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Von den kleinen Tieren im Märchen - Mutabor Verlag

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Frühling 2012 · 53. Ausgabe · CHF 9.– · Euro 7.50Die Zeitschrift für <strong>Märchen</strong> und Erzählkultur<strong>Von</strong> <strong>den</strong> <strong>kleinen</strong> <strong>Tieren</strong><strong>im</strong> <strong>Märchen</strong>1


<strong>Märchen</strong>stiftungAus dem Tätigkeitsberichtder <strong>Mutabor</strong> <strong>Märchen</strong>stiftungEine Schulemacht es vorFoto: Christian ImfeldIm Jahr 2011 fand zum dritten Mal dasProjekt <strong>Märchen</strong>zeit unter dem Patronatder Schweizerischen UNESCO-Kommissionstatt. Mehr als 100 Erzähler / -innentraten dabei zusammen mit Musikern aufund halfen mit, das Erzählgut lebendigzu erhalten. Für das Jahr 2012 ist dasProjekt bereits entwickelt – es wird zumInternationalen Jahr der Kooperativenstattfin<strong>den</strong>, unter dem Motto «Gemeinsamstark!».Im November lud die <strong>Mutabor</strong> <strong>Märchen</strong>stiftungwiederum <strong>den</strong> bekanntenpersischen Erzähler Parvis Mamnun ein,der die zahlreichen Zuhörer <strong>im</strong> CasinoTheater Burgdorf begeisterte.Die Zeitschrift <strong>Märchen</strong>forum, dasMitteilungsorgan der <strong>Mutabor</strong> <strong>Märchen</strong>stiftung,hat <strong>im</strong> Sommer 2011 die 50.Aus gabe als Jubiläumsheft herausgegeben.Nach der erfolgreichen Herausgabedes Buches «Baummärchen aus allerWelt» <strong>im</strong> Herbst 2010 <strong>im</strong> <strong>Mutabor</strong> <strong>Verlag</strong>,erschien <strong>im</strong> September 2011 das Buch«Wintermärchen» mit siebzig <strong>Märchen</strong>und zahlreichen s/w Illustrationen.Die Datenbank Schweizer <strong>Märchen</strong>schatzzur Erhaltung und VerbreitungDas <strong>Märchen</strong> in <strong>den</strong> Alltagintegrieren – helfen Sie mit IhrerSpende, dieses Ziel zu erreichen!Jede Spende ist willkommen undunterstützt <strong>den</strong> Erhalt der <strong>Märchen</strong>als Kulturgut und die Tradition des<strong>Märchen</strong>erzählens – wir danken Ihnenvon Herzen für Ihre Unterstützung.PC 30-570 907-0 oder verlangen Sieeinen Einzahlungsschein.des Schweizer <strong>Märchen</strong>gutes wurde be -ständig erweitert und neu wird jeweilsein <strong>Märchen</strong> als Lesebeispiel vorgestellt.Dieses Projekt steht ebenfalls unter demPatronat der Schweizerischen UNESCO-Kommission. In der Zeitschrift <strong>Märchen</strong>forumwird jeweils ein <strong>Märchen</strong> darauszum Thema abgedruckt.Das Netzwerk der Erzähler wurdeweiter ausgebaut und die Vermittlungvon Erzählen<strong>den</strong> beständig verbessert.Viele Anfragen für Erzählanlässe, Vorträge, Projektwochen, Diplomarbeitenund Ähnlichem erhielt die Stiftung <strong>im</strong>Laufe des Jahres, wie zum Beispiel <strong>den</strong>Anlass des Naturhistorischen Museumsin Bern <strong>im</strong> Schloss Landshut (siehe Bild).Im August 2011 eröffneten die erstenzwei «<strong>Märchen</strong>-Lesebibliotheken» ihreTüren und Ende 2011 konnte mit derErfassung der Inhaltsverzeichnisse derüber 1300 Bücher begonnen wer<strong>den</strong>.Der Stiftungsrat der <strong>Mutabor</strong> <strong>Märchen</strong>stiftungschaut auf ein ereignisreichesJahr zurück und mit einem Korbvoller Ideen in das neue <strong>Märchen</strong>jahr.«Geld oder Leben»mit Jörg BaeseckeUnter dem Patronat der <strong>Mutabor</strong> <strong>Märchen</strong>stiftung erzählt Jörg Baesecke mitder kleinsten Bühne der Welt siebenwichtige Geschichten, gespielt und be -seelt mit kunstvollen Bühnen-Bilder-Büchern. Die Benefiz Veranstaltung findetam 13. April 2012, 20 Uhr, <strong>im</strong>Stadtkeller Unterseen, CH-3800 Unterseen,statt. Kollekte zugunsten VereinWaldkindergarten Tatatuck.Seit einigen Jahren unterstützt die Ge -meinde Lützelflüh das Erzählen in <strong>den</strong>Schulen mit einem Förderbeitrag undermöglicht dadurch zahlreichen Schülerndas Erlebnis vom <strong>Märchen</strong> hören, <strong>den</strong>nVorlesen ist nicht gleich Erzählen! DasStaunen ist <strong>den</strong>n auch <strong>im</strong>mer gross,wenn die Kinder realisieren, dass dieErzählerin kein Buch braucht. Wieviele<strong>Märchen</strong> mögen dann in ihr stecken?! Imvergangenen Winter wur<strong>den</strong> 450 Kindernzwischen 4 und 16 Jahren in vierzehnLektionen <strong>Märchen</strong> erzählt. Ein Beispiel,das wahrhaft Schule machen sollte.Wenn einer ein<strong>Märchen</strong> sucht ...Die <strong>Märchen</strong>erzähler kennen es alle:Man sucht ein <strong>Märchen</strong>, aber in welchemBuch war es noch? Vielleicht wird auchnach <strong>Märchen</strong> zu einem Thema gesuchtoder zu einem Stichwort z.B. «Hut».Schon zeigt ihnen die Seite der <strong>Märchen</strong>-Lesebibliotheken alle <strong>Märchen</strong>, in derenTitel das Wort Hut auftaucht mit derSeitenzahl <strong>im</strong> entsprechen<strong>den</strong> Buch. Wieist das möglich? Dank der Unterstützungvon ehrenamtlichen Helfern wer<strong>den</strong> dieInhaltsverzeichnisse der Bücher in <strong>den</strong><strong>Märchen</strong>-Lesebibliotheken eingelesen.Bei 1300 Büchern keine kleine Sache.Sie möchten helfen oder eine der Lesebibliothekenbesuchen? Nehmen Sie sichZeit und machen Sie einen Ausflug in die<strong>Märchen</strong>quelle Bätterkin<strong>den</strong> und in das<strong>Märchen</strong>haus / Le Toit des Salt<strong>im</strong>banquesin Courtelary. Auf der Homepage könnenSie sehen, welche Bücher in <strong>den</strong><strong>Märchen</strong>-Lesebibliotheken stehen:www.lesebibliothek.ch<strong>Mutabor</strong> <strong>Märchen</strong>stiftung · Postfach · CH-3432 Lützelflüh · 0041 (0)34 431 51 31 · info@maerchenstiftung.ch · www.maerchenstiftung.ch2


InhaltLiebe<strong>Märchen</strong>freundeMit dem Frühling kommen dieTiere aus ihren Winterversteckenhervor. Die Ameisen sieht manemsig arbeiten, die Bienen fliegenzu <strong>den</strong> ersten Frühlingsblütenund die Kröten und Frösche be ­ginnen ihre Reise zu <strong>den</strong> Geburtsgewässern.Diese <strong>kleinen</strong> Tierespielen in etlichen <strong>Märchen</strong> einegrosse Rolle, steckt doch in manchemFrosch ein Bräutigam odereine Braut. Die Hel<strong>den</strong> brauchendie Hilfe von Ameisen und Bienen,um unerfüllbare Prüfungenzu bestehen, und selbst die Kleinstenwer<strong>den</strong> ganz gross, wenn siemit Worten prahlen können.Wer an die Tiere <strong>im</strong> <strong>Märchen</strong><strong>den</strong>kt, dem fällt vielleicht derGestiefelte Kater oder das Pferddes Königssohns ein und natürlichder Wolf aus «Rotkäppchen».Viele andere grossartige Tierekommen in <strong>den</strong> <strong>Märchen</strong> vor,aber wer kennt ein <strong>Märchen</strong> voneiner Laus, von einer Mücke odereinem Floh? Nicht nur die ganzKleinen sind meist ungern gesehen,auch andere, wie die Raben,die Fledermaus oder die Rattehaben einen zweifelhaften Ruf.In <strong>den</strong> <strong>Märchen</strong> fin<strong>den</strong> sie ihrenPlatz und es ist erstaunlich, vonwie vielen <strong>Tieren</strong> die <strong>Märchen</strong>berichten.So wünschen wir allen Leser/in ­nen viel Freude be<strong>im</strong> Entdeckenvom Grossen <strong>im</strong> Kleinen undbedanken uns ganz herzlich fürdie Spen<strong>den</strong> und Gönnerabon nements,die die <strong>Mutabor</strong> <strong>Märchen</strong>stiftungbei ihrer Arbeit unterstützen.Djamila Jaenike und TeamBeiträge zum ThemaGedanken zum Thema · Linde Knoch5 Das Grosse <strong>im</strong> Kleinen<strong>Märchen</strong>betrachtung · Arnica Esterl8 Im Einklang mit der Natur – Die Bienenkönigin<strong>Märchen</strong>forschung · Wilhelm Soms10 Die Überlistung des Starken<strong>Märchen</strong><strong>Märchen</strong>betrachtung · Susanne Christian14 Die Maus hat sich verwandelt<strong>Märchen</strong>betrachtung · Alice Spinnler-Dürr18 Eine Mythe der Achomawi aus NordkalifornienGedanken zum Thema · Djamila Jaenike20 <strong>Von</strong> Laus und Floh und anderem <strong>kleinen</strong> GetierGedanken zum Thema · Rosmarie Imfeld23 Der Rabenvogel – ein sagenumwobenes Tier4 Der Krebs, die Ratte und der Mistkäfer6 Der Krötenkaiser7 Die Bienenkönigin13 Der Zaunkönig und der Bär14 Die Maus, die sich fledermauste16 Wie die Tiere gemeinsam <strong>den</strong> Winter vertrieben19 Fliege und Spinne21 Der Löwe und die Mücke22 Die Wallfahrt von Laus und Floh24 Der Rabe25 Das Finkenlied <strong>im</strong> Rabennest27 Die Fledermaus und das Wiesel28 Das Ungeheuer29 Der verwunschene Frosch30 Der Fuchs und die Schnecke30 Der Tiger und die Kröte34 Die treuen Tiere38 Die Eidechs <strong>im</strong> Wengert44 Ein Bräutigam für Fräulein Maus<strong>Märchen</strong>forschung · Dr. Helga Thomas26 Das Wiesel in <strong>Märchen</strong>, Mythen und Volksglauben<strong>Märchen</strong>forschung · Ursula Heindrichs32 <strong>Von</strong> hilfreichen <strong>Tieren</strong> in <strong>den</strong> <strong>Märchen</strong> der Brüder Gr<strong>im</strong>mPortrait36 Sigrid Früh – eine BegegnungFranz SchärVerschie<strong>den</strong>es31 Kreativseite39 Buchhinweise3


<strong>Märchen</strong>Der Krebs, die Ratte und der MistkäferEin König hatte eine Prinzessin. Niemandkonnte sie zum Lachen bringen. Da liesser bekanntmachen: «Wer meine Tochterzum Lachen bringt, der soll sie zur Frauhaben.»Diese Botschaft klang manchem sehrverführerisch, und schon am nächstenTage w<strong>im</strong>melte es <strong>im</strong> Schloss von Männernaller Art. Aber alles war umsonst.Macht, was ihr wollt, die Prinzessin zognicht einmal die Lippen kraus. JeneBekanntmachung drang indessen <strong>im</strong>merweiter, zuletzt gelangte sie auch in eineärmliche Hütte, wo ein armerGreis mit seinem einzigen Sohnwohnte.Der Greis sagte: «Lieber Sohn,dir war von jeher das Glück hold,geh und versuche, die Prinzessinzum Lachen zu bringen.»«Vaterchen, wenn du es sagst,so geh ich auf der Stelle.»Der Jüngling nahm seinen Le -der ran zen und machte sich auf<strong>den</strong> Weg.Unterwegs stiess er an einenKrebs. Der Krebs bat ihn: «LieberJunge, zertritt mich nicht; wirfmich lieber in deinen Ranzen,vielleicht kann ich dir noch einmalaus der Not helfen.»Der Jüngling folgte dem Ratund zog weiter.Nach einer Weile sah er eineRatte. Die Ratte bat: «Lieber Junge,schlage mich nicht, wirf mich lieberin deinen Ranzen, vielleichtkann ich dir noch einmal aus derNot helfen.»Der Jüngling folgte dem Rat.Nach einer Weile entdeckte er einenMistkäfer. Der Mistkäfer bat: «Lie berJunge, zertritt mich nicht! Wirf mich lieberin deinen Ranzen, vielleicht kann ichdir noch einmal aus der Not helfen.» DerJüngling befolgte <strong>den</strong> Rat.Am nächsten Tag, gegen Abend,er reichte er mit seinen drei Gefährtendas Königsschloss und meldete, er seigekommen, die Prinzessin zum Lachenzu bringen.Der König sagte: «Sehr gut, aber erstleg deinen Ranzen ab und n<strong>im</strong>m einenAbend<strong>im</strong>biss.»«Einen Imbiss nehmen, das kann ich,aber von meinem Ranzen mag ich michnicht trennen», erwiderte der Jünglingund setzte sich an <strong>den</strong> Tisch neben diePrinzessin.Zum Abendessen gab es gekochte4Erbsen. Alle assen ganz leise. Plötzlichwitterte die Ratte <strong>im</strong> Ranzen Erbsen undfing an, sich zu lecken: tjip, tjip! Als derKrebs das hörte, wurde er auch unruhig,er schlug mit seinem Schwanz an <strong>den</strong>eingetrockneten Ranzen: ljip, ljip! Undder Mistkäfer will auch nicht länger warten:bei ihm geht es nur so: b<strong>im</strong> bam,b<strong>im</strong> bam. Die Prinzessin fragte: «Wertreibt <strong>den</strong>n da unter dem Tisch solchePossen?»«Ach», sagte der Jüngling, «die Erbsenkönnen sich in meinem Bauch nicht vertragenund fangen an, sich zu prügeln.»Da brach die Prinzessin in ein hellesGelächter aus, und der König erhob sichsogleich und sagte: «Dir gehört sie, dubist mein Schwiegersohn.»Aber am anderen Ende des Tischessass ein fremder Königssohn, der warauch gekommen, um die Prinzessin zumLachen zu bringen. Den wurmte es nungar sehr, dass der Sohn des Armen diePrinzessin bekommen hatte.Nach dem Abendessen gab der Königseinem Schwiegersohn feine Kleider, diesollte er am nächsten Tage anlegen. Derfremde Königssohn aber verspracheinem Diener viel Geld, wenn er demArmen in der Nacht die feinen Kleiderstibitze. Er wollte dann insgehe<strong>im</strong> dieKleider anziehen und sich für <strong>den</strong>Schwiegersohn des Königs ausgeben.Um die Zeit des ersten Schlummersmachte sich der Diener ans Werk, dieKleider zu stehlen. Aber kaum hatte erdie Tür ein klein wenig geöffnet, da flogihm der Mistkäfer b<strong>im</strong>! ins Auge. In seinemSchmerz griff er nach seinem Auge,liess die Tür unverschlossen und machteschleunigst, dass er davonkam. Bei derzweiten Tür wollte sich der Diener nocheines Besseren besinnen, da flog ihm derMistkäfer bam! ins andere Auge. DerDiener liess vor Schmerz auch diese Türoffen und verschwand. Jetzt war für dieRatte und <strong>den</strong> Krebs der Augenblickgekommen: der schurkische Königssohnwar eingeschlafen, beide Türen stan<strong>den</strong>offen, jetzt konnten sie es ihm he<strong>im</strong>zahlen.Die Ratte machte sich daran, dieKleider des Spitzbuben in Fetzen zu zernagenund der Krebs, die Fetzen hinauszuziehen.So arbeiteten sie bis Tagesanbruchund bis dem Königssohne nurnoch ein heiles Hemd geblieben war.Am Morgen gab es dann kurzenProzess: Der Königssohn zog wie einbegossener Pudel ab, und der Sohn desArmen wurde des Königs Schwiegersohn.Er lud auch seinen alten Vater insSchloss und lebte mit seiner Frau inGlück und Wonne.Lettisches <strong>Märchen</strong>Quelle: Karl Rauch, <strong>Märchen</strong> aus Finnland unddem Baltikum. Bild: Z<strong>den</strong>ka Krejkova


Gedanken zum ThemaDas Grosse <strong>im</strong> KleinenDas Kleine <strong>im</strong> <strong>Märchen</strong>, ob Blume, Tieroder Mensch, wirkt auf <strong>den</strong> erstenBlick oft unscheinbar, nebensächlich,schwach, bemitlei<strong>den</strong>swert oder schutzbedürftig.Die Bedeutung und die Wirkungdes Kleinen dagegen ist oft gross.Allein die vielen <strong>Märchen</strong>, in <strong>den</strong>enKinder diejenigen sind, die die Lösungaus einer schwierigen Situation bringen,zeigen es uns.Ein Kind bedeutet potenzielle Zukunft,Hoffnung, frische junge Kraft. In <strong>den</strong><strong>Märchen</strong> vom Typ «Riese und Schneider»hilft der Witz, die Klugheit oder die Listdem Kleinen, <strong>den</strong> Grossen zu überwin<strong>den</strong>.Den Riesen erscheint ein ausgewachsenerjunger Mann als das Kleine:«Ihr <strong>kleinen</strong> Menschen seid klüger alswir, deshalb wollen wir dir die Entscheidungüberlassen» sagen sie in DieKristallkugel 1 zum jüngsten Bruder, alssie sich ergebnislos um einen Hut streiten.In einem <strong>Märchen</strong> aus der Karibik 2sind die Zwillingsbrüder unterschiedlichgross, der Grosse kann <strong>den</strong> winzigKleinen in die Tasche stecken. Es heisstvon ihnen: «Der Grosse hatte Kraft. DerKleine aber hatte he<strong>im</strong>liches Wissen, erkonnte zaubern.» Und was wären dieMenschen <strong>im</strong> <strong>Märchen</strong> ohne die <strong>kleinen</strong>Helfer, die Zwerge, Puken, Wichtel unddie Tiere.Mir fiel zum Thema «kleine Tiere <strong>im</strong><strong>Märchen</strong>» sofort Der kleine Vogel Bisch-Bisch 3 ein. Was erwarten wir, wenn wirdiesen Titel lesen? «Bisch-Bisch» klingtweich und zärtlich; ein «kleiner Vogel»könnte schutzbedürftig sein. Wir neigendazu, kleine Wesen behüten zu wollen.Steckt dahinter die eigene Erfahrung ausder Kindheit, in der uns Manches trotzAnstrengung oder aus mangelnder Übungoder aus Ungeschick misslang? DasGrosse, Stattliche wirkt (wenn wir keineextrem schl<strong>im</strong>me Erfahrung mit demGros sen gemacht haben) eindrucksvollund kraftvoll auf uns; vielleicht erwartenwir von <strong>den</strong> grossen Wesen, dass sieklug, erfolgreich, hilfreich sind? Auchdies eine Prägung aus Kindertagen?Es ist wohl gut, zwischen körperlicherund geistiger Grösse und Stärke zuunterschei<strong>den</strong>. Mögen die Ausdrücke«kleiner Vogel» und «Bisch-Bisch» auchanrührend auf uns wirken, <strong>im</strong> «Vogel»begegnet uns zuallererst ein Wesen mitAufschwungkraft, das sich mit Leichtigkeitdem H<strong>im</strong>mel nähern kann. Dadurchwurde der Vogel zum Bild der Seele,Bild: Otto Ubbelohdeund mit seinem Flug assoziieren wirFreiheit. Meine Freude an dem <strong>kleinen</strong>Vogel Bisch-Bisch liegt begründet in seinemmutigen, übermütigen und demütigenWesen, ganz wie es kleine Kinderauch bisweilen zeigen.Der kleine Vogel Bisch-Bisch hatteirgendwo Brei erwischt. Er frass undfrass, bis er dem Platzen nahe war. Sodick und vollgefressen legte er sich hinund streckte die Füsse in die Luft.«Jetzt bin ich stark», rief er, «so stark,dass ich <strong>den</strong> H<strong>im</strong>mel mit meinen Füssenhochhalten kann, wenn er herunter fällt!»Im selben Augenblick fing es an zudonnern und zu blitzen, als wollte derH<strong>im</strong>mel zusammenstürzen. Da sagte derkleine Bisch-Bisch voller Angst:«Gott, straf <strong>den</strong> Bisch-Bisch nicht,verzeih dem armen Wicht.Er hat zu viel geschmatztund weiss nicht, was er schwatzt!»Bisch-Bisch ist naschhaft wie ein Kind,masslos in seinem Appetit, er gehtmutig-übermütig bis ins Prahlerische,wer kennt das nicht, wenn es einemwohl oder zu wohl wird. Aber dannn<strong>im</strong>mt es mit dem Kleinen eine überraschendeWende: das Grosse, das übermässigund gehe<strong>im</strong>nisvolle und unerklärlichGrosse schlägt in seine Idylleein. Aber kein «Hilfe, Hilfe»-Ruf nach derMama, kein Angstgeheul nach dem starkenbeschützen<strong>den</strong> Papa, nein, der kleineBisch-Bisch zeigt einsichtige Grösse:«Gott, straf <strong>den</strong> Bisch-Bisch nicht, verzeihdem armem Wicht, er hat zu vielgeschmatzt und weiss nicht, was erschwatzt.»Ist dies überhaupt ein <strong>Märchen</strong> odereher eine Fabel? Das kleine Tier steht für<strong>den</strong> Menschen, das spricht dafür. DieFabel aber hat ein moralisches Kleid:Uns wird vor Augen geführt, wie wirhandeln sollten. Im <strong>kleinen</strong> Vogel Bisch-Bisch fehlt der moralische Unterton völlig.Es wird uns nicht gesagt «friss nichtmasslos viel», auch nicht «sei kein übermütigerPrahlhans.» Es wird lediglicherzählt, was das kleine Tier seiner Artgemäss erlebt und fühlt. – Ich wüsstegern, ob der Name Bisch-Bisch <strong>im</strong>Portugiesischen eine Bedeutung hat.Der winzige Vogel bleibt wer er ist.Anders ist es mit <strong>kleinen</strong> <strong>Tieren</strong>, die zu<strong>den</strong> Erlösungsbedürftigen zählen. Unddas sehen wir sofort ein, wenn wir keinenniedlichen Spatz oder Zaunkönigvor uns sehen, sondern eine Kröte, diemit ihrer Erscheinung meist Ekel undSchreck hervorruft. In der Enzyklopädiedes <strong>Märchen</strong>s wird sie als ambivalentesTier bezeichnet: Einerseits galt sie in derAntike als giftig, andererseits wird sie inder Volksmedizin zu Heilzwecken verwendet.Sie ist Unheil- und Schutz bringerin;sie wird als Verkörperung des Teufelsinterpretiert, kann aber auch einepositive symbolische Bedeutung haben.Da sie sich selten zeigt, erschrecke ich,wenn sie während meiner Gartenarbeitin einem Blumenbeet plötzlich hüpfendvor mir auftaucht. Meist bleibt sie ineiniger Entfernung für eine Weile stillsitzen und scheint mich anzusehen,bevor sie sich wieder versteckt. Mit ihrverbinde ich Gehe<strong>im</strong>nis und Weisheit.Als einmal Enkelkinder da waren, überwandich meine Scheu und erlebte, dassdas kleine goldgrün warzig sch<strong>im</strong>merndeTier sich willig fangen liess. Ich warüberrascht von der Trockenheit der Hautund der Zartheit der Berührung.Bild: Bernhard Wenig5


Gedanken zum ThemaIm <strong>Märchen</strong> Der Krötenkaiser 4 wünschtsich ein schon recht betagtes Ehepaarein Kind, «selbst wenn wir eine Kröte alsKind bekämen, wären wir zufrie<strong>den</strong>»sagen sie zum Tempelgott. Die Fraubringt eine Kröte zur Welt, aber dieAlten erschrecken und wollen sie töten.Das kleine Wesen spricht begütigend zuihnen, weissagt, dass es bald schon demVater werde helfen können, und sie ziehendie Kröte auf. Es zeigt sich, dass daskleine Tier grosse Sprünge machenkann: Es reisst von der Mauer einenAufruf des Kaisers ab, besteigt ein stattlichesPferd und schwingt ein grossesSchwert. Damit hilft es dem Kaiser auseiner Notlage und bekommt die versprocheneKaiserstochter zur Frau. Nachtserfährt sie, dass der Kröterich zu einemschönen jungen Mann wird und gewinntihn lieb. Der Kaiser kann <strong>den</strong> Anblickdes hässlichen Tag-Tieres auf seinemThron nicht ertragen und will es tötenlassen. Weil er aber neugierig ist, was esmit der Krötenhaut auf sich hat, zieht ersie eines Nachts an und kann sie dannnicht wieder abstreifen. Nun muss dieserRegent ein Dasein als kleines verachtetesTier leben.Das hässliche und wahrscheinlich alsunhe<strong>im</strong>lich erlebte tierische Wesen inuns ist in Gefahr, nicht anerkannt undangenommen, also getötet zu wer<strong>den</strong>.Wir sehen offenbar nicht seine Kraft undsein Vermögen, das uns feindlich Ge -sinnte in uns zu besiegen, ausser wirglauben an unsere Verwandlungsfähigkeit.Linde KnochLiteraturhinweise1 KHM 1972 Eine Geschichte von Zwillingen. In: Woher und wo -hin? Hrsg. Helga Gebert. Weinhe<strong>im</strong> und Basel 19973 Portugiesische <strong>Märchen</strong>. Hrsg. Harri Meyer undDieter Woll. Diederichs. München 19934 Erzählfassung von Linde Knoch von Der Krötenkaiserin: Südchinesische <strong>Märchen</strong>. Hrsg. Wolframund Alide Eberhard, Diederichs, Düsseldorf 1976.Linde KnochLinde Knoch lebt auf der Insel Sylt.Durch das Erleben von frei erzählten<strong>Märchen</strong> ist sie auf die Weisheit undSchönheit der überlieferten <strong>Märchen</strong>der Völker aufmerksam gewor<strong>den</strong>und hat sich zur Erzählerin ausbil<strong>den</strong>lassen. Sechs Jahre war sie Vizepräsi<strong>den</strong>tinder Europäischen <strong>Märchen</strong>gesellschaftund als solche verantwortlichfür die Erzählausbildungin der EMG. Linde Knoch gibt zahlreicheSeminare zur <strong>Märchen</strong>kunde,für Erzählübungen und zum meditativenUmgang mit <strong>Märchen</strong> für dieEMG und andere Bildungseinrichtungen.<strong>Märchen</strong>Der KrötenkaiserEs war einmal ein altes Ehepaar, Mannund Frau, beide über sechzig Jahre alt.Sie hatten keine Kinder und waren deshalbtraurig. Regelmässig gingen sie zumTempel, um zu beten, aber der Erfolgblieb aus. Eines Tages sagten sie zumTempelgott: «Selbst wenn wir eine Kröteals Kind bekämen, wären wir zufrie<strong>den</strong>.»Der Tempelgott war einverstan<strong>den</strong>.Sie gingen flink nach Hause und stiegenin ihr Ehebett. Wirklich war die Fraubald schwanger, und sie gebar tatsächlicheine Kröte. Gleich hüpfte das Tierherum, und eines Tages sagte es «Vater»und «Mutter» zu <strong>den</strong> alten Leuten. Siestarben beinahe vor Schreck! Schliesslichhatten sie auf einen Sohn gehofft, undwas sie hatten, war ein Kröterich. Ambesten wäre es, das Tier zu töten. Nunaber bat der Kröterich, ihn aufzuziehen.Nach zwei Jahren würde er erwachsensein und könnte seinen Vater ständigbegleiten.Eines Tages war am Stadtwall ein kaiserlicherAufruf: Die Nordbarbaren seiendabei, nach Sü<strong>den</strong> einzufallen; wer siebesiegen könne, werde reich belohntund bekäme ausserdem eine Prinzessinzur Frau. Kaum war der Vater mit demLesen fertig, als der Kröterich hochsprangund das Plakat abriss, zumZeichen dafür, dass er der Aufforderungnachkommen wolle.6Ein Beamter führte ihn zum Kaiser,<strong>den</strong> bat er, ihm fünfhundert Mann, eingrosses Pferd und ein schönes Schwertzu geben. Dann ritt der Kröterich nachNor<strong>den</strong>. Die Nordbarbaren rücktennäher mit ihrem Heer, aber als sie eineKröte zu Pferde sahen, waren sie verwirrt.Der Kröterich benutzte diesenUmstand, stürzte mit seinem Schwert vorund erschlug alle Nordbarbaren. Nachdiesem grossen Sieg kam der Kröterichzurück und wurde kaiserlicher Schwiegersohn.Bald aber war der Kaiser auf ihn böse,weil der Kröterich gern auf <strong>den</strong> Kaiserthronsprang und da sitzenblieb, washässlich anzusehen war. Deshalb befahlder Kaiser, das Tier zu töten. Aber diePrinzessin, also des Kröterichs Frau, wardagegen. Sie erzählte ihrem Vater, dassder Kröterich nachts seine Haut ablegeund zu einem schönen Jüngling werde;sie habe sich in ihn verliebt! Der Kaiserglaubte ihr kein Wort, und deshalb kamer in der nächsten Nacht, zusammen mitder Kaiserin, he<strong>im</strong>lich in das Z<strong>im</strong>mer derPrinzessin, um nachzusehen. Wirklich, dahing die Krötenhaut am Bett! Vor sichtignahm er sie und begann sie anzuziehen.Es war nicht einfach, und er brauchteHilfe von der Kaiserin. Schliess lich hatteer sie an, aber jetzt erwies es sich alsunmöglich, sie wieder auszuziehen!Am anderen Morgen nahm die Prinzessin <strong>den</strong> Kaisermantel ihres Vaters undgab ihn ihrem Gatten. Er zog ihn an undging damit zu Hofe. Der alte Kaiser aber,der musste forthüpfen ins Gebirge.Chinesisches <strong>Märchen</strong>Erzählfassung von Linde Knoch nach: Südchine sische<strong>Märchen</strong>, hrsg. von Wolfram u. Alide Eberhard,Diederichs, Düsseldorf 1976. Bild: LiloFromm


<strong>Märchen</strong>Die BienenköniginZwei Königssöhne gingen einmal aufAbenteuer und gerieten in ein wildes,wüstes Leben, sodass sie gar nicht wiedernach Haus kamen. Der Jüngste, welcherder Dummling hiess, machte sichauf und suchte seine Brüder: Aber wie ersie endlich fand, verspotteten sie ihn,dass er mit seiner Einfalt sich durch dieWelt schlagen wollte, und sie zweikönnten nicht durchkommen, und wä rendoch viel klüger. Sie zogen alle drei miteinanderfort und kamen an einenAmeisenhaufen. Die zwei Ältestenwollten ihn aufwühlen undsehen wie die <strong>kleinen</strong> Ameisenin der Angst herumkröchenund ihre Eierfort trügen, aber derDumm ling sagte:«Lasst die Tiere inFrie<strong>den</strong>, ich leidsnicht, dass ihr siestört.»Da gingen sieweiter und kamenan einen See, aufdem schwammenviele viele Enten.Die zwei Brüderwollten ein paarfangen und braten,aber der Dummlingliess es nicht zu,und sprach: «Lasst dieTiere in Frie<strong>den</strong>, ichleids nicht, dass ihr sietötet.»Endlich kamen sie an einBienennest, darin war so vielHonig, dass er am Stamm herunterlief.Die zwei wollten Feuer unter <strong>den</strong>Baum legen und die Bienen ersticken,damit sie <strong>den</strong> Honig wegnehmen könnten.Der Dummling hielt sie aber wiederab, und sprach: «Lasst die Tiere inFrie<strong>den</strong>, ich leids nicht, dass ihr sie verbrennt.»Endlich kamen die drei Brüder in einSchloss, wo in <strong>den</strong> Ställen lauter steinernePferde stan<strong>den</strong>, auch war kein Menschzu sehen, und sie gingen durch alle Säle,bis sie vor eine Tür ganz am Endekamen, davor hingen drei Schlösser; eswar aber mitten in der Türe ein Lädlein,dadurch konnte man in die Stube sehen.Da sahen sie ein graues Männchen, dasan einem Tisch sass. Sie riefen es an,einmal, zwe<strong>im</strong>al, aber es hörte nicht.Endlich riefen sie zum dritten Mal, dastand es auf, öffnete die Schlösser undkam heraus. Er sprach aber kein Wort,sondern führte sie zu einem reichbesetztenTisch; und als sie gegessen undgetrunken hatten, brachte es einen jeglichenin sein eigenes Schlafgemach. Amandern Morgen kam das graue Männchenzu dem Ältesten, winkte und leitete ihnzu einer steinernen Tafel, darauf stan<strong>den</strong>drei Aufgaben geschrieben, wodurch dasSchloss erlöst wer<strong>den</strong> könnte. Die erstewar, in dem Wald unter dem Moos lagendie Perlen der Königstochter, tausend ander Zahl, die mussten aufgesucht wer<strong>den</strong>,und wenn vor Sonnenuntergangnoch eine einzige fehlte, so ward der,welcher gesucht hatte, zu Stein. DerÄlteste ging hin und suchte <strong>den</strong> ganzenTag, als aber der Tag zu Ende war, hatteer erst hundert gefun<strong>den</strong>; es geschah wieauf der Tafel stand, er ward in Stein verwandelt.Am folgen<strong>den</strong> Tag unternahm derzweite Bruder das Abenteuer: Es gingihm aber nicht viel besser als dem ältesten,er fand nicht mehr als zweihundertPerlen, und ward zu Stein.Endlich kam auch an <strong>den</strong> Dummlingdie Reihe, der suchte <strong>im</strong> Moos, es waraber so schwer, die Perlen zu fin<strong>den</strong> undging so langsam. Da setzte er sich aufeinen Stein und weinte. Und wie er sosass, kam der Ameisenkönig, dem ereinmal das Leben erhalten hatte, mitfünftausend Ameisen, und es währte garnicht lange, so hatten die <strong>kleinen</strong> Tieredie Perlen miteinander gefun<strong>den</strong> und aufeinen Haufen getragen.Die zweite Aufgabe aber war, <strong>den</strong>Schlüssel zu der Schlafkammerder Königstochter aus der Seezu holen. Wie der Dummlingzur See kam, schwammendie Enten, die er einmalgerettet hatte, heran,tauchten unter, undholten <strong>den</strong> Schlüsselaus der Tiefe.Die dritte Aufgabeaber war dieschwerste: Aus <strong>den</strong>drei schlafen<strong>den</strong>Töchtern des Kö -nigs sollte diejüngste und dieliebste herausgesuchtwer<strong>den</strong>. Sieglichen sich abervollkommen, undwa ren durch nichtsverschie<strong>den</strong>, als dasssie, bevor sie eingeschlafenwaren, verschie<strong>den</strong>eSüssigkeiten gegessenhatten, die älteste einStück Zucker, die zweite einwenig Sirup, die jüngste einenLöffel voll Honig. Da kam die Bie nenköniginvon <strong>den</strong> Bienen, die der Dummlingvor dem Feuer geschützt hatte, undversuchte <strong>den</strong> Mund von allen dreien,zuletzt blieb sie auf dem Mund sitzen,der Honig gegessen hatte, und soerkannte der Königssohn die rechte. Dawar der Zauber vorbei, alles war ausdem Schlaf erlöst, und wer von Steinwar, erhielt seine menschliche Gestaltwieder. Und der Dummling vermähltesich mit der jüngsten und liebsten, undward König nach ihres Vaters Tod; seinezwei Brüder aber erhielten die bei<strong>den</strong>andern Schwestern.Kinder- und Hausmärchen der Brüder Gr<strong>im</strong>m,Ausgabe letzter Hand 1857. Bild: Helga Gebert7


<strong>Märchen</strong>betrachtungIm Einklang mit der Natur – Die BienenköniginZwei Königssöhne gingen einmal aufAbenteuer und gerieten in ein wildes,wüstes Leben, sodass sie gar nicht mehrnach Haus kamen.Wir hören einen kurzen, prägnanten<strong>Märchen</strong>anfang, der wie geeignet zumErzählen in der dritten Klasse ist. Fastsind wir geneigt, ihn auszuschmückenoder zu verlängern. Aber in diesen wenigenWorten wird alles gesagt – jederZuhörende bildet sich seine eigene,ihm gemässe und ihm mögliche Vorstellungvon diesem wil<strong>den</strong> Leben.8Jeder wird ein anderes wüstes Leben vorAugen haben, <strong>den</strong>n so ungewöhnlich istdieses Geschehen nicht, auch nicht inunserem Leben! Wenn aber zwei Königssöhnegar nicht mehr nach Hause kommen,also «ganz aus dem Häuschenbleiben», dann bedeutet wüst auch einLoslösen von der natürlichen Ordnung,dann haben sie ihren äusseren und ihreninneren Halt verloren. Sie brauchenHilfe, um zu sich und zum Königreichzurückfin<strong>den</strong> zu können.Der Jüngste, welcher der Dummlinghiess, machte sich auf und suchte seineBrüder.In diesem <strong>Märchen</strong> wird der Dummling,wenn er seine Brüder findet, verspottet,dass er mit seiner Einfalt sichdurch die Welt schlagen wollte. Das wäreja nicht einmal <strong>den</strong> Klügeren gelungen.Aber <strong>den</strong> Jüngeren schützt gerade dieseEinfalt, diese unkomplizierte, das heisstalso ungefaltete, nicht verknotete Seeledavor, sich <strong>im</strong> Dickicht des Lebens zuverfangen. Er geht <strong>den</strong> gera<strong>den</strong>, <strong>den</strong> mittlerenWeg. Er rettet seine Brüder und siezogen alle drei miteinander fort.Es wur<strong>den</strong> und wer<strong>den</strong> <strong>im</strong>mer nochdie Einfältigen <strong>im</strong> Leben oft verlacht. Siesind <strong>im</strong> Ein-Klang mit sich und dadurchauch <strong>im</strong> Einklang mit der Natur. Das hatnichts mit falsch verstan<strong>den</strong>er Romantikzu tun, es bedeutet, dass der jüngsteBruder, der in anderen <strong>Märchen</strong> auch oftder Narr genannt wird, die Fähigkeitbesitzt, sich in die Natur einzufügen. Fürihn ist die Natur nicht Umwelt, sondernInwelt, sie atmet in und mit ihm.Aber das halten komplizierte Menschengar nicht aus. Es zeigt sich auf demWanderweg der drei Brüder, wie wenigdie bei<strong>den</strong> Älteren begriffen haben, wases bedeutet, einen gera<strong>den</strong> Weg zugehen. Die Natur ist ihnen kein Wegweiser,kein Helfer, sondern Spiel undMöglichkeit, die eigenen Triebe zu befriedigen.Oder sie versuchen, sie gewaltsamauszubeuten.Sie kommen an einen Ameisenhaufen.Die zwei Ältesten wollten ihn aufwühlenund sehen, wie die <strong>kleinen</strong> Ameisen in derAngst herumkröchen und ihre Eier forttrügen.Wenn die Brüder selbst schon ausserRand und Band sind, so soll auch sonstkein Wesen in natürlicher Ordnung ungestörtleben dürfen. Sie nehmen nichts von<strong>den</strong> Zusammenhängen zwischen Kosmosund Natur wahr. Denn Kosmos heisst jaOrdnung. Selbstherrlich wollen sie nurzerstören und sich an der Zerstörung wei<strong>den</strong>.Der Jüngste lässt es nicht zu: «Lasstdie Tiere in Frie<strong>den</strong>, ich leid’s nicht, dassihr sie stört.»Mit diesem Satz gliedert der Dummlingsich in das Geschehen der grossen Naturreiche<strong>im</strong>mer wieder ein. Er sagt zu seinenBrüdern, dass wir Menschen nichtWährend er weint,trägt der Ameisenkönigmit seinen Dienern diePerlen auf einenHaufen.das Recht haben, einzugreifen, nur umpersönlichen Gewinn daraus zu erzielen.Das heisst nicht, dass wir keinen Nutzenaus der Natur ziehen dürfen und können,aber gerade das weitere <strong>Märchen</strong> zeigt,wie dieser Nutzen dann aussieht, wenn er<strong>im</strong> «Einklang» ist. Der Dummling leidetmit der Natur, mit <strong>den</strong> <strong>Tieren</strong>, wenn sienicht in Frie<strong>den</strong> gelassen wer<strong>den</strong>.So rettet er danach die Enten, die von<strong>den</strong> Brüdern geschossen und gebratenwer<strong>den</strong> sollen: «Ich leid’s nicht, dass ihrsie tötet.» Und er hält sie davon ab, einBienennest auszuräuchern und die Tierezu ersticken, um ungefährdet <strong>den</strong> Honigplündern zu können: «Ich leid’s nicht,dass ihr sie verbrennt.»Wenn wir dieses Geschehen mit anderen<strong>Märchen</strong> vergleichen, in <strong>den</strong>en derProtagonist sich mit <strong>Tieren</strong> verbindet unddadurch verbündet, so können wir auchdort einen neuen Zusammenhang mit derNatur fin<strong>den</strong>. Nicht <strong>im</strong>mer wer<strong>den</strong> dieTiere von Menschen bedroht, aber siesind irgendwie in Not geraten und eswird ihnen geholfen.In «Die weisse Schlange» befreit einJüngling drei nach Luft schnappendeFische aus dem Schilf, rettet die Ameisendavor, von seinem Pferd zertreten zu wer<strong>den</strong>und tötet schliesslich dieses Pferd,um es hungrigen jungen Raben als Futterund Nahrung zu überlassen. Jedes Malrufen die Tiere ihm nach: «Wir wer<strong>den</strong>dir’s ge<strong>den</strong>ken und dir’s vergelten.»Damit gewinnt er unbewusst, das heisst<strong>im</strong> Mitleid, die Gebieter, die Herrscherüber drei Tierreiche zu Verbündeten, dieihm später das Leben retten können: Erruft sie nicht zu Hilfe, wenn er auch <strong>den</strong>Tod vor Augen hat, doch sie sind unsichtbar<strong>im</strong>mer in seiner Nähe, bei ihm, inihm. Er ist <strong>im</strong> Einklang mit der Er<strong>den</strong>weltder Ameisen, der Wasserwelt der Fischeund der Luftwelt der Raben. Das Pferd,das er tötet, vertritt in diesem <strong>Märchen</strong>kein Tierreich, sondern die Kraft, die esihm ermöglicht, aus der Dienerschaft ineinem Königreich in die persönlicheFreiheit entlassen zu wer<strong>den</strong>. Diese Kraftmuss er opfern, um neue Welten zuerlangen, das heisst in diesem <strong>Märchen</strong>,fliegen zu lernen.Im <strong>Märchen</strong> «Das Meerhäschen» lesenwir, wie ein Jüngling aus Verzweiflungeinen Raben, einen Fisch und einenFuchs töten will, es dann aber auf Bittender Tiere und aus Mitleid unterlässt. Hierwird ganz eindrücklich erzählt, wie ermithilfe der Tiere später in die Tiefen unddie Gehe<strong>im</strong>nisse der Naturreiche, in dasRätsel von Geburt, Tod und Wandlungeingeweiht wird. Das ist eine Stufe, die


<strong>Märchen</strong>betrachtungnicht einmal die sonst allwissendePrin zessin, die er erringenwill, erreicht hat, und so gewinnter sie und das König reich.Die drei Brüder, die die Tierein Frie<strong>den</strong> gelassen haben, wandernweiter und kommen an einversteinertes, dreifach versperrtesund schlafendes Schloss. Istes ihre Aufgabe, dieses Schlossaus der Erstarrung zu befreien?Welcher Fluch hat alle Wesen andiesem Ort getroffen? Nur ganzam Ende der Räume sitzt hinterdrei Schlössern ein graues Männchen,das erst nach dre<strong>im</strong>aligemRufen dazu bereit ist, die Tür zuöffnen: Sie riefen es an, einmal,zwe<strong>im</strong>al, aber es hörte nicht;endlich riefen sie zum drittenMal, da stand es auf, öffnete die Schlösserund kam her aus.Haben die Brüder in der Rangordnungihrer Geburt gerufen? Hört das Männchenerst die St<strong>im</strong>me des Jüngsten? Wichtig ist,dass die bei<strong>den</strong> anderen auch rufen,<strong>den</strong>n bei jedem Ruf lockert sich gleichsameins der drei Schlösser, aber erstbe<strong>im</strong> dritten Ruf kann die Tür geöffnetwer<strong>den</strong>. Sie stellen sich von jetzt an aufeine Ebene mit ihrem jüngsten Bruderund handeln gemeinsam! Aber die Älterensind nicht in der Lage, die Erstarrungdes Schlosses zu lösen. Sie wer<strong>den</strong>, weilsie schon die allererste Aufgabe dazunicht vollbringen können, zu Stein wiedie Pferde <strong>im</strong> Stall.Die erste Aufgabe war: Im Wald unterdem Moos lagen die Perlen der Königstochter,tausend an der Zahl, die musstenausgesucht wer<strong>den</strong>, und wenn vor Sonnenuntergang noch eine einzige fehlte, soward der, welcher gesucht hatte, zu Stein.Bei der dritten Aufgabehilft diejenige, die dem<strong>Märchen</strong> <strong>den</strong> Namengibt: die Bienen königin.Unvermittelt wird hier von einer Kö -nigs tochter gesprochen, ohne dass wirwissen, wer sie ist und warum ihre Perlen<strong>im</strong> Wald liegen. Es ist der Reiz dieses<strong>Märchen</strong>s, dass es so holzschnittartigerzählt. Die Bilder, die Gestalten gehörenzusammen, auch wenn es nicht ausführlicherklärt wird. Hat die Königstochterdie Perlen geweint, während das Reichallmählich erstarrte? Die Perlen, <strong>im</strong> Volksmund«geronnener Schmerz» genannt,liegen unter dem Moos und sind der ersteSchritt oder die erste Handlung auf demWege der Erlösung. Aber die Menschenalleine sind nicht fähig dazu, zu sehrhaben sie sich von der Natur entfernt, wiedie Brüder es zeigen.Auch der Dummling versucht, die Perlenzu sammeln, merkt aber schon bald,dass es so schwer war und so langsamging! Da setzte er sich auf einen Stein undweinte. Diese Hingabe an das Wei nenfin<strong>den</strong> wir in manchen <strong>Märchen</strong>, so zumBeispiel bei der Goldmarie und bei derMüllerstochter, die Stroh zu Gold spinnensoll. Dieses Weinen ist keine Schwäche,sondern eine Bedrängnis und das Eingeständnisdes eigenen Unver mögens.Wenn wir darauf achten, entdecken wir,dass in diesem Weinen eine Tür aufgeht,Hilfe herangetragen wird, ungeahnteneue Kräfte entstehen. In unserem <strong>Märchen</strong>zeigt sich: Der Dummling hat unwissendsein Vermögen, sein Können draussenin der Natur erworben. Wäh rend erweint, trägt der Ameisenkönig mit seinenDienern die Perlen auf einen Hau fen. Esist der erste Schritt zur Befreiung derKönigstochter.Die zweite Aufgabe aber war, <strong>den</strong>Schlüssel zu der Schlafkammer der Kö ­nigstochter aus der See zu holen.Ein solches unendlich tiefes Wasserstellt auch <strong>den</strong> Jüngling <strong>im</strong> <strong>Märchen</strong> «Dieweisse Schlange» vor eine unlösbareAufgabe. Aber die bei<strong>den</strong> Jünglinge ha -ben sich mit dem Wasserelement verbündet.Dort bringen die Fische einen gol<strong>den</strong>enRing, hier die Enten <strong>den</strong> Schlüs selaus der Tiefe herauf. Der Dummling stehtnun vor der Aufgabe, die Königs tochterselbst zu wecken, sie zu erkennen.Die dritte Aufgabe aber war dieschwerste, aus <strong>den</strong> drei schlafen<strong>den</strong> Töchterndes Königs sollte die jüngsteund die liebste her ausgesuchtwer<strong>den</strong>. Sie glichen sich aber vollkommenund waren durch nichtsverschie<strong>den</strong> ...Wir können es als «blindesMotiv» sehen, dass jetzt plötzlichdrei Mädchen da sind, nur umdie dreifache Hochzeit am Schlussdes <strong>Märchen</strong>s zu ermöglichen.Aber ist ein <strong>Märchen</strong> nicht fortwährend<strong>im</strong> Wandel? Ändert sichnicht seine Landschaft, also auchdie Landschaft der Seele, wennwir einen Weg weitergehen?Sehen wir nicht <strong>im</strong>mer Neues,Unbe kanntes, Unerwarte tes? Wirmüssen es nur erfahren underkennen, also unterschei<strong>den</strong> lernen.Bei der dritten Aufgabe hilft diejenige,die dem <strong>Märchen</strong> <strong>den</strong> Namen gibt: dieBienenkönigin. Sie vertritt gleichermassendie Elemente von Luft und Wärme, Liebeund Gemeinsamkeit, so wie die jüngsteKönigstochter die Verheissung von Liebe,Schönheit und Jugend in sich vereint. DieBiene gilt als das älteste Haustier derWelt. Wenn sie nicht verbrannt, sondernum ihre Gabe gebeten wird, hilft sie <strong>den</strong>Menschen zu der reichsten und gesündestenNahrung.Mit diesem Honig wird das ganzeSchloss erlöst, die Brüder wer<strong>den</strong> wiederlebendig und einer grossen Gemeinsamkeitunter der weisen Führung desDumm lings steht nichts mehr <strong>im</strong> Wege.Arnica EsterlQuelle: Die Bienenkönigin – <strong>im</strong> Einklang mit derNatur, aus: Die <strong>Märchen</strong>leiter, A. Esterl, © 2002,<strong>Verlag</strong> Freies Geistesleben, Stuttgart. Bilder:Walter CraneArnica EsterlArnica Esterl, 1933 in Den Haaggeboren, studierte nach abgeschlossenerSchneiderlehre Germanistik,Philosophie und Friesisch in Amsterdamund Tübingen. Seit 1976 ist sieaktives Mitglied der Europäischen<strong>Märchen</strong>gesellschaft und seit 1989<strong>im</strong> Stuttgarter <strong>Märchen</strong>kreis engagiert.Neben ihrer Seminartätigkeitfür Erwachsene gilt ihre Hingabeund Lei<strong>den</strong>schaft dem lebendigenErzählen – besonders dem Erzählenfür Kinder.9


<strong>Märchen</strong>forschungZaunkönig und der Bär» (KHM 102).Denn in ihm wird das allgemeine Themader Tiermärchen – der Kleine überlistet<strong>den</strong> Grossen – auf witzige und phantasievolleWeise variiert und erweitert. DieHauptfiguren, zwischen <strong>den</strong>en es zumStreit kommt, sind die Jungen des Zaunkönigsund der Bär. Im Mittelteil weitetsich dieser Streit zu einem regelrechtenKrieg zwischen <strong>den</strong> wil<strong>den</strong> <strong>Tieren</strong> aufder einen Seite und <strong>den</strong> Vögeln undInsekten auf der anderen Seite aus.Zu Beginn erscheint der Bär in Begleitungdes Wolfs. Der Bär war früher dasstärkste Tier in Europa und galt ursprünglichals der König der Tiere. In <strong>den</strong> Tiererzählungenwird er, wie Jacob Gr<strong>im</strong>mbemerkt, «bald dem Löwen, bald demWolf gleichgesetzt. In diesem <strong>Märchen</strong>hat er eine Zwischenstellung zwischenLöwe und Wolf. Weil der Bär derGrösste und Stärkste unter allen europäischen<strong>Tieren</strong> ist, möchte er keinenanderen als König anerkennen, schongar nicht <strong>den</strong> winzigen Zaunkönig, aberer zieht zuletzt <strong>den</strong> Kürzeren wie inanderen <strong>Märchen</strong> der Wolf. Der Wolfverhält sich in diesem <strong>Märchen</strong> jedochklug, je<strong>den</strong>falls klüger als der Bär, spieltalso die Rolle, die sonst dem Fuchszukommt.Als der Bär <strong>den</strong> Wolf fragt, welchenVogel sie so schön singen hören, antwortetdieser, es sei der «König derVögel», und fordert ihn auf, sich vor diesemzu verneigen. Der Bär, dem diesgegen seinen Stolz geht, will es erst glauben,wenn er <strong>den</strong> «königlichen Palast»gesehen hat, spottet dann angesichts des<strong>kleinen</strong> Nestes über <strong>den</strong> «erbärmlichenPalast» und besch<strong>im</strong>pft die Königskinderals «unehrlich». Diese drohen ihm Vergeltungan und zwingen ihren Vater, <strong>den</strong>«alten König», durch einen Hungerstreikdazu, dem Bär <strong>den</strong> Krieg zu erklären.Der Zaunkönig und der Bär berufennun ihre Armeen, der Bär beruft alleVierfüssler, der Zaunkönig beruft alles,was in der Luft fliegt. Und der Bärernennt <strong>den</strong> Fuchs zum Anführer, weiler «der schlauste unter allem Getier» sei.Diesmal aber trifft der Fuchs auf einennoch Schlaueren. Die Mücke, die «listigstevon allen», belauscht he<strong>im</strong>lich seinenSchlachtplan und verrät ihn dem Zaunkönig,der <strong>den</strong> Plan daraufhin durchkreuzt.Als der Fuchs seinen prächtigenSchwanz als Zeichen zum Angriff erhebt,sticht die Hornisse dre<strong>im</strong>al hinein, bis er<strong>den</strong> Schwanz zwischen die Beine n<strong>im</strong>mtund alle Vierfüssler davonlaufen. «DenSchwanz zwischen die Beine nehmen»ist eine Redewendung für fliehen, davonlaufen,deren Herkunft oder Ätiologie indieser Geschichte auf spasshafte Weiseerklärt wird.Nachdem der Krieg gewonnen ist,kehren der König und die Königinzufrie<strong>den</strong> he<strong>im</strong> zu ihren Kindern. Diesesind jedoch noch nicht zufrie<strong>den</strong>, sonderndrohen, ihren Hungerstreik fortzusetzen,bis der Bär vor ihr Nest kommtund «Abbitte» tut, wozu der völlig verängstigteBär auch sofort bereit ist.Die kleine List siegt über die grosseDieses Tiermärchen handelt also voneinem doppelten Wettstreit: Zwischen<strong>den</strong> Kindern des Zaunkönigs und demBär (Rahmenhandlung) und zwischen<strong>den</strong> Insekten und dem Fuchs (Binnenhandlung).Die Binnenhandlung drücktJacob Gr<strong>im</strong>m zufolge (Anm. zu KHM102) die Idee aus: «Die kleine List siegtüber die grosse». Die winzige Mückeerweist sich als noch listiger als derFuchs. Und der Zaunkönig erweist sich,wie sein Name sagt, als der wahre Königund herrscht am Ende nicht nur über dieVögel, sondern über das ganze Tierreich.Der starke Bär scheitert nicht an seinerStärke, sondern an seinem Stolz undseiner Verblendung, wozu ihn seineStärke verführt. Er urteilt nach dem äu -sse ren Schein und vermag nicht in <strong>den</strong>winzigen Vögelchen, die statt in einemPalast in einem erbärmlichen Nest liegen,die wahren Königskinder zu erkennen.An diesem schönen Beispiel lässt sichauch zeigen, wie unsinnig die durchAbgrenzung von anderen Gattungengewonnenen Merkmale des Tiermärchenssind. Die Figuren sind weder – <strong>im</strong>Unterschied zum Zaubermärchen – «Menschenin Tiergestalt» noch – <strong>im</strong> Unterschiedzur Fabel – «wirkliche Tiere», sondernin ihnen ist das «menschliche mitdem tierischen Element» gemischt. Ein erseitssind sie geprägt durch menschlicheSchwächen wie Hochmut, Verblendung(auf Seiten des Bären) und Verletzlichkeit(auf Seiten der jungen Zaunkönige),andererseits bringen sie die äusserenMerk male und Eigenheiten ihrer Spezieszur Geltung wie der Fuchs seinen Schwanzund seine Schläue. Die Geschichte istweder besonders kurz (<strong>im</strong> Unterschiedzum Zaubermärchen) noch besonderslang (<strong>im</strong> Unterschied zur Fabel), sondernknapp erzählt, auf die Handlung bezogen,aber nicht dramatisiert, nicht zugespitztauf die erwartete Moral. Sie beabsichtigtauch nicht, entweder zu belehrenoder zu unterhalten, sondern sie«lehrt wie alles Epos», aber sie «geht nichtdarauf aus zu lehren» 1 . Ihr Inhalt lässteine Menge von Anwendun gen zu 2 –wie «Hochmut kommt vor dem Fall» oder«Der wahre Wert zeigt sich nicht <strong>im</strong> äusserenSchein». Aus solchen Morallehrenergibt sich aber nicht zwangsläufig eineso schöne und unterhaltsame Geschichte.LumpengesindelDie in <strong>den</strong> Tiermärchen vorgeführtenFiguren fühlen, sprechen und handelnwie Menschen, sodass wir be<strong>im</strong> Zuhörenmitunter vergessen, dass sie Tiere sind.Bausinger hat in <strong>den</strong> <strong>Märchen</strong> hauptsächlich«moralische Tiere» aufgespürt. 3In <strong>den</strong> Tiermärchen treten aber auchHel<strong>den</strong> auf, die nicht nur keine «unbedingtenTugendhel<strong>den</strong>» sind, wie Jolleszu einigen Hel<strong>den</strong> der Zaubermärchenbemerkt 4 , sondern die entschie<strong>den</strong>unmoralisch handeln. Und hier steht derFuchs wiederrum an erster Stelle. Auch«Hähnchen und Hühnchen» mit ihremAnhang sind keine moralischen Tiere,sondern <strong>im</strong> Gegenteil, wie der Titel deseinen <strong>Märchen</strong>s lautet, ein «Lumpengesindel»(KHM 10). Dies hindert <strong>den</strong>Erzähler aber nicht, ihrer Untat einelustige Seite abzugewinnen und sie als«Schabernack» zu beschreiben.Hähnchen und Hühnchen macheneinen Ausflug zum Nüsseessen, und amAbend wollen sie, weil sie zu viel gefres-Bild: Otto Ubbelohde11


<strong>Märchen</strong>forschung12Bild: Otto Ubbelohdesen haben und weil sie übermutig sind,nicht «zu Fuss nach Hause gehen».Hähnchen baut einen Wagen von Nussschalen,weigert sich aber, ihn zu ziehen.Da kommt eine Ente, die ebenfallsNüsse klauen will, besch<strong>im</strong>pft sie als«Diebsvolk», es kommt zum Kampf, dieEnte unterliegt und muss Hähnchen undHühnchen <strong>im</strong> Wagen ziehen. Unterwegsbegegnen sie zwei Fussgängern, einerStecknadel und einer Nähnadel, die sich«be<strong>im</strong> Bier verspätet» haben, und lassensie einsitzen. Spät abends kommen siezu einem Wirtshaus, und da die Entenicht mehr weiterziehen kann, kehrensie ein. Der Wirt erkennt sofort, dass siekeine «vornehme Herrschaft- sind, dochweil sie ihm das Ei versprechen, das dasHühnchen unterwegs gelegt hat, und dieEnte dazu, dürfen sie übernachten. DerHahn wacht frühmorgens auf, weckt dasHühnchen, sie verzehren selbst das demWirt versprochene Ei, stecken die Nadelnin sein Kissen und sein Handtuch undfliegen davon. Die Ente, die sie hört,macht sich auch aus dem Staub. Als derWirt aufsteht und sich das Gesichtabtrocknen und auf dem Sessel niederlassenwill, sticht ihn die Stecknadel insGesicht, die Nähnadel anderswohin, under schwört sich, «kein Lumpengesindelmehr in sein Haus zu nehmen, das vielverzehrt, nichts bezahlt und zum Danknoch obendrein Schabernack treibt».Die Geschichte lässt die Lehre zu,dass man nur eine «vornehme Herrschaft»und kein «Lumpengesindel» aufnehmendürfe, aber sie ist gewiss nicht wegendieser Lehre erzählt, die zu <strong>den</strong> Lehrenanderer Erzählungen wie «Der Arme undder Reiche» <strong>im</strong> Widerspruch steht.Das Geschehen, der «Schabernack», istso lustig geschildert, und die beteiligtenFiguren, das «Lumpengesindel», sind sokomisch dargestellt, dass wir uns übersie und mit ihnen amüsieren und allenfallsdie Lehre ziehen: Wer ein solchesGesindel aufn<strong>im</strong>mt, muss wissen, was ertut. Wir zeigen also für die FigurenVerständnis, statt sie wegen ihres unmoralischenVerhaltens zu verurteilen, undempfin<strong>den</strong> gegenüber dem Wirt nichtMitleid, sondern Scha<strong>den</strong>freude.Herr Korbes«Verwandt» mit dieser Geschichte ist das<strong>Märchen</strong> vom «Herr Korbes» (KHM 41).Hähnchen und Hühnchen fahren vonAnfang an in einem Wagen, und sie wollenvon Anfang an «hinaus nach desHerrn Korbes seinem Haus», während siebe<strong>im</strong> Wirt zufällig vorbeigekommenwaren. Unterwegs sammeln sie auf: EineKatze, einen Mühlstein, ein Ei, eine Ente,eine Stecknadel und eine Nähnadel. Das«Lumpengesindel» hat sich also um zweiFiguren, Katze und Mühlstein, vermehrt.Sie legen dem Herrn Korbes in seinemHaus absichtlich und planmässig einenHinterhalt, und als er nach Hausekommt, setzen sie ihm so zu, dass erdavonlaufen will, bis er an der Haustürevom Mühlstein totgeschlagen wird. Diewitzige Geschichte endet ausgesprochenmakaber. Der Zuhörer ist schockiert.Wilhelm Gr<strong>im</strong>m hat deshalb später hinzugefügt:«Der Herr Korbes muss einrecht böser Mann gewesen sein.»Muss er das? Hähnchen und Hühnchenmüssen zumindest geglaubt haben,dass er ein böser Mann war. Warum?Weil er «Herr Korbes» genannt wurde.«Darunter muss man sich», <strong>den</strong> BrüdernGr<strong>im</strong>m zufolge, «einen wil<strong>den</strong> oder strengenund harten Mann» vorstellen. Undnur deshalb, weil er «Herr Korbes»genannt wurde, so wie manche Frauenals Hexen bezeichnet wer<strong>den</strong>, musste ersterben. Dass er Hähnchen und Hühnchenetwas Böses getan hat, was auchkein Grund wäre, ihn umzubringen, gehtaus der Erzählung nicht hervor.Es gibt also auch Tiermärchen, in<strong>den</strong>en unmoralische Tiere nicht nur vorkommen,sondern sogar die Rolle desHel<strong>den</strong> spielen, Tiermärchen, in <strong>den</strong>ender Bösewicht belohnt wird oder zumindestungestraft bleibt.«Es scheint mir sogar ein tiefer Zugder Fabel,» bemerkt Jacob Gr<strong>im</strong>m in«Reinhart Fuchs», «dass sie an <strong>den</strong> <strong>Tieren</strong>mehr Laster und Fehler der Menschenals Tugen<strong>den</strong> vorstellt ( ... ) daher in ihrList, Schlauheit, Wut, Treulosigkeit, Zorn,Neid, Scha<strong>den</strong>freude, Dummheit und diedaraus folgen<strong>den</strong> Verbrechen zur Schaukommen». Dies erklärt auch, weshalbder Erzähler in <strong>den</strong> Tiermärchen Menschenhinter der Maske von <strong>Tieren</strong> versteckt.Er will seinen Zuhörern ihre«Laster und Fehler» vorführen, und zwarso, dass sie sich nicht abwen<strong>den</strong>, sondernsich amüsieren und, wenn es zumbösen Ende kommt, nach<strong>den</strong>ken.Wilhelm SolmsAnmerkungenKHM: Kinder- und Hausmärchen1 Jakob Gr<strong>im</strong>m: Reinhart Fuchs, S. XIII2 ebenda3 Herman Bausinger: Moralische Tiere, S. 162 ff.4 André Jolles: Einfache Formen, Tübingen 1930Quelle: Auszug aus dem Artikel «Die GattungGr<strong>im</strong>ms Tiermärchen» aus Tiere und Tiergestal tige<strong>im</strong> <strong>Märchen</strong>, herausgegeben von Arnica Esterlund Wilhem Solms, © Königsfurt <strong>Verlag</strong> 2005Wilhelm Soms1937 geboren in Lich / Oberhessen.Seit 1977 Professor für Neuere deutscheLiteratur und Medien an derUniversität Marburg, seit 2001 <strong>im</strong>Ruhestand. <strong>Von</strong> 1989 bis 1993 Vizepräsi<strong>den</strong>tder Europäischen <strong>Märchen</strong>gesellschaft, von 1986 bis 2004Vorstandssprecher der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesell schaftenund Ge<strong>den</strong>kstätten in Berlin, seit2000 Vorsitzender der Gesellschaftfür Antiziganismusforschung. Wildweibchenpreisträger2011.Veröffentlichungen (Auszug)• Die Moral von Gr<strong>im</strong>ms <strong>Märchen</strong>,Wissenschaftliche Buchgesellschaft,Darmstadt 2010• <strong>Märchen</strong> von Höllen und Teufeln,gemeinsam mit Sigrid Früh,Königsfurt <strong>Verlag</strong> 2011


<strong>Märchen</strong>Der Zaunkönig und der BärZur Sommerszeit gingen einmal der Bärund der Wolf <strong>im</strong> Wald spazieren, da hörteder Bär so schönen Gesang von einemVogel, und sprach: «Bruder Wolf, was istdas für ein Vogel, der so schön singt?»«Das ist der König der Vögel,» sagteder Wolf, «vor dem müssen wir uns neigen»,es war aber der Zaunkönig.«Wenn das so ist», sagte der Bär, «somöcht ich auch gerne seinen königlichenPalast sehen, komm und führemich hin.»«Das geht nicht so, wie du meinst»,sprach der Wolf, «du musst warten bisdie Frau Königin kommt.»Bald darauf kam die Frau Königin,und hatte Futter <strong>im</strong> Schnabel, und derHerr König auch, undwollten ihre Jungenätzen. Der Bär wäre gernenun gleich hinterdreingegangen, aber der Wolfhielt ihn am Ärmel undsagte: «Nein, du musstwarten, bis Herr und FrauKönigin wieder fort sind.»Also nahmen sie dasLoch in Acht, wo das Neststand, und trabten wiederab. Der Bär aber hattekeine Ruhe, wollte <strong>den</strong>königlichen Palast sehen,und ging nach einerkurzen Weile wieder vor.Da waren König undKönigin richtig ausgeflogen:er guckte hinein undsah fünf oder sechsJunge, die lagen darin.«Ist das der königliche Palast!», rief derBär. «Das ist ein erbärmlicher Palast! Ihrseid auch keine Königskinder, ihr seidunehrliche Kinder.»Wie das die jungen Zaunkönige hörten,wur<strong>den</strong> sie gewaltig bös, und schrieen:«Nein, das sind wir nicht, unsereEltern sind ehrliche Leute; Bär, das sollausgemacht wer<strong>den</strong> mit dir.»Dem Bär und dem Wolf ward Angst,sie kehrten um und setzten sich in ihreHöhlen. Die jungen Zaunkönige aberschrieen und lärmten fort, und als ihreEltern wieder Futter brachten, sagten sie:«Wir rühren kein Fliegenbeinchen an,und sollten wir verhungern, bis ihr erstausgemacht habt, ob wir ehrliche Kindersind oder nicht: Der Bär ist dagewesen,und hat uns gescholten.»Da sagte der alte König: «Seid nurruhig, das soll ausgemacht wer<strong>den</strong>.»Flog darauf mit der Frau Königin demBären vor seine Höhle und rief hinein:«Alter Brummbär warum hast du meineKinder gescholten? Das soll dir übelbekommen, das wollen wir in einemblutigen Krieg ausmachen.»Also war dem Bären der Krieg angekündigt,und ward alles vierfüssigeGetier berufen, Ochs, Esel, Rind, Hirsch,Reh, und was die Erde sonst alles trägt.Der Zaunkönig aber berief alles was inder Luft fliegt; nicht allein die Vögelgross und klein, sondern auch die Mü -cken, Hornissen, Bienen und Fliegenmussten herbei.Als nun die Zeit kam, wo der Kriegangehen sollte, da schickte der ZaunkönigKundschafter aus, wer der kommandierendeGeneral des Feindes wäre.Die Mücke war die Listigste von allen,schwärmte <strong>im</strong> Wald, wo der Feind sichversammelte, und setzte sich endlichunter ein Blatt auf <strong>den</strong> Baum, wo dieParole ausgegeben wurde. Da stand derBär, rief <strong>den</strong> Fuchs vor sich und sprach:«Fuchs, du bist der schlauste unter allemGetier, du sollst General sein, und unsanführen.»«Gut», sagte der Fuchs, «aber was fürZeichen wollen wir verabre<strong>den</strong>?»Niemand wusste es. Da sprach derFuchs: «Ich habe einen schönen langenbuschigen Schwanz, der sieht aus fastwie ein roter Federbusch; wenn ich <strong>den</strong>Schwanz in die Höhe halte, so geht dieSache gut, und ihr müsst darauf los marschieren;lass ich ihn aber herunterhängen,so lauft was ihr könnt.»Als die Mücke das gehört hatte, flogsie wieder he<strong>im</strong> und verriet dem Zaunkönigalles haarklein.Als der Tag anbrach, wo die Schlachtsollte geliefert wer<strong>den</strong>, hu, da kam dasvierfüssige Getier daher gerannt mitGebraus, dass die Erde zitterte. Zaunkönigmit seiner Armee kam auch durchdie Luft daher, die schnurrte, schrie undschwärmte, dass einem Angst und Bangeward; und gingen sie da von bei<strong>den</strong>Seiten aneinander. Der Zaunkönig aberschickte die Hornisse hinab, sie solltesich dem Fuchs unter <strong>den</strong> Schwanz setzenund aus Leibeskräften stechen. Wienun der Fuchs <strong>den</strong> ersten Stich bekam,zuckte er, dass er das eine Bein aufhob,doch ertrug er es undhielt <strong>den</strong> Schwanz nochin der Höhe. Be<strong>im</strong> zweitenStich musste er ihneinen Augenblick herunterlassen, be<strong>im</strong> drittenaber konnte er sich nichtmehr halten, schrie undnahm <strong>den</strong> Schwanz zwischendie Beine. Wie dasdie Tiere sahen, meintensie alles wäre verlorenund fingen an zu laufen,jeder in seine Höhle undso hatten die Vögel dieSchlacht gewonnen.Da flog der Herr Königund die Frau Königinhe<strong>im</strong> zu ihren Kindern,und riefen: «Kinder, seidfröhlich, esst und trinktnach Herzenslust, wirhaben <strong>den</strong> Krieg gewonnen.»Die jungen Zaunkönige aber sagten:«Noch essen wir nicht, der Bär soll erstvors Nest kommen und Abbitte tun undsoll sagen, dass wir ehrliche Kindersind.»Da flog der Zaunkönig vor das Lochdes Bären und rief: «Brummbär, du sollstvor das Nest zu meinen Kindern gehenund Abbitte tun und sagen, dass sie ehrlicheKinder sind, sonst sollen dir dieRippen <strong>im</strong> Leib zertreten wer<strong>den</strong>.»Da kroch der Bär in der grösstenAngst hin und tat Abbitte. Jetzt warendie jungen Zaunkönige erst zufrie<strong>den</strong>,setzten sich zusammen, assen und trankenund machten sich lustig bis in diespäte Nacht hinein.Kinder- und Hausmärchen der Brüder Gr<strong>im</strong>m, Ausgabeletzter Hand 1857. Bild: Otto Ubbelohde13


<strong>Märchen</strong>Die Maus, die sich fledermausteEs war einmal eine sehr alte Maus, dienicht mehr arbeiten konnte. Da hat siesich überlegt: «Ich bin schon so alt undkann nicht mehr arbeiten: Ich will michverwandeln. Aber was soll ich wer<strong>den</strong>?Ich möchte <strong>im</strong> Dunkeln sehen und nichtgesehen wer<strong>den</strong>.»So sprach sie, und dann kam ihr einGedanke: «Soll ich eine Schabe wer<strong>den</strong>?Das will ich lieber sein lassen. Dann esseich fremde Speisen, und man tötet mich.Soll ich eine Schlange wer<strong>den</strong>? DieSchlange sieht nicht <strong>im</strong> Dunkeln. Wassoll ich wer<strong>den</strong>? Die Fledermaus isstreife Bananen. Ich werde eine Fledermaus!»So hat sie gesprochen und sich in eineFledermaus verwandelt. Sie hat sich mitdem Kopf nach unten aufgehängt, undda hat sie einen Schluckauf bekommen.Das hört eine wirkliche Fledermaus undkommt neugierig herbei. Als sie dieMaus sieht, fragt sie: «Warum hängst du<strong>den</strong>n da? Du willst mich wohl verspotten?»«Ich verspotte dich nicht; ich will eineFledermaus wer<strong>den</strong>», antwortet jene.Da fällt ihr der Schwanz ab, und ihreHaut spannt sich aus zu Flügeln. Dieandere Fledermaus fliegt zu ihren Leutenund sagt: «Da ist eine Maus, die sich ineine Fledermaus verwandelt. Ich habesie gesehen. Sie will sich verwandelnund mit uns leben. Lasst sie in Ruhe,dass sie sich verwandeln kann!»Da rufen die Fledermäuse: «Was! EineMaus die sich fledermaust! Vorwärts, daswollen wir sehen!»Und alle eilen hin. Alle Fledermäusekommen und sehen die Maus, wie siesich fledermaust. Sie hängt da und dieFledermäuse betrachten sie.Die Fledermaus fragt: «Hast du dichschon verwandelt, Maus?»«Ich hab mich schon verwandelt undmöchte fliegen, aber ich fürchte mich»,erwidert sie.Da sagt die Fledermaus: «Fürchte dichnicht vor dem Fliegen, Maus! Ich werdedich unterrichten. Fächele und fächelemit bei<strong>den</strong> Armen. Dann wirst du fliegen.»Die Maus tut es. Sie fächelt undfächelt mit bei<strong>den</strong> Armen und – gewöhntsich daran. Sie fliegt. Die Maus fliegt! Siegewöhnte sich daran. «Wunderschön istes!», rief sie und flog dahin.Ja, so machte es die Maus, um sich zufledermausen. Das hat mir ein Indianererzählt. In seinem Land ist es geschehen.IndianermärchenQuelle: <strong>Märchen</strong> für 365 und einen Tag, LisaTetzner. Bild: Z<strong>den</strong>ka Krejkova<strong>Märchen</strong>betrachtungDie Maus hat sich verwandeltGedanken zur (Fleder)MausIm <strong>Märchen</strong> zeigt die Maus meist positiveEigenschaften: Sie ist beharrlichwie der Mäuserich, der sich verheiratenwollte 1 . Gescheit, mutig und hilfsbereitin der Fabel vom Löwen und der Maus 2 .Und in der orientalischen Geschichte vonder Katze und der Maus 3 sogar weise.Wir Menschen verhalten uns ihr gegenüberzwiespältig. Entdecken wir eineMaus in Wald und Feld, fin<strong>den</strong> wir siemit ihren schwarzen Knopfaugen und<strong>den</strong> raschen, quirligen Bewegungenganz liebenswürdig. Nistet sie sich aberin unserem He<strong>im</strong> ein, verfolgen wir sieunbarmherzig. Denn dort fin<strong>den</strong> wir siewiderlich. Sie nagt an allem, frisst alles,bringt Unordnung und Schmutz.Im «Fledermaus-<strong>Märchen</strong>» weiss einesehr alte Maus nicht mehr weiter. EinThema, dem wir Menschen gerne ausweichen:Alt wer<strong>den</strong>, nicht mehr mögen– wer will sich schon damit beschäftigen?Doch erreicht ein Mensch seineLebensmitte mit etwa 50 Jahren, machter irgendwann ganz best<strong>im</strong>mt genaudiese Erfahrung: Seine Beine wollennicht mehr. Das Tempo ist ihm zuschnell. Er mag nicht mehr. Und jetzt?Genauso überlegt die Maus <strong>im</strong> <strong>Märchen</strong>.Verwandeln will sie sich – aber inwas? Was ist ihr nun wichtig? Was willsie – und was nicht mehr? Sie möchte <strong>im</strong>Dunkeln sehen, aber selbst nicht gesehenwer<strong>den</strong> – und genug zu fressenhaben.Der Mensch in seiner Lebensmittewünscht sich vielleicht auch, nicht mehr<strong>im</strong> Rampenlicht, nicht mehr an vordersterFront zu stehen, nicht mehr <strong>den</strong>Dingen dieser Welt nachzujagen. Undmöchte seine «alten Tage» gesicherthaben. Aber was soll er <strong>den</strong>n verändern?Wo – und wie?Die Maus in unserem <strong>Märchen</strong> weissbald, was sie will und schreitet auchgleich zur Tat. So wie sie es bei <strong>den</strong>Fledermäusen gesehen hat, hängt siesich kopfüber an einen Ast. Aber nochist sie eine Maus, und diese Position istihr fremd. Zwar ist der Hitzgi (Schluckauf)nicht angenehm, aber damit ruft sieihren Helfer. Und diese Fledermaus sagtganz richtig: «Wir brauchen keinenSchwanz.»Verwandeln heisst auch, sich vonAltem trennen. Alles loslassen, alles aufgeben,was nicht mehr gebraucht wird,auch wenn es vorher lange und gutgedient hat. Dann erst gibt es Platz für14


<strong>Märchen</strong>betrachtungNeues – hier sogar für ein Wunder:Flügel wachsen!So wie die Maus prüft der Mensch inseiner Lebensmitte seine Wünsche. Undprobiert dann das eine oder andere aus.Bekommt davon vielleicht auch <strong>den</strong>Schluckauf, wenn er eine Methode wählt,die nicht zu ihm passt. Und auch ermuss loslassen: materielle Dinge, die erlange gerne hatte, aber zum neuenLeben nicht mehr passen. Vielleicht sindes auch Freunde, Beziehungen, Berufe.Manchmal ist Loslassen ein Krampf, ofteine Erlösung, meist eine Erleichterung.Viele Menschen lernen erst in einerKrise, wie viel in ihnen steckt. DochFlügel wachsen nicht einfach so. Diemuss man sich schon wünschen. Musssich drehen und strecken, hoffen undbangen. Sind schliesslich neue Fähigkeitenentdeckt, muss man auch wissen,wie und wozu sie zu gebrauchen sind.Helfer können ganz verschie<strong>den</strong>eGesichter haben. Im <strong>Märchen</strong> fragt dieFledermaus: «Willst du mich verspotten?»Probiert man neue Fähigkeiten aus,macht man sich manchmal auch lächerlich.Es braucht Mut, seine Bedürfnisseauszudrücken, einfach und freundlich zuerklären, was man in diesem Momentnötig hat.In unserem <strong>Märchen</strong> hat sich dieFleder-Maus nun verwandelt. Aber sietraut sich nicht, ihre Flügel auch zugebrauchen und hängt hilflos am Ast.Dies ist der Moment der wohl grösstenGefahr: Denn zurück in ein Leben alsMaus kann sie nicht mehr, dafür hat siesich schon zu sehr verwandelt. Abernoch ist sie keine Fledermaus. Dazufehlt ihr der Mut.Genauso erlebt ein Mensch, der sichverändert, jene schwierigen Zeiten zwischen<strong>den</strong> Welten. Wenn das Alte nichtSo wie die Maus prüftder Mensch in seinerLebensmitte seineWünsche.mehr gilt, und das Neue greifbar naheund doch noch nicht da ist. Wenn dieFlügel wohl da sind, aber noch nichttragen.Im <strong>Märchen</strong> treten nun die neuenKollegen auf: Zwar bittet die erste Fledermausdarum, die «neue» Maus vorersteinmal in Ruhe zu lassen. Doch dieNeugier ist viel zu gross: Eine Maus, diesich fledermaust – nix wie hin! Das mussman gesehen haben!Genauso schwierig mag es für <strong>den</strong>Menschen in seiner Lebensmitte sein. Dahat er seine Auslege-Ordnung gemacht,Altes abgelegt, Neues gelernt – und nunwird er unter die Lupe genommen: Werbist du <strong>den</strong>n? Was kannst du? Wasbringst du mit? Da braucht es nochmalsMut, um zuzugeben: Ja, hier bin ich nun.Und ich kann noch nicht alles; ich braucheHilfe.Genau wie es die Fleder-Maus ausdrückt:«Ich hab mich schon verwandeltund möchte fliegen, aber ich fürchtemich.»Bild: Helga GebertWenn wir uns unseren Ängsten stellen,sie zugeben, erst dann können dieandern helfen. Und sie zeigen gerne,wie man fliegt. Was für ein Moment,wenn die Maus loslässt und fliegt. Wasfür ein Gefühl, wenn ich begreife, dassich das Neue kann. Dass es mich trägt,dass ich nicht ins Bo<strong>den</strong>lose stürze. Dassich fliege!Als ich während meiner Erzählausbildungzum ersten Mal die Variante vonder Beutelratte von Marlies Arnold hörte,fand ich sie einfach nur grässlich. Wiekann man bloss von all diesen ekligen<strong>Tieren</strong> erzählen. <strong>Von</strong> Beutelratte, Schabe,Schlange, einer Fledermaus – wäääk!Kurze Zeit später erhielt ich an meinerArbeitsstelle die Kündigung. Wasnun? Mit meinen gut 50 Jahren auf demBuckel, nach 16 Jahren <strong>im</strong> Tourismus,wo eine Krise die nächste ablöste? Undwo viele, gut ausgebildete, junge LeuteStellen suchten, die auch mit einem <strong>kleinen</strong>Lohn zufrie<strong>den</strong> waren.Ich reiste nach Rom. Es war an einemwunderschönen Frühlingsabend, als icham Ufer des Tibers stand. Es war dieStunde der Dämmerung, nicht mehr Tagund noch nicht Nacht. Ich sah <strong>den</strong>Fledermäusen zu, die von einem Uferzum andern flogen. Und plötzlich kammir die Fledermaus <strong>im</strong> <strong>Märchen</strong> in <strong>den</strong>Sinn. Wie Schuppen fiel es mir von <strong>den</strong>Augen: Genau so eine Fledermaus warich doch jetzt auch!Ich hatte genug von meinem hektischenReisebüroleben, «meine Beinemochten nicht mehr». Wie die Beutelratte<strong>im</strong> <strong>Märchen</strong> stand ich vor meinemLeben: «Was han i, was chan i, was wott i?»Die Fledermaus bringtmich <strong>im</strong>mer wiederzum Staunen.Sollte ich es in dieser beruflichen Richtungversuchen? Oder in jener? DieBeutelratte begleitete mich oft. Genauwie sie musste ich einiges aufgeben,neue Fähigkeiten entwickeln, brauchteFreunde, die mir Neues zeigten. Wie siebrauchte ich Hilfe und Unterstützung.Und wie sie, erlebte ich eine Verwandlung.Ich wurde weder eine Schabe, nocheine Schlange, auch keine Fledermaus.Aber ich fand einen neuen Beruf undlernte hier «fliegen», in meinem Fall, sehrglücklich damit zu sein. Und an diesemPlatz habe ich wiederum viel mit Menschenzu tun, die sich verändern müssen.Auch hier taucht die Fledermaus oftauf und bringt mich <strong>im</strong>mer wieder zumStaunen. Wie präzis doch in diesemkurzen, <strong>kleinen</strong> <strong>Märchen</strong> alle nötigenSchritte beschrieben sind, die es braucht,damit eine Veränderung geschehenkann.Susanne Christian, <strong>Märchen</strong>erzählerin1 <strong>Märchen</strong> aus Bosnien, «Wo der Glücksvogel singt»von Helmut Wittmann, <strong>Verlag</strong> Iberia2 Fabel von Äsop, Susanne Stöcklin-Meier «UnsereWelt ist bunt» oder <strong>Märchen</strong>forum Herbst 20103 Aus «Drei-Minutenmärchen» von Marlies ArnoldFür Netzwerkmitglieder: Alle <strong>Märchen</strong> sind auf der<strong>Mutabor</strong>-Datenbank.Hinweis: www.fledermaus.ch. Das brauneLangohr ist das Tier des Jahres 2012:www.pronatura.ch.15

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