13.07.2015 Aufrufe

Molekulare Früherkennung in der Medizin – Konzept, Techniken ...

Molekulare Früherkennung in der Medizin – Konzept, Techniken ...

Molekulare Früherkennung in der Medizin – Konzept, Techniken ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

© 2010 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern Therapeutische Umschau 2010; 67 (7): DOI 10.1024/0040-5930/a000061Übersichtsarbeit335Mediz<strong>in</strong>ische Universitätskl<strong>in</strong>ik, Kantonsspital, Bru<strong>der</strong>holzDepartement Biomediz<strong>in</strong>, Universität BaselBarbara C. Bie<strong>der</strong>mann<strong>Molekulare</strong> <strong>Früherkennung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mediz<strong>in</strong> <strong>–</strong><strong>Konzept</strong>, <strong>Techniken</strong>, PerspektivenDas <strong>Konzept</strong> <strong>der</strong> molekularen <strong>Früherkennung</strong> hat mit <strong>der</strong> Entschlüsselung desmenschlichen Genoms um die Jahrtausendwende erheblichen Aufschwung bekommen.Technologischer Fortschritt wird <strong>in</strong> den nächsten Jahren umfangreiche,ja umfassende (komprehensive) molekulargenetische Untersuchungendes Individuums <strong>in</strong> die Reichweite des diagnostischen Alltags br<strong>in</strong>gen. In gewissenBereichen <strong>der</strong> Mediz<strong>in</strong>, z. B. <strong>in</strong> <strong>der</strong> Infektiologie o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Hämato-Onkologie,s<strong>in</strong>d molekulare Diagnosen bereits heute obligater Standard. Im Falle polygenetischer,multifaktoriell bed<strong>in</strong>gter Krankheiten haben molekulargenetische Testsheute jedoch nur <strong>in</strong> Ausnahmefällen e<strong>in</strong>en kl<strong>in</strong>isch relevanten Stellenwert. NeueBiomarker, meistens Prote<strong>in</strong>e o<strong>der</strong> Metaboliten, s<strong>in</strong>d nicht selten durch komprehensive,molekulare Verfahren („-omics“) identifiziert worden. Nur die genaueKenntnis <strong>der</strong> diagnostischen und prognostischen Aussagekraft und <strong>der</strong> Limitationene<strong>in</strong>es molekularen Tests erlaubt se<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>nvolle Anwendung.neten Maßnahmen Erkrankung zu verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n.E<strong>in</strong>e potentiell bedrohlicheKrankheit früh zu erkennen und e<strong>in</strong>erwirksamen, verhältnismäßigen Therapiezuzuführen ist e<strong>in</strong>e höchst wertunds<strong>in</strong>nvolle Maßnahme. Wüsste manbeispielsweise, welche arteriosklerotischePlaque im Koronarbett wanngenau rupturieren wird, könnte manviele Herz<strong>in</strong>farkte durch e<strong>in</strong>e rechtzeitige,perkutane Angioplastie <strong>der</strong>Kranz arterien verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Dieses <strong>Konzept</strong><strong>der</strong> <strong>Früherkennung</strong> e<strong>in</strong>er Krankheitim asymptomatischen Stadium(Abb. 1) hat mit <strong>der</strong> Entwicklung leistungsfähiger,molekularmediz<strong>in</strong>ischerVerfahren <strong>in</strong> den letzten Jahren Aufschwungerhalten.Die wichtigsten, genetischenUntersuchungsverfahrenE<strong>in</strong>leitungEs gibt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mediz<strong>in</strong> nur wenigeKrank heiten, denen nicht e<strong>in</strong> asymptomatischesStadium vorausgeht. E<strong>in</strong> solchesZeitfenster, so kurz es auch sei, istimmer e<strong>in</strong>e Gelegenheit, um mit geeig-Der Begriff „molekulare Diagnostik“ istnicht auf den Nachweis und die Analysevon krankmachenden Genen <strong>in</strong> DNAo<strong>der</strong> RNA beschränkt. Genetische Untersuchungenim engeren S<strong>in</strong>n habenjedoch wegen ihrer Präzision, Sensitivitätund Spezifität den Begriff „molekulareDiagnostik“ <strong>in</strong> den letzten Jahrenzunehmend besetzt. Deshalb werden,um begriffliche Klarheit zu schaffen,die wichtigsten genetischen Testverfahren,die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Humanmediz<strong>in</strong> zurAnwendung kommen, hier kurz besprochen(Tab. 1).ZytogenetikDie Zytogenetik ist wohl e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> ältestenLaborverfahren welches für genetischeUntersuchungen zur Anwendungkommt. Technisch-praktischnutzt dieser Test die Tatsache, dasssich die Chromosomen e<strong>in</strong>er Zelle imRahmen <strong>der</strong> Mitose so entflechten undaufwickeln, dass sie als E<strong>in</strong>zelpartikelsichtbar werden. Die Länge <strong>der</strong> Chromosomenarmeund das typische Bandenmusterbei <strong>der</strong> Anfärbung erlaubtdie Identifikation von Chromosomenanomalien.Abbildung 1 Das <strong>Konzept</strong> <strong>der</strong> <strong>Früherkennung</strong>. Im Verlaufe se<strong>in</strong>es Lebens entwickelte<strong>in</strong> Mensch Krankheiten o<strong>der</strong> er bleibt gesund. Fast allen Krankheiten gehte<strong>in</strong> asymptomatisches Stadium voraus. <strong>Molekulare</strong> <strong>Früherkennung</strong> ist dann hilfreich,wenn man die Zeit, die bis zum Krankheitsausbruch bleibt, für wirksame,<strong>in</strong>dividuelle Prävention o<strong>der</strong> Therapie nutzen kann.FISHBei <strong>der</strong> sogenannten FISH ( fluorescent<strong>in</strong> situ hybridization) werden mit e<strong>in</strong>emFluoreszenzfarbstoff versehene Oligo-


336Barbara C. Bie<strong>der</strong>mann <strong>Molekulare</strong> <strong>Früherkennung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mediz<strong>in</strong> <strong>–</strong> <strong>Konzept</strong>, <strong>Techniken</strong>, PerspektivenÜbersichtsarbeitnukleotide an komplementäre, chromosomaleDNA-Abschnitte gebunden(hybridisiert). Im Normalfall werden sodie beiden Allele e<strong>in</strong>es Gens <strong>in</strong> e<strong>in</strong>eme<strong>in</strong>zelnen Zellkern (doppelter Chromosomensatz)sichtbar gemacht.SSCPDer sogenannte SSCP (s<strong>in</strong>gle strandconformational polymorphism) beruhtdarauf, dass die gelelektrophoretischeBeweglichkeit e<strong>in</strong>es DNA-Stranges vonse<strong>in</strong>er Konformation abhängt. Diesewird von se<strong>in</strong>er Nukle<strong>in</strong>säuresequenzbee<strong>in</strong>flusst. Wenn e<strong>in</strong> Genomabschnittaus Zell-DNA mittels PCR amplifiziertwird und das PCR-Produkt auf e<strong>in</strong>emGel getrennt, wan<strong>der</strong>n mutierte undnicht-mutierte DNA-Stränge unterschiedlichweit. Die SSCP ist so sensitiv,dass Punktmutationen, also auch SNPs(s<strong>in</strong>gle nucleotide polymorphisms),identifiziert werden können.RFLPDer sogenannte RFLP (restriction fragmentlength polymorphism) nützt diegroße Vielfalt von Restriktionsenzymenaus, welche von Bakterien produziertwerden und welche DNA an enzym-typischenStellen sehr spezifischschneiden. Für viele Genpolymorphismenf<strong>in</strong>det sich e<strong>in</strong> Restriktionsenzym,das diese verän<strong>der</strong>te Stelle <strong>in</strong> <strong>der</strong> DNAspezifisch erkennen und schneidenkann. Der RFLP ist e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>facher, augenfälliger,schneller und technischwenig aufwendiger TestGensequenzierungSchließlich erlaubt die Gensequenzierungdie Identifikation <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnenNukle<strong>in</strong>säurensequenzabfolge. Sie ist<strong>der</strong> direkteste Beweis für das Vorliegene<strong>in</strong>er bestimmten Genvariante o<strong>der</strong>Mutation.Obwohl e<strong>in</strong>ige dieser Verfahren ke<strong>in</strong>eaufwendige o<strong>der</strong> teure Infrastrukturbrauchen, werden genetische Tests mitVorteil <strong>in</strong> dafür speziell akkreditierteLaboratorien geschickt. Eurogentestist e<strong>in</strong>e europäische Inititative, welcheim Bereich <strong>der</strong> genetischen TestdurchführungStandards entwickelt, e<strong>in</strong>setztund überprüft (http://www.eurogentest.org/laboratories/).In <strong>der</strong> Schweizstellt die Schweizerische Gesellschaftfür Mediz<strong>in</strong>ische Genetik e<strong>in</strong>e Listeauthorisierter Labors zur Verfügung(www.sgmg.ch).Das <strong>Konzept</strong> <strong>der</strong> Früh -erkennung im Zeitalter <strong>der</strong>molekularen Mediz<strong>in</strong>Für die molekulare <strong>Früherkennung</strong>e<strong>in</strong>er Krankheit wäre es ideal, wennbestimmte Genvarianten o<strong>der</strong> Gensequenzmustermit dem Erkrankungsrisikoeng verknüpft wären. Dies istz. B. für Infektionskrankheiten, e<strong>in</strong>emSon<strong>der</strong>fall <strong>der</strong> erworbenen, genetischenErkrankungen, <strong>der</strong> Fall.Beispiel 1: <strong>der</strong> Nachweis von retroviralerHIV-spezifischer RNA im Blut istdie Basis für die Diagnose „HIV-Infektion“.Sie geht unbehandelt mit großerSicherheit <strong>in</strong> die bekannte, erworbeneImmunschwächekrankheit AIDS überTabelle 1 Die wichtigsten, häufig gebrauchten molekulargenetischen Untersuchungsverfahren.TestZytogenetik(Chromosomenanalyse)Fluoreszierende <strong>in</strong> situ Hybridisierung(FISH)Nachweis umschriebener, bekannter Genvariationen (z.B. Translokations stellen,Y-Chromosom, Homo- und Heterozygotie, loss of heterozygosity LOH etc.)Untersuchungsmaterial: Metaphasenchromosomen o<strong>der</strong> Gewebe (Interphasenkerne)E<strong>in</strong>zelstrangkonformationspolymorphismus(SSCP)Restriktionsfragmentlängenpolymorphismus(RFLP)GensequenzierungBeson<strong>der</strong>heitenOrientierende Untersuchung auf das Vorliegen grober genetischer Verän<strong>der</strong>ungen(z. B. Monosomien, Trisomien, Deletionen, Translokationen etc.).Untersuchungsmaterial: MetaphasenchromosomenOrientieren<strong>der</strong> Suchtest zur Identifikation e<strong>in</strong>er Genvariante (z.B. Punktmutation)<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em mittels serieller PCR amplifizierten Gen.Untersuchungsmaterial: PCR-ProduktIdentifikation e<strong>in</strong>er Genvariante (z.B. Punktmutation) mit Hilfe e<strong>in</strong>es DNAschneidenden,sequenzspezifisch aktiven Enzyms.Untersuchungsmaterial: PCR-ProduktBestimmung <strong>der</strong> Nukle<strong>in</strong>säuresequenz e<strong>in</strong>es Genabschnittes (e<strong>in</strong>ige hun<strong>der</strong>tNukleotide). Geeignet für die Identifikation neuer Mutationen o<strong>der</strong> als Bestätigungstest.Untersuchungsmaterial: PCR-Produkt


Therapeutische Umschau 2010; 67 (7): 335 <strong>–</strong> 340Übersichtsarbeit337und stellt im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> <strong>Früherkennung</strong>also e<strong>in</strong>e „asymptomatische“ Vorstufee<strong>in</strong>er Krankheit dar.ALägen krankheitsrelevante Genprofileo<strong>der</strong> Polymorphismen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Keimbahnvor, wären sie bei jedem Individuumpostkonzeptionell unverän<strong>der</strong>lich vorgegebenund könnten je<strong>der</strong>zeit (d. h.auch schon im jugendlichen Alter) untersuchtwerden. E<strong>in</strong> <strong>der</strong>artiger Testmüsste naturgemäß nur e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zigesMal im Leben gemacht werden und erwäre <strong>in</strong> idealer Weise geeignet für e<strong>in</strong>eFrühdiagnose.Diese Voraussetzungen mögen fürklassische, hereditäre monogenetischeKrankheiten mit hoher Penetranz biszu e<strong>in</strong>em gewissen Grad erfüllt se<strong>in</strong>.Beispiel 2: e<strong>in</strong> Träger von mehr als 40CAG-Repeats (dies s<strong>in</strong>d repetitive Abfolgenvon 3 Nukleotiden: Cytos<strong>in</strong>-Aden<strong>in</strong>-Guan<strong>in</strong> und die Anzahl solcherRepeats ist bei Personen, die an ChoreaHunt<strong>in</strong>gton erkranken, erhöht) imHunt<strong>in</strong>gton-Gen von Chromosom 4erkrankt praktisch immer an dieserschweren, neuropsychiatrischen Krankheit.Für die viel häufigeren, komplexen polygenenErkrankungen haben sich <strong>der</strong>artigemolekulargenetische Tests bisheute nicht durchgesetzt. Die kl<strong>in</strong>ischenGrenzen re<strong>in</strong> genomischer Diagnoseverfahrenliegen dar<strong>in</strong> begründet,dass <strong>in</strong> den seltensten Fällen die genetischeVeranlagung alle<strong>in</strong> determ<strong>in</strong>iert,ob e<strong>in</strong>e Krankheit ausbricht o<strong>der</strong> nicht.Mehrheitlich s<strong>in</strong>d Umweltfaktoren alskranheitsauslösende Mechanismen <strong>in</strong>volviert.Beispiel 3: E<strong>in</strong>e Träger<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er FaktorV-Leiden-Mutation hat e<strong>in</strong> nur leicht erhöhtesRisiko an e<strong>in</strong>er Thromboemboliezu erkranken. Wenn die betreffendePerson aber raucht o<strong>der</strong> Ovulationshemmere<strong>in</strong>nimmt, steigt dieses Risikosprunghaft an [1].BCAbbildung 2 Mediz<strong>in</strong>ische Methoden zur <strong>Früherkennung</strong>. A. Die genetische Veranlagungkann durch die Familienanamnese o<strong>der</strong> durch mehr o<strong>der</strong> weniger vollständigegenetische Testungen abgeschätzt werden. B. Schädliche Umweltfaktorenlassen sich am e<strong>in</strong>fachsten durch die Anamnese erfassen. C. DieKrankheitsaktivität kann mit <strong>der</strong> kl<strong>in</strong>ischen Untersuchung, bildgebenden Verfahrenaber auch mit umfassenden Expressionsanalysen (Transkriptom, Proteom, Metabolom)beschrieben werden.Schließlich ist gut bekannt, dass es genetischeKonstellationen gibt, die denAusprägungsgrad e<strong>in</strong>er krankheitsauslösendenMutation mitigieren und deshalb<strong>der</strong>en Penetranz reduzieren können.Das bedeutet, dass e<strong>in</strong> Menschzwar e<strong>in</strong>e bestimmte Mutation trägt,aber dennoch nicht erkrankt. Um hiernicht unnötig Ängste zu schüren siehtman grundsätzlich davon ab, Gentestsohne kl<strong>in</strong>ische Verdachtsdiagnosedurchzuführen. Diesem Umstand wird<strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis <strong>der</strong> mediz<strong>in</strong>ischen Genetikdadurch Rechnung getragen, dassman e<strong>in</strong>en Patienten (Propositus) <strong>in</strong><strong>der</strong> Regel nur dann auf das Vorliegene<strong>in</strong>er krankheitsauslösenden Genvarianteh<strong>in</strong> untersucht, wenn er selbermanifeste Krankheitszeichen aufweist.Gel<strong>in</strong>gt <strong>der</strong> Nachweis e<strong>in</strong>er entsprechendenMutation kann es s<strong>in</strong>nvollse<strong>in</strong>, Verwandte auch im asymptomatischenStadium daraufh<strong>in</strong> zu untersuchen.Dies <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e dann, wenngute präventive Maßnahmen bestehen.Das Wissen um hereditäre, vererbbareKrankheiten wird <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Familie ofttabuisiert. Wegen <strong>der</strong> für das Individuumje nachdem sehr schwerwiegendenBedeutung und unverän<strong>der</strong>lichen Natur<strong>der</strong> Ergebnisse ist <strong>der</strong> Umgang mitgenetischen Untersuchungen beimMenschen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schweiz gesetzlich(http://www.adm<strong>in</strong>.ch/ch/d/sr/c810_12.html) geregelt.Umfassende <strong>Früherkennung</strong> zielt daraufab, genetische Veranlagung (Prädisposition),schädigende Umwelt faktorenund präkl<strong>in</strong>ische Krankheitsaktivitätfür den e<strong>in</strong>zelnen Patientenzu erfassen (Abb. 2), e<strong>in</strong>e möglichst genaueDiagnose vorzunehmen um darausdann die bestmögliche, personalisierteBehandlung abzuleiten. DieseIdee ist nicht neu. Doch während früherFamilienanamnese und körperlicheUntersuchung die e<strong>in</strong>zigen Methoden


338Barbara C. Bie<strong>der</strong>mann <strong>Molekulare</strong> <strong>Früherkennung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mediz<strong>in</strong> <strong>–</strong> <strong>Konzept</strong>, <strong>Techniken</strong>, PerspektivenÜbersichtsarbeitTabelle 2 Technologien die zur umfassenden Charakterisierung biologischer Untersuchungsproben (Gewebe, Serum o<strong>der</strong>Plasma, Körperflüssigkeiten etc) angewendet werden.VerfahrenNukle<strong>in</strong>säure-Chipso<strong>der</strong> -ArraysPhagen-BibliothekenHPLC*-MassenspektrometriePr<strong>in</strong>zip und Beson<strong>der</strong>heiten <strong>der</strong> MethodenVerschiedene Oligonukleotide werden analog zur Mikrochip-Technologie auf e<strong>in</strong> Trägermaterialaufgebracht (spotted). Auf kle<strong>in</strong>stem Raum können so viele Nukle<strong>in</strong>säuresequenzenals detektierende Proben vorgelegt werden (zum Beispiel: alle relevanten E<strong>in</strong>zelnukleotidpolymorphismen(s<strong>in</strong>gle nucleotide polymorphisms, SNP) des menschlichen Genoms).Durch die rasterartige Anordnung können die e<strong>in</strong>zelnen Oligonukleotidspezies wie dieFel<strong>der</strong> e<strong>in</strong>es Schachbretts identifiziert werden. E<strong>in</strong>e Testprobe, welche Nukle<strong>in</strong>säurefragmenteenthält, wird mit dem Array <strong>in</strong>kubiert, und die spezifisch b<strong>in</strong>denden, komplementärenDNA-Sequenzen durch E<strong>in</strong>färbung sichtbar gemacht.Untersuchungsmaterial: Nukle<strong>in</strong>säuregemische (Genome, Transkriptome)Bakteriophagen s<strong>in</strong>d Viren, welche <strong>in</strong> Bakterien leben. Wird das Phagengenom genetischmodifiziert, werden die entsprechenden Gene auch <strong>in</strong> den Phagen-tragenden Bakterienexprimiert. Diese symbiotisch lebenden Mikroorganismen können dazu verwendet werden,Prote<strong>in</strong>liganden (z.B. Antikörper) zu exprimieren. Werden nicht nur e<strong>in</strong>ige wenige, son<strong>der</strong>n“alle denkbar möglichen” B<strong>in</strong>dungsmotive so exprimiert, spricht man von e<strong>in</strong>er Phagen-Bibliothek. Diese enthält problemlos mehrere Millionen e<strong>in</strong>zelner Liganden und kann fürSuchexperimente (Screen<strong>in</strong>gs) herangezogen werden. Dabei werden aus <strong>der</strong> gesamtenBibliothek jene Liganden identifiziert, die am besten e<strong>in</strong> bestimmtes Molekül erkennenund b<strong>in</strong>den.Untersuchungsmaterial: Prote<strong>in</strong>gemische (Proteom)Mit diesem Verfahren werden komplexe biologische Materialien chromatographischaufgetrennt und die Zusammensetzung <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen Fraktionen bis auf die molekulareEbene genau charakterisiert.Untersuchungsmaterial: Prote<strong>in</strong>- und Peptidgemische (Proteom),Metaboliten (Metabolom, Lipidom).* High-performance liquid chromatographywaren, um den hereditär-genetischenH<strong>in</strong>tergrund e<strong>in</strong>er Erkrankung und <strong>der</strong>enManifestationsgrad o<strong>der</strong> „Phänotypen“zu erfassen, stehen heute umfassende,sogenannte „komprehensive“Testverfahren (Tab. 2) zur Verfügung,mit denen die Gesamtheit <strong>der</strong> Gene(=„Genom“), die Gesamtheit <strong>der</strong> Prote<strong>in</strong>e(=„Proteom“) und beliebige weitere„-ome“ (z. B. Transkriptome, Metabolome,Lipidome) e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zelnen Menschen,se<strong>in</strong>er Gewebe und Organe, untersuchtwerden können [2]. Dennukle<strong>in</strong>säurebasierten, genetischenKrankheitsmerkmalen werden Biomarkergegenübergestellt. E<strong>in</strong> Biomarkerist e<strong>in</strong> Indikator e<strong>in</strong>es physiologischeno<strong>der</strong> pathogenen Prozesses, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>erobjektiven Messung zugänglich ist [3].Biomarker (z. B. <strong>der</strong> Blutdruck, dasCRP, das HbA1c usw) s<strong>in</strong>d mit <strong>der</strong> Zeitverän<strong>der</strong>liche Parameter, währenddemGenpolymorphismen o<strong>der</strong> -mutationen<strong>in</strong> den betroffenen Zellen undGeweben <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel unverän<strong>der</strong>lichvorliegen. Ergänzt werden diese Methodendurch mo<strong>der</strong>ne bildgebendeVerfahren (sog. „molecular imag<strong>in</strong>g“[4]), welche bestimmte molekulareKrankheitsmerkmale im Körper<strong>in</strong>nern(wie z. B. Entzündung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er arteriosklerotischenPlaque) nachweisen können.Für die schnelle und e<strong>in</strong>fache Erfassunge<strong>in</strong>er Exposition gegenüberschädlichen Umwelte<strong>in</strong>flüssen bleibtdie Anamnese heute weiterh<strong>in</strong> konkurrenzlos.Die Vision <strong>der</strong> präzisen, molekularenDiagnose erhielt mit <strong>der</strong> vollständigenSequenzierung des menschlichen Genomsum die Jahrtausendwende großenAuftrieb [5], doch das Angebot anguten, validierten molekularen Testverfahren h<strong>in</strong>kt bis heute <strong>der</strong> großenNachfrage im Bereich <strong>der</strong> häufigen,komplexen und erworbenen, genetischbed<strong>in</strong>gten Krankheiten h<strong>in</strong>terher(Abb. 3).Der Ruf nach translationalerMediz<strong>in</strong>Um die klaffende Lücke zwischen demriesigen Wissensschatz, den die Entschlüsselungdes menschlichen Genomsgehoben hat, und <strong>der</strong> s<strong>in</strong>nvollen,nützlichen mediz<strong>in</strong>isch-kl<strong>in</strong>ischen Anwendungzu schließen, erklang <strong>der</strong> Rufnach translationaler Mediz<strong>in</strong>: Klugeund geschickte „Übersetzer“ waren gefragt:Ärzte, die mit Patienten undGrundlagenwissenschaftern sprechen


Therapeutische Umschau 2010; 67 (7): 335 <strong>–</strong> 340Übersichtsarbeit339und beide verstehen konnten. Mit diesemSchritt wurden relevante kl<strong>in</strong>ischeFragestellungen def<strong>in</strong>iert und formuliert,auf welche die heute unglaublichleistungsfähige Biomediz<strong>in</strong> mehr o<strong>der</strong>weniger gut antworten kann. Es gibtheute kaum e<strong>in</strong>en Bereich <strong>der</strong> Mediz<strong>in</strong>mehr, <strong>in</strong> den die molekulare Mediz<strong>in</strong>und entsprechende Testverfahren nichtE<strong>in</strong>zug gehalten hätten. Doch nur <strong>in</strong>wenigen Fächern haben sie sich gegendie etablierten Labortests durchgesetzto<strong>der</strong> diese sogar als quasi Goldstandard-Verfahrenabgelöst. E<strong>in</strong> Beispieldafür ist sicher die Infektiologie, dortwie<strong>der</strong>um vor allem die globale Epidemiologie,wo molekulare <strong>Früherkennung</strong><strong>in</strong> den letzten Jahren e<strong>in</strong>en revolutionärenCharakter angenommenhat: HIV, SARS, H5N1, H1N1, um nure<strong>in</strong>ige wenige Beispiele zu nennen. NurGoogle <strong>–</strong> Spiegel <strong>der</strong> menschlichenNeugier ! - ist heute gleich schnell o<strong>der</strong>gar schneller als molekulargenetischeTests [6].Das Wissen um den genetischen Bauplanverschiedener Organismen (<strong>in</strong>klusivedes Menschen), die leistungsfähigen,umfassenden molekularenUntersuchungsmethoden und letztlichdie Leichtigkeit <strong>der</strong> IT-basierten, elektronischenArchivierung all dieser Informationeneröffnet fasz<strong>in</strong>ierendePerspektiven für die Entwicklung <strong>der</strong>Mediz<strong>in</strong>. Wenn heute die kl<strong>in</strong>isch richtigenund wichtigen Fragen gestelltwerden, s<strong>in</strong>d bemerkenswerte Therapieerfolgemöglich (Beispiel: Imat<strong>in</strong>ibbei Chronisch myeloischer Leukämieo<strong>der</strong> TNF-Blockade bei rheumatoi<strong>der</strong>Arthritis). Der Aufwand für die sorgfältige,kl<strong>in</strong>ische Prüfung <strong>in</strong>novativer Diagnose-und Behandlungsverfahrendarf jedoch nicht unterschätzt werden.So hat man <strong>in</strong> den letzten Jahren gleichmehrmals schmerzlich erfahren müssen,dass Surrogatmarker, welche zurschnelleren Abschätzung e<strong>in</strong>es sche<strong>in</strong>bargüns tigen Therapieeffektes herangezogenwurden, die harten Endpunkte(z. B. kardiovaskuläre Ereignisse bei lipidmodulierendeno<strong>der</strong> blutzuckersenkendenTherapien) <strong>in</strong> kl<strong>in</strong>ischenStudien nicht ersetzen [7]. Wir selberhaben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er eigenen kle<strong>in</strong>en Fall-Kontrollstudie untersucht, ob bekannte,mit kardiovaskulären Ereignissenund Myokard<strong>in</strong>farkt assoziierte Genpolymorphismenauch bei unseren Patientenmit symptomatischer Arteriosklerosegehäuft vorkommen. Von 9untersuchten SNPs fand sich nur e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>ziger signifikant gehäuft bei den arteriosklerosekrankenPatienten, und 6waren sogar häufiger bei asymptomatischenPatienten [8]. Wir haben festgestellt,dass die sorgfältige, möglichstumfassende kl<strong>in</strong>ische Untersuchungjedem <strong>der</strong> von uns untersuchten Polymorphismen,aber auch den neuen Biomarkern<strong>der</strong> Arteriosklerose, zur E<strong>in</strong>schätzung<strong>der</strong> Krankheitsaktivität weitüberlegen ist [9]. Diese eigene Beobachtungist für den Kl<strong>in</strong>iker tröstlich:es braucht heute wirklich großeWürfe um Altbewährtes, Gutes deutlichzu übertreffen. Dann wird Innovationallerd<strong>in</strong>gs spürbar, <strong>in</strong>dem sie dasErsche<strong>in</strong>ungsbild von Krankheiten radikalverän<strong>der</strong>t (Beispiel: Erregerkultur,Resistenzprüfung und Antibiotikatherapiebei bakteriellen Infekten;Koronarangiographie und katheterbasiertesRevaskularisationsverfahren beiAr teriosklerose; Nachweis <strong>der</strong> bcr-ablTrans lokation und Therapie mit Imat<strong>in</strong>ibbei Chronisch myeloischer Leukämie).Verlieren wir als Ärzte nicht denMut, diese Art des echten Behandlungs-Fortschrittes für unsere Patienten zufor<strong>der</strong>n! Die Zeit für <strong>der</strong>artige Meilenste<strong>in</strong>eist reif.Woh<strong>in</strong> geht die Reise?Abbildung 3 Das Angebot und die Nachfrage an molekularen Tests. Lange Zeitwaren die molekulargenetischen Tests für die Diagnose <strong>der</strong> klassischen, monogenenhereditären Leiden reserviert. Heute holen die im kl<strong>in</strong>ischen Alltag deutlichwichtigeren erworbenen genetischen Krankheiten (Infekte und Tumore) auf. Dergrößte Nachholbedarf an kl<strong>in</strong>isch nützlichen, molekulargenetischen Testverfahrenbesteht im Bereich <strong>der</strong> polygenen, komplexen Erkrankungen.


340Barbara C. Bie<strong>der</strong>mann <strong>Molekulare</strong> <strong>Früherkennung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mediz<strong>in</strong> <strong>–</strong> <strong>Konzept</strong>, <strong>Techniken</strong>, PerspektivenÜbersichtsarbeitDanksagungDiesen Beitrag widme ich mit großerDankbarkeit me<strong>in</strong>en Mitarbeitern undKollegen, die mir <strong>in</strong> den letzten 10 Jahrengeholfen haben, molekulare Mediz<strong>in</strong>zu praktizieren.Molecular tests <strong>in</strong> mo<strong>der</strong>n medic<strong>in</strong>e <strong>–</strong>concepts, technical aspects and futuredirectionEarly diagnosis by molecular tests has<strong>in</strong>creas<strong>in</strong>gly catched attention afterdecipher<strong>in</strong>g the complete human genomesequence <strong>in</strong> 2001. Meanwhile,complete genome sequenc<strong>in</strong>g willsoon become availble for each <strong>in</strong>dividual.Molecular test<strong>in</strong>g is standardof care <strong>in</strong> certa<strong>in</strong> <strong>in</strong>fectious or malignantdiseases. Novel biomarkers areemerg<strong>in</strong>g as a result of mo<strong>der</strong>n comprehensiveprocedures (transcriptomics,proteomics, metabolomics etc).However, hype and hope are particularlyclose <strong>in</strong> this field and responsibleconduct by cl<strong>in</strong>icians will ensure beneficialuse of new tests.Literatur1. Vandenbroucke JP, Koster T, BrietE, Reitsma PH, Bert<strong>in</strong>a RM, RosendaalFR. Increased risk of venousthrombosis <strong>in</strong> oral-contraceptiveusers who are carriers of factor VLeiden mutation. Lancet. 1994 Nov26; 344: 1453 <strong>–</strong> 7.2. Bie<strong>der</strong>mann BC. Das Molekular-Mediz<strong>in</strong>ische Teleskop. 1 ed.:Schwabe Verlag; 2005.3. Tardif JC, He<strong>in</strong>onen T, Orloff D,Libby P. Vascular biomarkers andsurrogates <strong>in</strong> cardiovascular disease.Circulation. 2006 Jun 27; 113:2936 <strong>–</strong> 42.4. Weissle<strong>der</strong> R, Pittet MJ. Imag<strong>in</strong>g <strong>in</strong>the era of molecular oncology. Nature.2008 Apr 3; 452: 580 <strong>–</strong> 9.5. Coll<strong>in</strong>s FS. Shattuck lecture <strong>–</strong> medicaland societal consequences ofthe Human Genome Project. N EnglJ Med. 1999 Jul 1; 341: 28 <strong>–</strong> 37.6. G<strong>in</strong>sberg J, Mohebbi MH, Patel RS,Brammer L, Smol<strong>in</strong>ski MS, BrilliantL. Detect<strong>in</strong>g <strong>in</strong>fluenza epidemicsus<strong>in</strong>g search eng<strong>in</strong>e querydata. Nature. 2009 Feb 19; 457:1012 <strong>–</strong> 4.7. Barter PJ, Caulfield M, Eriksson M,Grundy SM, Kastele<strong>in</strong> JJ, KomajdaM, et al. Effects of torcetrapib <strong>in</strong>patients at high risk for coronaryevents. N Engl J Med. 2007 Nov 22;357: 2109 <strong>–</strong> 22.8. Erzberger P, Gombert MT, MutschelknaussM, Wyler von BallmoosM, Bie<strong>der</strong>mann BC. A CETPpolymorphism improves diagnosticpower of cl<strong>in</strong>ical exam<strong>in</strong>ation<strong>in</strong> patients with cardiovasculardisease. A case-control study.Swiss Medical Weekly. 2010 May29; 140: 307 <strong>–</strong> 13.9. Mutschelknauss M, Kummer M,Muser J, Fe<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> SB, Meyer PM,Bie<strong>der</strong>mann BC. Individual assessmentof arteriosclerosis by empiriccl<strong>in</strong>ical profil<strong>in</strong>g. PLoS ONE. 2007;2: e1215.KorrespondenzadresseProf. Dr. med. Barbara C. Bie<strong>der</strong>mannMediz<strong>in</strong>ische Universitätskl<strong>in</strong>ikKantonsspitalCH - 4101 Bru<strong>der</strong>holzab 1.7.2010:FMH Innere Mediz<strong>in</strong>Stapfetenstraße 188345 Adetswilbarbara.bie<strong>der</strong>mann@unibas.ch

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!