird bekanntlich ein16Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot


Vater <strong>der</strong> Frühromantik, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Zivilisationeinen unheilvollen Einfluss auf denMenschen sieht.)Wenig später lernt Di<strong>der</strong>ot auch Jean leRond d’Alembert kennen, <strong>der</strong> sich anschickt,einer <strong>der</strong> namhaften Mathematikerund Physiker des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts zuwerden. Ebenso gehört <strong>der</strong> aus Regensburgstammende Literat und DiplomatFriedrich Melchior Grimm bald zu seinemFreundeskreis, und seit 1749 korrespondierter mit Voltaire, <strong>der</strong> Symbolfigur <strong>der</strong>europäischen Aufklärung. Bei den Geistlichen<strong>der</strong> Stadt und bei <strong>der</strong> Polizei indeswird er als „außerordentlich gefährlicherJunge“ bekannt (Darnton, 1986, 103). Diesedurchsucht auch seine Wohnung nachManuskripten.Di<strong>der</strong>ots Interesse gilt auch <strong>der</strong> Frauenwelt.Er verliebt sich in eine verarmte Weißnäherin,die er ehelichen möchte. Der Vater,erzürnt über seinen unkonventionellenLebensstil und die nicht standesgemäßeBraut, lässt ihn in das Karmeliterklosternahe Troyes (Dép. Aube) einsperren. Erflieht und heiratet am 6. November 1743– nunmehr dreißig Jahre alt – heimlich seinen„schönen“, jedoch auch etwas bigotten„Engel“ Antoinette, geb. Champion(1710-1796), mit <strong>der</strong> er eine weniger glücklicheEhe führt. Schuld daran sind nichtzuletzt seine amourösen Eskapaden, welchedie tief enttäuschte Ehegattin oft zuhäuslichen Gewitterstürmen reizt, womitsie zu einer zweiten Xanthippe mutiert.Aus <strong>der</strong> Ehe gehen vier Kin<strong>der</strong> hervor.Einzig die 1753 geborene Marie-Angélique(nachmals Madame de Vandeul; † 1824)überlebt die Eltern. Der stolze Vater liebtsie abgöttisch und lässt ihr eine ausnehmendmo<strong>der</strong>ne Erziehung zukommen. Inspäteren Jahren wird sie eine Cembalovirtuosinund setzt ihrem Vater in den Mémoires[…] de la vie et des ouvrages deM. Di<strong>der</strong>ot (1787) ein Denkmal, das trotzmancher Beschönigung noch heute alsQuelle für die Di<strong>der</strong>ot-Biographie dient.In Deutschland ist beson<strong>der</strong>s Schiller davonbegeistert, und 1813 veröffentlicht sie<strong>der</strong> Philosoph Schelling im französischenOriginal in seiner Allgemeinen Zeitschriftvon Deutschen für Deutsche (Bd. 1, H.2, 145-195). 6Trotz seiner Seitensprünge, die seinen hohenethischen Ansprüchen augenfällig gegenüberstehenund einen dunklen Schattenauf sein Leben werfen, schätzt Di<strong>der</strong>otEhe und Familie hoch ein. Lebenslangträgt er die Sehnsucht nach einem traditionellen,bürgerlichen Leben in seinemHerzen. Ebenso hält er das Vorbild desVaters in Ehren. In späteren Jahren (1773)meint er reumütig, er habe „das Frauenzimmerzu sehr geliebt, Leidenschaftenlassen sich nicht bezwingen“ (Briefwechsel:Garve-Zollikofer, 1804, 103 f.).4. DIE ERSTEN SCHRIFTENDas Jahr <strong>der</strong> Hochzeit 1743 markiert auchden eigentlichen Beginn von Di<strong>der</strong>otsschriftstellerischer Laufbahn. Diese verdanktsich beson<strong>der</strong>s dem aufblühendenmo<strong>der</strong>nen Literaturmarkt, <strong>der</strong> mit demaufbrechenden Bürgertum einhergeht, aberin diesen Jahren zum großen Teil noch imUntergrund floriert. Die „Sturm-und-Drang-Jahre“ hatten sich zu Ende geneigt; mankann sie als eine „zweite Lehrzeit“ ansehen.Fortan beginnen auch die Quellenüber sein Leben reichlich zu fließen. Diefolgenden Jahre werden zunächst äußerlichetwas ruhiger, die innere Entwicklungist jedoch weiterhin von mannigfaltigenWandlungen bestimmt, wobei er sich mehrund mehr an skeptischen Positionen orientiert.Neben antiken Werken kennt er frei-Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot 17


lich vor allem französische (u.a. PierreBayle, Montesquieu, Condillac) wie englischeAutoren <strong>der</strong> Aufklärung (u.a. Newton,Hobbes, Locke u. Toland).Hurtig greift er in diesen Jahren zur Fe<strong>der</strong>und übersetzt zunächst englische Werkevon verschiedener Thematik. Die in Englandaufblühende aufklärerische Geistesrichtungmit ihrer Betonung von Liberalismusund religiöser Toleranz wie auch<strong>der</strong> empirisch orientierten Naturwissenschaftenwaren auch in den intellektuellenKreisen Frankreichs auf offene Ohren gestoßen.Als kontinentaler Vermittler hat vorallem Voltaire mit seinen Lettres philosophiquesou Lettres anglaises von 1734gedient, die auf dem Scheiterhaufen landeten.Sein erstes Werk ist die Übertragung vonTemple Stanyans Standardwerk TheGrecian History (2 Bde., 1739 2 ), das in<strong>der</strong> französischen Ausgabe in drei Bänden1743 bis 1746 erscheint und ihm 100Taler einbringt. Wichtiger für seine Entwicklungwird die Bearbeitung von ShaftesburysAbhandlung An Inquiry concerningvirtue and merit (von J. Toland 1699 hrsg.,überarb. Fassung 1711 ), ein Klassiker <strong>der</strong>europäischen Aufklärung. Die mit Glossenund dialogischen Anspielungen verseheneÜbersetzung erscheint 1745 unterdem Titel Principes de la philosophie moraleanonym in Amsterdam und stellt einenletzten Markstein seiner „Jugend“ dar.Vor dem Hintergrund <strong>der</strong> aufklärerischoptimistischenNatur- und Weltordnungvertritt Di<strong>der</strong>ot darin in weitgehen<strong>der</strong> Anlehnungan den englischen Philosopheneine freiheitlich gestimmte, individualistischeEthik. Diese gründe – so <strong>der</strong> Übersetzer,<strong>der</strong> noch auf theistischem Terrainsteht und das Christentum als die natürlichstealler Religionen ansieht – in <strong>der</strong>Natur des Menschen und sei als vernünftigeSelbstliebe zu verstehen. Damit besitzesie gegenüber <strong>der</strong> dogmatisch-christlichenLehre durchaus Selbständigkeit wieauch das Recht zu politischer Kritik. Sieziele auf die naturbedingte Einordnung indas Weltganze und so auch auf die Hingabean die Allgemeinheit: auf das hart zuerarbeitende eigene Glück wie auch aufdas aller Menschen; höchstes Ideal seidabei die zur Vollendung gebrachte ästhetischeHarmonie <strong>der</strong> Lebensführung.Auch seine dritte Übersetzung findet weiteVerbreitung: das klassische NachschlagewerkA Medical Dictionary von RobertJames (3 Bde., 1743-1745), das (unterMithilfe von Marc-Antoine Eidous undFrançois-Vincent Toussaint) unter demTitel Dictionnaire universel de médecinein sechs Bänden erscheint (1746-48). DieBeschäftigung mit diesem Werk ermöglichtihm, größere Einblicke in die neuereNaturwissenschaft zu nehmen, die in seinspäteres materialistisches Weltbild einfließen.Weitere kleinere englische Projektesollten noch folgen, darunter eine bescheideneMitarbeit an einer ab 1750 beginnendenÜbersetzung <strong>der</strong> Werke David Humes,des späteren Freundes (vgl. bes. Wilson,1972, 47 ff., u. Heyer, 2004, 31 ff.).1746 folgt Di<strong>der</strong>ots erstes selbständigesWerk: die in kühner Manier verfassten, flottformulierten Pensées philosophiques, diewie<strong>der</strong>um anonym erscheinen. Die aphoristischeSchrift weiß sich durchaus demfrühaufklärerischen Erbe von Bayle undFontenelle verpflichtet und orientiert sichweitgehend am englischen Deismus wiean sensualistischen Prämissen. Diesen gegenübergebärde sich die Metaphysik als„scholastische Haarspalterei[en]“ (XX, in:DDPH, I, 10). Zudem redet <strong>der</strong> Autor vonLeidenschaft und kritisiert mit bissigen18Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot


Worten die christliche Offenbarungsreligionmit ihrem höllenstrafenden Gott. DieVernunft gebend und zugleich <strong>der</strong>en Opferverlangend, führe sich dieser als „Taschenspieler“auf und mache „viel Aufhebensvon seinen Äpfeln“ (sc. Sündenfall-Mythos, vgl. Gen. 3) (Anh. [1762], XVI,III, ebd., I, 33, 35). Sodann spricht erunter Berufung auf Montaigne vom Skeptizismus,dem „ersten Schritt zur Wahrheit“(XXXI, ebd., I, 16).Kaum erschienen, wird das Büchlein, dasman späterhin auch als Gegenschrift zuBlaise Pascals berühmten Pensées (1670)angesehen hat, vom Pariser Gerichtshofzusammen mit Julien Offray de La MettriesHistoire Naturelle de l’Âme (1745)zur Verbrennung „in effigie“ (als Bildnis)verurteilt. Der provokante Arzt orientiertsich an einem mechanistischen Materialismusund wartet bald darauf mit seinerspektakulären Schrift L’homme machine(1748) auf.Auch Di<strong>der</strong>ot lässt sich nicht entmutigenund entwirft schon bald eine dialogischeAbhandlung über den Skeptizismus, dieer in eine satirische Allegorie kleidet: LaPromenade du sceptique ou les allées(1747). Sie markiert einen weiteren Schrittauf seinem Denkweg. Auf die Natur alsGrundlage jeglicher Wirklichkeit <strong>der</strong> Weltverweisend, oszilliert <strong>der</strong> Verfasser zwischenDeismus und Atheismus und neigtsachte zu einer pantheistischen Sichtweiseim Sinne Spinozas. Das Manuskript desTextes wird beschlagnahmt; er erscheintnach manchen Irrfahrten erst 1830 imDruck; erst 1984 wird er ins Deutscheübersetzt (DDAT).1748 erweitert Di<strong>der</strong>ot seine literarischePalette um den libertinen SchlüsselromanLes bijoux indiscrets, den er mit flinkerFe<strong>der</strong> offensichtlich für seine in Geldnotgeratene Liebschaft, die Schriftstellerin undfrühe Feministin Madeleine de Puisieux,verfasst. Die frivole Erzählung steht in <strong>der</strong>Tradition <strong>der</strong> Märchen von „TausendundeinerNacht“ und orientiert sich an demseinerzeit zu hoher Blüte gelangten Genredes roman licencieux. Sie verwebt geschicktPhilosophie und Erotik und erweist sichzudem als satirische Sittenkritik, wenn sievor <strong>der</strong> leibfeindlichen christlichen Sexualmoralwie auch vor dem dekadenten Lebenam Versailler Hof mit dessen „prächtigerGalerie voller Hampelmänner“ warnt(DPV, III, 1978, Kap. 50, 237). Undschließlich hantiert sie mit spielerischer Reflexionüber Traum, Seele und Unterbewusstsein.Damit bietet Di<strong>der</strong>ot fast schoneine Art experimenteller Metaphysik, in <strong>der</strong>mo<strong>der</strong>ne tiefenpsychologische Vorstellungenin nuce aufleuchten, die bereits SigmundFreud ankündigen.Noch 1748 lässt Di<strong>der</strong>ot eine vielbeachteteAbhandlung über Mathematik, Akustik,Mechanik und Geometrie erscheinenund ist auf dem besten Weg, einer <strong>der</strong> erstenBerufsschriftsteller zu werden. Ein kühnesUnternehmen im Zeitalter des restriktivenAncien Régime, in dem <strong>der</strong> König undseine Beamten kein Verständnis für kritischeGeister besitzen und die Buchproduktion<strong>der</strong> strengen Überwachung unterworfenist. Zwischen dem ersehnten Ideal des gefeiertenHomme de Lettres und <strong>der</strong> Inhaftierungin <strong>der</strong> Bastille ist es nicht weit.Und die Zensur sollte ihn ein zweites Maltreffen. 1749 bringt ihn seine Schrift Lettresur les aveugles à l’usage de ceux quivoient ins berüchtigte Gefängnis von Vincennes(wo später auch Marquis de Sadeweilen sollte). In <strong>der</strong> kurzen Schrift lässter eine materialistische Sichtweise anklingenund weitet in <strong>der</strong> Nachfolge von Lockeund Condillac den Sensualismus auf dieAufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot 19


Metaphysik und Moral aus, die, so Di<strong>der</strong>ot,sehr eng von <strong>der</strong> körperlichen Befindlichkeitabhingen. Dies lässt freilich aufhorchen,ebenso wie seine von einem fundamentalenRelativismus und einer ewigenDynamik getragene Weltsicht: Aus einemGärungsprozess entstanden, sei unsereWelt lediglich eine „vorübergehendeOrdnung“ neben an<strong>der</strong>en unzähligen Welten,die vielleicht jeden Augenblick entstündenund vergingen; sie sei ein „Konglomerat,fortwährend Umwälzungen unterworfen“,wobei eine „schnelle Aufeinan<strong>der</strong>folgevon Wesen“ stattfinde, die einan<strong>der</strong>„ablösen […] und verschwinden“;und überhaupt seien „Zeit, Materie undRaum […] vielleicht nur ein Punkt“ (DPV,IV, 1978, 52).Die originellen Ausführungen, die selbstaufgeklärten Geistern zu weit gehen, wieetwa dem Deisten Voltaire, <strong>der</strong> von einem„unendlich geschickten Werkmeister“spricht 7 , künden bereits die mo<strong>der</strong>ne Evolutionstheoriean. Zugleich markieren siein Di<strong>der</strong>ots Denken einen fließenden Übergangvom Deismus zu Atheismus und Materialismus.(Diese Richtungen laufen im18. Jahrhun<strong>der</strong>t bekanntlich nicht seltenineinan<strong>der</strong>.)Die dreimonatige Haftzeit macht den „philosophe“in intellektuellen Kreisen, beson<strong>der</strong>sin den Pariser Salons, zu einem „neuenSokrates“, <strong>der</strong> für die Wahrheit leidenmuss – eine dramatische Rolle, die er künftiggerne spielt, aber unter <strong>der</strong> er auch leidet.Überhaupt kann Di<strong>der</strong>ot das Lebenals Theateraufführung o<strong>der</strong> Selbststilisierungwahrnehmen. Zwischen Hochstimmungund Nie<strong>der</strong>geschlagenheit schwankend,verfügt er nicht nur in diesen Jahrenüber leidenschaftliche, ja theatralischeZüge und gibt we<strong>der</strong> so schnell nach nochauf.Ausgestattet mit volltönen<strong>der</strong> Stimme, oftlebhaft gestikulierend, weinend, lachend,sucht er sich sehr gerne in Szene zu setzen,um sich gleichsam zwischen Realitätund Schein hin- und herzubewegen unddarin den spielerischen Dialog mit seinerUmwelt zu suchen. Manchen erscheint erals humorvoller wie verrückter Brausekopf.Er ist an allen Debatten seiner Zeitbeteiligt, er redet ständig dazwischen undverstrickt sich in ungezählte Händel.Von <strong>der</strong> Haft traumatisiert, muss Di<strong>der</strong>otkünftig besonnener zu Werke gehen, willer nicht nochmals in Vincennes o<strong>der</strong> gar auf<strong>der</strong> Galeere landen. So ist er fortan gezwungen,etliche Manuskripte in <strong>der</strong> Schubladezu verstauen. Immerhin kann er bereits 1751den sprachphilosophischen Traktat Lettresur les sourds et muets anonym veröffentlichen,<strong>der</strong> wie<strong>der</strong>um sensualistisch gestimmtist und auf sein kunsttheoretischesKonzept verweist ( 10.). Lessing hat denTraktat noch im gleichen Jahr dem deutschenPublikum vorgestellt ( 1.). Darüber hinaussollten auf französischem Boden biszu seinem Tode nur noch zwei größereWerke, Theaterstücke ( 11.), erscheinen.5. DIDEROT UND DEUTSCHLANDBereits einige Jahre vor Lessings Rezension,um 1745, ist Di<strong>der</strong>ot im heterogenendeutschen Reich bekannt geworden.Ein geheimnisvoller Schleier umgibt ihnanfangs; oft wird er mit dem Mediziner LaMettrie o<strong>der</strong> mit Voltaire und Shaftesburyverwechselt. Erst ein Jahrzehnt später wir<strong>der</strong> endgültig <strong>der</strong> Anonymität entrissen.Seine Rezeption sollte dort eine Son<strong>der</strong>stellungeinnehmen und sehr vielstimmigsein. Sie unterscheidet sich merklich von<strong>der</strong> Wahrnehmung in seinem Heimatlandund verleiht dem Aufklärer ein an<strong>der</strong>es Gesicht(vgl. bes. Saada, 2003, 92).20Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot


In <strong>der</strong> neueren Forschung findet die deutscheResonanz von Di<strong>der</strong>ot durchaus Beachtung.8 Sie spielt sich (im Folgendenorientieren wir uns beson<strong>der</strong>s an Saada)anfangs hauptsächlich in zwei unterschiedlichen„Räumen“ ab: zuerst in <strong>der</strong> vorwiegendvom universitären Bereich bestimmten,weitgehend homogenen, aufklärerischgesinnten Gelehrtenwelt, die denAutor und den Enzyklopädisten beäugt;nach 1760 konzentriert sich sodann dieheterogene Theaterlandschaft auf den DramatikerDi<strong>der</strong>ot ( 11.). Und dabei hatein je<strong>der</strong> Raum ihn funktionalisiert: seineneigenen „Di<strong>der</strong>ot“ erfunden. Gegen Endedes Jahrhun<strong>der</strong>ts sollte er schließlich vorallem als Schriftsteller bleibende Anerkennungfinden ( 27.).In Frankreich, hauptsächlich in Paris, spieltsich die von „unten“ ausgehende Bewegung<strong>der</strong> Lumières außerhalb <strong>der</strong> Universitätab: als Bestreben, die von <strong>der</strong> repressivenrömisch-katholischen Lehre geprägteGeisteswelt des Ancien Régime zu sprengen.In diesem Milieu kann die zensiertePresse, beson<strong>der</strong>s bis Mitte <strong>der</strong> 50er-Jahre,kaum ein Wort über den Freigeist verlieren.Manche seiner Frühschriften, etwadie Pensées o<strong>der</strong> die Lettre, werden erstnach einem Jahrzehnt vorgestellt.An<strong>der</strong>s gestaltet sich die Lage jenseits desRheins, wo die gegen Ende des 17. Jahrhun<strong>der</strong>tsbegründeten gelehrten Journaledurchaus Interesse an Di<strong>der</strong>ots Übersetzungenund frühen, klandestinen Schriftenäußern. Nicht selten unter falscher Autorschaftwahrgenommen, werden sie zwischen1744 und 1756 mit etwa siebzig (!)Rezensionen bedacht (vgl. Saada, 2003,55-128). Ein Großteil dieser Periodika bildetals Organ <strong>der</strong> „Historia literaria“ dasSprachrohr <strong>der</strong> Aufklärung, die eng mitden Universitäten <strong>der</strong> protestantisch geprägtenStädte Nord- und Mitteldeutschlands(etwa Halle und Göttingen o<strong>der</strong>Leipzig, wo im frühen 18. Jahrhun<strong>der</strong>tüber 170 Zeitschriften kursierten) verbun<strong>denis</strong>t.In <strong>der</strong> deutschen Aufklärungskultur wehtein weit wenig scharfer, von <strong>der</strong> protestantischenReligion eingefärbter Wind alsim Siècle des Lumières. Zudem bildet diefrühe Aufklärung mit dem Eklektizismus(<strong>der</strong>, bekanntlich von Francis Bacon angeregt,in Deutschland beson<strong>der</strong>s vonChristian Thomasius geför<strong>der</strong>t wird) und<strong>der</strong> „Historia literaria“ ein Band, das einereinseitigen Verwaltung von Wahrheit einEnde setzen möchte: In Teilen <strong>der</strong> Frühaufklärung,aber auch in dem nach 1675 aufkommendenPietismus wird polemisch überein autoritäres Diktat erstarrter altprotestantischerOrthodoxie geklagt. Die Aufklärungfindet mit ihrem Anliegen in <strong>der</strong>pietistischen Richtung einen Bundesgenossen,<strong>der</strong> die subjektive Ausrichtung desprotestantischen Glaubens verstärkt unddie praxis pietatis betont.An <strong>der</strong> Grenze <strong>der</strong> christlichen Offenbarungstößt die Frühaufklärung jedoch aufihren Schlagbaum. Empirismus, Deismuswie Demokratie verwerfend und somit <strong>der</strong>westeuropäischen Aufklärung hinterherhinkend,steht diese – hauptsächlich vonChristian Wolffs systematischem Rationalismusgetragen – noch weitgehend unterapologetischen Vorzeichen; in <strong>der</strong> protestantischenAufklärungstheologie (bes.in <strong>der</strong> sog. Übergangstheologie) spricht manvon Vernünftiger Orthodoxie. 9 Ihre Vertreter– hauptsächlich Universitäts- wieGymnasiallehrer, daneben Mitglie<strong>der</strong> gelehrterGesellschaften – stecken noch weitgehendim Korsett von Kirche und landesherrlichemBekenntnis und suchen vorallem Vernunft und Offenbarung zu ver-Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot 21


söhnen. Als (servile) Beamte stehen sieauf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Mächtigen und besitzenkaum den Mut, umwälzende Neuerungeno<strong>der</strong> gesellschaftliche Reformen anzustoßen;wichtiger ist ihnen die Ausrichtungauf die individuelle Ausbildung <strong>der</strong> (religiös-)vernünftigenLebensführung.Angesichts dieser Gegebenheit kann voneiner unvoreingenommenen Beurteilungdes französischen Aufklärers also nur wenigdie Rede sein. Diese Gelehrten müssentrotz aller Offenheit in ihren Rezensionenfast schon von Amts wegen die Ohren vorden schrill anmutenden, antikirchlichen wiedemokratischen Tönen verschließen, dievom westlichen Nachbarland herüber dringen:vor den „rohen Einfälle[n] eines Freygeistes,<strong>der</strong> […] seltsam klingende Dingesagt“ (so etwa <strong>der</strong> Verriss <strong>der</strong> Pensées philosophiquesdurch die Freyen Urtheyleu. Nachrichten [4, 1747, 708 f.]). Vor allemdiese Schrift erzeugt eine lebhafteWirkungsgeschichte. Sie ruft sogar eineapologetische Übersetzung durch den lutherischenTheologen Jacob Elsner (1748)und eine Gegenschrift vom Sekretär <strong>der</strong>Preußischen Akademie <strong>der</strong> Wissenschaften,Johann Heinrich Samuel Formey(1749), hervor. Dennoch wird Di<strong>der</strong>ot1751 von dieser Gesellschaft zum korrespondierendenMitglied ernannt.Ähnlich wird die Schrift Lettre sur lesaveugles beurteilt, in <strong>der</strong> die Rezensentenwie<strong>der</strong>um zumeist ein gottloses Gegenbil<strong>der</strong>blicken. An Di<strong>der</strong>ots Werken können sieihre eigene apologetische Position gegenüber<strong>der</strong> antikirchlichen Position <strong>der</strong>Lumières abgrenzen und überhaupt ihrekonfessionelle Stellung gegenüber demfranzösischen Nachbarn festigen (vgl.Saada, 2003, 273).Besser ergeht es den Bijoux indiscrets,die, zuächst Crébillon fils zugeschrieben,dank zweier deutscher Übersetzungen(1776, 1793) unter <strong>der</strong> Hand Verbreitungfinden. Sie werden zunächst von Gottsched,Wieland und Lessing zur Kenntnisgenommen, <strong>der</strong> sie in <strong>der</strong> HamburgischenDramaturgie (1768) rezensiert,ohne davon angetan zu sein; schließlichlässt sich <strong>der</strong> Stürmer und Dränger FriedrichMaximilian Klinger von ihnen inspirieren.Noch im frühen 19. Jahrhun<strong>der</strong>tkommt etwa Ernst Moritz Arndt auf siezu sprechen, wenn er sie als „Schandgedichte“verspottet (vgl. bes. Saada, 2003,61-90).Weit weniger werden die Di<strong>der</strong>ot’schenFrühschriften im streng katholischen Österreichwahrgenommen. Dort landen diePensées zusammen mit den Bijoux indiscrets1754 auf dem Index LibrorumProhibitorum (vgl. Mortier, 1967, 133, u.Grimm, 1988, 286).6. DIE ENCYCLOPÉDIEDie seiner Entlassung aus dem Gefängnisfolgenden zwei Jahrzehnte stellen Di<strong>der</strong>otszweite Schaffensperiode dar, die bis etwa1770 währt. Sie zeichnet sich durch eineimposante Produktivität aus. Im Mittelpunktsteht das große lexikalische Unternehmen<strong>der</strong> französischen Aufklärung: dieepochemachende Encyclopédie, ou dictionnaireraisonné des sciences, des arts etdes métiers, die in den Jahren 1751 bis1772 in 28 Foliobänden erscheint und bekanntlicheine historische Pioniertat darstellt.Die 17 Textbände (1751-1765) enthaltenauf ca. 18.000 Seiten alphabetischgeordnete 71.818 Artikel; die 11 Tafelbände(1762-1772) indes stellen das praktischeMoment des Werks dar und bietenauf ca. 7.000 Seiten 2.885 Kupferstichezur Ansicht und 2.575 Erläuterungen. OhneDi<strong>der</strong>ots Mitwirkung kommen schließ-22Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot


lich noch 7 Supplementbände hinzu (4Textbde., 1776/77; 1 Bildbd., 1777; 2 Registerbde.,1780). 10Bereits 1746 damit betraut, wird ihm dasProjekt als Hauptherausgeber alle Kräfteabverlangen. Es bringt ihm zahlreicheFeindschaften ein, aber auch Ehre: Schondas Erscheinen des Prospectus de l’Encyclopédie(1750) und <strong>der</strong> beiden erstenBände (1751/1752) macht ihn zu einerwichtigen, polarisierenden Gestalt desPariser Literaturlebens; gegen Mitte <strong>der</strong>50er-Jahre setzt er sich sodann im französischenLiteraturleben endgültig durch(vgl. bes. Saada, 2003, 124, 172). Zugleichavanciert er zum Haupt <strong>der</strong> sich formierendenaufklärerischen „philosophischenPartei“. Diese seinerzeit abwertende Benennungentsteht im Zuge <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>svon den Jesuiten angefachten Auseinan<strong>der</strong>setzungenum das entstehende Standardwerk.Zu den schärfsten Gegnernwerden die „Anti-Philosophen“ Palissotde Montenoy (vgl. dessen Lustspiel LesPhilosophes, 1760) und Élie-CatherineFréron.Als Vorbild <strong>der</strong> Encyclopédie dient beson<strong>der</strong>sPierre Bayles berühmtes Dictionnairehistorique et critique (2 Bde., 1696/97; 4 Bde., 1702). Daran beteiligt sind über140 namentlich bekannte „Enzyklopädisten“,die großenteils dem Bürgertum, danebenauch dem nie<strong>der</strong>en Adel angehören.Unter ihnen befinden sich Naturwissenschaftler,Historiker, Philosophen, liberaleTheologen wie auch Staatsbeamte, Techniker,Handwerker und Fabrikanten. Zuden namhaften Beiträgern zählen Voltaire,Rousseau und d’Alembert, <strong>der</strong> anfangsauch als Mitherausgeber fungiert (bis Bd.7, 1757). Diese knicken jedoch angesichts<strong>der</strong> heftigen Angriffe seitens <strong>der</strong> Kircheund Krone bald ein.Der wichtigste Autor ist <strong>der</strong> hugenottischeChevalier Louis de Jaucourt, ein enzyklopädischgebildeter Schriftsteller und Mediziner.Er entpuppt sich als wahrer „Schreib-Roboter“ und verfasst unter Mithilfe vonSekretären über 17.000 Artikel (!) – undrettet damit die Encyclopédie. Allesamttragen sie zur großen Mannigfaltigkeit desWerks bei; die Artikel sind jedoch von sehrunterschiedlicher Qualität. Um <strong>der</strong> ständiglauernden Zensur zu entgehen, sinddie Autoren gezwungen, ihre Kritik an Absolutismusund Klerikalismus bisweilen ingesalzenen Querverweisen o<strong>der</strong> Verknüpfungenzum Ausdruck zu bringen (wie etwaMenschenfresser Eucharistie).Eine gewaltige Arbeitslast liegt auf Di<strong>der</strong>otsSchultern. Als Büro dient sein privates Arbeitszimmer,wo sich über Jahre hinweggroße Mengen von Manuskripten auftürmen.Als Herausgeber hat er den Fingeram Puls <strong>der</strong> Wissenschaft; zugleich ist erOrganisator eines Netzwerks von zahlreichenGelehrten und verantwortet die Herstellungund Kommentierung <strong>der</strong> Tafelbände,wobei er die Zeichner, Graveureund Dru-cker anleiten muss und mitunterauch Werkstätten besucht.Zudem tritt er als Autor hervor. Eine genaueBestimmung all seiner Beiträge istunmöglich (vgl. Lough u. Proust, in: DPV,V, 1976, 12). Er hat sicher etwa hun<strong>der</strong>tArtikel verfasst, möglicherweise auch nochca. 550 weitere; zudem hat er etwa 5500weitere Einträge teilweise bearbeitet. 11 ZumGroßteil bis 1759 erstellt, umfassen sie einenweitgefächerten Wissensfundus, <strong>der</strong> sichvon den Bereichen Gewerbe und Technikbis zu Psychologie, Politik und Kunst erstreckt.Herausragend ist sein ausschweifen<strong>der</strong>,jedoch programmatischer EintragEncyclopédie (Bd. 5, 1755), <strong>der</strong> mit demflammenden Ruf aufwartet:„Man muss al-Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot 23


les prüfen“ und den „ganzen alten Unfugausrotten“, damit endlich „ein vernünftigesZeitalter“ komme (DPV, VII, 1976,233 f.). Bis heute vielzitiert wird auch seinArtikel Autorité Politique (Bd. 1, 1751),mit dem er (noch) im Rahmen <strong>der</strong> konstitutionellenMonarchie steht und meint:„Kein Mensch hat von <strong>der</strong> Natur dasRecht erhalten, den an<strong>der</strong>en zu gebieten“(DPV, V, 1976, 537). Herausragend sindauch seine damit verwandten Ausführungenzum Eintrag Droit naturel (Bd. 5,1755), <strong>der</strong> sich merklich an Grotius, Pufendorfund Spinoza orientiert.Beson<strong>der</strong>s widmet er sich dem philosophischenTerrain (einschließlich <strong>der</strong> Theologie),wobei er sich in formaler Hinsicht vonChristian Wolff und <strong>der</strong> sog. Logique dePort-Royal beeinflusst zeigt. Die Wolff’scheLinie verlassend, bekunden manche seinerArtikel aber auch seine Abwehrhaltunggegenüber einem dogmatischen Systemdenkenund seine ausgeprägte eklektizistischeTendenz (vgl. Eclectisme, in: Bd. 5,1755). Er verfasst beson<strong>der</strong>s historischeArtikel (u.a. Leibnitzianisme, Locke, [Bd.9, 1765], Platonisme [Bd. 12, 1765], dener für seine skeptische, sensualistischeRichtung sachte zu vereinnahmen sucht,und Pyrrhonienne ou Sceptique, Bd. 13,1765), wobei er von Johann Jakob BruckersHistoria critica (4 Bde., 1742-1744) spürbarabhängig ist. In seinen ethischen Einträgenwerden auch Shaftesbury und Epikurhörbar (vgl. Epicuréisme, in: Bd. 5,1755). Letzterer war in Frankreich vor allemdank Pierre Gassendi, dem GegnerDescartes’, weithin bekannt und trotz kirchlicherVorherrschaft beliebt.Wie erwähnt, muss Di<strong>der</strong>ot vorsichtig zuWerke gehen und hat in seinen Artikelnfreilich keineswegs, wie ihm von manchgegnerischer Seite voreilig unterstellt wird(etwa von Thomas Carlyle), eine atheistischePosition bezogen.7. „STURMGESCHÜTZ DER AUFKLÄRUNG“Als „Weltkarte <strong>der</strong> Erkenntnis“ konzipiert,sucht die Encyclopédie die „auf <strong>der</strong> Erdoberflächeverstreuten Kenntnisse zu sammeln“(DPV, VII, 1976, 174) und die organischeVerkettung aller Wissenszweigesichtbar zu machen. In Anlehnung an Bacongewinnen diese in einem „Wissensbaum“Gestalt. In ihm erleben auch Handwerkund Technik eine nachhaltige Aufwertung,die in den Tafelbänden detailgetreudargestellt werden. Dies bleibt auchetwa Goethe nicht verborgen, <strong>der</strong> sichbeim Aufschlagen dieser Bände in „einegroße Fabrik“ voller „bewegte[r] Spulenund Weberstühle“ mit „lautem Schnarrenund Rasseln“ versetzt sieht (WA, I., 28[1890], 64).Das Monumentalwerk ist freilich nicht daserste und auch nicht das umfangreichsteseiner Art. Aber geschrieben in einer brisantenZeit, die neue Wege <strong>der</strong> wissenschaftlichenErkenntnisse anstrebt undnachhaltig auf politische wie ökonomischeReformen drängt, wird es zur Fanfare <strong>der</strong>neuen Zeit. Vom Fortschrittsgedanken beseelt,verhilft es beson<strong>der</strong>s im gebildetenBürgertum zur Wahrnehmung einer neuenWirklichkeit: zum Durchbruch <strong>der</strong> aufklärerischenund antifeudalen Denkrichtung.So markiert die Encyclopédie einen großenEinschnitt in <strong>der</strong> französischen Geistesgeschichte:den Bruch mit dem Cartesianismusund dem theologischen Supranaturalismus.Sie eliminiert die bisherigeSon<strong>der</strong>stellung <strong>der</strong> Theologie und stellt dieWissenschaft auf ein neues Fundament:auf das Naturrecht und den Empirismuswie Sensualismus (Locke, Condillac).Komprimiert tritt diese Zielsetzung in <strong>der</strong>24Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot


erühmten, aus d’Alemberts Fe<strong>der</strong> stammendenEinleitung Discours préliminairehervor (Bd. 1, 1751; vgl. bes. Neuausg.2000), die, europaweit verbreitet, als Manifest<strong>der</strong> Aufklärung angesehen werdenkann.Sie ist heftigen Verfolgungen seitens desStaats und <strong>der</strong> Kirche ausgesetzt (1752und 1759 wird sie verboten und landet imletztgenannten Jahr auf dem „Index“).Nachdem sich Mitte <strong>der</strong> 60er-Jahre diepolitische Situation etwas entspannt unddie Behörden den kommerziellen Wert unddie europaweite Reputation des Werks erkennen,kann sie unter stillschweigen<strong>der</strong>Erlaubnis zu Ende geführt werden. Dierestlichen zehn Textbände (Bd. 8-17) erscheinen1765 (unter <strong>der</strong> fiktiven Ortsangabe„Neuchâtel“) und werden im folgendenFrühjahr heimlich in einer Scheunenahe Paris ausgeliefert.Allen Widrigkeiten zum Trotz vermag sieals „Sturmgeschütz <strong>der</strong> Aufklärung“ eineBresche in die höfische und klerikale Festungsmauerzu schlagen und so den Weghin zur Revolution zu ebnen. Sie wird zumherausragenden Druckwerk des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts.Zunächst in 2000, sodann in4255 Exemplaren aufgelegt (1754), findetsie auch dank <strong>der</strong> ausländischen Subskribentenund Neu- o<strong>der</strong> Raubdrucken europaweitin nahezu 25.000 Exemplaren Verbreitung;zudem erlebt sie mehrere Neubearbeitungen(bes. Encyclopédie méthodiquepar ordre des matières, 167 Bde.,1782-1832). Den Herausgeber hat sie indesan den Rand des Nervenzusammenbruchsgeführt!Zugleich wird sie ein Gründungswerk <strong>der</strong>Mo<strong>der</strong>ne und, nicht zuletzt aufgrund ihrervon Di<strong>der</strong>ot spielerisch kreierten und dennochzielgerichteten Verknüpfungen – heutereden wir von „Verlinkungen“ –, in gewisserWeise zu einem Vorläufer <strong>der</strong> Online-EnzyklopedieWikipedia. Ja, manwird kaum übertreiben, sie als eines <strong>der</strong>bedeutendsten Druckwerke <strong>der</strong> Menschheitsgeschichteanzusehen.Der Nettoertrag von etwa 2,5 Mill. livresbeschert den vier Verlegern einen Riesengewinn.Di<strong>der</strong>ot jedoch muss sich für seineherkulische Arbeit mit einem bescheidenenBetrag begnügen. Aber sein Namewird immer mit diesem Werk verbundenbleiben. Die Nachwirkungen sind noch heuteim enzyklopädisch orientierten französischenBildungsideal sichtbar. Als Symbolsteht beson<strong>der</strong>s die 1970 gegründete,auf Pluridisziplinarität ausgerichtete UniversitéParis VII – Denis Di<strong>der</strong>ot, die seit1994 seinen Namen trägt. Überdies ist dasIdeal einer umfassenden Bildung auch imBewusstsein einer breiten Öffentlichkeitmit seinem Namen verknüpft: Im Französischenspricht man von <strong>der</strong> „période deDi<strong>der</strong>ot“, in <strong>der</strong> man vielerlei studiert, bevorman seine Schwerpunkte setzt.8. „EINWICKELPAPIER“ ODER REICHE IDEENWELTÄhnlich wie Di<strong>der</strong>ots frühe Schriften erlangtdie Encyclopédie im deutsprachigenRaum (eben beson<strong>der</strong>s in den protestantischenZentren) eine beachtliche Publizität.Vor allem die ersten Bände (1751/52)werden in Besprechungen bedacht undstoßen auf geteilte Meinungen. Währenddie technischen und praktischen Artikelzumeist Zustimmung finden, eröffnen dieweltanschaulichen wie politischen Aussagenden Rezensenten wie<strong>der</strong>um die Gelegenheit,ihre Abgrenzung vom französischenNachbarn zu festigen. Bezeichnendist die Besprechung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>aten GöttingischenZeitungen von gelehrten Sachen,die Di<strong>der</strong>ots Eintrag über die AutoritéPolitique zurückweisen, weil er aus einemAufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot 25


„freyen Englisch gesinnten“ Geist stamme;jedoch können sie auch den Herausgeberob seines „vortreflichen Handwerks“ loben(ebd. 14, 1752, Bd. 5, 646-49).Die Abgrenzung trifft in den frühen 50er-Jahren auch die Sorbonne und beson<strong>der</strong>sdie geifernden Jesuiten. Diese haben dieauch von Di<strong>der</strong>ots Pensées beeinflussteDissertation des Enzyklopädisten AbbéJean-Martin de Prades zum Anlass genommen,die Encyclopédie zu torpedieren. Derentflammende Skandal um den Abbé bietetden deutschen Rezensenten die willkommeneGelegenheit, wie<strong>der</strong>um ihre eigenekonfessionelle Haltung legitimierend, dieVerhältnisse <strong>der</strong> katholischen Theologie inFrankreich lächerlich zu machen und überraschen<strong>der</strong>weisefür Di<strong>der</strong>ot eine Lanzezu brechen, <strong>der</strong> sich für Prades verwandthatte (vgl. bes. Saada, 2003, 112-118).Die Verbreitung des Pariser Jahrhun<strong>der</strong>twerkshält sich im deutschen Raum insgesamtin Grenzen. Kaum besser verhältes sich in Österreich, wo es 1762 auf demIndex landet, jedoch auch in Wiens gehobenenKreisen Verbreitung findet, beson<strong>der</strong>sdie 17-bändige „Livorno-Ausgabe“mit ihren gemäßigten Kommentaren (1770-1775 u.ö.; vgl. Grimm, 1988, 238-257).Geschuldet ist dies neben dem erwähntenweltanschaulichen Gegensatz und den gesellschaftskritischenFor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong>Encyclopédie freilich auch <strong>der</strong> Sprachbarriereund dem stolzen Verkaufspreis (vgl.bes. Voss, 1985, 187). 12Überdies bremst eine weitere, gravierendeGegebenheit den Verkauf empfindlichaus: Deutschland „besitzt“ sein eigenesNachschlagewerk: das von Johann HeinrichZedler initiierte Grosse vollständigeUniversal Lexicon aller Wissenschafftenund Künste (Halle/Leipzig 1732 [1731]-1754), das mit ca. 284.000 Artikeln bisdahin als das umfangreichste lexikalischeProjekt des Abendlandes gilt. Vom konservativenGeist <strong>der</strong> deutschen Frühaufklärunggeprägt, spiegelt <strong>der</strong> barocke Monumentalbaudie deutsche Geistes- undKulturgeschichte des frühen 18. Jahrhun<strong>der</strong>tswi<strong>der</strong> und orientiert sich weitgehendan <strong>der</strong> Leibniz-Wolff’schen Schulphilosophie,daneben aber auch an Thomasius(vgl. bes. Raupp, 2006, 1575-88). DasZedler’sche Lexicon ist Di<strong>der</strong>ot freilichnicht unbekannt geblieben. Wenngleich eres kaum lesen kann, lobt er es dennochals „Grande Encyclopédie allemande“ undbenutzt es für seine editorische Arbeit.Neben jener gibt es einige vergebliche Versuche,eine deutsche Neubearbeitung aufden Weg zu bringen, darunter eine vomDi<strong>der</strong>ot-Kritiker Formey anvisierte „Gegen-Enzyklopädie“.1778 kommt dann eindeutsches Pendant zustande: mit <strong>der</strong> vonden beiden Gießener Gelehrten HeinrichMartin Gottfried Köster und Johann FriedrichRoss herausgegebenen DeutschenEncyclopädie, o<strong>der</strong> Allgemeines Real-Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften.Das weithin geschätzte, jedochunvollendete Werk (23 Bde. u. 1 Bd. Kupfertafeln,Frankfurt/M. 1778-1807, A-Ky)verlegt sich vor allem auf das praktischeWissen und besticht durch Gründlichkeit.Ähnlich wie <strong>der</strong> „Zedler“ servil ausgerichtet,vermeidet es politische Kritik.Einen fruchtbareren Boden findet die Encyclopédiein <strong>der</strong> Schweiz, wo in diesenJahren unter <strong>der</strong> Ägide des italienischenGelehrten Fortunato Felice eine 58-bändigeAusgabe erscheint (Yverdon-les-Bains, 1775-1780). An dem von calvinistischemEinschlag geprägten Opus wirkenzwei berühmte eidgenössische Gelehrtemit: Leonhard Euler und Albrecht vonHaller, <strong>der</strong> dem französischen Vorbild mit26Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot


großen Vorbehalten begegnet (vgl. bes.Voss, 1985).Auch in den weiteren Jahren gehen dieMeinungen über die Encyclopédie auseinan<strong>der</strong>.Der Sturm und Drang ist von ihremtechnologischen, utilitaristischen Denkenwenig angetan. Die führenden Köpfehalten sich in ihrer Beurteilung zumeistbedeckt. Lessing und Mendelssohn wissendie Encyclopédie zu loben; demgegenübervergleicht sie das AllgemeineAutor- und Litteraturlexikon mit „Einwickelpapier“(1778, 293). In den Jahren <strong>der</strong>Revolution und <strong>der</strong> Napoleonischen Kriegefindet sie weiterhin Beachtung und wirdbeson<strong>der</strong>s von den Deutschen Jakobinern(u.a. von Adolph Knigge) geschätzt.An<strong>der</strong>er Auffassung sind <strong>der</strong> „Konservatismus“und die nach 1815 einsetzendeRestauration. Die Augen vor dem sozialenHintergrund des Ancien Régime verschließendund angesichts <strong>der</strong> umwälzendenEreignisse erschreckt (vgl. bes. Droz,1949), stellen die konservativen Kräfte diefranzösischen, kosmopolitisch gesinntenAufklärungsphilosophen und die Encyclopédieund überhaupt das westliche Nachbarlandin ein dunkles Licht (bes. JohannAugust von Starck und die ZeitschriftEudämonia o<strong>der</strong> Deutsches Volksglück,1795-1798). Sie seien merklich für die Exzesse<strong>der</strong> Revolution verantwortlich. EineAbfuhr erhält die Di<strong>der</strong>ot’sche Enzyklopädieschließlich von <strong>der</strong> Romantik – eine<strong>der</strong> wenigen Ausnahmen bildet Novalis –,die ja in Di<strong>der</strong>ot überhaupt ein grelles Feindbildausgemacht hat. Ablehnend ist auchWilhelm Gottlieb Tennemanns vielgeleseneGeschichte <strong>der</strong> Philosophie (11 Bde., 1798-1819) (vgl. bes. Mortier, 1967, 144-47).Von liberaler Seite indes wird sie freilichwohlwollen<strong>der</strong> aufgenommen und erlebtsogar im Staats-Lexikon o<strong>der</strong> Encyklopaedie<strong>der</strong> Staatswissenschaften (15 Bde.,1834-1843; „Rotteck-Welckersches Staatslexikon“),einem Manifest des vormärzlichenLiberalismus, eine kleine Renaissance.Zudem beflügelt sie die im frühen19. Jahrhun<strong>der</strong>t entstehenden lexikalischenWerke (u.a. den „Brockhaus“ [ab 1809],„Ersch-Gruber“ [ 27.] und den „Her<strong>der</strong>“[1854]).Ebenso schöpfen die Linkshegelianer inihrem Bestreben, die politischen und sozialenZustände im rückständigen Deutschlandzu überwinden, aus seiner Ideenwelt.Während sich bei Feuerbach überraschen<strong>der</strong>weisekeine nennenswerten Anklängean Di<strong>der</strong>ot und die Encyclopédie finden,zählen vor allem Karl Marx und FriedrichEngels zu ihren Lesern und lassen sichsogar indirekt von ihren technischen undökonomischen Artikeln anregen, wie sieauch Di<strong>der</strong>ots politisches Denken schätzen.Die französische Entwicklung und dieAufklärung des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts werdenfür diese Richtung überhaupt zum Leitbild(vgl. bes. Schalk, 1977, 225-27).DIE KUNST – SCHÖPFERISCHE NATURNACHAH-MUNG ODER LEBENDE EINHEIT IN DER VIELFALTDi<strong>der</strong>ots Talente blühen auch auf demweiten Gebiet von Malerei und Ästhetik,von Musik und Theater auf, für die er sichebenfalls seit frühen Jahren interessiert. Erweiß diese in den Kontext seiner naturphilosophischenWeltsicht zu stellen undfor<strong>der</strong>t – freilich in langer Tradition stehend–, dass jede „lobenswerte kunstvolleGestaltung […] im Einklang mit <strong>der</strong> Natur“stehen müsse (Pensées détachées surla peinture […], 1772, Nr. 95, in: AT, XII,1876, 88 f. [Nr. 95]). Auch auf diesemArbeitsfeld sucht Di<strong>der</strong>ot wie<strong>der</strong>um dembürgerlich-emanzipierten LebensgefühlGeltung zu verschaffen und zielt auf dasAufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot 27


wirkliche, gesellschaftliche Leben. DieBeschäftigung mit Kunst und Muse ist fürihn angesichts <strong>der</strong> desillusionierende Fronarbeitan <strong>der</strong> Encyclopédie ein Labsal.9. MUSIKÜber alles liebt <strong>der</strong> „philosophe“ die Musik.Er spielt selbst auch Clavier und befasstsich in Encyclopédie-Artikeln undbeson<strong>der</strong>s im erwähnen Roman Le neveude Rameau vor allem mit Akustik wie mitOrganologie und <strong>der</strong> Oper; er begegnet<strong>der</strong> Musik also auf phänomenologischer,physikalischer und emotionaler Ebene.Zudem entwirft er den Plan einer neuenOrgel (Mercure de France, 1747) undwirkt an Jean-Philippe Rameaus Werk Démonstrationdu principe de l’harmonie(1750) mit, wie er auch mit François-AndréDanican Philidor zusammenarbeitet. Inspäteren Jahren verfasst er Beiträge für AntonBemetzrie<strong>der</strong>s Leçons de clavecin etprincipes d’harmonie (1771 [Faks., 2001]),die weit über Frankreich hinaus bekanntwerden. Ganz im Geist <strong>der</strong> Zeit stehend,möchte das Lehrbuch nicht nur Fingerfertigkeitanerziehen, son<strong>der</strong>n einen (mit-)denkenden Musizierenden formen. 13Überdies steht Di<strong>der</strong>ot europaweit mit führendenKöpfen <strong>der</strong> Musikwelt in Verbindung,unter an<strong>der</strong>em mit Carl PhilippEmanuel Bach und dem MusikhistorikerCharles Burney. Möglicherweise ist erauch Mozart begegnet; Mozarts VaterLeopold hat ihn als Pariser Adressaten genannt(23.2.1778, in: Mozart, Bd. 2, 1962,297, Nr. 429, vgl. auch 262).Ihre Mannigfaltigkeit betonend, versteht<strong>der</strong> Aufklärer die Musik als „gewaltigste“aller Künste (Rameau, in: DPV, XII, 1989,168). Sie ahme die Natur durch kunstvolleEntfaltung von einfachen und zusammengesetztenTonrelationen nach (vgl. ebd.,158), und zwar – wie die Künste überhaupt– mittels ihrer emblematischen, hieroglyphischenSprache in Sinnbil<strong>der</strong>n, womitsie weit mehr als ein angenehmes Tönenist. Überdies misst ihr Di<strong>der</strong>ot die Attributedes „Sprechen-“ und „Malenkönnens“bei und for<strong>der</strong>t für sie eine primäreFunktion im Kaleidoskop all jener Künste,die auf <strong>der</strong> Opernbühne mitwirken.So richte die Musik auch einen Appell andie Phantasie des Hörers und vermag dasOhr zu bezaubern und in das Herz hineinLiebe o<strong>der</strong> Entsetzen zu tragen und sogleichsam die Sinne aufzulösen. Den Geist<strong>der</strong> Zeit aufnehmend, strebt Di<strong>der</strong>ot damitdie Aufhebung <strong>der</strong> starren Form <strong>der</strong>Affektenlehre an, die bisher die Operndramaturgiebestimmt hat. Er will sie miteiner neu formulierten Empfindsamkeit ablösen,die ein individuell handelndes, beseelt-menschlichesWesen in den Mittelpunktrückt.In den frühen 1750er-Jahren hat sich <strong>der</strong>Aufklärer am aufsehenerregenden „Buffonistenstreit“(„Querelle des bouffons“,1752-1754) beteiligt, einer Auseinan<strong>der</strong>setzungum den Vorrang unter den gebräuchlichenOperngattungen, namentlich um dieErrungenschaften des französischen unditalienischen Musiktheaters. Hierbei giltdas Augenmerk <strong>der</strong> Opera buffa („komischeOper“), einer jüngeren Nebengattung<strong>der</strong> Opera seria (<strong>der</strong> „ernsten“ italienischenOper). Jene Gattung wies gegenüber <strong>der</strong>in Frankreich etablierten Tragédie lyriquewesentlich erfrischen<strong>der</strong>e Charakterzügeauf, womit sie dem im Aufstreben begriffenenbürgerlichen Volksgeist dienstbargemacht werden kann.Nach dem Vorbild <strong>der</strong> Opera buffa, diegeprägt ist von <strong>der</strong> engen Verbindung vonMusik und Sprache wie von <strong>der</strong> unmittelbarzu Herzen gehenden Ausdrucksweise28Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot


und von gefälligen Rhythmen sowie frischerMelodik, kreieren die Anhänger <strong>der</strong>sog. Loge <strong>der</strong> Königin („coin de la Reine“)o<strong>der</strong> „Buffonisten“ eine neue Form vonEmpfindsamkeit. Dieser bürgerlich gesinntenGruppierung stehen die „Antibuffonisten“gegenüber: die Loge des Königs („coindu Roin“), Aristokraten und Traditionalisten,die am höfischen Pomp und am stilisiertenPathos <strong>der</strong> klassischen französischenOper festhält. Diese ist beson<strong>der</strong>s vompolyphon-verworrenen, komplex instrumentiertenKonstrukt von Jean-BaptisteLully bestimmt, <strong>der</strong> über drei Jahrzehnte diefranzösische Oper dominiert. Die Enzyklopädisten,und so auch Di<strong>der</strong>ot, gehörenden „Buffonisten“ an; dieser sucht aber auchdie beiden Parteien zu versöhnen.Der Streit bringt über 60 Schriften hervor.In ihm leuchtet ein Vorschein <strong>der</strong> kommendenRevolution auf: eine neue Zeit, diemit ihrem an Natürlichkeit orientierten Lebensgefühlgewillt ist, mit <strong>der</strong> alten, höfischenKunst zu brechen. 14Auch in den späteren Jahren strebt Di<strong>der</strong>oteine Reform <strong>der</strong> Oper an. Er meint, die„beste aller Opern“ könne im Sinne einesästhetischen Ideals mit Hilfe künstlerischerGesetze hervorgebracht werden; zugleichsucht er die Erneuerung des Tanzes wie dieEinführung des pantomimischen Balletts.Seine Ideen und Vorstellungen entsprechengroßenteils denen Christoph WillibaldGlucks. Dieser leitet Anfang <strong>der</strong> 1760er-Jahre eine weitgreifende Reform <strong>der</strong> Operein, die in gewisser Weise auch – unterneuen Vorzeichen – eine Zusammenführung<strong>der</strong> italienischen Operntradition und<strong>der</strong> Lully’schen Musiktragödie darstellt.Wie frühere Erneurungen, so sucht auchdie „Gluck’sche Opernreform“ die Annäherungan das Urbild <strong>der</strong> griechischenTragödie (vgl. Hortschansky, 1989).10. BILDENDE KUNST UND ÄSTHETIKWeit mehr noch als in <strong>der</strong> Musik machtsich Di<strong>der</strong>ot seit den späten 1750er-Jahrenals Kritiker und Theoretiker <strong>der</strong> bildendenKunst namhaft, beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Malerei,wobei jener diesen hinter sich lässt.Er wird ein Anreger, ja ein Mitbegrün<strong>der</strong><strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen französischen Kunstkritik.Zudem befruchtet er das Schönheitsideal<strong>der</strong> Deutschen Klassik (bes. Lessing) undzählt zu den kritischen Befürwortern desgegen Ende des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts aufkommendenKlassizismus (frz. Néoclassicisme;auch bürgerlicher Klassizismusgenannt). 15Ähnlich wie Lessing im Laokoon (1766)för<strong>der</strong>t er den in <strong>der</strong> Zeit des Umbruchszwischen feudaler Rokokokultur und <strong>der</strong>Revolution sich anbahnenden Autonomisierungsprozess<strong>der</strong> Kunst, die sich, wiedie Naturwissenschaft, mehr und mehrspezifiziert. Parallel zu <strong>der</strong>en empirischerNeuorientierung vollzieht sich auch in <strong>der</strong>Ästhetik eine innere Umwandlung. Auf daswirkliche Leben konzentriert, sucht dieÄsthetik den von zeitloser, überhöhen<strong>der</strong>Vernunft bestimmten klassizistischen Regelkanonund seine deduktive Prämisseabzustreifen und sich den (menschlichen)Phänomenen und somit <strong>der</strong> unmittelbarenBeobachtung und Beschreibung zuzuwenden,aus denen dann die Prinzipien zu gestaltensind.Und eben auf diesem Weg vom „ästhetischenRationalismus“ hin zu einem „ästhetischenEmpirismus“ befindet sich auchDi<strong>der</strong>ot. Er wendet sich primär dem künstlerischenVerhalten wie auch dem Eindruckzu, den das Kunstwerk auf seinenBetrachter macht. So verortet er, die Einheitvon Sinnlichkeit und Rationalität betonend,die Ästhetik in <strong>der</strong> Natur des Menschen:in den von schöpferischen Leiden-Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot 29


schaften („passions“) getragenen Grundkräftendes Lebens, die das Eigenartige,das Individualistische hervorbringen. Damitrealisiert sich in <strong>der</strong> Kunst letztlich eineArt Selbsterfüllung des menschlichen Wesens.Diesen Weg beschreitet Di<strong>der</strong>ot beson<strong>der</strong>sin seinen berühmten Salons (1759-1781in <strong>der</strong> CL ersch., gedr. 1795 ff.), einerFolge von neun Berichten über die imSalon Carré im Louvre alle zwei Jahreausgestellten Gemälde <strong>der</strong> Pariser Kunstakademie.In den quirligen Plau<strong>der</strong>eiensucht er – im Gegensatz zum klassizistischenBestreben, dem konkreten Bild einemodellgebende Funktion zuzuschreiben –seine individuelle Autonomie zu sichern,die eine eigene Welt erzeugt. Er wird zumschöpferischen Kritiker, ja zum „Nach-Schöpfer“, <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>s auf die sinnlicheBildwirkung achtet und, unter Beimischungeigener Farbtupfer, zumeist rechtdetaillierte Beschreibungen darbietet. Diesemuten wie ein Fotoersatz an. Überdies verstehter mit <strong>der</strong> Illusion zu spielen: mit <strong>der</strong>Verschleierung und dem Trugbild, in demsich die Wahrheit spiegelt ( 12.).Als befände er sich mitten in einem Salongespräch,unterhält sich <strong>der</strong> originelle Autorlebhaft mit dem Leser o<strong>der</strong> auch mitden Malern, <strong>der</strong>en Seele er auf <strong>der</strong> Leinwandzu eruieren sucht. Hin und wie<strong>der</strong>steigt er sogar geradezu in das Bild hinein,um etwa eine Wan<strong>der</strong>ung in beeindrucken<strong>der</strong>Naturlandschaft zu unternehmen.Dabei „schweifen“ [die] „Blicke“ lebhaft„umher“ – voll „Bewun<strong>der</strong>ung“ wie „Stillschweigen“,wobei die Zeit sich „aufhebt“und <strong>der</strong> Mensch sich „zu etwas Ewigem“verän<strong>der</strong>t (Salon 1767, in: DPV, XVI,1990, 182-184). Beson<strong>der</strong>s favorisiert erdie den Sensualismus zur Geltung bringendenFarben, die als „göttlicher Hauch“alles „beleb[en]“ (Anh. zum Salon 1765:Essais sur la peinture [1766], ebd. DPV,XIV, 1984, 350) und den Ausdruck <strong>der</strong>Leidenschaftlichkeit steigerten.In den Salons hat sich Di<strong>der</strong>ot als einer<strong>der</strong> Ersten dem Problem <strong>der</strong> Übertragbarkeitpiktoraler Bil<strong>der</strong> in Sprachbil<strong>der</strong> gewidmetund die Gattung des Ausstellungsberichtsmitgeschaffen. Ebenso hat er damitdie Vermittlung zwischen dem Künstlerund einem über Hof und Kirche hinausgehenden,bürgerlichen Publikum initiiert.Das Ursprüngliche und Alltägliche gegenüberdem Überhöhten bevorzugend, bereiteter so den Boden, auf dem sich anstelledes zerfallenden höfischen Rokoko-Stils die bürgerliche Ausdrucksweise mitihrer lebensvollen Tendenz entwickelnkann. In diesem Sinne solle ein Bild, wieDi<strong>der</strong>ot meint, ein harmonisch bewegtesGanzes, eine große, vom lebendigen Zusammenspiel<strong>der</strong> Bewegungen geprägteEinheit darstellen und – dem horazischenIdeal gemäß – die „Tugend liebenswürdig,das Laster verabscheuungswürdig“wie<strong>der</strong>geben (Essais [w.o.], ebd., 392) unddamit auch moralische Ideen vermitteln,um die Welt besser und schöner werdenzu lassen.Und dabei geht es <strong>der</strong> Kunst (wir sagtenes schon) um die schöpferische Nachahmung<strong>der</strong> Wirklichkeit resp. <strong>der</strong> Natur („imitationaturae“), die von <strong>der</strong> Disproportiongeprägt sei und „nichts Inkorrektes“ schaffe(Essais [w.o.], ebd., 343). Da wir ja diehinter allen Erscheinungen steckende Gesetzlichkeitnicht erkennen, meint die Nachahmungkeineswegs eine unmittelbare Anschauung;vielmehr setze sie, so Di<strong>der</strong>ot,eine innere Anschauung, ein ideelles Modelldes Schönen im Künstler voraus, dasdieser Gesetzlichkeit möglichst nahekommt.30Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot


Der Künstler müsse dabei allerdings auchgründlich die Lebenswelt und Naturerscheinungenbeobachten – und erst so, im sichbedingenden Wechselspiel von „sentiment“und „raison“, gelange er mittels <strong>der</strong> sorgfältigenImitation zur Kreation: zum ‚Unwissbaren‘,zu einer Illusion. Diese stellt letztlicheine Art „Wahrscheinlichkeit als Kunstwahrheitin Analogie zur ‚Wahrheit <strong>der</strong> Wirklichkeit‘“dar (Wuthenow, 1994, 69). Dergestaltbesitzt ein Kunstwerk nach Di<strong>der</strong>oteine belebende, hieroglyphische Ausdrucksweiseund erweist sich als eine Art Symbolsystem,dessen Wesentlichkeit nicht in seinerTransparenz aufgeht, son<strong>der</strong>n mittels seinerZeichen konstituiert wird. Es führt eineemotionale Wirkung auf den Betrachter herbeiund lässt ihn an seinem Sujet auch denkendteilnehmen. So vermag das Kunstwerkdie Einbildungskraft zu entzünden,die dann wie<strong>der</strong>um neue Ideen hervorbringt.Dabei kann es – einer religiösen Erfahrungvergleichbar – sogar ein Faszinosum ausüben:einen Augenblick <strong>der</strong> Unendlichkeit.Somit obliegt es <strong>der</strong> Kunst also nicht, wieDi<strong>der</strong>ot meint, primär Wahrheit und Schönheitabzubilden, son<strong>der</strong>n vor allem Sinneund Denken zu sensibilisieren. Die sicheinan<strong>der</strong> bedingenden Momente, ebenWahrheit und Schönheit, entstehen ausschließlichin <strong>der</strong> Ideenwelt des Einzelnen.Diese wird, so Di<strong>der</strong>ot, <strong>der</strong> hierbei dem „Geniekult“des Sturms und Drangs durchausnahekommt, vor allem durch das Genie16 entzündet, das die Seele des Menschenzu rühren vermag. Der „philosophe“ kanndem Genie eine Art prärationale Seeleneigenschaftbeimessen; in späteren Jahrenwird er eher von einer souveränen Rationalitätreden (vgl. Paradoxe sur le comédien; 11.) Vor allem seinem Werk wohntdie gegensätzliche Einheit von Vernunftund Gefühl (resp. Enthusiasmus) inne.Wenngleich die Schönheit also von <strong>der</strong>Ideenwelt des Betrachters abhängt, sokann Di<strong>der</strong>ot dennoch – ausgehend von<strong>der</strong> menschlichen Erfahrung und Notwendigkeit,in <strong>der</strong> Mannigfaltigkeit des Lebenszielgerichtet zu handeln und so auf Ordnung,Proportion und Einheit bedacht zusein – dem ästhetischen Ideal ein konkretes,„empirisches“ Kriterium beimessen:die Wahrnehmung von Beziehungen („rapports“)resp. die Vorstellung eines lebendigen,geordneten Ganzen, wobei er beson<strong>der</strong>sauf Shaftesbury gründet (vgl. bes. denEncyclopédieart. Beau, Bd. 2, 1752).Das denkende wie fühlende Erkennen vonBeziehungen innerhalb einer als Einheitbegriffenen Mannigfaltigkeit umfasst diegesamte, natürliche Lebenswelt und zielt,zumindest mittelbar, auf Harmonie undMoral ab. Nicht zuletzt kommt dies in <strong>der</strong>originellen enzyklopädischen Verknüpfung<strong>der</strong> Wissenschaften zum Vorschein. Unddabei gilt: je größer die Fülle <strong>der</strong> Beziehungen,<strong>der</strong> Mannigfaltigkeit und je vollkommenerdie Einheit, die sich freilichnicht immer auf den ersten Blick erschließt,desto höher <strong>der</strong> Grad <strong>der</strong> Schönheit.Seine Vorstellungen sieht <strong>der</strong> Salon-Autor,beson<strong>der</strong>s in frühen Jahren, am meistenin <strong>der</strong> sozialen Genremalerei des befreundetenJean Baptiste Greuze verwirklicht,des Hauptvertreters <strong>der</strong> PeintureMorale mit ihren bürgerlich-sentimentalenFamilienszenen. Nicht min<strong>der</strong> schätzt erJean Baptiste Siméon Chardin, den Realisten<strong>der</strong> bürgerlichen Welt. Seine kritischeSympathie gehört auch dem PorträtistenMaurice Quentin La Tour sowie ClaudeJoseph Vernet, dessen (wild-romantische)Landschaften er in einem <strong>der</strong> schönstenStücke <strong>der</strong> Salons (1767) beschreibt. Zudemhat er die neoklassizistischen AnfängeJacques Louis Davids miterlebt.Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot 31


Kontakt hat Di<strong>der</strong>ot auch zu deutschenMalern. Er lernt beson<strong>der</strong>s Anna DorotheaTherbusch kennen, die 1765 nachParis kommt und ihn nackt porträtiert (vgl.Salon 1767, in: DPV, XVI, 1990, 369-377, bes. 374 f.). Das Bild ist verschollen;die Beziehung <strong>der</strong> beiden hat den DramatikerÉric-Emmanuel Schmitt zu demTheaterstück Le Libertin (1997, Verfilmung2000) angeregt.Gefallen findet Di<strong>der</strong>ot auch an Schreckenund Entsetzen verbreitenden Bil<strong>der</strong>n– etwa an blutigen Schlachten –, die alsGegenbild zum Guten moralische Reflexionenhervorrufen können. Nicht min<strong>der</strong>schätzt er Ruinengemälde. Sie erwecken„erhabene Ideen“ und vermögen den Menschenin seinen Grundfesten zu erschüttern:„Alles geht zugrunde […]. Ich seheden Marmor <strong>der</strong> Grabmäler zu Staub zerfallenund will selbst nicht sterben!“ (Salon1767, in: DPV, XVI, 1990, 338).Schließlich ist er in <strong>der</strong> Architektur und<strong>der</strong> Bildhauerei bewan<strong>der</strong>t. Er zollt beson<strong>der</strong>sEdmé Bouchardon und dem befreundetenÉtienne-Maurice Falconet Anerkennung,den er <strong>der</strong> Zarin Katharina II. <strong>der</strong>Großen empfiehlt. In <strong>der</strong>en Auftrag errichtetFalconet das berühmte Reiterdenkmaldes Zaren Peters I. des Großen (Der eherneReiter, voll. 1782). Dank Di<strong>der</strong>ots Vermittlungerhält die Monarchin schließlichdie einzigartige Gemäldesammlung PierreCrozats, die sich heute großenteils in <strong>der</strong>Eremitage St. Petersburg befindet.Der Kunstkritiker Di<strong>der</strong>ot wird auch in denintellektuellen Kreisen Deutschlands wahrgenommen.Interesse erregen zunächst seineEncyclopédieartikel Art und Beau (Bd.1 u. 2, 1751 u. 1752), die bei Kant, Hamannund Her<strong>der</strong> Gehör finden, <strong>der</strong> den „philosophe“1769 in Paris besucht (vgl. Mortier,1967, 127 ff.). Die Salons finden inDeutschland wie in Österreich insgesamtein spärliches Publikum (vgl. Grimm,1988, 274-285). Dank <strong>der</strong> CL ( 19.)werden sie zumindest an den Höfen gelesen,wo beson<strong>der</strong>s die „Große Landgräfin“Caroline von Hessen-Darmstadt siebewun<strong>der</strong>t (vgl. ebd., 264 f.).Etwas weiter bekannt wird <strong>der</strong> KunstkritikerDi<strong>der</strong>ot erst mit <strong>der</strong> Veröffentlichung<strong>der</strong> Essais 1795, die zwei Jahre später einedeutsche Übersetzung erleben und auf eingeteiltes Echo stoßen. Schiller ist ( 1.)davon begeistert, wenngleich er sie wenigspäter auch zu kritisieren weiß. Auch Goethelässt sich von dieser Abhandlung anregen.Er übersetzt Teile daraus (1799),beson<strong>der</strong>s zum Thema Farben, die er kritischkommentiert, wenn er etwa zu Unrechtmeint, Di<strong>der</strong>ot suche „Natur undKunst völlig zu amalgieren“ (WA, I. Abth.45. Bd., 1900, 254).In diesen Jahren findet <strong>der</strong> Aufklärer auchbei den Romantikern Resonanz (vgl. bes.die von den Schlegel-Brü<strong>der</strong>n edierte ZeitschriftAthenäum, 1798-1800). Sie könnenihn loben (es sei ein „wahrhaft kaiserlicherLuxus“, sich eine „Gemähldeausstellung“von ihm „beschreiben zu lassen“,ebd., I, 223), aber auch rügen (etwa ob seiner„französischen Unbekümmertheit“ und„Affektiertheit“) (Mortier, 1967, 282).Über 1800 hinaus ist seine Kunstkritik inDeutschland zwar weiterhin bekannt; ähnlichwie in Frankreich bleibt ihr ein bahnbrechen<strong>der</strong>Erfolg allerdings verwehrt. DieDi<strong>der</strong>ot’sche Unbeschwertheit, seine lebendigenSalonschil<strong>der</strong>ungen mussten <strong>der</strong>„‚deutschen Gesetztheit‘“ mit ihrer Neigungzu strenger Systematik und Metaphysikzweifelhaft erscheinen (so zutreffendMortier, 1967, 286). 1711. THEATER32Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot


In den späten 1750er-Jahren wird Di<strong>der</strong>ot,<strong>der</strong> ja über beachtliches Schauspieltalentverfügt, auch als Bühnenautor bekannt. Bereitsals Jugendlicher hat er von einer Karriereals Schauspieler geträumt wie auchbegeistert antike Tragödien rezitiert und dieDiven <strong>der</strong> Comédie-Française angebetet.Der Mittvierziger kann bisher noch keingroßes literarisches Werk vorweisen. 18Nunmehr verfasst er zwei dramatischeStücke: Le fils naturel (1757) und Le pèrede famille (1758), denen er dramaturgischeÜberlegungen zur Reform des Theatersbeifügt, Dorval et moi. Entretiens surle fils naturel und Discours sur la poésiedramatique. Mit diesen sollte er überFrankreich hinaus Einfluss ausüben. In siefließen ebenfalls seine kunsttheoretischenAnschauungen von <strong>der</strong> „Natürlichkeit“ und<strong>der</strong> „Naturnachahmung“ wie auch seineBetonung von Lebenswirklichkeit und Moralmit ein.Daneben stehen Anregungen englischerwie italienischer Autoren (von GeorgeLillo und Carlo Goldoni, <strong>der</strong> seit 1761 inParis wirkt und mit ihm in Verbindungsteht). Ebenso leuchtet darin neben szenischenund gestischen Momenten <strong>der</strong> Dialogauf, <strong>der</strong> späterhin beson<strong>der</strong>s in seinenRomanen zum Tragen kommt. Hauptsächlichstellen sich die beiden Werke alsFrucht <strong>der</strong> ihm seit <strong>der</strong> Kindheit innewohnendenbürgerlichen Gesinnung dar; imHausvater sucht er seinen im Innern immerwie<strong>der</strong> aufflackernden Konflikt mitseinem eigenen Vater friedlich zu lösen.Damit lässt Di<strong>der</strong>ot das wirklichkeitsfremde,künstliche höfische Theater hinter sichund stellt das erwachende Bürgertum inseiner Alltagswelt auf die Bühne. Er wirdzum theoretischen Begrün<strong>der</strong> des bürgerlichmoralischenDramas (Drame bourgeois)und bereitet so, das französische klassizistischeDrama in die Schranken weisend,dem mo<strong>der</strong>nen (französischen) Theater denWeg. Die neue Gattung, eine Art genre mixte,sucht die Lebensnähe und verbindetden Ernst <strong>der</strong> Tragödie und die „Realität“<strong>der</strong> Komödie, sozusagen: die Belehrung unddie Unterhaltung, die Vernunft und die Leidenschaft.So trägt Di<strong>der</strong>ot auch auf demGebiet des Theaters, das in <strong>der</strong> Aufklärungszeitbekanntlich einen gewaltigen Aufschwungnimmt, den sich anbahnendengesellschaftlichen Verän<strong>der</strong>ungen Rechnungund vermittelt ein neues Lebensgefühl.Im Rückgriff auf antike Ideale machter das Theater zur „Sache des Volkes“.In Frankreich erlangt <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ne Bühnenautorzunächst nur mäßige Zustimmung(vgl. Chouillet, 1982, 73-166). InDeutschland indes ist er beson<strong>der</strong>s mit demHausvater überaus erfolgreich. Zu verdankenhat er dies zunächst vor allem Lessing,<strong>der</strong> ebenfalls die Emanzipation desbürgerlichen Dramas vom höfischen Theatererstrebt. Dieser übersetzt Di<strong>der</strong>otsStücke samt den Anhängen (THD, 1760u.ö.) und kann ihn überschwänglich alsklügsten philosophischen Kopf rühmen,<strong>der</strong> sich nach Aristoteles mit dem Theaterbefasst hat (Vorwort, 1760, in: THD, 29);zudem sei <strong>der</strong> Hausvater we<strong>der</strong> „französischnoch deutsch“, son<strong>der</strong>n durch unddurch „menschlich“ (dass. [1766 2 ], 31).Daneben setzen sich Wieland wie auchHamann, Her<strong>der</strong> und Jakob Michael ReinholdLenz mit dem „Di<strong>der</strong>ot’schen Theater“auseinan<strong>der</strong>.Mit seinem (klein-)bürgerlich-familiärenRealismus, <strong>der</strong> die Arbeitsamkeit, den Sinnfür das Natürliche wie eine starke Gefühlsmäßigkeitund den Idealtypus eines jedenStandes mit seinen jeweils eigenen Aufgabenakzentuiert, hat dieses durchaus denNerv des um die Jahrhun<strong>der</strong>tmitte erstar-Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot 33


kenden deutschen Mittelstands berührt.Ein Großteil <strong>der</strong> deutschen Nation kannsich in seinen Werken wie<strong>der</strong>erkennen.Bereits 1759 erleben Di<strong>der</strong>ots Stücke ihreBühnentaufe durch die „Wan<strong>der</strong>truppeAckermann“. Mit dem Ausbau des Theaterwesens,mit <strong>der</strong> Einrichtung fester Schaubühnenbeson<strong>der</strong>s in protestantischen wiekatholischen Residenz- und Reichsstädten,feiern sie sodann nach 1770 einen riesigenErfolg. In <strong>der</strong> folgenden Dekade (vorallem zwischen 1770 und 1775) erreichensie ihren Höhepunkt und gelangen bis1789 zu 160 Aufführungen (davon 155 vonLe père de famille;147 dt., 8 frz.; gespieltvon 16 Schauspielgruppen; vgl. die Auflistungvon Saada, 2003, 275-282). Dabeiüben die frühen Aufführungen am HamburgerNationaltheater und anschließendin Wien (Burgtheater und Theater amKärntnertor) Modellfunktion auf die weiterenInszenierungen aus (vgl. Saada,2003, 267). Durchaus beachtlich wird dabei– vor allem dank <strong>der</strong> Begeisterung <strong>der</strong>Wiener Bevölkerung – sein Einfluss inÖsterreich. Die lang anhaltende Theaterrezeptionist dort ohnehin das bedeutendsteMoment in Di<strong>der</strong>ots Wirkungsgeschichte(Grimm, 1988, 74-191, 292).Damit, aber auch aufgrund seiner dramentheoretischenÜberlegungen, wird Di<strong>der</strong>otzu einem Klassiker. Er erlangt normativeFunktion, auf die man sich beson<strong>der</strong>s inden vermehrt aufkommenden Theaterzeitschriften– zwischen 1765 und 1790erscheinen nicht weniger als 130 (!) – durchKompilation bezieht („wie es Di<strong>der</strong>ot sagt“).Überdies vermag er Lessings Werke zu beeinflussen,beson<strong>der</strong>s das SoldatenstückMinna von Barnhelm (1767), und wirdnachgeahmt, beson<strong>der</strong>s durch Otto Heinrichvon Gemmingen-Hornbergs Stück:Der teutsche Hausvater (1780) (vgl. ebd.,241 ff.).Lessing geht es aber nicht nur um dieÜbernahme o<strong>der</strong> Weiterbildung von Di<strong>der</strong>otsTheorien. Vielmehr benutzen er undseine Mitstreiter den französischen Autorauch als Bundesgenossen im Kampf gegendas vorherrschende, jedoch nicht mehr zeitgemäßefranzösische klassizistische Drama(tragédie classique), als dessen erstergroßer Kritiker Di<strong>der</strong>ot angesehen werdenkann. (Her<strong>der</strong> und Goethe sollten späterLessings Kritik weiter entwickeln.)An diesem Drama orientiert sich beson<strong>der</strong>sLessings Gegner, <strong>der</strong> Theaterreformer und„Regelpoetiker“ Gottsched, <strong>der</strong> als Wolffianerdas Theater primär als moralisch-vernünftigeBesserungsanstalt ansieht. So wirdDi<strong>der</strong>ot, ähnlich wie in <strong>der</strong> Gelehrtenwelt,auch im Raum des deutschen Theatersmodelliert. Dessen Vertreter „gebrauchen“den französischen Aufklärer, um ihre eigenePosition gegenüber dem französischenTheater zu legitimieren. Sie definierenzum Teil ihr Verständnis von Theaterwesen,indem sie sich dem, was man jenseitsdes Rheins schätzt, entgegensetzen(vgl. bes. Saada, 2003, 271-274).Die gegen Ende des Jahrhun<strong>der</strong>ts aufkommendeRomantik beginnt das bürgerlicheDrama allmählich zu verdrängen. Der Hausvaterwird, wenngleich nicht mehr allzuhäufig, noch bis zur Jahrhun<strong>der</strong>twende gespielt.Um 1830 ist <strong>der</strong> TheaterdichterDi<strong>der</strong>ot jedoch aus <strong>der</strong> zeitgenössischenLiteratur verschwunden. In diesen Jahrenhat ihn <strong>der</strong> Wiener Dramatiker Franz Grillparzernoch gelobt.Die Theaterarbeit begleitet den „philosophe“auch in seinen späteren Jahren. Um1773 (1777/78) verfasst er den Essay Paradoxesur le comédien (ersch. 1830), indem er Reformvorschläge vorlegt, aberauch insgeheim sich selbst porträtiert. Frü-34Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot


here Ansichten durchaus revidierend, nimmter darin Anregungen von Francesco Riccoboni(L’art du théâtre, 1750) und vombefreundeten Schauspieler David Garrickauf, den er neben Shakespeare sehr verehrt.In Abgrenzung zum Rousseauismusentwirft er nunmehr eine Ästhetik <strong>der</strong>Schauspielkunst wie überhaupt je<strong>der</strong>Kunstform, die sich entschieden vom Gefühlskult<strong>der</strong> vorhergehenden Jahrzehnteabsetzt und vom Verstand geleitet ist undsomit eine distanzierte Haltung <strong>der</strong> Akteureund <strong>der</strong> Zuschauer anstrebt.Demnach solle <strong>der</strong> Schauspieler, so Di<strong>der</strong>ot,mit „kühlem Kopf“ auftreten (DPV,XX, 1995, 64) und im paradoxen Spielzwischen Vernunft und Gefühl sich sozusagenverdoppeln; er solle etwa weinen,wie ein „ungläubiger Priester, <strong>der</strong> über diePassion [Christi]“ predige (ebd., 57). Aufdiese Weise schlüpft <strong>der</strong> Darsteller gleichsamin die Dichtung hinein und gibt sieals Wirklichkeit aus, womit die Bühnenkunstihrer Bestimmung nahekommt, <strong>der</strong>Wahrheit mittels des Trugbildes nachzuspüren:„Die Illusion ist Euer“ (ebd., 56; 12.). Das Schauspiel wird somit zu einem„ideellen Modell <strong>der</strong> zukünftigen Gesellschaft“;<strong>der</strong> Künstler, „<strong>der</strong> Interpret <strong>der</strong>Natur“, wird zum „Erzieher <strong>der</strong> Menschheit“und zum „größten Realisten“ – allerdingseiner „zukünftigen Realität, die ervorwegnimmt“ (Kesting, 1970, 416 f.).Bis in die neuere Zeit bleibt dieser Essayumstritten. Seine Nachwirkungen reichenbis zu Bertolt Brecht und seiner von antiillusionistischerRealismus-Theorie geprägtenNeukonzeption des Theaters (als„dialektisches Theater“). Der einflussreicheDramatiker und Lyriker des 20. Jahrhun<strong>der</strong>tswill sogar 1937 eine „Di<strong>der</strong>ot-Gesellschaft“ gründen (vgl. Brecht, 1993,276). 19 Überdies wird auch <strong>der</strong> russischeRegisseur Sergei Michailowitsch Eisensteinvon Di<strong>der</strong>ot beeinflusst.Zu Di<strong>der</strong>ots Theaterwerken gehört schließlichdie Sitten- und SprichwortkomödieEst-il bon? Est-il méchant? (1775-1781/84; ersch. 1834, Uraufführung 1951). Darinentwirft <strong>der</strong> „philosophe“ ein weiteresSelbstporträt und schlüpft in die ironischeRolle eines philanthropischen Scapin. Vorallem Charles Baudelaire lobt dieses Stückund empfiehlt es <strong>der</strong> Comédie-Française.Sogar in Deutschland findet es im 20.Jahrhun<strong>der</strong>t Wi<strong>der</strong>hall (Verfilmung vomWDR 1967, Regisseur: Wolfgang Glück,und Neubearbeitung durch Hans-MagnusEnzensberger unter dem Titel: Der Menschenfreund[1994], die bis heute zur Aufführunggelangt).12. EXPERIMENTELLE PHILOSOPHIE ODER DIE„UNERMESSLICHKEIT DER MÖGLICHKEITEN“Der Frage nach Wahrheit und Wirklichkeitdes Lebens geht <strong>der</strong> skeptische Freigeistbeson<strong>der</strong>s in seinem philosophischenWerk nach, in das ebenfalls manch kunsttheoretischeVorstellungen einfließen. Aufdie Kraft des Verstandes bauend, hat erden Mut, die Wahrnehmung <strong>der</strong> Wirklichkeitauf zeitgemäße Fundamente zu stellenund Welt und Gott neu zu erfassen.Dazu betreibt er eine Art experimentellerPhilosophie. Er weiß freilich um das Trugbild<strong>der</strong> menschlichen Sinne, um die Mängeldes Geistes, <strong>der</strong> nur den Bruchteil <strong>der</strong>Wirklichkeit erfasst. Und dennoch ist errastlos auf <strong>der</strong> Suche nach Neuerungenund pflegt, bisweilen fast schon manisch,einen spielerischen Umgang mit Ideen –und wird oft unversehens von einer zuran<strong>der</strong>en fortgerissen. Alles ausprobierend,kann er zwei Positionen zugleich vertreten,die er dann vor allem mittels des Dialogsumschreibt (vgl. bes. Le neveu deAufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot 35


Rameau). Wenngleich er dabei alles miteinan<strong>der</strong>zu verknüpfen und das „Ganze“zu erfassen sucht, so ist er doch jeglicherSystematik abhold. Der wissenschaftlicheHorizont muss freilich immer für neue Fragenoffengehalten werden.Und so sucht <strong>der</strong> „philosophe“ auf seinemDenkweg mittels desultorischer, dialektischerVorgehensweise, die nur „imFluge, nur in seiner steten Bewegung erfasstwerden“ kann (Cassirer, 2003, 93f.),sich <strong>der</strong> Wirklichkeit mit all ihren mannigfachenAspekten zu nähern – und gelangt,zumindest im Ansatz, zu einem dynamischenWeltbild, dem nur <strong>der</strong> stete Wechsel gerechtwerden kann. Dieser war bereits inseinen Pensées philosophiques angeklungen,in <strong>der</strong> er die vielzitierte Sentenz notiert:„Man soll von mir verlangen, dassich die Wahrheit suche, aber nicht, dassich sie finde“ (XXIX, in: DDPH, I, 16;vgl. auch Raupp, 2013, 89, Nr. 5), worinfreilich unverkennbar ein zentraler Leitgedanke<strong>der</strong> Aufklärungskultur aufleuchtet. 20Bei seiner Suche hat Di<strong>der</strong>ot nie aufgehört,Rationalist zu sein. Er kämpft gegenVorurteile und Aberglauben und führt eine„Revolte gegen den installierten Dogmatismusund die politisch-religiösen Zwänge“(Chartier, I, 2012, 16). Der kreativeQuerdenker bedient sich gerade dabei zweierüberraschen<strong>der</strong> Kontrapunkte zur Raison:zum einen <strong>der</strong> Persiflage, also <strong>der</strong>verzerrenden Übertreibung und <strong>der</strong> provokantenZweideutigkeit, die den Blick aufdie Wirklichkeit eröffnen sollen; zum an<strong>der</strong>en<strong>der</strong> Mystifikation: des Trugbilds(vgl. bes. Salons und Paradoxe), <strong>der</strong> Verrätselung,<strong>der</strong> zum Aufbrechen von verkrustetenStrukturen und zum Nachdenkenführenden Verwirrung wie auch <strong>der</strong>Verfremdung mit dem Ziel <strong>der</strong> Erschließungneuer Perspektiven angesichts einernoch nicht bestehenden, aber endlich erwartetenWirklichkeit.Eine solche Mystifikation mittels undurchsichtiger,kontrafaktischer Gedanken undcodierter Sprache, womit er (bis heute)zu verwirren vermag, ist bei <strong>der</strong> Verbreitungneuer Ideen – beson<strong>der</strong>s angesichts<strong>der</strong> herrschenden Zensur – durchaus notwendig.Der „philosophe“ erweist sichhierbei als Meister <strong>der</strong> Improvisation, stetsauf <strong>der</strong> Suche nach dem dynamischenGanzen. Dabei liebt er das Spiel mit Dialektikund Paradoxie und vermag stetsneue Ideen zu entzünden: beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong>Gestalt des Schwirrenden („papillonnage“)und Flimmernden („papillotage“ – wasvon den Gegnern nach drucktechnischemSinn als „Makulatur“ gedeutet wird) (vgl.Chartier, I, 2012, 111-113).Er hegt ein Vergnügen, das Althergebrachtezu destabilisieren, und wird, wie er selbstmeint, zum verhüllenden „Wolkenmacher“(vgl. Lettre sur les sourds [w.o., 4.], in:DPV, IV, 1978, 162), <strong>der</strong> erhellt und gleichzeitigverdunkelt. Er vermag, um mit Goethezu reden, wie in „einem Irrgarten“ herumzuführen,um „uns auf einem kleinenRaum eine lange Promenade vorzuspiegeln“(Di<strong>der</strong>ot’s Versuch über die Mahlerei, in:WA, I, Bd. 45 [1900], 286). Dabei übt erauch eine Art schöpferischer Zerstörungdes Bestehenden, zu <strong>der</strong> untrennbar die Verknüpfungnaher und entfernter Beziehungenzu einem neuen, unerhörten, insofernrätselhaften „Ganzen“ gehört. Dabei trittzur „äußeren“, rationalistischen Dimension<strong>der</strong> Aufklärung, den „Lumières“, noch eine„innere“ Dimension: <strong>der</strong> „Illuminisme“, zudem die dunkle Klarheit (das „clair-obscur“)des intuitiven o<strong>der</strong> instinktiven Wissensgehört. Beide Lichter stehen fast in einemdialektischen Verhältnis zueinan<strong>der</strong>.So vermag Di<strong>der</strong>ot in seinem mitunter36Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot


atemberaubenden Lavieren zwischen Verrätselnund Erraten, zwischen Verschleiernund Entschleiern im Innern seinerEmpfindung ein Universum in Gärung undim Werden hervorzubringen, das man alseine Art „Unermesslichkeit <strong>der</strong> Möglichkeiten“(„l’immensité des possibles“) ansehenkann. 21Dergestalt gleicht <strong>der</strong> Mystifikateur einemKünstler, ja einem Genie, das neue Werkeschafft und die Welt immer wie<strong>der</strong> neuerfindet. Dabei sucht er die Vernunft ingewisser Weise neu zu bestimmen, in sieEmotion und Intuition zu integrieren (vgl.sein o.e. Ideal eines großen Kunstwerks),womit er über die kühle, entzauberndeAufklärung hinaus zum Sturm und Drang,ja fast schon zur Existenzphilosophie voranschreitet( 20.).13. DIE NATUR – „EIN UNERMESSLICHERREICHTUM“Auf seiner Ideenreise widmet sich <strong>der</strong>Newton-Verehrer Di<strong>der</strong>ot beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong>neueren Naturwissenschaft. Als wissenschaftlicherJournalist hat er <strong>der</strong>en Erkenntnisseausformuliert und publik gemacht,wobei er beson<strong>der</strong>s an Pierre-LouisMoreau de Maupertuis, einen Vorläufer<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Genetik, und Georges-LouisLeclerc de Buffon anknüpft. Letzterer, einWegbereiter <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Evolutionstheorie,hat 1749 seine monumentale Histoirenaturelle (bis 1804 insges. 44 Bde.) aufden Weg gebracht und auf den ersten Seitenmit einem Paukenschlag aufgewartet:mit <strong>der</strong> „etwas demütigend[en]“ Wahrheit,dass <strong>der</strong> Mensch in die „Klasse <strong>der</strong> Tiere“einzuordnen sei (I, 1749, 12).Wie bereits in <strong>der</strong> enzyklopädischen Ausrichtungsichtbar geworden und sodannin den aphoristischen Penseés sur l’interprétationde la nature von 1754 (1753)formuliert, die auch in intellektuellen KreisenDeutschlands nicht unbeachtet blieben,plädiert Di<strong>der</strong>ot nachhaltig für eineempirische Erfassung <strong>der</strong> Natur: für dieexperimentelle Methode („physique expérimentelle“),die in <strong>der</strong> sammelnden Beobachtung,<strong>der</strong> kombinierenden Reflexionund <strong>der</strong> prüfenden Erfahrung Gestalt gewinnt(vgl. bes. [XV.], in: DPV, IX, 1981,39). Gegenüber diesem engen Zusammenspielvon Praxis und Theorie sei die bisherbevorzugte spekulative Naturphilosophiescholastischer Observanz, <strong>der</strong> pureRationalismus des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts mitseinen apriorischen (mathematischen) Regeln,endgültig überholt, womit man Weltund Natur klar zu erkennen meinte.Diesen Regeln setzt Di<strong>der</strong>ot den „unermesslichenReichtum“ <strong>der</strong> Natur (HDIdt1,VI, 1786, 11. Buch, Kap. 5, 59) entgegen,die letztlich immer ein Geheimnisbleibe. Sie solle primär vom geduldigenWissenschaftler erforscht werden, den <strong>der</strong>Aufklärer sogar als eine Art Geist vongöttlicher Inspiration bezeichnen kann. Ersolle, so Di<strong>der</strong>ot weiter ausführend, nichtzuletzt mit fast schon intuitivem Spürsinnhinter den Phänomenen den verborgenen„Mechanismus“ erkennen. Diesen variieredie Natur, einer Frau vergleichbar, diees „liebt, sich [ständig] zu verkleiden“, auf„unendlich verschiedene Weise“ (vgl. ebd.,XII., in: DPV, IX, 1981, 36, 38). Und beidiesem Spiel muteten die Naturvorgängewie Hieroglyphen o<strong>der</strong> unendliche Tonfolgenan.Die Wissenschaft müsse ausschließlichnach dem „Wie“ und nicht mehr nach einemEndzweck fragen. Diese sei, so Di<strong>der</strong>ot,<strong>der</strong> wie<strong>der</strong>um an seine kunsttheoretischeAnschauung anknüpft, nicht alsSpiegel <strong>der</strong> sich stets wandelnden Naturzu verstehen, son<strong>der</strong>n letztlich als ein au-Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot 37


tonomes, auf <strong>der</strong> Zeichenhaftigkeit vonErkenntnis basierendes Erklärungsmodell,dem keine Wahrheit im üblichen Sinn zukomme.Gegenüber dieser (dynamischen)Sichtweise stellt <strong>der</strong> Aufklärer das vomRationalismus noch gestützte, statischchristlich-teleologische Weltbild mit seinerVorstellung von <strong>der</strong> ‚Konstanz <strong>der</strong>Arten‘ hintan. Dieses Gebilde war schonlange zerbrochen; Raum und Zeit hattensich ins Unendliche ausgedehnt.14. DIE GROßE „KETTE DES LEBENS“Sein rastloses Suchen hat Di<strong>der</strong>ot auf einenlangen, eigentümlichen Denkweg geführt.Auf diesem geht er (wir haben diesbereits erwähnt) überaus eklektisch vor.Der Vielfalt <strong>der</strong> Welt angemessen, erstrebter die Befreiung aus <strong>der</strong> einseitigen Zugehörigkeitzu einer Richtung und sucht dievorgegebene, unantastbare Wahrheit zubrechen.Er lässt sich dabei beson<strong>der</strong>s von <strong>der</strong>Antike inspirieren (u.a. von <strong>der</strong> ionischenNaturphilosophie, Epikur und Lukrez), erblickt über das Christentum hinweg zurück,um nach vorne schauen zu können:in die Mo<strong>der</strong>ne. Der Antike stehen neuzeitlicheRichtungen an <strong>der</strong> Seite: neben <strong>der</strong>zeitgenössischen Naturwissenschaft beson<strong>der</strong>sSpinoza, das englische Aufklärungsdenken(Bacon, Newton, Locke) und Leibniz(mit seinem Entwicklungsgedankenund seiner Vorstellung von den dynamischgeprägten Monaden). Zudem kennt er dasberüchtigte religionskritische Testamentdes Priesters Jean Meslier (1664-1729). DerLandpfarrer aus den Ardennen vertritt darinals einer <strong>der</strong> ersten Gelehrten <strong>der</strong> Neuzeiteine entschieden atheistisch-materialistischeWeltsicht samt einer sozialistischenKonzeption <strong>der</strong> Gesellschaft.Als Jesuitenschüler angetreten, gelangt Di<strong>der</strong>otauf seinem Denkweg vom Theismus<strong>der</strong> frühen Jahre über den Skeptizismus,den Deismus und einen nach allen Seiten„offenen“ Atheismus hin zu einem energetisch-dynamischgeprägten materialistisch-monistischenWeltbild: zu einem vitalistischenresp. hylozoistisch o<strong>der</strong> pantheistischanmutenden Materialismus. DieseSichtweise klingt beson<strong>der</strong>s in seinerals Le Rêve de d’Alembert bekannt gewordenendialogischen Trilogie (1769,ersch. 1830) an, einer materialistischenDialektik und Poetik.Demnach rühren alle Formen des Lebensvon <strong>der</strong> schöpferisch-evolutionären Materieher: von <strong>der</strong> ewigen Substanz. Sie sei,so Di<strong>der</strong>ot, gewissermaßen göttlich resp.seelisch belebt; ihre Atome und Moleküle,mit Leibniz’ Vorstellung von Monaden vergleichbar,besäßen das aktive wie passiveEmpfindungsvermögen („la sensibilité“)als allgemeine Eigentümlichkeit und führtenauch die Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Arten herbei(vgl. bes. DPV, XVII, 1987, 189). (Inspäteren Jahen sollte er mehr und mehr vom„göttlichen“ Moment abrücken).In erhabenen, religiös anmutenden Worten,die an Lukrez’ berühmtes LehrgedichtDe rerum natura (1. Jh. v.u.Z.) erinnern,vermag <strong>der</strong> „philosophe“ die Materie zuumschreiben: Sie sei das „große Individuum,nämlich das Ganze“ (ebd., 139),das ewig-göttliche Universum. Als großesMusikinstrument mit zahllosen Tonfolgenwie als Füllhorn mit unzähligen Möglichkeitenvergleichbar, bringe sie im Entwicklungsprozessmolekularer Zusammenspielemittels unendlicher Mutationen – von<strong>der</strong> Urmaterie über Minerale, Pflanzen,Tiere und Menschen – Myriaden von Lebewesenhervor. In ihr sei alles miteinan<strong>der</strong>verbunden o<strong>der</strong> vernetzt; alles hängean einer großen „Kette“ zusammen (ebd.,38Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot


138) – eine Vorstellung, die sich bereitsbei Homer findet (Ilias, VIII, 19.25) undals „aurea catena Homeri“ („goldene KetteHomers“) sprichwörtlich wurde – undgehe „im [ewigen] Kreislauf“ ineinan<strong>der</strong>über. Somit bedeute Leben und Sterbenlediglich, „die Gestalt [zu] wechseln“ –heute sei man Mensch, morgen indes Tier,Pflanze o<strong>der</strong> Staub (ebd. 138f.).Das Ende dieses Prozesses – des Zufallsexperimentsdes Lebens – ist freilich völligoffen. Was die Lebewesen früher einmalgewesen seien, so Di<strong>der</strong>ot, wisse manebenso wenig wie das, was sie in unendlichenZeiträumen werden könnten. Jedessei eine Art „Bündel empfindsamer Punkte“(ebd., 141) und berge das „ihr eigeneGlück und Unglück“ in sich. Und so gebees überall in <strong>der</strong> Natur – „vom Elefantenbis herunter zum Blattläuslein“ – keineneinzigen Punkt, <strong>der</strong> „nicht leidet o<strong>der</strong> sichfreut“ (ebd., 140).15. EIN KIND VON „STIEFMUTTER NATUR“Auch diesen zukunftsweisenden Entwurfmuss Di<strong>der</strong>ot zunächst <strong>der</strong> Schublade anvertrauen.Darin skizziert er ein evolutionistisch-humanistischesMenschenbildund teilt dem Menschen eine bescheideneRolle zu. Dieser ist jetzt nicht mehr, wieetwa in <strong>der</strong> christlichen Religion, Kroneim Schöpfungswerk eines vermeintlichprovidentiellen Gottes, son<strong>der</strong>n das evolutionäreWerk (o<strong>der</strong> sollen wir eher sagen:ein Irrläufer) <strong>der</strong> Natur und zugleich<strong>der</strong>en Bewusstsein.Diese sei dem Schicksal des Menschengegenüber indifferent, so Di<strong>der</strong>ot, <strong>der</strong> denvon <strong>der</strong> Aufklärung weitgehend positivgefassten Naturbegriff durchaus zu kritisierenweiß. Er kann <strong>der</strong> Natur „Unfreiheit,Dumpfheit und Bewusstlosigkeit“zuschreiben (vgl. Recknagel, 1981, 416)und sie als „Stiefmutter“ bezeichnen.Dank seiner Vernunft besitze <strong>der</strong> Homosapiens noch eine Son<strong>der</strong>stellung. Er seijedoch lediglich eine vorläufige Erscheinungim „unermesslichen Urmeer <strong>der</strong> Materie“(DPV, XVII, 1987, 128), wobei erimmer [er] selbst und doch keinen Augenblick<strong>der</strong>selbe sei:„Ich bin ich, und ich binzugleich ein an<strong>der</strong>er“ (ebd., 186).Damit hatte <strong>der</strong> Aufklärer den christlichenJahweh-Gott endgültig aufs Altenteil geschickt– einen „Gott“, <strong>der</strong>, wie Di<strong>der</strong>otmeint, von Unwissenheit und Ängstlichkeitdes Menschen wie vom „Priesterbetrug“herrühre und eine wi<strong>der</strong>natürlicheMoral for<strong>der</strong>e. Zudem seien die Dogmenschon lange vergilbt, und auch die vongroßen Blutspuren übersäte Kirchengeschichtelaufe dem christlichen Wahrheitsanspruchzuwi<strong>der</strong>. Demgegenüber seien<strong>der</strong> Unglaube und die Zuwendung zur Naturdie Voraussetzung für angemesseneMoral und ein natürliches Leben. Di<strong>der</strong>otweiß aber auch um die pädagogischeFunktion <strong>der</strong> regulativen Religion als einerArt Placebo.Mit seinem materialistischen Menschenbildhat Di<strong>der</strong>ot den vorherrschenden Descartes’schenDualismus von res cogitansund res extensa zu überwinden gesucht.Der Mensch ist ein einheitliches Wesen;Geistiges und Körperliches sind aus einemGuss! Das Denken und die seelischenRegungen gehen, wie Di<strong>der</strong>ot meint, vollständigauf Materie und Bewegung zurück;sie erwachsen aus den Empfindungen <strong>der</strong>sich berührenden Atome, mittels eines Netzesvon Fasern. So ist auch <strong>der</strong> menschlicheWille determiniert – Freiheit musssomit letztlich als Illusion verstanden werden–, die moralischen Vorstellungen bezeichnen„lediglich“ verschiedene physiologischeBefindlichkeiten. Aus dieser Sicht-Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot 39


weise erschließt sich die Grundwahrheit:Existieren – also auch Denken – bedeutetletztendlich nichts an<strong>der</strong>es, als in Bewegungzu sein (wir können auch sagen: Lebenbedeutet verschieben: Der Körper verschiebtdie Nahrung, <strong>der</strong> Autor die Buchstaben,<strong>der</strong> Buchhalter die Zahlen ...)Entgegen <strong>der</strong> Abwertung des Körpers imChristentum erlangt dieser bei Di<strong>der</strong>ot einedurchaus positive Stellung. Der Mensch– ein komplexes, ein wi<strong>der</strong>sprüchlichesWesen, oft zwischen intellektueller Überzeugungdes Kopfes und instinktivem Verlangendes Herzens hin und her gerissen– werde als Kind <strong>der</strong> Natur primär von<strong>der</strong> sinnlich-körperlichen Empfindung geleitet:von den irrationalen Triebkräften,vom Instinkt. Die Lust verbinde Körperund Geist; sie habe einen jeden Menschen„aus dem Nichts gezogen“ (so Di<strong>der</strong>ot inseinem brillanten Enzyklopädieartikel überJouissance, in: DPV, VII, 1976, 575-577,Zit., 576). Dieser gleicht einer Ode an Lebenund Liebe und weist ihn als Prophetendes aufgeklärten Hedonismus aus.Bei <strong>der</strong> sich daran anknüpfenden Fragenach <strong>der</strong> ethischen Lebensgestaltung favorisiert<strong>der</strong> Moralist Di<strong>der</strong>ot folglich eineArt von vernünftigem, schöpferischem Hedonismus,wobei die Vernunft die körperlichenAntriebskräfte steuern solle (vgl. bes.Blom, 2010 bes. 232f. u. 369f.). Er betontdie sich fortwährend än<strong>der</strong>nde Individualitätdes Menschen, die im Miteinan<strong>der</strong>von Leidenschaft und Vernunft den Fortschrittdes Gesellschaftsprozesses heraufführt.Dabei akzentuiert er beson<strong>der</strong>s diesoziale, politische Verantwortung, wie erauch <strong>der</strong> Liebe und <strong>der</strong> Sexualität als spielerischemAusdruck <strong>der</strong> Natur große Beachtungschenkt.In seinem Alterswerk Réfutation suivie del’ouvrage d’Helvétius intitulé L’Homme(1773-1775, ersch. 1875) hat Di<strong>der</strong>ot mancheseiner Positionen spürbar modifiziert,beson<strong>der</strong>s die moralischen Aussagen vonLe Rêve de d’Alembert, und sich von ClaudeAdrien Helvétius’ dogmatisch-mechanistischemMenschenbild und fatalistisch anmutendemLustprinzip merklich abgesetzt.Die materialistische Weltsicht müsse keineswegsin den einförmigen Hedonismuseinmünden. Im fortwährend verän<strong>der</strong>ndenHorizont <strong>der</strong> anthropologischen Forschungstehend, solle sie freilich immer von <strong>der</strong>„offenen“, dialektischen Sichtweise bestimmtsein. In diesem Sinne hält er auch,Paradoxa und Wi<strong>der</strong>sprüchen nicht aus demWege gehend, angesichts <strong>der</strong> determiniertenNatur nachhaltig Ausschau nach einemRaum für die Willensfreiheit.Der Mensch lebe, so Di<strong>der</strong>ot zusammenfassend,zwischen Realität und Illusion,Ahnung und Fiktion, zwischen Poesie undPhantasie – wie ein Künstler o<strong>der</strong> Betrachtereines Kunstwerks stets aufs Neue seineeigene Welt erzeugend. Der Sinn desLebens sei freilich nicht zu verstehen. Sokann er, von einem gelassenen Pessimismusgetragen, an die Seelenfreundin Sophieschreiben: Wir wissen nicht, „woherwir kommen, […] wohin wir gehen“, manwerde „in Dummheit und inmitten vonSchmerz und Geschrei geboren“ und sei<strong>der</strong> „Spielball <strong>der</strong> Unwissenheit, des Irrtums,<strong>der</strong> Not, <strong>der</strong> Krankheiten […] und<strong>der</strong> Leidenschaften“; und dies werde alsdas „größte Geschenk unserer Eltern und<strong>der</strong> Natur“ bezeichnet, als „das Leben“(COR, IV, 1958, 169, Nr. 288 [1762]).16. VERZAUBERTER MATERIALISMUS ODER ER-SCHAUDERNDER NIHILISMUSMit seinem sensualistischen Ansatz undseinen Vorstellungen eines dynamischen40Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot


Materialismus findet Di<strong>der</strong>ot im 19. Jahrhun<strong>der</strong>tGehör. Er kündigt die mo<strong>der</strong>neEvolutionstheorie Darwins an und wird einVorläufer des Positivismus und des DialektischenMaterialismus (von Marx, Engels[ 20.] und Lenin Materializm iËmpiriokriticizm, 1909, u. 1970, 23 ff.).Nicht zu Unrecht hat Elisabeth de Fontenayseine undogmatische, „offene“ Weltsichtals „verzauberten Materialismus“ bezeichnet.Der Aufklärer habe, so die französischePhilosophin, „mit voller Stimme<strong>der</strong> Vernunft die Materie, das Leben, dieNatur zu besingen gewusst“. Er habe, aufdie Wissenschaft gestützt, von „<strong>der</strong> Wirklichkeitgeträumt“ und zudem eine „Totalitäteingefor<strong>der</strong>t, die niemals totalitär“werden könne, weil sie „dem Sinn die Sinne“vorziehe und „<strong>der</strong> Ordnung die Abweichungen“(1981, [288]).Aber nicht alle seine dialektischen Aussagenklingen verzaubernd. So kann Di<strong>der</strong>otauch den Nihilismus andeuten und vom„Nichts“ reden, das den Menschen ergreift,und von seinem spurlosen Verschwindenim unendlichen kosmischen Geschehen(vgl. bes. Lettre sur les aveugles).17. RADIKALE AUFKLÄRUNG ODER „HOLBACH-COTERIE“Seine revolutionären Gedanken kann Di<strong>der</strong>ot,<strong>der</strong> Mann <strong>der</strong> Freundschaft, zumeist nurim Freundeskreis und in Salons austauschen.Mit Vorliebe besucht er den vom befreundetenPaul-Henry Thierry d’Holbach eingerichtetenSalon. 22 Der deutschstämmige Baronerweist sich nicht nur als generöser Gastgeber,son<strong>der</strong>n auch als Autor. Er ist <strong>der</strong>standhafteste Exponent des atheistischen Materialismus,und sein Système de la nature(2 Bde., 1770) gilt als das Hauptwerk desfranzösischen Materialismus und macht ihnauch in Deutschland zur zentralen Gestaltdes Atheismus. Vermutlich hat Di<strong>der</strong>ot daranmitgearbeitet, er weist jedoch Holbachswie auch La Mettries und Helvétius’ strengmechanistische Akzentuierung des Materialismuszugunsten seines dynamischen Systemsab (vgl. die Réfutation; 15.).Holbachs Philosophenrunde, die sich etwavon 1750 bis fast gegen Ende <strong>der</strong> 70er-Jahre, zunächst in <strong>der</strong> Rue Saint-Nicaiseund ab 1759 in <strong>der</strong> Rue Royale Saint-Roch(heute Rue des Moulins), trifft, entwickeltsich zum Zentrum <strong>der</strong> radikalen Aufklärungim vorrevolutionären Frankreich. Siewird auch von illustren ausländischen Gästenbesucht, die in Paris weilen, unter an<strong>der</strong>emvon David Hume, David Garrick,Edward Gibbon und (wahrscheinlich) vonBenjamin Franklin. Diese teilen zumeist diedort gepflegten Ideen. Eine <strong>der</strong> Ausnahmenbildet Horace Walpole, <strong>der</strong> von <strong>der</strong>„zerstörerischen Arbeit“ <strong>der</strong> Anwesendenspricht; sie hielten ihn für „sehr einfältig“,weil er „noch an etwas Höheres“ glaube(<strong>der</strong>s., 1765, zit. n. 1906, IV, 449). AuchVoltaire und Rousseau stehen dem Kreiskritisch gegenüber und können Di<strong>der</strong>otsradikale Position keineswegs teilen.In dem als „Zitadelle <strong>der</strong> Enzyklopädisten“bekannten Kreis werden ohne Tabus Ideen<strong>der</strong> neuen Zeit diskutiert. So plädierendie Teilnehmer nicht nur für eine von Demokratieund Freiheit geprägte Gesellschaftsordnungund für die Gleichheit <strong>der</strong>Geschlechter, sie bringen auch neue Sichtweisenvon Gott und Welt zur Sprache.(Die radikale Aufklärung kann sich auchin <strong>der</strong> Folgezeit nicht durchsetzen. Sie steht„dem Strom <strong>der</strong> Geschichte im Weg“; dasnationalistische und imperialistische 19.Jahrhun<strong>der</strong>t setzt auf die konservativenIdeologien; vgl. Blom, 2010, 368).18. ER REDET „WIE EIN SOCRATES“ UNDAufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot 41


SCHREIBT MIT „KOCHENDER TINTE“Mittendrin im Holbach’schen Kreis stehtDi<strong>der</strong>ot. Die Konversation mit diesem Improvisationstalentgestaltet sich, wie Zeitgenossenberichten, zu einem eindrücklichenErlebnis. Sein Diskussionsstil ist zumeistausnehmend lebhaft und zupackend;mitunter kann er aber auch ziemlich ausschweifendwerden. Er rede „wie ein Socrates“(so Laurence Sterne, zit. n. Cash, 1986,138) mit „mitreißen<strong>der</strong> Eloquenz“ und„leuchtendem Gesicht“, alle „Gemüter erhellend“(Marmontel, 1972, 226); er sei„überfließend von Ideen“ und „schenkte denan<strong>der</strong>en seinen Witz“ (André Morellet, 1821,134). Ähnlich beschreibt ihn auch <strong>der</strong> PolitikerCharles Brosses, wenn er von einemFeuerwerk spricht, das nicht endenwill. Der Aufklärer sei ein „freundlicherBursche und scharfsinniger Denker“, <strong>der</strong>jedoch „ständig in Exkurse“ abschweife.„Gestern zählte ich in <strong>der</strong> Zeit von neunbis ein Uhr, während <strong>der</strong> er bei mir […] war,<strong>der</strong>er fünfundzwanzig“ (zit. n. Lepape,1994, 166). So verwun<strong>der</strong>t es nicht, wennJean-François Marmontel meint: „Wer Di<strong>der</strong>otnur aus seinen Schriften kannte, hatihn nicht gekannt“ (<strong>der</strong>s., 1972, 226).Trotz seines intellektuellen Höhenflugs trägtDi<strong>der</strong>ot die bürgerliche Gesinnung in seinemHerzen. Der „großgewachsene, grobgehaueneMann, <strong>der</strong> einem Kofferträger“gleiche und „ewig“ [mit] „einem schwarzenAnzug [und] grauen Socken“ bekleidet sei(L. Sterne, in: Cash, 1975, 138, u. Lepape,1994, 166), versteht sich als „arbeiten<strong>der</strong>Mann des Volkes“, für den die täglicheArbeit von mitunter 14 Stunden nichts Beson<strong>der</strong>esdarstellt.Er hasst die Perücke und meidet – an<strong>der</strong>sals etwa <strong>der</strong> Weltmann Voltaire – das Parkett<strong>der</strong> höfischen Welt. Die Welt des Adelsstellt sich jedoch bei ihm zuhause ein: Wennsein Freund Grimm Edelleute aus ganzEuropa, beson<strong>der</strong>s aus Deutschland, aufihrer Kavalierstour durch Paris in sein Arbeitszimmerim Dachgeschoss des viertenStocks führt, um ihnen – als „Sehenswürdigkeit“– einen leibhaftigen französischen„philosophe“ zu präsentieren.Dieser ist ein Genießer des Lebens, freilichauch ein Moralist, <strong>der</strong> die Tugend überalles zu stellen weiß und sich, oft bis zurUnvernunft, für an<strong>der</strong>e einsetzt. Davon weißbeson<strong>der</strong>s seine Tochter in ihrer blumigenSchil<strong>der</strong>ung vom Arbeitszimmer zu berichten.Dieses sei ein „Laden“, in dem „die Kunden“aufeinan<strong>der</strong> folgten, die seine „Geldbörse“o<strong>der</strong> seine „Talente“ benötigten (Memoirs,1787, in: DPV, I, 1975, 25).Lebendig erweist sich Di<strong>der</strong>ot auch in seinerumfangreichen Korrespondenz, dieuns heute in über tausend Briefen vorliegt.Sie vermittelt aufschlussreiche Informationenüber das geistige Klima des Aufklärungszeitalterswie über das Alltagslebenim Ancien Régime und lässt den mitteilsamenDi<strong>der</strong>ot zu einem <strong>der</strong> großen Epistolographendes korrespondenzfreudigen18. Jahrhun<strong>der</strong>ts werden. 23Berühmt geworden sind vor allem seine187 erhaltenen Schreiben an die kongeniale,„zärtlich geliebte“ Sophie Volland(1759-74), mit <strong>der</strong> er seit 1755 über zweiJahrzehnte hinweg einen Liebes- und Freundschaftsbundpflegt. Er zeigt sich darin nichtnur als glühen<strong>der</strong> Liebhaber; er öffnet auchsein Inneres, womit er den Reichtum seinesGeistes und Gemüts und so seine höchstambivalente Persönlichkeit durchscheinenlässt. Bis heute findet diese Briefsammlungeine große Leserschaft. Zu ihr hat LudwigBörne gezählt, <strong>der</strong> sich sehr beeindrucktgab: Der alte Junge schreibe oft „mit kochen<strong>der</strong>Tinte“ (<strong>der</strong>s., 1832, 155). 2442Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot


19. DER SCHRIFTSTELLERNachdem in den 1760er-Jahren die Last<strong>der</strong> Enzyklopädie allmählich von seinenbreiten Schultern abzufallen beginnt, wendetsich Di<strong>der</strong>ot vermehrt seinem erzählerischenWerk zu. 25 Dazu gehören publizistischeBeiträge. In ihnen klingt dank seinerschnellen, pointierten, oft mehrdeutigenSkizzen wie seiner metaphorischen Sprache,seines Witzes und seiner Skepsis vorjeglicher festzementierten Wahrheit durchaus<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ne Journalismus an.Seine Aufsätze erscheinen beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong>von Grimm begründeten Correspondancelittéraire (1753-1793; CL), einem handschriftlichenJournal, das außerhalb vonFrankreich an europäischen Fürstenhöfenkursiert. Es ist das Sprachrohr <strong>der</strong> französischenAufklärung und gilt überdies alseines <strong>der</strong> wichtigsten Nachrichtenorganedes 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts (vgl. bes. Schlobach,1980, 47-63, u. <strong>der</strong>s., 1987, 128-142).Auch Goethe, Her<strong>der</strong> und Mozart zählenzum Kreis seiner Leser.Neben den Aufsätzen erscheinen darin auchdie Salons sowie kleinere Prosaarbeitenund Romanauszüge Di<strong>der</strong>ots. Die anschaulichenErzählungen lassen diesen zu einemVorläufer <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Kurzgeschichte werden.Sie bekunden abermals seinen Humorund seine temporeiche Erzählkunst wieauch sein erwartungsvolles Interesse an<strong>der</strong> Vielfältigkeit <strong>der</strong> Erscheinungen. Unablässigsucht <strong>der</strong> Polygraph seinen geistigenReichtum darzubieten. Er manövriertvom Für zum Wi<strong>der</strong>, er kreiert Ergänzungenund findet kaum ein Ende, so dass<strong>der</strong> Leser das Wesentliche oft erst selbst ausdem Komplex herausfinden muss.Zu den Erzählungen zählt beson<strong>der</strong>s Regretssur ma vieille robe de chambre (1772; vgl.auch die dt. Übers. von Enzensberger, 1994;vgl. auch Auszug in: Raupp, 2013, 130,Nr. 88), eine amüsante Betrachtung überden Luxus. Auf das Meisterwerk geht <strong>der</strong>„Di<strong>der</strong>ot-Effekt“ zurück, wonach <strong>der</strong> Kaufeines Gegenstands eine „Konsum-Kettenreaktion“auslöst, um ein passendes Gesamtbildzu schaffen.Bekannt wird auch die antithetische, balladeskeNovelle Les deux amis de Bourbonne(1773), die Di<strong>der</strong>ot Ende 1770 nachseinem Badeaufenthalt in Bourbonne verfasst.Sie erscheint 1772 zusammen mitseinem die gesellschaftliche Umwälzungankündigenden, moralischen Dialog Entretiend’un père avec ses enfants und denberühmten Idyllen des Schweizer DichtersSalomon Geßner sogar zuerst in deutscherSprache (Moralische Erzählungen undIdyllen). Als Hohelied <strong>der</strong> Freundschaft,das vom dunklen Schicksal und <strong>der</strong> Rechtschaffenheitzweier Männer berichtet, begeistertdie Erzählung mit ihrer Natürlichkeitund ihrer Romantik nicht zuletzt denSturm und Drang, beson<strong>der</strong>s Goethe undSchiller, <strong>der</strong> davon (vielleicht auch vomHausvater) möglicherweise literarisch beeinflusstwird (vgl. Eggli, 1921, 68-127;Saada, 1997, 23-39, u. bes. zusammenfassendAckermann, 2002, 113-143).Überhaupt hat auch Di<strong>der</strong>ot – und nichtnur <strong>der</strong> „göttliche Jean-Jacques“ Rousseau– durchaus die Stürmer und Dränger angeregt,auch wenn diese seine philosophischenSchriften ablehnen. Ja, sie suchenden Naturfreund Di<strong>der</strong>ot gleichsam zu naturalisieren(vgl. Goethe, Dichtung undWahrheit, Tl. 3 [1812/1813], in: WA, I, 28[1890], 64 [ 26 u. Anm. 37] wie bes.Saada, 1997, 23-39, u. Mortier, 1967, 156-168).Im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t werden Di<strong>der</strong>ots Erzählungenvor allem von Balzac geschätzt.Er erfreut sich beson<strong>der</strong>s an dem Stück Cecin’est pas un conte (1773), das von ent-Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot 43


täuschten Liebschaften handelt. In Deutschlandwird es jedoch weniger gelesen. Wenigerbekannt ist auch sein mit unruhigerFe<strong>der</strong> verfasster Essay Sur les femmes(1772; dt. Übers. von Enzensberger, 1994).Darin erweist sich <strong>der</strong> Frauenliebhaber –wie so oft – durchaus ambivalent: als ‚Kindseiner Zeit‘, das von „Betschwestern“spricht, aber auch als fortschrittlicher Aufklärer,<strong>der</strong> die Tyrannisierung <strong>der</strong> unterdrücktenFrau durch den Mann anprangertund die Aufwertung hinsichtlich <strong>der</strong> Bildungund ihres rechtlichen Status verficht.20. „WEIß MAN JE, WOHIN MAN GEHT?“Zu seinen bleibenden Werken gehören vorallem seine Romane. Sie sind beson<strong>der</strong>svon Samuel Richardson beeinflusst, demBegrün<strong>der</strong> des empfindsamen Romans(vgl. bes. Di<strong>der</strong>ots euphorisches StückL’Éloge de Richardson von 1762, das inDeutschland von Her<strong>der</strong> gelobt wird). Auchsie wenden sich <strong>der</strong> von großer Themenvielfaltgeprägten Lebenswirklichkeit zu un<strong>der</strong>schaffen blutvolle Gestalten und suchenvor dem Hintergrund des neu gewonnenenMenschenbildes die aufklärerischenMotive mit den Kräften des Gemüts und<strong>der</strong> Empfindsamkeit zu verknüpfen.Ständig die fragile menschliche Existenzin ihrem Zwiespalt zwischen Wirklichkeitund Ideal herausstellend, lassen die Romanedurchaus das Lebensgefühl <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne,ja schon <strong>der</strong> Postmo<strong>der</strong>ne durchscheinen.Stets wird <strong>der</strong> suchende Menschvon <strong>der</strong> Frage eingeholt: „Weiß man je,wohin man geht?“ (so die markante Fragein Jacques le fataliste; vgl. DPV, XXIII,1981, 23).Das vorherrschende stilistische Momentist <strong>der</strong> Dialog, <strong>der</strong> eine raumheischendeRolle einnimmt. Er bringt Di<strong>der</strong>ots dialektischeDenkweise zur Entfaltung undstellt eine Art Königsweg für die Wahrheitssuchedar. Der Autor meint immer dasGegenüber und vermag den Leser mittelsspielerischer Assoziation in den Diskurseinzubinden, in die chaotisch anmutende,jedoch schöpferisch gestaltete Verstrickung,und ihm die Beantwortung <strong>der</strong> vielfachaufgeworfenen Fragen zu überlassen.Der Konversationsstil wird von einerschwungvollen, dramatischen Lebendigkeitgetragen, welche die geschichtlicheRealität und Fiktion kunstvoll zu verwebenund in menippeisch-satirischer Weisedas Ernste mit dem Heiteren zu verbindenweiß. Zudem besitzt Di<strong>der</strong>ot, ähnlichwie in seinen Theaterstücken, Sinn für dasSzenische und Gestische.Zu seinen großen Romanen zählt die aufwühlendeKlostersatire La Religieuse (entst.um 1760, voll. 1780, ersch. 1796; DieNonne). Sie wird vom aufsehenerregendenProzess einer Ordensschwester 1758 angeregt,die vergebens um die Aufhebung<strong>der</strong> ihr aufgezwungenen Gelübde kämpft.In <strong>der</strong> Schil<strong>der</strong>ung tritt <strong>der</strong> Erzähler nichtnur als Vorkämpfer für die Freiheit desMenschen auf; er erweist sich auch alsfeinsinniger Psychologe, wenn er die Auswirkungendes <strong>der</strong> Natur wi<strong>der</strong>strebendenKlosterlebens mit seinen tiefen seelischenwie körperlichen Abgründen aufzeigt. Damitgeht eine in Bil<strong>der</strong>n des barocken Märtyrerdramasgekleidete scharfe Anklage gegendie Institution des Klosters einher, die,so Di<strong>der</strong>ot, <strong>der</strong> Gesellschaft lebensfroheMenschen entziehe und sie ihrem Selbstentfremde („Der Mensch ist für die Gesellschaftgeboren!“).Nach seinem Erscheinen wird <strong>der</strong> Romanin Frankreich als Bestätigung für die Aufhebung<strong>der</strong> Klöster und Orden (1790) angesehen.In Deutschland findet er in <strong>der</strong>44Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot


protestantischen Welt weitgehend Zustimmung,die sich darin in ihrer Ablehnunggegen die römisch-katholische Religionund das Mönchstum bestärkt sieht. AuchGoethe wie Schiller und Her<strong>der</strong> zeigen sichangetan.Im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t indes wird <strong>der</strong> Romanvon <strong>der</strong> Kritik zumeist als anstößig verrissen;im nachfolgenden Säkulum erlebt erneben Neuauflagen mehrere Verfilmungen.Eine neuere Inszenierung wird auch anlässlichvon Di<strong>der</strong>ots Jubiläumsjahr 2013 realisiert(dt.-franz.-belg. Produktion unter<strong>der</strong> Regie von Guillaume Nicloux).Auch im bereits erwähnten satirischenDialogroman Le neveu de Rameau (1762-1773; im Original 1891 erschienen), <strong>der</strong>an Horaz erinnert, wartet Di<strong>der</strong>ot mit Kritikauf und variiert zugleich zwischen nüchternerReflexion und Überschwänglichkeit.Die Handlung umfasst ein lebendiges Gesprächzwischen zwei komplementärenPersonen im Pariser Café de la Régence:zwischen einem Moralphilosophen wie angesehenenBürger („Moi“) und dem erfolglosenMusiker Jean-François Rameau(„Lui“), einem Neffen des berühmtenKomponisten und stadtbekannten Original.In beide Gestalten projiziert <strong>der</strong> Autor,gleichsam mit sich selbst streitend, seineigenes spannungsreiches Wesen undDenken.Der illusionslose wie konfuse Rameauverkörpert einen wahren Pulcinella. Erbeleuchtet die menschliche Natur, die stetszwischen egoistischem Luststreben undverantwortungsvoller Moral schwankt.Durch seine ständigen Wi<strong>der</strong>sprüche, mitdenen er die korrupte Gesellschaft desAncien Régime aller noch so eleganten Bemäntelungentkleidet, treibt <strong>der</strong> sensualistischePragmatiker und amoralische Materialistdie Wahrheit hervor und erweistsich solcherart als Spiegelbild <strong>der</strong> heuchlerischenGesellschaft. Angesichts <strong>der</strong> Fragilitätdes Lebens, seiner rätselhaften Verschlungenheitkann <strong>der</strong> philosophischeClochard schließlich den Rat erteilen: DieTugend sei nicht für alle Welt; und zudemsei die „Stimme des Gewissens“ sehrschwach, „wenn die Eingeweide schreien“(DPV, XII, 1989, 112). So sei es dasWichtigste, sein Geld für einen „gutenTisch, gute Weine [und] schöne Frauen“auszugeben (ebd., 81 f.).Von Klinger im St. Petersburger Di<strong>der</strong>ot-Nachlass entdeckt ( Anm. 40), gelangteine Abschrift des Romans dank SchillersVermittlung auf Umwegen zu Goethe,<strong>der</strong> ihn 1805 übersetzt. Diese Fassungwird 1821 ins Französische rückübertragen;1890 taucht dann überraschen<strong>der</strong>weisedas Originalmanuskript in Paris bei einemBouquinisten auf dem Quai Voltairewie<strong>der</strong> auf.In Deutschland erstrecken sich seine Nachwirkungenbeson<strong>der</strong>s zu Hegel, E.T.A.Hoffmann, Friedrich Engels, <strong>der</strong> vom„Meisterwerk <strong>der</strong> Dialektik“ spricht (<strong>der</strong>s.,1973, 202), bis zu Nietzsche. Berühmt gewor<strong>denis</strong>t beson<strong>der</strong>s Hegels Deutung inseiner Phänomenologie des Geistes (1807),die Rameaus Gesinnung, sein „Hohngelächterüber das Dasein“, als Ausdruckdes „zerrissenen Bewusstseins“ <strong>der</strong> aufbrechendenMo<strong>der</strong>ne (<strong>der</strong>s., 1974, 389,386) und als Übergang zu einer höherenBewusstseinsstufe versteht. In Frankreichindes findet das Werk erst im 20. Jahrhun<strong>der</strong>tgroße Beachtung ( 28.) undwird dann mitunter als das genialste Prosawerk<strong>der</strong> Aufklärungsepoche gewürdigt.Im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t wird es auch als Bühnenstückgefeiert (vgl. beson<strong>der</strong>s die vomrumänischen Regisseur David Esrig 1968geschaffene Inszenierung).Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot 45


Dialogisch ist auch <strong>der</strong> pikareske, sozialkritische„Anti-Roman“ Jacques le fatalisteet son maître (1765-1773/75, ersch.1796) gestaltet, womit sich Di<strong>der</strong>ot ebenfallsin die Weltliteratur eingeschrieben hat.Er ist beson<strong>der</strong>s von Laurence SternesTristram Shandy (9 Bde., 1759-1767)beeinflusst und bietet parodistische Anklängean Cervantes’ Don Quijote (2 Tle.,1605/1615) wie auch zahlreiche Liebesgeschichten.Zudem lässt er prophetischdie kommende Revolution aufblitzen.Vor allem aber geht <strong>der</strong> Verfasser heiterironischden Irrwegen des Lebens nachund durchmisst – dabei fast schon Kierkegaardvorwegnehmend – das Paradox <strong>der</strong>menschlichen Existenz. Dazu lässt <strong>der</strong>vielschichtige Dialog vor dem Hintergrund<strong>der</strong> Antinomie von Willensfreiheit und Determinismusim Miteinan<strong>der</strong> von Realitätund Schein immer wie<strong>der</strong> den dialektischenBezug von Wirklichkeit (Eingebundenseinin den alles bestimmenden Kausalzusammenhang)und Wahrheit (gewisser Spielraum<strong>der</strong> Entscheidungsmöglichkeit) aufleuchten.Dieser entpuppt sich als Fiktion:als eine Hervorbringung des menschlichenVorstellungsvermögens.Erprobt wird dieser Bezug anhand <strong>der</strong> sozialenBeziehung zwischen dem adligen,trägen Herrn und seinem pfiffigen KnechtJacques, die ohne erkennbares Ziel zuPferd durch Frankreich reisen (vielleichtvon Paris nach Langres). Jacques orientiertsich beson<strong>der</strong>s an Spinoza und verkörperteinen Vertreter des Naturrechtsund stoischen Fatalisten, <strong>der</strong> fortwährendvon einer Art himmlischer Schicksalsrolleredet: Alles, was uns begegnet, steht „daoben geschrieben“ (DPV, XXIII, 1981,23, u.ö.). Dennoch ist er durchaus initiativgesinnt und weiß seinen trägen Herrn,<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Freiheit spricht, nicht seltenin den Schatten zu stellen.Der in seinem Handlungsablauf chaotischanmutende Roman wartet fortwährend mitmancherlei Ereignissen auf, die wie<strong>der</strong>umAnlass zu neuen, verwirrenden (satirischen)Geschichten o<strong>der</strong> zu Kommentaren undideenreichen Gedankenfäden geben. Dieseverschlingen sich und entflechten sichwie<strong>der</strong> und umranken so den Fortgang <strong>der</strong>Erzählung. Ständig wechselt die Erzählperspektive– einzig <strong>der</strong> Zufall führt Regie.Auch <strong>der</strong> vierte Roman beeindruckt inDeutschland Literaten, Gelehrte und auchKünstler, wie<strong>der</strong>um beson<strong>der</strong>s Goethe undSchiller. Letzterer, von Di<strong>der</strong>ot die Komplexitätdes menschlichen Herzens lernend(so Fink, 1972, 249), pflückt daraus dieethisch motivierte Episode von Madamede La Pommeraye und übersetzt sie fürseine Zeitschrift Rheinische Thalia (1785). 26Die 1792 erscheinende Übertragung, die wie<strong>der</strong>um<strong>der</strong> französischen Erstausgabe vorausgeht,stammt von Wilhelm Christhelf SigmundMylius. Die Zensur streicht jedocheinige Passagen. Nicht nur in Frankreichist man vor dem Aufklärer auf <strong>der</strong> Hut!Auch Hegel, <strong>der</strong> Di<strong>der</strong>ot als Vorläufer <strong>der</strong>Revolution ansieht, zeigt sich beeindruckt.Er erkennt darin die Anfänge <strong>der</strong> dialektischenGeschichtsbetrachtung und empfängtAnregungen für seine in <strong>der</strong> Phänomenologiedes Geistes entworfene Dialektikvon „Herrschaft und Knechtschaft“(Kap. B.IV.A). Dies ist auch Karl Marx,<strong>der</strong> Di<strong>der</strong>ot als liebsten Prosaschriftstelleransieht, und Friedrich Engels nicht entgangen.Die Wertungen innerhalb <strong>der</strong> späteren literarischenKritik gehen weit auseinan<strong>der</strong>.Sie reichen von „Knäuel von ungereimtenGeschichten“ (vgl. Stackelberg, 1983, 96)bis zur Grundlegung des mo<strong>der</strong>nen Romans(so die Brü<strong>der</strong> Edmond und Jules46Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot


de Goncourt, die Di<strong>der</strong>ot überhaupt als„erstes Genie des neuen Frankreich“ feiern[Tagebuch, 11.4.1858, zit. n. dens.,1888, 234]). Auch im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t findet<strong>der</strong> Roman Wi<strong>der</strong>hall: unter an<strong>der</strong>embei Samuel Beckett wie auch beim DDR-Autor Volker Braun (Hinze-Kunze-Roman,1985) und Hans Magnus Enzensberger(1994). Überdies erlangt er Eingangins Theater (u.a. durch Milan Kun<strong>der</strong>a[1971 u.ö.]) und in die Oper (GeorgisAperghis, 1974).21. WEGBEREITER DER DEMOKRATIEDie frühen 1770er-Jahre markieren denBeginn von Di<strong>der</strong>ots Alterswerk. Dankseiner Volubilität revidiert o<strong>der</strong> modifiziert<strong>der</strong> unruhige Kopf nunmehr viele seinerAnsichten ( 15.). Sein (politischer) Fortschrittsoptimismushatte sich schon seitlangem spürbar abgeschwächt. Je länger,je mehr ist er von den gesellschaftlichenMissständen ernüchtert, und überhauptschwindet seine Hoffnung von <strong>der</strong> breitenDurchsetzung <strong>der</strong> Aufklärung mehr undmehr. Bereits 1755 hat er das furchtbareErdbeben von Lissabon ganz im Unterschiedzu seinen vom optimistischen Deismus getragenenZeitgenossen stoisch gelassen hingenommen(vgl. Wilson, 1972, 247).Im Alterswerk tritt das politische Momentvermehrt in Di<strong>der</strong>ots Blickpunkt. Er verfasstnunmehr auch politische Schriftenund kommt mit europäischen Regenten inBerührung. Nach zwischenzeitlichen Zugeständnissendem aufgeklärten Absolutismusgegenüber kann er als entschiedenerVerfechter <strong>der</strong> „vernünftigen Ordnung“<strong>der</strong> Demokratie die politische Frage eindeutigbeantworten, wobei er vor allem in<strong>der</strong> Tradition Lockes und Montesquieussteht. So entwirft er ganz im Sinne <strong>der</strong>Aufklärung ein demokratisches Staatskonzept,das er auf dem Naturrecht und <strong>der</strong>Vertragstheorie, dem „Kontraktualismus“,und dem davon abgeleiteten Gesellschaftsvertrag(„contrat social“) aufbaut. Es löstden christlich fundierten Autoritätsglaubenan Gottesgnadentum ab und setzt an seineStelle die Souveränität des Volkes samtihren moralischen und institutionellenRechtsordnungen. 27Derartige Vorstellungen unterbreitet er auch<strong>der</strong> aufgeklärt-absolutistischen HerrscherinKatharina II. <strong>der</strong> Großen. Sie sucht dasRussische Reich für das mo<strong>der</strong>ne Europazu öffnen, sie regiert jedoch ihr Landmit eiserner Faust. 1765 kauft sie Di<strong>der</strong>otsBibliothek und stellt ihn als kommissarischenBibliothekar und „Kulturbeauftragten“in Paris an. Damit ist er <strong>der</strong> finanziellenSorgen weitgehend enthoben und kannseiner Tochter eine ansehnliche Aussteuervermachen. Er hat sich damit jedoch indie Abhängigkeit <strong>der</strong> Zarin begeben.Trotz seiner inneren Distanz besucht Di<strong>der</strong>ot– nunmehr sechzig Jahre alt – im Winterhalbjahr1773/1774 nach langem Zau<strong>der</strong>nKatharina in St. Petersburg. 28 Seineerste und einzige Auslandsreise, die insgesamtvon Juni 1773 bis Oktober 1774währt, führt ihn über Den Haag, zum FürstenDmitrij Alekseeviè Golicyn (Galitzin),auch nach Deutschland. Dort kommt erzunächst mit dem betuchten GefühlsphilosophenFriedrich Heinrich Jacobi inPempelfort am Rheinufer (bei Düsseldorf)zusammen. Dieser schreckt vor seineratheistischen Weltsicht zurück. Jahre späterwird sich sogar Goethe noch an dasGespräch <strong>der</strong> beiden und an den „heftigenDialektiker“ erinnern (<strong>der</strong>s., Campagnein Frankreich 1792, in: WA, I, 33 [1898],194).Über Duisburg, Pa<strong>der</strong>born und Kassel eilt<strong>der</strong> „philosophe“ sodann Anfang Septem-Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot 47


er 1773 nach Leipzig, wo er für einigesAufsehen sorgt: Im großen Kreis von Professorenund Kaufleuten predigt er „mit<strong>der</strong> Hitze eines Schwärmers“ über Atheismusund Materialismus (so <strong>der</strong> protestantischePastor Georg Joachim Zollikofer,ein beliebter Kanzelredner <strong>der</strong> Aufklärungszeit).Der Geistliche weiß den schnellsprechenden,französischen Gast aber auchzu loben, beson<strong>der</strong>s wenn er über die„schönen Künste und Wissenschaften“spricht. Und überdies erkennt er seinen„leidenschaftlichen“ wie „empfindungsvollen“Charakter; er besitze ein „menschenfreundlichesWesen“ und ein „gutesHerz“, das aber zugleich „Spuren vonheimlicher Unruhe“ verrate (Briefwechsel,Garve-Zollikofer, 1804, 102-07).Diese Unterscheidung ist überhaupt symptomatischfür das Gros <strong>der</strong> deutschenGelehrten des 18. und frühen 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts.Weitgehend schätzen sie den Menschen,den Kunstkritiker, Dramatiker, densie gar adoptierten, und Romancier Di<strong>der</strong>ot,seine atheistische Philosophie lehnensie jedoch ab. Die konservative deutscheSeele vermochte sich höchstens zu einemDeismus aufzuschwingen.Im Oktober 1773 am Zielort angekommen,führt Di<strong>der</strong>ot mit <strong>der</strong> Zarin fast täglichGespräche, die mit ihm ihr Renommee inEuropa aufpolieren will. Er unterbreitet ihrein von sozialen Reformen getragenes Regierungs-und Bildungsprogramm, das aufdie Schaffung einer bürgerlichen Mittelklassevon aufgeklärten und tugendhaftenBürgern abzielt (vgl. Bildungsplan, 1971).Dabei lässt er sich zunächst von ihrem vermeintlichenReformwillen beeindrucken,schließlich nimmt er jedoch den „Gestankvon Despotismus“ wahr (Nakaz, in: OV,III [1995] 508). 28Und dann verschlägt es dem wortgewaltigenPhilosophen vollends die Sprache, alsdie Gastgeberin ihm nach zahlreichen Unterredungenabrupt entgegnet: „Sie arbeitennur auf Papier, und das ist immer geduldig– während ich als arme Zarin diemenschliche Natur bearbeite“ (zit. n. Ségur,III [1827], 35). Der Fürstenberater Di<strong>der</strong>otfühlt sich gedemütigt, er ist gescheitert. Umden Besuch, <strong>der</strong> europaweit Interesse erweckt,ranken sich Anekdoten und Schwankgeschichten,die ihn zumeist in ein dunklesLicht rücken (vgl. bes. Sacher-Masoch,1873).Gesundheitlich sehr angeschlagen, tritt erim März 1774 die Rückreise an. Sie führtihn über Königsberg (wo er offensichtlichnicht mit Kant zusammentrifft) nachHamburg, wo er den Musikdirektor CarlPhilipp Emanuel Bach kontaktiert. DieFahrt gestaltet sich recht abenteuerlich:gleich drei Kutschen gehen zu Bruch; bei<strong>der</strong> Überquerung <strong>der</strong> Dwina verliert er fastsein Leben.Die Einladung des Preußenkönigs FriedrichsII. hatte er ignoriert und um Potsdameinen Bogen gemacht. Der „roi philosophe“und <strong>der</strong> „philosophe“ werden keine Freunde.Di<strong>der</strong>ot tritt ihm bereits 1771 mitharschen Worten im Traktat Pages contreun tyran (erst 1937 veröff.) entgegen.Auch Friedrich kritisiert den „Angestellten“seiner alten Rivalin Katharina wieauch die Enzyklopädisten mehrfach. Anfangsmit ihnen sympathisierend, bezeichneter sie angesichts ihrer republikanischenund pazifistischen Ideen als „Köter“, dieman ruhig „blaffen“ lassen könne (<strong>der</strong>s.,Totengespräch [1773], in: 1913, 247).Vor allem nach seiner Rückkehr aus <strong>der</strong>russischen Hauptstadt kämpft <strong>der</strong> humanistischeFreidenker mit offenem Visier fürFreiheit und Demokratie. Fortan weiß ersich endgültig zum Anwalt des „Dritten48Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot


Standes“ („le tiers état“) bestellt, <strong>der</strong> sichja vor allem aus dem Bauernstand zusammensetztund gegenüber den oberen Ständenvon Adel und Klerus die Last des Landeszu tragen hat. So greift er in seinenObservations sur le Nakaz von 1774, einemkritischen Kommentar zu KatharinasGesetzesentwurf von 1767, beson<strong>der</strong>s aufseine bereits in <strong>der</strong> Enzyklopädie dargelegtenÜberlegungen zurück und stelltgleich zu Beginn klar: „Es gibt nur einenwahren Herrscher: die Nation“ (DPOL,1963, 343 [I.]).Und seine Stimme wird immer lauter! Erkann schließlich, sich am Vorbild <strong>der</strong>Amerikanischen Revolution (1763-1783)orientierend, das Recht auf Wi<strong>der</strong>standund zur Revolution verteidigen, die denrepressiven Feudalismus beseitigen undeine Republik heraufführen solle. Und diesezeichne sich am Horizont ab, den Di<strong>der</strong>otbereits 1772 in seiner berüchtigtenDithyrambe Les Éleuthéromanes ou lesfurieux de la liberté zu sehen meint. Darinschwingt er sich wie<strong>der</strong>um zum Kün<strong>der</strong>einer neuen Zeit auf: „Freiheit heißt [desVolkes] Schrei“. Das Gedicht wird vorallem aufgrund <strong>der</strong> beiden drastischenVerszeilen bekannt werden, die er von JeanMeslier entlehnt:„Und seine Hände würden die Därme des Priestersflechtenin Ermangelung eines Stricks, womit man dieKönige erdrosseln könnte“(veröff. 1797, zit. n.: AT, IX, 1875, 15, Str. 3;16, Str. 4).Schließlich wendet sich Di<strong>der</strong>ot auch wirtschaftspolitischenFragen zu. Anfangs einephysiokratisch orientierte Position beziehend,die auf <strong>der</strong> Vorstellung einer gütigenNatur und ihrer ökonomisch-liberalenAusrichtung gründet, lässt er sich sodannvom befreundeten Abbé FerdinandoGaliani belehren und vertritt das Konzepteines „öffentlichen Nutzens“ (vgl. die Apologiede l’abbé Galiani von 1770, in DPOL,1963, 69-124). Dabei verweist er ganz imInteresse des allgemeinen Wohls auf dennatürlichen Kreislauf von Agrikultur undManufaktur, <strong>der</strong> durch einen uneingeschränktenWirtschaftsliberalismus blockiertwerde (vgl. Lepape, 1994, 341-50).22. KRITIKER DES KOLONIALISMUS – „ER ISTDEIN BRUDER“Ein weiteres wichtiges Thema steht in diesenJahren auf Di<strong>der</strong>ots Agenda: <strong>der</strong> Kolonialismus.Diesen hat er zunächst imEssay Supplément au voyage de Bougainville(entst. 1772/75, CL 1773/74; ersch.1796) harsch kritisiert. Zugleich sucht erdarin seine radikalen politischen Ansichtenmit <strong>der</strong> Utopie zu verbinden und lässtanarchistische Vorstellungen anklingen.Anlass zur Rezension ist <strong>der</strong> aufsehenerregendeReisebericht des Seefahrers Louis-Antoine de Bougainville, <strong>der</strong> von 1766 bis1769 die Welt umsegelt hatte: Voyageautour du monde (2 Bde., 1771).Di<strong>der</strong>ot zeichnet ein durchaus sympathischesBild vom glücklichen Naturzustand<strong>der</strong> Tahitianer und ergreift leidenschaftlichPartei für die vom expandierenden christlichenEuropa bedrohten „Naturvölker“.Deren „natürliche Moral“, so <strong>der</strong> Rezensent,sei keineswegs (wie man aus BougainvillesSchil<strong>der</strong>ung entnehmen könne) vom zügellosenHedonismus bestimmt, son<strong>der</strong>ngründe auf <strong>der</strong> physischen Realität, auf<strong>der</strong> strengen Anpassung des Einzelnen andie Erfor<strong>der</strong>nisse <strong>der</strong> Allgemeinheit.Dieser Gesellschaft <strong>der</strong> ‚natürlichen Notwendigkeit‘stellt <strong>der</strong> Aufklärer schließlichdie europäisch-zivilisierte Kultur entgegenmit ihren von staatlicher Tyrannei undAufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot 49


christlichen Idealvorstellungen eingeengtenSitten und Gesetzen, die naturwidrigund wi<strong>der</strong>vernünftig seien. Seine Verteidigungmündet in <strong>der</strong> Vorstellung, wonachdas Glück des Menschen letztlich aus <strong>der</strong>Übereinstimmung von Moral und Gesetzmit <strong>der</strong> Natürlichkeit hervorgehe: aus <strong>der</strong>ursprünglichen Einfachheit, die alle künstlichenNormen des unter Zwiespalt leidendenzivilisierten Menschen entlarve.Eine ausführliche Fortsetzung <strong>der</strong> Di<strong>der</strong>ot’schenKolonialismuskritik findet sichschließlich in <strong>der</strong> vom befreundeten Guillaume-ThomasRaynal herausgegebenenHistoire des deux Indes (1770, 6 Bde.,1774 2 , 7 Bde.; 1780 3 , 10 Bde., Suppl., 2Bde., 1826). Das in seiner dritten Auflagenahezu 3.500 Seiten umfassende heterogeneWerk nimmt das im aufklärerischenZeitalter aufblühende Interesse an <strong>der</strong>überseeischen Welt mit den sich daran anknüpfendenutopischen Entwürfen auf undprangert die ausbeuterische Herrschaft <strong>der</strong>europäischen (christlichen) Mächte in denKolonien in Übersee an. 29Die Kolonialenzyklopädie richtet ihrenBlick beson<strong>der</strong>s auf die Zerstörung desamerikanischen Kontinents und spanntden Bogen vom versklavten Plantagenarbeiterhin zum verarmten französischenBauern. So verweist sie – ähnlich wie bereitsdas von Di<strong>der</strong>ot im Nachtrag gezeichneteGegenbild von Tahiti – mittelsGeographie- und Weltgeschichte auf dasAncien Régime mit seinen himmelschreiendenfeudalen Missständen. Schließlichzieht sie auf allen Kontinenten eine vernichtendeBilanz: Die Entdeckung <strong>der</strong>Welt sei „ein Unglück für die neu entdeckteWelt, aber auch für Europa selbst“. Mitdiesem harschen Urteil stellt sie den „Höhepunkt<strong>der</strong> Kolonialismuskritik im 18.Jahrhun<strong>der</strong>t in Frankreich“ dar (Heyer,2004, 415).Raynals wichtigster Mitarbeiter ist Di<strong>der</strong>ot,<strong>der</strong> beson<strong>der</strong>s für die maßgebliche dritteAuflage etwa 270 Beiträge verfasst. Nebenethnographischen Beschreibungen, bes.von Russland und China, schreibt er vorallem die zentralen geschichtsphilosophischenKommentare des Werks und lässteine Vielfalt von Themengebieten einfließen,wie Entdeckungsgeschichte, Kulturund Religion o<strong>der</strong> auch Wirtschaft. Mit denradikal-prophetischen Beiträgen übt er einenweitreichenden Einfluss aus und erweistsich einmal mehr als Vorläufer <strong>der</strong>Revolution. Ihre führenden Köpfe beriefensich ab 1789 auf die Di<strong>der</strong>ot’schen Ausführungen,ohne allerdings den wahren Urhebergenau zu kennen, den Gegner Rousseaus,auf den sich die Jakobiner ja beson<strong>der</strong>sberiefen (vgl. bes. Heyer, 2004, 421).Ähnlich wie die Encyclopédie entfachtdieses Werk heftigen Wi<strong>der</strong>stand und landet1781 als „gottloses Werk“ auf demScheiterhaufen. Dennoch erlebt es mit über70 (!) Auflagen und zahlreichen Übersetzungeneinen grandiosen Erfolg und avancierteuropaweit zu einem <strong>der</strong> meistgelesenenBücher im Zeitalter <strong>der</strong> Spätaufklärung(vgl. Lüsebrink, in: HD-dt2, 329-344). Auch Napoleon zählt zu seinen Lesern.Treffend charakterisiert <strong>der</strong> französischeAutor Antoine de Rivarol es als revolutionäresBuch, das „die Mächte Europasvor das Tribunal <strong>der</strong> Menschheitzitiert“ (<strong>der</strong>s., 1783, zit. n. <strong>der</strong>s., Œuvrescomplètes, 1808, 66).Der Aufklärer tritt nicht nur als leidenschaftlicherFreiheitskämpfer hervor, <strong>der</strong>das Recht <strong>der</strong> unterdrückten Völker zumWi<strong>der</strong>stand verteidigt; er erweist sich darinauch als Ethnograph, <strong>der</strong> manche Vorurteileseiner (aufklärerischen) Zeit übernimmt.So kann er, trotz seines betonten50Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot


Respekts vor an<strong>der</strong>en Kulturen die rationaleElle anlegend, mit (identitätsstiftenden)Mythen oft nur wenig anfangen undkritisiert unter an<strong>der</strong>em die jüdische Tradition(vgl. Blom, 2005, 343 f.).Dennoch sieht er alle Menschen als Teileiner großen Familie an. Für sie entwirfter sogar eine kühne Vision: dass sich unterm„Schutz <strong>der</strong> Philosophie einst voneinem Ende <strong>der</strong> Welt bis zum an<strong>der</strong>n jeneKette <strong>der</strong> Eintracht und Wohltätigkeit verbreitet,welche alle gesitteten Nationen miteinan<strong>der</strong>verbinden soll“ (HDI-dt1, X [1788],19. Buch, Kap. 15, 398).23. DIE SPÄTEN JAHREDie strapaziöse Russland-Reise hat Di<strong>der</strong>otaltern lassen, so dass er in seinem letztenLebensjahrzehnt kränkelt und sichmehr und mehr zurückzieht. Immerhin gestaltetsich seine Ehe wie<strong>der</strong> freundlicher.Noch immer schwankt er zwischen Euphorieund Depression; tagelang verfällt er inMelancholie und zweifelt an seinem Lebenswerk,er fühlt sich wie ein „geprügelterHund“. Vor allem ist er über die mangelndeAnerkennung seitens <strong>der</strong> (französischen)Gelehrtenwelt betrübt. Der interdisziplinäreWissenschaftler und Herausgeber<strong>der</strong> Enzyklopädie wird zwar vonvielen bewun<strong>der</strong>t – <strong>der</strong> dialektische Querdenker,<strong>der</strong> Exzentriker und Atheist wirktjedoch auf manche akademische Zeitgenossenbefremdend (vgl. bes. Trousson,2005, 599-626).Gleichwohl ist ihm die Begeisterung fürdie Welt des Geistes nicht abhanden gekommen.In einem Journalbericht einesSchriftstellers, <strong>der</strong> ihn zuhause besucht,heißt es: Er sei <strong>der</strong> Erde entrückt und rezitiereantike Autoren, wie er auch ein ausdem Stegreif komponiertes Lied „vollerAnmut“ darbiete (vgl. Garat, in: Mercurede France, 1779, 173 f.).Unermüdlich überarbeitet Di<strong>der</strong>ot für dieNachwelt etliche seiner Schriften und entwirftneue, unter an<strong>der</strong>em die Elémentsde physiologie (1774-1781, veröff. 1875).Den Faden von Le Rêve de d’Alembertaufnehmend, gestaltet er sein naturalistischesMenschenbild weiter aus und bringtwie<strong>der</strong>um Erkenntnisse <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Naturwissenschaftenzur Sprache, wenn eretwa den „Affen“ als „Mittler zwischendem Menschen und den an<strong>der</strong>en Tieren“ansieht (DPV, XVII, 1987, 326). Lebenund Tod versteht er als eine Art Abbildungeiner Illusion: Wir erfassen lediglichden Schatten, aber nicht die Realität. Seineernüchternden Überlegungen enden mit<strong>der</strong> stoischen Maxime: „Es gibt nur eineTugend, die Gerechtigkeit, und nur einePflicht, glücklich zu sein, und nur eineFolgerung: sich aus dem Leben nicht allzuviel zu machen und den Tod nicht zufürchten“ (DPV, XVII, 1987, 516; vgl.auch Raupp, 2013, 139, Nr. 100).Sein letztes großes Werk ist <strong>der</strong> Essai surles règnes de Claude et de Néron, et surles mœurs et les écrits de Sénèque von1782 (2 Tle., kürz. Fass. 1778). Der Liebhaber<strong>der</strong> Antike prangert darin zum einen– die taciteische Geschichtsdarstellung <strong>der</strong>Cäsaren Claudius und Nero auf die französischenRegenten seines Jahrhun<strong>der</strong>tsübertragend – wie<strong>der</strong>um das korrupteAncien Régime an und for<strong>der</strong>t eine demokratischeGesellschaftsform; zum an<strong>der</strong>enstellt er Seneca dar, den römisch-stoischenGelehrten und Erzieher Neros, undverteidigt behutsam dessen ethische undpolitische Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit.Damit bringt Di<strong>der</strong>ot sich selbst ins Spielund ist bemüht, seine politische Hypothekabzutragen. Er sucht sich in Seneca wi<strong>der</strong>zuspiegeln,um sein eigenes zukünftiges BildAufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot 51


etwas zu erhellen, aber auch mit seinemschlechten Gewissen abzurechnen. Wiedieser steht auch er im Dienst einer despotischenMacht und hat gegenüber <strong>der</strong>großzügigen Katharina eine mitunter zwiespältigeHaltung eingenommen.Und so zieht <strong>der</strong> zweifelnde Philosoph dieSumme seines Lebens und geht in die Offensive.Unverhohlen antwortet er seinenKritikern, beson<strong>der</strong>s Rousseau: Dieser habe„gut geschrieben“, er sei jedoch ein „verdorbener“Mensch (DPV, XXV [1. Tl., §61], 1986, 120). Rousseau hingegen sprichtin seinen Confessions (2 Tle., 1782 u.1789) von einer schändlichen Verschwörungseitens Di<strong>der</strong>ots und seiner Freundegegen ihn, wobei er mit zahlreichen Schmähungengegen den Holbach-Kreis aufwartet.Diesen bezeichnet er gar als eine „Rotte“(„Coterie holbachique“) (Rousseau,II, 2012, 539 u.ö.). 30 Das berühmte Werkhat auch in Deutschland die Kritik an <strong>der</strong>Encyclopédie und <strong>der</strong> (radikalen) französischenAufklärung verstärkt, nachdem jaRousseau in den Jahren zuvor das deutschePublikum begeistert hat.Die „Seneca-Schrift“ findet ein geteiltesEcho, fast hätte es den greisen Philosophenin die Bastille gebracht. Auch in Deutschland,wo sie 1783 übersetzt wird, bringtsie verschiedene Meinungen hervor. Nachanfänglicher Kritik heißt beson<strong>der</strong>s Her<strong>der</strong>sie willkommen. Ähnlich urteilen auchWilhelm von Humboldt, <strong>der</strong> mit Di<strong>der</strong>otsTochter in Kontakt steht, und <strong>der</strong> liberale,schwäbische Publizist Wilhelm LudwigWekhrlin (vgl. seinen Aufsatz Rousseauund Di<strong>der</strong>ot in seiner Zeitschrift DasGraue Ungeheuer, 1784, in dem er Di<strong>der</strong>otverteidigt und Rousseaus übersteigertenGeltungsdrang anprangert; vgl. auchMortier, 1967, 169-180).Seit dem Sommer 1781 schreitet Di<strong>der</strong>otskörperlicher Verfall zusehends voran, zuweilenwird er wirr im Kopf. Die Ehefrauund Tochter stehen ihm treu an <strong>der</strong> Seite.In diesem Jahr sind bereits mehrere seinerWeggefährten nicht mehr am Leben,unter an<strong>der</strong>em Voltaire. Dieser war im Februar1778 nach dreißig Jahren nach Pariszurückgekehrt, wo er dank <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ungdes politischen Klimas und einergroßen Anhängerschar einen grandiosenTriumphzug erlebt, ehe er dann am 30. Maierschöpft stirbt. In diesen vier Monatenist vagen Quellen zufolge Di<strong>der</strong>ot dem 83-jährigen Greis möglicherweise zum einzigenMale begegnet, wobei sie über Shakespearediskutiert haben sollen. 3124. „FLÖTENKONZERT DER NACHWELT“1772 erscheint eine erste Werkausgabe vonsechs Bänden in Amsterdam (vgl. BŒDD,I, 77-82). Aber noch immer liegen Manuskriptein <strong>der</strong> Schublade. Um 1830 liegtdann endlich ein Großteil <strong>der</strong> Di<strong>der</strong>ot’schenSchriften vor (vgl. Wilson, 1972, 415).Weitere sollten in den folgenden Jahrzehntenund sogar noch im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t aufverschlungenen Wegen ans Licht treten,wie das Dialogstück Mystification ouhistoire des portraits (1951/1954).Bei all seinem Sinnieren blickt <strong>der</strong> Atheist,<strong>der</strong> die christlich-mythische Vorstellungauf ein ewiges Jenseits schon langeabgestreift hat, sehnsüchtig auf die Nachwelt.Sie sei, so Di<strong>der</strong>ots große Hoffnung,<strong>der</strong> primäre Adressat seiner Werke undwerde ihn – wann auch immer – besserverstehen und ihm das verdiente Lob zukommenlassen. Diese Erwartung war ihmbereits 1759 in seiner großen Lebenskriseerwachsen, nachdem <strong>der</strong> Tod seines Vaters,seines großen Urbilds, und das abermalsdrohende Aus <strong>der</strong> Encyclopédie einendüsteren Schatten auf sein Leben ge-52Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot


worfen haben. Fortan sieht er vor seinemgeistigen Auge seine innerweltliche Verewigungheraufziehen und vernimmt des Nachtsin <strong>der</strong> „Tiefe [des] Herzens“ zuweilen eintrostreiches „Flötenkonzert“ <strong>der</strong> Nachwelt(Brief an Falconet, Dez. 1765, in: DPV,XV, 1986, 3 f.).Er vermag, wie es Wilson zutreffend umschriebenhat, einen pietätvollen „Appellan die Nachwelt“ („Appeal to Posterity“)zu richten 32 , sie als „heilige […] Stütze“<strong>der</strong> „Unglücklichen und Bedrängten“ zubeschwören; sie sei für „den Philosophendas, was das Jenseits für den religiösenMenschen“ – sein einziger „Trost“ (ebd.,Febr. 1766, in: ebd., 33). Die Beschäftigungmit dieser großen Erwartung wirdfür ihn fast zur Obsession. 33Das Ende seines Lebens zeichnet sich imFebruar 1784 ab. Er erbricht Blut, erleideteinen Schlaganfall und wird zunehmendvon <strong>der</strong> Hydropsie geplagt. Bis zuletztist seine Leidenschaft nicht erloschen.Davon weiß auch <strong>der</strong> deutsche DiplomatBasilius von Ramdohr in einem <strong>der</strong> letztenZeugnisse über den Aufklärer zu berichten:„Ich habe nur noch die letzten Funken,den letzten Dampf dieses Vulkans gekannt,aber ich kann mir denken, was ergewesen ist, als er noch in Flammen ausschlug!“(zit. n. Mortier, 1967, 35).Mitte Juli 1784 zieht er von <strong>der</strong> Rue Taranne(wo er seit 1754 gewohnt hat) in dieRue de Richelieu, unweit vom Jardin Royalund vom Louvre, in eine komfortableWohnung, die Katharina II. für „ihren Bibliothekar“gemietet hat. Jene kann er abernicht mehr lange genießen. Am 31. Julischließt <strong>der</strong> Tod ihm im Alter von 70 Jahrendie Augen. Einen Tag später wird <strong>der</strong>Atheist beigesetzt, fast unbemerkt von <strong>der</strong>Öffentlichkeit. Immerhin sind fünfzig von<strong>der</strong> Familie engagierte, sangeskräftige Priesterzugegen, die <strong>der</strong> Feier einen frommenSchein verleihen. In <strong>der</strong> Kirche Saint-Rochfindet er in <strong>der</strong> Chapelle de la Vierge seineletzte Ruhestätte (vgl. Trousson, 2005,620-24). Diese wird in den Wirren <strong>der</strong> Revolutionverwüstet und ist heute nicht mehrauffindbar.Wie bei großen Geistern üblich ranken sichum seinen Tod vage Berichte und Legenden.So soll er etwa noch kurz vor seinemTod seine philosophischen Schriften wi<strong>der</strong>rufenhaben (so die kirchliche Propaganda)und sogar nach Kuba ausgewan<strong>der</strong>tsein. Seine „letzten Worte“ sollen gelautethaben: „Der erste Schritt hin zur Philosophie– das ist <strong>der</strong> Unglaube“ (Vandeul, in:Mémoires, 1787, in: DPV, I, 1975, 34; vgl.auch Raupp, 2013,92, Nr. 17). 3425. „EIN FUNKENSPRÜHENDER KOPF“Der Aufbruch in ein neues Zeitalter ließsich nicht mehr aufhalten. Fünf Jahre solltennoch vergehen, ehe das gewaltige Erdbeben<strong>der</strong> Revolution das morsche AncienRégime hinwegfegte und Europa in dasZeitalter <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne katapultierte. DieseEpoche hatte Di<strong>der</strong>ot in seinem Werk erahntund auch antizipiert.Er zählt zu den großen Unruhestiftern seinesJahrhun<strong>der</strong>ts, das er – das ganze Spannungsfeldzwischen „raison“ und „sentiment“durchlaufend – mit all seinen Wi<strong>der</strong>sprüchenund Neuerungen in seinemKopf trug (vgl. den vielzitierten AusspruchEmile Faguets, in: <strong>der</strong>s., 1900, 227). Ähnlichheißt es bei Ernst Cassirer, Di<strong>der</strong>othabe „unter den Denkern des achtzehntenJahrhun<strong>der</strong>ts vielleicht den feinsten Spürsinnfür alle geistigen Bewegungen undWandlungen <strong>der</strong> Epoche“ besessen (<strong>der</strong>s.,2003, 76). So wurde er <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nste <strong>der</strong>französischen Autoren in seinem Säkulumund dessen „universalste, impulsivste, fun-Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot 53


kensprühendste Gestalt […], ein Beflüglerund Befreier“ (so <strong>der</strong> deutsch-französischeLiterat Robert Min<strong>der</strong>, 1966, 34) Alssolcher hat er in seinem dialektischen Denkengleichsam Voltaires leuchtende Geistesschärfeund Rousseaus Empfindsamkeitzusammengeführt.Sein imposantes Œuvre umfasst etwa 164Werke und Kritiken (so Trousson) und istvon einem „wun<strong>der</strong>lichen Schicksal“ geleitet(so David Adams, seine historischkritischeDi<strong>der</strong>ot-Bibliographie eröffnend,in: BŒDD, 9). Es ist zudem, wie unserStreifzug zeigte, von außerordentlicherVielfalt geprägt, die auf den ersten Blicketwas verwirrend erscheinen mag. Darinspiegelt sich gewissermaßen sein ästhetischesModell einer mannigfaltigen Einheitwi<strong>der</strong>. In ihr wird Di<strong>der</strong>ot als dialektischerwie auch assoziativer Philosoph vernehmbar,<strong>der</strong> um die lebendige, sich fortwährendwandelnde Einheit aller Dinge wusste– eine bunte, vernetzte Einheit, die er inorigineller Weise bereits in <strong>der</strong> enzyklopädischenVerknüpfung aller Wissenszweigezum Ausdruck gebracht hatte.Die damit einhergehende schillernde Wandlungsfähigkeit,in <strong>der</strong> Di<strong>der</strong>ot lebenslangseine Identität suchte, ließen ihn seiner Zeitweit vorauseilen. Der innerlich zerrissene,facettenreiche Genius – er war klassischund mo<strong>der</strong>n: ein Mensch seines Jahrhun<strong>der</strong>ts,aber auch einer an<strong>der</strong>en, kommendenZeit. So wurde er eine Symbolgestaltdes Fortschritts, ein Vorkämpfer <strong>der</strong> bürgerlich-humanistischenMo<strong>der</strong>ne, ja überhaupteiner ihrer markanten Prototypen.Und zugleich war <strong>der</strong> „philosophe“ dankseiner jugendlichen Begeisterung und seinesBienenfleißes einer <strong>der</strong> letzten Universalgelehrten,die das <strong>info</strong>lge <strong>der</strong> sich rapideausbreitenden Naturwissenschaften explodierendeWissen noch zusammenzuhaltensuchten. Und dabei kannte er keineGrenzen! Fast erscheinen Voltaire o<strong>der</strong> garLeibniz, <strong>der</strong> Inbegriff des Polyhistors, ihmgegenüber als einfache Fachgelehrte. Ersteht jedoch wie manch an<strong>der</strong>er universellerKopf auf keinem Gebiet an ersterStelle. Die Ausrichtung auf die Breite desDenkens musste freilich zum Verlust <strong>der</strong>Tiefe führen. Gleichwohl hat er mit seinemimmensen Ausholen ein weites Feldbestellt, dessen Früchte erst recht spätzum Vorschein kamen.26. DIE NACHWIRKUNG – „ALLES DARIN“Als Enzyklopädist wie als Atheist und umstrittener,zweitklassiger Autor bekannt, besaßDi<strong>der</strong>ot bei <strong>der</strong> frühen Nachwelt wenigergute Karten. Lediglich ein Teil seinerWerke war veröffentlicht, <strong>der</strong> nur einfragmentarisches Bild von ihm abgab. Undso war das Echo nach seinem Tod in denkurzen Nachrufen in seinem Heimatlandzumeist negativ gestimmt; sein Werk konntegar dem „Jargon <strong>der</strong> Quacksalber“ zugerechnetwerden (Denzel de Tirado, 2008, 38;vgl. überhaupt Rodgers, 1973, u. Trousson,1997). Fast erregte er im Ausland eine größereAufmerksamkeit und Zustimmung.So bezeichnete ihn das Altonaer PolitischeJournal wehmütig als „Genie“, das„zur Aufklärung von mehr als ein PaarMillionen Menschen“ beigetragen habe(ebd., Bd. 4, 1784, 812).Während <strong>der</strong> Revolutionszeit und in denfolgenden Jahren <strong>der</strong> Contre-Révolutionerlebte <strong>der</strong> „philosophe“ auch dank <strong>der</strong>von seinem Schüler Jacques André Naigeon1798 edierten 15-bändigen Gesamtausgabe(ŒDD, vgl. auch BŒDD, I, 98-109)eine kleine Renaissance. Sie fand auch denWeg nach Deutschland, und 1799 erschiensogar ein Auszug von fünf Erzählungen.Jedoch machten nicht zuletzt seine 179654Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot


erschienenen radikalen Éleuthéromanesihn (und die Enzyklopädisten) für die Exzesse<strong>der</strong> Revolution mitverantwortlich. Inkonservativen Kreisen wurde er etwa als„enfant perdu“ („verlorengegangenesKind“) angesehen (so Augustin Barruel,I, 1797, 25).Ebenso tat sich Frankreich im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t,dem Zeitalter des Nationalismus,mit <strong>der</strong> Einordnung des kosmopolitischenAufklärers schwer. So wurde er etwa vonCharles Augustin de Sainte-Beuve als„kraftvoller […], warmherziger und kühnerKopf“ gelobt und als <strong>der</strong> „deutschestealler unserer Köpfe“, in dem sich „Goethe,Kant und Schiller so recht vereinigt“haben, angesehen (Premiers lundis I,Sept. 1830, u. lundi, 10.6.1850, zit. n.Mortier, 377). An<strong>der</strong>e hingegen bezichtigtenihn des Nationalverrats und beschimpftenihn als einen aus einem „Kosaken undLüstling gekreuzten Preußen“, <strong>der</strong> das „géniefrançais“ entnationalisiert habe (Trousson,1997, 75; Barbey d’Aurevilly, 1913, 126).Zudem vermisste man im „Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>der</strong>großen Systeme“ bei ihm ein konsistentesHauptwerk, wie man sich auch an seineratheistischen Weltsicht störte. 35Gegen Ende des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts nahmdie Zahl seiner zumeist republikanisch gesinntenBefürworter etwas zu, die ihn alsPropheten <strong>der</strong> Freiheit ansahen; von einerallgemeine Anerkennung war man abernoch weit entfernt. So wurde ihm die anlässlichseines 200. Geburtstags 1913 insSpiel gebrachte Aufnahme ins Pantheonin Paris vom Senat verwehrt. Seine Gegnerwaren die Nationalisten und Kleriker,unter an<strong>der</strong>em <strong>der</strong> Politiker Maurice Barrès,<strong>der</strong> meinte, Di<strong>der</strong>ot habe unter „alle Steine<strong>der</strong> Gesellschaft […] Dynamit“ gelegt,er könne keinesfalls als Vorbild dienen(<strong>der</strong>s., 1967 [1927], 99). Immerhin sprachihn <strong>der</strong> Ministerpräsident Louis Barthouvom Vorwurf des Germanismus frei undadelte ihn als „großen Mann Frankreichs“;in seinem Werk sei „alles darin“: „das bestewie das schlimmste“ (so in einer Feierstundean <strong>der</strong> Sorbonne) (zit. n. Denzelde Tirado, 2008, 91).27. „DIDEROT IST DIDEROT“Etwas besser sollte es dem Ansehen Di<strong>der</strong>otsnach seinem Tod in Deutschlandgehen. Nachdem er nach 1780 auch allmählichals Romancier bekannt gewordenwar (dank <strong>der</strong> CL und diverser Manuskripte,die rege kursierten), erlangte erdort schließlich um die Wende zum 19.Jahrhun<strong>der</strong>t mit seinem erzählerischenWerk in den literarischen Kreisen bleibendeBedeutung.In diesen Jahren hatte <strong>der</strong> Rigaer VerlagJohann Friedrich Hartknoch (d.J.) (woauch Kants Schriften erschienen) sogareine deutsche Gesamtausgabe von Di<strong>der</strong>otsŒuvre geplant, die allerdings nachzwei Bänden (Versuche über die Malerei,Die Nonne, 1797) bereits zum Erliegenkam. (Ähnlich war es bereits 1774 denPhilosophischen Werken des Herrn Di<strong>der</strong>otergangen, die es lediglich auf einenBand bringen, <strong>der</strong> neben zwei Encyclopédie-Artikelndie Shaftesbury-Bearbeitungvon 1745 enthält.) In Österreich hingegenblieben die Romane und Erzählungenweitgehend unbeachtet (vgl. Grimm,1988, 192-237).Zu Di<strong>der</strong>ots literarischer Rezeption hattebeson<strong>der</strong>s Goethe beigetragen. Er konnteden Aufklärer nicht nur als Weggefährtendes Sturm und Drang ansehen; er wurdein Deutschland auch sein wichtigster För<strong>der</strong>erim frühen 19. Jahrhun<strong>der</strong>t. 36 Trotzmehrerer Vorbehalte wusste sich <strong>der</strong> Dichterfürstmit Di<strong>der</strong>ot wie mit keinem ande-Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot 55


en französischen Autor verwandt. „Di<strong>der</strong>otist Di<strong>der</strong>ot. Ein einzig Individuum. Weran ihm mäkelt, ist ein Philister“ – so seinespäte, meistzitierte Würdigung im Brief anCarl Friedrich Zelter vom 9.3.1831 (WA,IV, Bd. 48 [1909], 143). Goethe konntesich weniger für den Enzyklopädisten(wenngleich doch wohl die Encyclopédieauf sein Spätwerk Wilhelm Meisters Wan<strong>der</strong>jahre[1821/1829] eingewirkt hat) o<strong>der</strong>den (rationalistischen) Philosophen begeistern(Le Rêve de d’Alembert konnte erals verwegen ansehen). Vielmehr mochteer das Ursprüngliche, Einzigartige, dasIndividuelle, das er beson<strong>der</strong>s in den Di<strong>der</strong>ot’schenErzählungen fand.Im frühen 19. Jahrhun<strong>der</strong>t war in Deutschlandsogar, aus nationalistischem Geist geboren(vgl. bes. Ernst Moritz Arndt), daslegendäre Bild vom „deutschen Di<strong>der</strong>ot“entstanden, ja man konnte fast schon voneiner „Adoption“ sprechen 37 – und diesnicht ganz zu Unrecht, war er doch auchMitglied <strong>der</strong> Preußischen Akademie, währendihn die Académie française verschmähthatte. Im Wesentlichen fügte sichjedoch, wie erwähnt, Di<strong>der</strong>ots Rezeptionin den Rahmen <strong>der</strong> Aufnahme <strong>der</strong> FranzösischenRevolution ein, <strong>der</strong>en Schreckensbildin konservativen Kreisen ja beson<strong>der</strong>sdie Enzyklopädisten umschloss ( 8.). 38Ähnlich wie bei manchen Gelehrten des18. Jahrhun<strong>der</strong>ts konnte nunmehr den konservativenDeutschen mitunter die Bezugnahmeauf Di<strong>der</strong>ot dienen, um ihre eigeneIdentität zu bekräftigen.Um die Mitte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts warsodann die aktive Phase <strong>der</strong> Di<strong>der</strong>ot’schenWirkung in Deutschland abgeschlossen.Fortan wurde <strong>der</strong> „glanzvolle geistigeAbenteurer“ den Geschichtsbüchern undLexika übergeben (vgl. bes. Mortier, 1967,381). Im bedeutendsten deutschen Nachschlagewerkdes 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts, <strong>der</strong> AllgemeinenEncyclopedie <strong>der</strong> Wissenschaftenund Künste (167 Bde., 1 Tafelbd.,1818-1889) von Johann Samuel Ersch undJohann Gottfried Gruber, heißt es sodann:Er sei ein „enthusiastischer“ wie „hellerKopf“, <strong>der</strong> „wenig von <strong>der</strong> männlichenRuhe“ besitze; von ihm sei „manches“ zulernen, man dürfe sich jedoch nicht durchseine „Sophismen blenden“ lassen undmüsse seine Gedanken, in denen das Wahreund Falsche überaus gemischt hervortreten,„gehörig zu son<strong>der</strong>n“ wissen (1.Sect. Bd. XXIV, 1832, 534-536).In den folgenden Jahrzehnten weitete sichaber auch <strong>der</strong> Blick, womit sich <strong>der</strong> Weghin zur wissenschaftlichen Lektüre <strong>der</strong> Di<strong>der</strong>ot’schenSchriften allmählich andeutete(vgl. bes. die Biographie vom HegelschülerKarl Rosenkranz, 2 Bde., 1866; Anm.4.). Insgesamt halten sich deutschen Übersetzungenbeson<strong>der</strong>s ab dem zweiten Dritteldes 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts in Grenzen (vgl.Auflistung, in: Saada, 2009, 201-204). 3928. „KOMPAGNON DES 21. JAHRHUNDERTS“Gegen Ende des 19. Säkulums hatte Nietzschegemeint: Voltaire sei <strong>der</strong> „letzte Geistdes alten Frankreich“, Di<strong>der</strong>ot indes „<strong>der</strong>erste [Geist] des neuen“ (NachgelasseneFragmente, 1887-1889, zit. n. 1999, 122).Dieses Urteil sollte sich bald bewahrheiten.Gegen Mitte des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts setzteüber Frankreich hinaus im englisch- unddeutschsprachigen Raum – um im Di<strong>der</strong>ot’schenBild zu bleiben – im so sehnlicherhofften „Flötenkonzert <strong>der</strong> Nachwelt“ein unüberhörbares Crescendo ein,nachdem sein Werk in seiner stupendenBreite und in seinen Zusammenhängenendlich sichtbar geworden war.Das Crescendo verdankte sich auch <strong>der</strong>Erschließung verschollener Manuskripte56Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot


(Fonds Vandeul), die <strong>der</strong> deutsche RomanistHerbert Dieckmann im Château desIfs (Dép. Seine-Maritime, Normandie)1948 auffand. 40 Der neue Bestand bildetevor allem die Grundlage für die 1975 begonnene,kritische Gesamtausgabe (Œuvrescomplètes, geplant 33 Bde., DPV), welchedie von Jules Assézat und MauriceTourneux bearbeitete Edition von 1875-1877 (20 Bde., AT; vgl. (BŒDD, I, 148-163) ablöste. Noch immer harrt sie ihrerVollendung. 41Im deutschen Raum hatte Di<strong>der</strong>ot vor allemals Aufklärer und Materialist zunächstin <strong>der</strong> DDR breite Beachtung gefunden,wo grundlegende, bis heute unersetzlicheWerkausgaben erschienen (u.a. DDÄS,DDPH, DDEW, Enz-Artikel, DDBS).Dort wurde er als eine Art „Großvater desSozialismus“ angesehen.Auch in unseren Tagen ist Di<strong>der</strong>ots Sternnoch lange nicht am Sinken. Der Aufklärererweist sich in mancherlei Hinsicht alskompatibel mit Ansichten und Fragestellungendes späten 20. und des beginnenden21. Jahrhun<strong>der</strong>ts, etwa mit den ThemenFeminismus, Kommunismus undAnarchie sowie beson<strong>der</strong>s mit Trans- undPosthumanismus. In seinem polyphonen,vernetzten Denken hatte er bereits neuereAspekte <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Biologie (neben<strong>der</strong> Evolutionstheorie auch Neurowissenschaft,DNS, Klonen), ja auch <strong>der</strong> Kybernetiko<strong>der</strong> <strong>der</strong> technischen Phänomeneund Medien wie Kino, Roboter, Computero<strong>der</strong> auch Internet, Wikipedia, E-Mail und SMS sachte angedacht (vgl. diekompakte Zusammenfassung, in: Denzelde Tirado, 2008, 90-106).Überdies findet Di<strong>der</strong>ot seit etwa 1975 aufdem fiktionalbiographischen Feld großenAnklang, vorzugsweise in Romanen undKurzgeschichten. Im deutschsprachigenRaum trat neben Enzensbergers Werk Di<strong>der</strong>otsSchatten von 1994 (DSU; 11.,u.ö.) vor allem Peter Pranges BestsellerDie Philosophin. Ein Roman (2003, 12Übers.), <strong>der</strong> den „philosophe“ als chaotischesGenie mit großem Herzen und alsBeispiel des selbstbewussten Bürgertumszeichnet. Der Aufwertung Di<strong>der</strong>ots gegenübertritt Voltaire mehr und mehr in denHintergrund (vgl. bes. Denzel de Tirado,2008).Und so gilt <strong>der</strong> originelle Denker auch alsfrüher Vorläufer <strong>der</strong> Postmo<strong>der</strong>ne und als„Kompagnon des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts“ (Delon,2000, 20). Er ist (um nochmals Troussonzu zitieren) „in vieler Hinsicht einer<strong>der</strong> Unseren“, <strong>der</strong> „nicht aufgefrischt o<strong>der</strong>dem Geschmack des Tages angepasst zuwerden“ braucht (Trousson, 1997, 10).Di<strong>der</strong>ots Stern erstrahlt über Europa hinausauch auf dem amerikanischen Kontinent,wo bereits Franklin und Thomas Jeffersonzu seinen Lesern gezählt hatten, undin Asien (bes. in Japan). 42 Und möglicherweisewird ihm auch in seinem Heimatlandanlässlich seines Jubiläums die höchsteAnerkennung zuteil: die schon langeüberfällige „Überführung“ in das Panthéon(vgl. Curran, 25.1.2013, A 27). 43 Seinebeiden großen Weggefährten, die DeistenVoltaire und Rousseau, waren bereits 1791resp. 1794 mit <strong>der</strong> Panthéonisation bedachtworden (vgl. Lüsebrink, 1995).29. „GENIEßE UND VERGEHE – WIE ALLES, WASDICH UMGIBT“Und damit sind wir am Ende unseresStreifzugs angelangt. Auf ihm ist uns <strong>der</strong>rastlose Di<strong>der</strong>ot als Mann <strong>der</strong> „hun<strong>der</strong>tGesichter“ begegnet: nicht zuletzt als „idealistischerMaterialist“ (Naigeon), als lebhafterDialogiker und heuristischer Denker,<strong>der</strong> das Leben des Geistes als endlo-Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot 57


ses Abenteuer – oft auch als Illusion undVerführung – vor Augen führen kann.Er wusste auch um die Zufälligkeit undFlüchtigkeit des Lebens: „Wir wan<strong>der</strong>nherum unter Schatten – als Schatten fürdie an<strong>der</strong>en und für uns selbst“ (DPV,XVII, 1987, 516), und fühlte sich in die„große Kette“ des Lebens eingespannt.So war er im tiefsten Innern von <strong>der</strong> mitreißendenGewalt des Flusses <strong>der</strong> lebendigenNatur beseelt: von <strong>der</strong> ewigen Materie,dem von unendlich vielfältiger Einheitgeprägten, hieroglyphisch erscheinenden,unsterblichen Kunstwerk. Und dabei flüsterteihm, so Di<strong>der</strong>ot in mystischer Weise,die Natur ins Ohr: „Bleibe still, sei wiealles, was dich umgibt, daure wie alles,was dich umgibt, genieße sacht, wie alles,was dich umgibt; lass die Stunden, dieTage, die Jahre verstreichen wie alles, wasdich umgibt, und vergehe wie alles, wasdich umgibt“ (Brief an seine letzte Geliebte,Jeanne-Catherine de Maux, Okt. 1769,in: COR, IX, 1963, 186, Nr. 570).Von dieser Intuition getragen, ließ sich <strong>der</strong>„philosophe“, Descartes’ berühmtes Diktum„cogito, ergo sum“ gleichsam mo<strong>der</strong>nisierend,in seinem bewegten Lebenvom Leitsatz führen: „Ich denke, ich fühle,ich empfinde, ich handle, ich erfinde,ich sterbe, also bin ich“ (zit. n. Lepape,1994, 53; vgl. auch Raupp, 2013, 92, Nr.16). Und dabei hat er die äußerst verschwen<strong>der</strong>ischeNatur zum Vorbild genommenund sich wie kaum ein an<strong>der</strong>eran Menschen verschwendet. So konnteer sagen: „Der Mensch ist <strong>der</strong> glücklichste,<strong>der</strong> die meisten glücklich macht“(Dorval et moi [2. Unterredung], in: DPV,X, 1980, 121; vgl. auch Raupp, 2013, 123,Nr. 70).Er ließ sich, so <strong>der</strong> Di<strong>der</strong>ot-Freund Sainte-Beuve (1851), auf „alle ein“ – selbst auf58die Gefahr hin, im Sturm <strong>der</strong> Leidenschaftenunterzugehen. Er „improvisiert, ist immerin Eile, wendet sich <strong>der</strong> Wirklichkeit,den Tatsachen zu; geben, geben und nochmalsgeben, ohne jemals die Früchte zuernten; wer rastet, rostet, das ist seine Devise.“Und so lehrt er uns schließlich, wie„man es schaffen kann, mitten aus demSchiffbruch, den wir alltäglich erleben, dasUfer <strong>der</strong> Zukunft […] zu erreichen unddort, wenn auch nur auf einem StückTrümmer, anzukommen“ (<strong>der</strong>s., [1851],2013, 107 f.).Anmerkungen:1Einen Überblick über diese Jahre bietet bes. Heyer,2 Bde., 2005 (vgl. bes. Bd. 2: Kurzporträts von ca.820 [!] französischen Autoren).2Trousson zitiert hierbei aus Jules Michelets monumentalemWerk Histoire de France, Tl. 16: Histoirede France au dix-huitième siècle. Louis XV, 1724-1757. Paris 1866, 438, 440.3Damit wird Di<strong>der</strong>ot in Anspielung an seine Beschreibung<strong>der</strong> Bürger vom hochgelegenen OrtLangres in <strong>der</strong> Literatur oft verglichen (vgl Brief anSophie Volland, 11.8.1759, in: COR, II, 1956, 207,Nr. 136).4Zur frühen Biographie vgl. bes. Löpelmann, 1934(mit ausführlicher Analyse von Di<strong>der</strong>ots Principesde la philosophie morale, 1745), u. Venturi, 1939(ital. 1988). – Zur Gesamtbiographie vgl. bes.Versini, 1996, sowie vor allem Arthur M. Wilsonsdetailreiche englische Monographie von 1972, diezum Klassiker avancierte und bis heute als Quellefür zahlreiche (auch fiktionalbiographische) Darstellungendient. – Ihm an <strong>der</strong> Seite steht seit 2005Raymond Troussons umfangreiche französische Biographie,die auch auf Wilson fußt, aber auch denneueren Forschungsergebnissen Gehör schenkt(etwa zu Di<strong>der</strong>ots Bildung, vgl. Anm. 5). 2006 hatTrousson eine wertvolle, telegraphisch gestalteteDi<strong>der</strong>ot-Chronik folgen lassen, die sich auf bündigeNachweise <strong>der</strong> erwähnten Ereignisse stützt. – Auchim deutschen Sprachraum liegen neuere Biographien(bes. Lepape, 1994, Wuthenow, 1994, u. Borek,2000) wie auch Anthologien vor (bes. Insel-Almanach,1984, Raupp, 2009 2 , u. <strong>der</strong>s., 2013). – Wenngleichfreilich vielfach überholt, so ist auch das zwei-Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot


ändige Werk von Karl Rosenkranz von 1866, dieerste umfassende Biographie überhaupt, noch immerlesenswert. – Zu weiteren biographischen Darstellungenvgl. BD sowie DS und RDE ( Anm. 41).5An <strong>der</strong> Aufgabe, eine lückenlose Darstellung vonDi<strong>der</strong>ots Bildungsgang zu erstellen, haben sich schonzahlreiche Di<strong>der</strong>ot-Forscher die Zähne ausgebissen.Nachfolgend orientieren wir uns bes. an Trousson,2005, 35-63 (Kap. 2). Vgl. auch Viard, 1987, 19-46, u. Hanna, 1988, 3-18. – Zum Theologiestudium,von dem wir erst seit 1978 genauere Kenntnissebesitzen, vgl. ebenfalls Hanna, 1978, 19-35.6Eine historisch-kritische Ausgabe liegt vor, in: DPV,I (1975), 9-38; vgl. auch die profunde dt. Übertragungvon Horst Günther, in: Jakob und sein Herr,1999, 395-440.7Vgl. Voltaires ersten Brief an Di<strong>der</strong>ot vom 9. [10.]6. 1749 (<strong>der</strong>s., Bd. 95, 1970, 84), womit er sichfür die Zusendung <strong>der</strong> Lettre bedankt.8Zur Wirkungsgeschichte Di<strong>der</strong>ots in Deutschlandund Österreich zwischen 1750 und 1850 vgl. nebenGrimm (1988) beson<strong>der</strong>s Mortier (1954, dt.1967), dessen großangelegte Pionierarbeit sichhauptsächlich an <strong>der</strong> ideengeschichtlichen Perspektiveorientiert und die Aufarbeitung eines dichtenSubstrats von Reaktionen bietet. – Den beiden stehtseit 2003 die sozial- und kulturgeschichtlich orientierteAbhandlung von Anne Saada an <strong>der</strong> Seite, dieden bezeichnenden Titel trägt Inventer Di<strong>der</strong>ot (imSinne des Gedankens „Wie Di<strong>der</strong>ot erfunden wurde“).Über den literarischen Neuansatz <strong>der</strong> 1960er-Jahre von Hans Robert Jauß’ ‚Rezeptionsästhetik‘hinaus neuere Forschungsrichtungen aufnehmend(bes. Netzwerkanalyse, Spatialitätsforschung aufGrund <strong>der</strong> topologischen, <strong>der</strong> raumkritischen Wende<strong>der</strong> Literaturwissenschaft), fragt die französischeKomparatistin und Buchhistorikerin primär nach demim jeweiligen nach spezifischen Regeln funktionierendensozialen Umfeld (dem „espace“ – den intellektuellen,institutionellen „Räumen“) entstandenenKonstrukt „Di<strong>der</strong>ot“ und den daraus erwachsendenBedingungen <strong>der</strong> Verbreitung seiner Werke. Siestudiert „also nicht das Experiment Di<strong>der</strong>ot, son<strong>der</strong>ndas Laboratorium – nicht die PersönlichkeitDi<strong>der</strong>ot, son<strong>der</strong>n die Bühne und die Kulissen“ (ebd.,269). Zugleich orientiert sich Saada an <strong>der</strong> ‚quantitativenGeschichtsschreibung‘, entsprechend <strong>der</strong>École des Annales, und bietet beson<strong>der</strong>s wertvolleStatistiken zur Entwicklung <strong>der</strong> Theaterdichte inDeutschland und den dortigen Aufführungen im 18.Jahrhun<strong>der</strong>t. – Vgl. auch ergänzend Saadas zusammenfassendenAufsatz von 2006, 9-36 (Tagung:„Les échanges littéraires internationaux“, Lausanne,27-29.1.2005) sowie 2005, 73-87, u. 2007, 167-189. Neuerdings hat Saada auch einen erhellenden,konzisen Abriss über die Di<strong>der</strong>ot-Rezeption imDeutschland des 19. Jahrhun<strong>der</strong>t vorgelegt (2009,197-221).9Dies war <strong>der</strong> zentrale Leitbegriff <strong>der</strong> sich um 1700<strong>der</strong> Aufklärung öffnenden „Übergangstheologie“, dieeinen theologischen Wolffianismus vertrat (SigmundJacob Baumgarten). Um die Jahrhun<strong>der</strong>tmitte wurdesie von <strong>der</strong> „Neologie“ abgelöst, die dann endlichmit <strong>der</strong> historischen Kritik Ernst machte undscharf zwischen Bibel und Dogma unterschied, ohnefreilich den Offenbarungsglauben zu verleugnen.10Näheres zum insgesamt ausführlich dokumentiertenWerdegang <strong>der</strong> Encyclopédie siehe bes. in RDE(1.1986 ff.) sowie in Proust, 1962, und im farbigenÜberblick von Blom, 2005 (Lit.). – Vgl. auch dieanlässlich des Jubiläums erschienene Monographievon Volker Mueller (Falkensee) Müller, 2013, diejedoch erst nach Fertigstellung des vorliegendenAufsatzes erschien.11Vgl. DPV, V–VIII (1976). – Zur Geschichte <strong>der</strong>Forschung über die Di<strong>der</strong>ot’schen Artikel vgl. Loughund Proust, ebd. V, 1-17.12Zum Themenkreis <strong>der</strong> Wirkungsgeschichte vonDi<strong>der</strong>ots Enzyklopädie in Deutschland siehe nebenMortier (1967, 117-153) und Saada (2003, 92-128) bes. Schalk, 1977 2 , 221-229, Voss, 1985,183-192, u. Mueller, 2013, 77-119.13Einen Überblick über Di<strong>der</strong>ots Musikverständnisbieten bes. Lang, 1968, 95-107, Bardez, 1975,Didier, 1985, u. Clark, 2008, 127-202 (Bibliogr.).14Zum Buffonistenstreit vgl. bes. Eeva Taina Forsius,1985, u. Andrea Fabiano, 2005. – Di<strong>der</strong>ot verfasstewährend des Streits den Trakat Au petitProphète de Böhmischbroda, 1753.15Zu Di<strong>der</strong>ots Verständnis von Kunst und Ästhetikvgl. bes. Bukdahl, 1980/1982, wie auch Sauerwald,1975, Kohle, 1989, u. Geiger, 2004.16Vgl. dazu den Enzyklopädieartikel Génie (Bd. 7,1757), den noch in späteren Jahren Hamann undsogar Schopenhauer mit Interesse lasen. Auch wenndieser Artikel wahrscheinlich von Di<strong>der</strong>ots FreundJean-François de Saint-Lambert und nicht vonDi<strong>der</strong>ot selbst stammt, so sind die darin vorgetragenenGedanken sicherlich von diesem zumindestinspiriert o<strong>der</strong> überarbeitet (vgl. bes. Dieckmann,Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot 59


1941, 163). – Vgl. auch das Di<strong>der</strong>ot’sche FragmentSur le Génie (AT IV, 1875, 26 f.).17Dies hatte bereits Friedrich Maximilian Klingergesehen, wenn er meint: „Di<strong>der</strong>ot hat [den Deutschen]gezeigt, wie man über ästhetische Gegenständeschreiben muß. Er entwickelt uns die tiefstenGeheimnisse <strong>der</strong> Kunst so klar und deutlich, daßsie je<strong>der</strong> versteht, sich ihrer je<strong>der</strong> erfreuen kann.Das deutsche, schwerfällige, systematische, mit Terminologiebeladne, auf Stelzen gehende philosophisch-ästhetischeGewäsche […] ist von allemdeutschen Gewäsche das unerträglichste für einenMann, <strong>der</strong> an Klarheit gewöhnt ist. […] Nur Lessingkann neben ihm bestehen“ (Betrachtungen […]über verschiedene Gegenstände <strong>der</strong> Welt und <strong>der</strong>Litteratur, zit. Klinger, Bd. 11, 1842, Nr. 68 [1801/1802], 52 f.)18Zum Themenkreis Di<strong>der</strong>ot und Theater vgl. bes.Ménil, 1995, u. dessen zweibändige Edition von1995.19Zum Einfluss Di<strong>der</strong>ots auf Brecht vgl. bes. Kesting,(1970), Buck (1971) und Wrocklag (2009).20In Deutschland war dieses Leitmotiv bekanntlichvor allem in Lessings berühmtem Bekenntnis aus <strong>der</strong>Zeit des ‚Fragmentenstreits‘ (1777-1779) zu vernehmen:„Nicht die Wahrheit, in <strong>der</strong>en Besitz irgendeinMensch ist, o<strong>der</strong> zu sein vermeint, son<strong>der</strong>n dieaufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter dieWahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen“(Eine Duplik, 1778, in: <strong>der</strong>s., 1989, 33).Ein Jahr später fand dieses Bekenntnis in Lessingsberühmter Ringparabel Nathan <strong>der</strong> Weise bekanntlichseine Ausgestaltung.21Vgl. bes. den instruktiven Beitrag von JacquesChouillet, 1984, 174-182.22Zum Holbach-Salon und <strong>der</strong> radikalen Richtung<strong>der</strong> Aufklärung vgl. bes. Blom (2010). Dieser hebt mitNachdruck die Distanz zwischen den „radikalen Aufklärern“um Di<strong>der</strong>ot und Holbach und <strong>der</strong> gemäßigterenRichtung von Voltaire und Rousseau hervor.23Vgl. die Gesamtausgabe COR (16 Bde., 1955-1970) sowie die vorzügliche deutsche Auswahlausgabemit 201 Briefen (DDB, 1984).24Vgl. LSV (3 Bde., 1930) und die beiden deutschenAuswahlbände (DDBSV, 1904, DDBS,1986). – Vgl.. exemplarisch das ausführliche Schreibenvom 15.10 [?] 1759 (COR, II [1956], Nr. 151,279-286). Eine Kostprobe <strong>der</strong> „kochenden Tinte“bietet Raupps Anthologie, 2013, 131 f., Nr. 89. –Vgl. bes. Richard Pauchert (2005, 19-27, u. 2007).25Zum erzählerischen Werk vgl. bes. Baron (ersch.vorauss. 2014). Einen ersten, konzisen Überblickbieten bes. Fontius (DDEW, I, 7-44) u. Hinterhäuser(EGDD, IV, 291-347).26Das Stück erschien u.d.T. Merkwürdiges Beispieleiner weiblichen Rache im ersten Band 1785,H. 1, 27-94. – Näheres vgl. Stappenbeck, 2007.27Zum politischen Denken vgl. bes. die profundeStudie von Strugnell, 1973, u. Heyer, 2004; vgl. auchA&K, Son<strong>der</strong>heft 7, 2003: Schwerpunkt: Kontraktualismus.28Zur Beziehung von Di<strong>der</strong>ot und Katharina vgl.bes. Tourneux, 1899, zur Reise siehe bes. Mortier,1967, 18-34.29Vgl. bes. die neue historisch-kritische Ausgabe(HD-2) sowie den von Lüsebrink bearbeiteten dt.Auswahlband (HDI-dt2).30Über die vielfach erörterte Beziehung zwischenDi<strong>der</strong>ot und Rousseau vgl. bes. die kompakte Zusammenfassungin DDPH, II, 647-655.31Eine <strong>der</strong> Quellen ist Louis-François Metra, Correspondancesecrète […], Bd. 6, 1787, 424-426.– Etliche Historiker zweifeln am Zusammentreffen<strong>der</strong> beiden Gelehrten. René Pomeau hingegen gehtfest von <strong>der</strong> Begegnung <strong>der</strong> beiden aus (<strong>der</strong>s., 1994,300 f.). Auch Wilson tendiert zu dieser Annahme,wobei er die Möglichkeit eines geheimen Treffensbetont (<strong>der</strong>s., 1972, 688 f.). Wenngleich etwasskeptischer, schließt auch Trousson diese Möglichkeitnicht aus (<strong>der</strong>s., 2005, 590 f.).32Vgl. Wilson (1972, bes. 347 ff.), <strong>der</strong> in den Ereignissenvon 1759 die große Schnittstelle in Di<strong>der</strong>otsVita sieht und diese in die beiden Abschnitte einteilt:The Testing Years (1713-1759) und The Appealto Posterity (1759-1784).33Di<strong>der</strong>ot behandelt diese Hoffnung beson<strong>der</strong>s inseiner Korrespondenz mit Étienne Maurice Falconetvon Dezember 1765 bis April 1767 (vgl. DPV XV,LPLC, DFCPL). Mit einer solchen Hoffnung stan<strong>der</strong> keineswegs allein; ähnliche Vorstellungen findensich etwa bei Descartes, Jonathan Swift, Rousseauund Lessing. – Vgl. zu diesem Themenkreis bes.Papenheim, 1988, u. 2001.34Näheres zu den Legenden um Di<strong>der</strong>ots Tod sieheDenzel de Tirado, 2008, 35-39.35Vgl. bes. Troussons Studien über die RezeptionDi<strong>der</strong>ots in Frankreich zwischen 1784 und 1913(<strong>der</strong>s. 1997 u. 2005) und über die Jahresfeiern 1913(<strong>der</strong>s., 1984, 9-33).60Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot


36Aus <strong>der</strong> Fülle <strong>der</strong> Abhandlungen über die Beziehungzwischen Di<strong>der</strong>ot und Goethe vgl. bes. Dieckmann,1932, 478-503, u. Vasco, 1978.37Dabei konnte man sich auch auf Sainte-Beuve(s.o.) wie auf Goethe berufen („Di<strong>der</strong>ot war nahemit uns verwandt; wie er denn in alledem, weshalbihn die Franzosen tadeln, ein wahrerer Deutscher“sei, in: (Dichtung und Wahrheit, Tl. 3 [1812/1813],in: WA, I, 28 [1890], 64). Vgl. auch bes. Mortier,1967, 357- 381, u. Ackermann, 2002, 114 f.38Vor allem hatte ja, wie erwähnt, die RomantikDi<strong>der</strong>ots atheistische wie revolutionäre Positionscharf abgelehnt. Vgl. etwas Friedrich SchlegelsGeschichte <strong>der</strong> Literatur (1812), worin er den „genialischenDi<strong>der</strong>ot“ als „eigentlichen Mittelpunkt undLebensgeist“ des französischen Atheismus ansieht(1841, 381).39Die Geschichte <strong>der</strong> Di<strong>der</strong>ot-Rezeption in Deutschlandim späten 19. wie auch im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t mussfreilich noch geschrieben werden. Neben Mortier,1967, bietet dazu beson<strong>der</strong>s Saada (2009, 197-221) den entscheidenden Ausgangspunkt.40Vgl. Vandeul, 1951. – Im Zweiten Weltkrieg hattedas Schloss als Stützpunkt <strong>der</strong> deutschen Armeegedient und war nach einem Bombenhagel <strong>der</strong> alliiertenStreitmächte 1944 teilweise abgebrannt. – EinJahr nach Di<strong>der</strong>ots Tod war seine Bibliothek undeine Auswahl von Manuskripten (Fonds de St.Petersbourg), zumeist Kopien, an Katharinas Hof(Bibliothek <strong>der</strong> Eremitage zu St. Petersburg) gegangen.Eine zweite Sammlung hatte Naigeon erhalten.41Zur Wirkungs- und Forschungsgeschichte Di<strong>der</strong>otsim 20. Jahrhun<strong>der</strong>t vgl. Denzel de Tirado, 2008,94-103, u. Schlobach, 1992 (mit Beiträgen von H.Dieckmann und M. Foucault). – Das nachhaltigeInteresse setzte vor allem in den Nachkriegsjahrenein: mit <strong>der</strong> Begründung <strong>der</strong> Zeitschrift Di<strong>der</strong>otStudies (1949, DS), <strong>der</strong> Brief-Edition (16 Bde.,1955-1970, COR), einigen Werkausgaben (bes.Salons, 4 Bde., 1957-67). – 1984 erlebte <strong>der</strong> Aufklärersodann anlässlich seines 200. Todestageseuropaweit, freilich auch in <strong>der</strong> BRD und <strong>der</strong> DDR(Lit.verzeichnis, V, 2 b), große Aufmerksamkeit. EinJahr später entstand in Langres die Société Di<strong>der</strong>ot,die seit 1986 das Periodikum Recherches surDi<strong>der</strong>ot et l’Encyclopédie (RDE) herausgibt. – Eineriesige Fülle von Sekundärliteratur hat zunächstFre<strong>der</strong>ick A. Spears zusammengetragen (2 Bde.,1980 ff., BD); eine historisch-kritische Auflistung <strong>der</strong>Primärliteratur hat David Adams bearbeitet (2 Bde.,2000, BŒDD). Eine fortlaufende Bibliographie befindetsich in DS und RDE.42Zu den USA vgl. Andrew S. Curran, 2013. –Dort wird er – man glaubt es kaum – noch heutevon <strong>der</strong> Zensur bedroht, etwa im Bundesstaat Texas,wo es Bestrebungen gibt, den revolutionärenund atheistischen Denker vom Schulcurriculum zustreichen. – Zu Japan und China vgl. Raupp, 2013,80 (Anm. 54).43Immerhin findet sich seit 1925 im Panthéon einDenkmal für die Encyclopédie und ihren Herausgeber(mit einer Frauenfigur).Aufklärung und Kritik 4/2013, Schwerpunkt Denis Di<strong>der</strong>ot 61

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