06Theorie – ein erster AnsatzBegriffe wie «Oberschwingungsspektroskopie» und «anharmonischeSchwingungsspektroskopie» verdeutlichen, dass die NIRS-Theorie keineswegs leicht zu verstehen ist. Auch wenn imRahmen dieser NIRS-Sonderausgabe keine Übersicht über dentheo retischen Hintergrund der Schwingungs spektroskopie gegebenwerden kann, ist es doch nötig, auf einige Grundprinzipiennäher einzugehen, die die Spektreninterpretation erleichtern.Wechselwirkung von Licht und physikalischer MaterieBei der Spektroskopie wird Licht – elektromagnetische Strahlung – fürdie Analyse von Materialien eingesetzt. Dazu wird die Energieübertragungzwischen Licht und Materie beschrieben. Die Energie eines einzelnenPhotons – eines Lichtpartikels – ist definiert <strong>als</strong>:(Gl. 1)Planck-Konstante in m 2·kg/sLichtfrequenz in s -1Lichtgeschwindigkeit in m/sWellenlänge des Lichts in mWellenzahl des Lichts in m -1Im Allgemeinen werden Wellenzahlen in cm -1 angegeben. Zur Umrechnungder Wellenlänge in Wellenzahlen wird der reziproke Wert derWellenlänge in nm mit 10 7 multipliziert. Aus Gleichung 1 folgt: Je kürzerdie Wellenlänge, desto höher die Wellenzahl und damit die Energie desPhotons.Das elektromagnetische Spektrum ist in mehrere Bereiche aufgeteilt.Jeder Bereich steht für eine bestimmte Art von molekularem oder atomaremÜbergang und damit für eine bestimmte spektroskopische Methode.Die Wellenlängen von Gammastrahlen und Röntgenstrahlen liegen im pmundim niedrigen nm-Bereich und sind sehr schädlich, da sie chemischeBindungen aufbrechen und Moleküle ionisieren. UV-Strahlung deckt denBereich von 190 bis 350 nm ab, sichtbare Strahlung (VIS) den Bereich von350 bis 780 nm. Bei der Photonenabsorption im UV/VIS-Bereich werdenElektronen von energiearmen in energiereiche Molekülorbitale übertragen.Durch Fluoreszenz gelangen sie auf einfache Weise wieder in denGrundzustand. Als Nahinfrarotstrahlung bezeichnete Strahlung definiertden Bereich zwischen ca. 780 und 2500 nm. Moleküle können Infrarotlichtohne eine spätere erneute Emission durch Anregung bestimmterSchwingungsfrequenzen absorbieren. Die Probe absorbiert die Frequenzenvon polychromatischem Licht, das ihren molekularen Schwingungsübergängenentspricht.Theorie
-r eKraft07Harmonischer Oszillator – der IdealfallDiese molekularen Schwingungen können mit dem klassischen physikalischenModell des harmonischen zweiatomigen Oszillators <strong>als</strong> einfachstemSchwingungssystem beschrieben werden. Zwei schwingende Massen, dieüber eine Feder mit einer bestimmten Kraftkonstanten verbunden sind, führenzu Änderungen beim Kernabstand. Wird das Hook'sche Gesetz mit demNewton'schen Kraftgesetz kombiniert, entspricht die Schwingungsfrequenz:(Gl. 2)Nach dem Hook'schen Gesetz ist die potenzielle Energie V des harmonischenOszillators eine Quadratfunktion der Auslenkung der vibrierendenAtome. Die parabolische Funktion ist symmetrisch zur Gleichgewichtsbindungslänger e .(Gl. 3)Quantenmechanische Überlegungen unter Verwendung der Schrödinger-Gleichungerlauben nur Übergänge zwischen benachbarten und gleichweit entfernten Energiestufen. Die Vorbedingung für die Absorption einesLichtphotons ist, dass die Frequenz des Lichtphotons der Energiedifferenzzwischen zwei Schwingungszuständen der Bindung entspricht. Aber für dieEnergieabsorption ist noch weit mehr erforderlich.Energieabsorption nach der ResonanztheorieNach der Resonanztheorie muss eine Möglichkeit gefunden werden,die Energie erfolgreich auf das Molekül zu übertragen (z. B. durch physischenKontakt). Bei molekularen Schwingungen findet diese Übertragung über diemolekulare Polarität statt. Das heisst, dass eine Wechselwirkung zwischenInfrarotstrahlung und einem schwingenden Molekül nur eintritt, wenn esneben der Schwingung zu einer Änderung des Dipolmoments μ kommt.(Gl. 4)Bindungsfrequenz vonAbsorptionsbandeKraftkonstante der Bindungreduzierte Masse dergebundenen Atomepotenzielle EnergieKernabstandKernabstand beiGleichgewichtAuslenkung vibrierender AtomeNach Gleichung 4 weisen nur heteronukleare zweiatomige Moleküle(Schwingungsspektrum-)Übergänge zwischen den Photonen des Lichtsund den Molekülschwingungen auf. Das Wasserstoffatom ist das leichtesteAtom. Deswegen zeigen Bindungen mit Wasserstoff die grössten Schwingungen(C–H, N–H, O–H und S–H). Ganz gleich, wie hilfreich das Modelldes harmonischen Oszillators auch sein mag, die Realität lässt sich mit ihm invielerlei Hinsicht nicht beschreiben.Anharmonischer Oszillator – die RealitätNach dem Modell des harmonischen Oszillators können unendlicheEnergien im Molekül gespeichert werden, ohne dass Bindungen aufgebrochenwerden. Die Erfahrung lehrt aber, dass alle Moleküle dissoziieren, wennnur genügend Energie zugeführt und die schwingende Bindung gedehntwird. Zudem lassen sich starke Abstossungskräfte beobachten, wenn dieAtome zusammengedrückt werden. Wegen dieser mechanischen sogenanntenAnharmonizität – Bindungsdissoziation und <strong>Co</strong>ulomb-Abstossung– muss das klassische Kugel-Feder-Modell modifiziert werden.Zudem ermöglicht die Anharmonizität Übergänge zwischen nichtbenachbarten Energiezuständen, wobei ∆v = ± 2, 3 ... Ausserdem sind dieEnergieniveaus der Schwingungen nicht mehr gleich weit entfernt, undEnergiedifferenzen nehmen mit steigender Quantenzahl v ab.Folgen für NIRSZusammenfassend kann gesagt werden, dass sich das Auftreten unddie Spektraleigenschaften von NIR-Absorptionsbanden – neben der Änderungdes Dipolmoments – auf die hohe mechanische Anharmonizität derschwingenden Atome zurückführen lassen. Das spiegelt sich in Folgendemwider:• Oberschwingungsübergängen, die Quantenzahlen grösser einsentsprechen und <strong>als</strong> Vielfache der fundamentalen Schwingungsfrequenzauftreten. Oberschwingungsübergänge treten zwischen ca. 780und 2000 nm auf. Die Wahrscheinlichkeit von ersten und höherenOberschwingungen ist sehr viel geringer <strong>als</strong> die der fundamentalenSchwingungsfrequenz. Aus diesem Grund sind die Banden schwächer.• In polyatomaren Molekülen treten Kombinationsmodi auf, wobei eszu Wechselwirkungen zwischen mehreren Schwingungsmodi kommt.Die Kombinationsschwingungen erscheinen bei der Summe derVielfachen der einzelnen in Wechselwirkung stehenden Frequenzen. IhreAbsorptionsbanden erscheinen zwischen 1900 und 2500 nm.• den nicht gleich weit entfernten Energiezuständen einer Schwingung.Das bedeutet, dass zulässige Übergänge energieärmer werden.Potenzielle EnergieHarmonischer OszillatorAtomabstandKernabstandDissoziationAnharmonischer Oszillator